Soziologie für die Soziale Arbeit - Andrea Janßen - E-Book

Soziologie für die Soziale Arbeit E-Book

Andrea Janßen

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Beschreibung

Soziologie gehört zu den zentralen Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit. Soziologische Theorien liefern Erklärungs- und Reflexionswissen zu sozialer Ungleichheit und gesellschaftlichen Problemfeldern, in denen wichtige Arbeitsgebiete der Sozialen Arbeit verortet sind. Das Lehrbuch stellt für die Soziale Arbeit relevante Theorien der Soziologie zusammen und bezieht diese auf Handlungsfelder und die Praxis der Sozialen Arbeit. Dabei besticht es durch eine stringente und schlüssige Systematik, die es Studierenden erlaubt, auch nur einzelne Kapitel zu lesen und das Buch auf diese Weise in themenspezifischen Seminaren im Rahmen des Studiums zu nutzen.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort zur Reihe

Zu diesem Buch

Einführung in Soziale Ungleichheiten I: Fragen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung

Überblick

1 Sozialisation und Habitus

1.1 Strukturfunktionalismus – von Institutionen und Rollen: Talcott Parsons

1.2 Handlungstheorien – von Interaktionen und Sprache: George Herbert Mead, Peter L. Berger und Thomas Luckmann

1.3 Theorie der Relationalität – von Inkorporation und Habitus: Pierre Bourdieu

1.4 Neuere Entwicklungen

1.5 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

2 Die Gesellschaft aus der Perspektive der Systemtheorie: Niklas Luhmann

2.1 Wesentliche Aussagen

2.2 Neuere Entwicklungen

2.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

3 Macht und Herrschaft

3.1 Macht, Disziplin‍(ierung) und Gouvernementalität: Michel Foucault

3.1.1 Wesentliche Aussagen

3.1.2 Neuere Entwicklungen

3.1.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

3.2 Unsichtbare Herrschaft in Form symbolischer Gewalt: Pierre Bourdieu

3.2.1 Wesentliche Aussagen

3.2.2 Neuere Entwicklungen

3.2.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

4 Kapitalismus, Sozialstaat und vergeschlechtlichte Arbeitsteilung

4.1 Kapitalismus und Sozialstaat – Die Relevanz der Erwerbsarbeit: Karl Marx, Friedrich Engels und Max Weber

4.2 Vom Fordismus zum Postfordismus

4.2.1 Fordismus

4.2.2 Postfordismus

4.3 Aktuelle Diagnosen des Kapitalismus und des Sozialstaats

4.3.1 »Der neue Geist des Kapitalismus«: Luc Boltanski und Ève Chiapello

4.3.2 »Das unternehmerische Selbst« im neoliberalen Kapitalismus: Ulrich Bröckling

4.3.3 Der aktivierende Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus: Stephan Lessenich

4.4 Kapitalismus und vergeschlechtlichte Arbeitsteilung: Frigga Haug

4.5 Aktuelle Diagnosen zu Kapitalismus, Sorgearbeit und Familie

4.5.1 Wandel und Persistenz familialer Lebensformen: Andrea Maihofer

4.5.2 Doing family – die Entgrenzung von Arbeit und Familie: Karin Jurczyk und Barbara Thiessen; Karin Gottschall und Günter Voss

4.5.3 Intersektionale Arbeitsteilung und die Krise der Sorgearbeit: Gabriele Winker

4.6 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

5 Sozialer Wandel, Modernisierung und Individualisierung

5.1 Überwindung sozialer Widersprüche als Treiberin sozialen Wandels: Karl Marx und Friedrich Engels

5.1.1 Wesentliche Aussagen

5.1.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

5.2 Wandel der Gesellschaft als Bürokratisierung und Fortschreiten der Zweckrationalität mit religiösem Ursprung: Max Weber

5.2.1 Wesentliche Aussagen

5.2.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

5.3 Von der Individualisierung und Risikogesellschaft zur reflexiven Modernisierung: Ulrich Beck

5.3.1 Wesentliche Aussagen

5.3.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

5.4 Neuere Entwicklungen und Ausblick

Einführung in Soziale Ungleichheiten II: Fragen zur Konstruktion von Norm und der Abweichung

Überblick

6 Armut und Stigmatisierung

6.1 Armutskonzepte

6.1.1 Der Ressourcenansatz

6.1.2 Das Konzept der materiellen Deprivation

6.1.3 Armut als Mangel an Verwirklichungschancen

6.2 Armut als Beziehung zur Gesellschaft: Georg Simmel

6.2.1 Wesentliche Aussagen

6.2.2 Neuere Entwicklungen

6.2.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

6.3 Stigmatisierung und Stigmamanagement: Erving Goffman

6.3.1 Wesentliche Aussagen

6.3.2 Neuere Entwicklungen

6.3.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

7 Theorien und theoretische Ansätze zur Integration von Zuwander*innen

7.1 Vom ›Ausländer‹ zum ›Mensch mit Migrationsgeschichte‹ – Begriffe, Bezeichnungen und deren Bedeutung

7.2 Vom Konkurrenzkampf zum melting pot: Robert E. Park und die Chicago School

7.2.1 Wesentliche Aussagen

7.2.2 Neuere Entwicklungen

7.2.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

7.3 Eine handlungstheoretische Perspektive – Integration als Assimilation in die Aufnahmegesellschaft: Hartmut Esser

7.3.1 Wesentliche Aussagen

7.3.2 Neuere Entwicklungen

7.3.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

7.4 Szenarien der Assimilation: Alejandro Portes und Rubén G. Rumbaut

7.4.1 Wesentliche Aussagen

7.4.2 Neuere Entwicklungen

7.4.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

7.5 Postmigration – Einmischung und Konflikt als Zeichen erfolgreicher Integration: Erol Yildiz und Naika Foroutan

7.5.1 Wesentliche Aussagen

7.5.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

7.6 Postkoloniale Theorien

7.6.1 Hybride Identitäten: Stuart Hall

7.6.2 Wer kann für wen sprechen? Gayatri Chakravorty Spivak

7.6.3 Integration als Gegenstand deutschsprachiger postkolonialer Theorien: María do Mar Castro Varela und Gabriele Dietze

7.6.4 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

8 Abweichung und Kriminalität

8.1 Kriminalität und Abweichung sind vom gesellschaftlichen Kontext abhängig

8.2 Funktionalistische Gesellschaftstheorie – Abweichung und Kriminalität haben eine gesellschaftliche Funktion: Émile Durkheim

8.2.1 Wesentliche Aussagen

8.2.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

8.3 Anomietheorie – Wenn gesellschaftliche Ziele und Normen durch die gegebene Sozialstruktur an Kraft verlieren: Robert M. Merton

8.3.1 Wesentliche Aussagen

8.3.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

8.4 Labeling-Ansatz – Kriminalität als gesellschaftliches Produkt eines selektiven Zuschreibungsprozesses: Fritz Sack

8.4.1 Wesentliche Aussagen

8.4.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

8.5 Neuere Entwicklungen und Ausblick

9 Sozialer Raum und Segregation

9.1 Begriffe, Definitionen und Verständnisse

9.2 Raumsoziologisches Denken: Georg Simmel

9.2.1 Wesentliche Aussagen

9.2.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

9.3 Räumliche Praktiken, Repräsentation von Räumen und Räume der Repräsentation: Henri Lefebvre

9.3.1 Wesentliche Aussagen

9.3.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

9.4 Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum: Pierre Bourdieu

9.4.1 Wesentliche Aussagen

9.4.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

9.5 Prozessualer Raumbegriff: Martina Löw

9.5.1 Wesentliche Aussagen

9.5.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

9.6 Segregation – Ordnungstheorie des großstädtischen Raums: Robert E. Park

9.6.1 Wesentliche Aussagen

9.6.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

9.7 Segregation – Zonentheorie zur Beschreibung städtischer Strukturen: Ernest W. Burgess

9.7.1 Wesentliche Aussagen

9.7.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

9.8 Der qualitative Segregationsansatz: Hartmut Häußermann und Walter Siebel

9.8.1 Wesentliche Aussagen

9.8.2 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

9.9 Neuere Entwicklungen und Ausblick

10 Gender und Heteronormativität

10.1 Geschlecht und Geschlechterverhältnisse als Themen der Soziologie

10.1.1 Patriarchat: Das Private ist politisch

10.1.2 Geschlecht als Strukturkategorie – Öffentlichkeit vs. Privat: Ursula Beer, Karin Gottschall und Regina Becker-Schmidt

10.1.3 Geschlechtsspezifische Sozialisation – Die Unterscheidung von sex und gender

10.2 Doing gender – Konstruktionen von Geschlecht: Candace West und Don H. Zimmerman

10.2.1 Doing gender while doing work: Regine Gildemeister und Angelika Wetterer

10.2.2 Die soziale Konstruktion von Geschlecht: Stefan Hirschauer

10.2.3 Die Konstruktion hegemonialer Männlichkeit: Raewyn Connell

10.3 Queertheorie – Dekonstruktion von Geschlecht und Heteronormativität: Judith Butler

10.4 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

Einführung in Soziale Ungleichheiten III: Intersektionalität

Überblick

11 Intersektionalität

11.1 Die Multidimensionalität sozialer Kategorien: Combahee River Collective und Kimberlé Crenshaw

11.2 Aktuelle Diskurse bezüglich Intersektionalität vor allem im deutschsprachigen Raum

11.2.1 Die Diskussion um Anzahl und Definition der Ungleichheitskategorien

11.2.2 Die Diskussion um Identitätskritik, Machtkritik und das Problem der Reifizierung

11.2.3 Die Diskussion um Überkreuzungen und Verwobenheiten von Kategorien und Ebenen

11.3 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

Anhang

Literatur

Die Autor*innen

Grundwissen Soziale Arbeit

Herausgegeben von Rudolf Bieker

Das gesamte Grundwissen der Sozialen Arbeit in einer Reihe: theoretisch fundiert, immer mit Blick auf die Arbeitspraxis, verständlich dargestellt und lernfreundlich gestaltet – für mehr Wissen im Studium und mehr Können im Beruf.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/grundwissen-soziale-arbeit

Andrea JanßenJörg DittmannMonika Götsch

Soziologie für die Soziale Arbeit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-037242-9

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-037243-6epub: ISBN 978-3-17-037244-3

Vorwort zur Reihe

Mit dem so genannten »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor*innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese‍(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

Soziale Arbeit knüpft als Profession und Disziplin an das Wissen der Soziologie an und steht im Austausch mit der Soziologie hinsichtlich der Erkenntnisse über das ›Soziale‹. Aus soziologischen Erkenntnissen lässt sich einerseits (Handlungs-)‌Wissen für die Soziale Arbeit ableiten, andererseits können sich Theorien der Sozialen Arbeit auf soziologische Theorien berufen (vgl. z. B. Böhnisch 1994, Grunwald & Thiersch 2011).

Das für die Soziale Arbeit relevante soziologische Wissen beinhaltet Kenntnisse über gesellschaftliche Vorgänge und Entwicklungen, Theorien, empirische Befunde und deren Deutungen zum sozialen Wandel und zu sozialen Ungleichheiten. Die ab Ende des 19. Jahrhunderts entstandene wissenschaftliche Disziplin der Soziologie hat bis heute eine Vielzahl an Erkenntnissen und Theorien zu diesen Themen hervorgebracht. Die Konzeption eines solchen, vom Umfang sehr begrenzten Bandes bringt vor allem die Herausforderung mit sich, aus einer Vielzahl an Themen, Theorien und dahinterstehenden Personen auszuwählen. Handlungsleitend für die Auswahl der theoretischen Ansätze war die Überlegung, mit welchen übergeordneten Themen sich die Soziologie beschäftigt und hierbei zugleich Anknüpfungspunkte für die Soziale Arbeit bietet. Soziale Ungleichheiten, zunächst verstanden als eine dauerhafte Schlechter- oder Besserstellung von Menschen oder Gruppen in Bezug auf Lebens- und Verwirklichungschancen (vgl. Hradil 2012), bilden einen relevanten, wenn nicht den relevantesten Schwerpunkt sowohl in der Soziologie als auch in der Sozialen Arbeit, so dass die theoretische Beschäftigung mit ihr letztendlich als eine Art roter Faden das ganze Buch durchzieht. Hierzu haben wir drei inhaltliche Schwerpunkte gebildet:

Zunächst setzen wir uns in »Einführung in Soziale Ungleichheiten I: Fragen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung« damit auseinander, welche Funktionsweisen Gesellschaften aufweisen, wie und was Gesellschaften zusammenhält und wie Individuen ein Teil von Gesellschaften bzw. zu Gesellschaftsmitgliedern werden.

In »Einführung in Soziale Ungleichheiten II: Fragen zur Konstruktion von Norm und der Abweichung« beschreiben wir, wie bezüglich der Dimensionen Armut, Migration, Kriminalität, soziale Räume und Geschlecht gesellschaftliche Normen hergestellt werden, indem zugleich das davon ›Abweichende‹ definiert wird.

Abschließend gehen wir in »Einführung in Soziale Ungleichheiten III: Intersektionalität« der Frage nach, inwieweit soziale Ungleichheiten vielschichtig sind und wie Ungleichheitsdimensionen in ihrer Interdependenz Diskriminierungen und/oder Privilegierungen hervorrufen. Dabei werden jeweils die wesentlichen Aussagen dargelegt und – um den ursprünglichen Geist der Texte und auch die Sprache der theoretischen Vertreter*innen sicht- und erfahrbar zu machen – anhand ausgewählter Zitate illustriert; es wird auf neuere theoretische Entwicklungen hingewiesen und zudem werden Implikationen für die Soziale Arbeit kritisch diskutiert.

Das Buch ist vor der Corona-Pandemie begonnen und während der Pandemie verzögert fertiggestellt worden. Fragen nach Vergemeinschaftung, nach gesellschaftlicher Solidarität und danach, was die Gesellschaft zusammenhält, stellen sich aktuell bereits in anderem Maße als noch zu Beginn unserer Arbeiten an diesem Band. Auch die Auswirkungen der sich bereits länger anbahnenden Klimakatastrophe verändern den Diskurs um Zugehörigkeiten zu und Verantwortlichkeiten von Gesellschaften. Dies zeigt, wie schnell sich gesellschaftliche (Ungleichheits-)‌Verhältnisse verändern und wie schnell auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden können. Gesellschaftliche Solidarität wird diskursiv anders verhandelt als im Jahr 2019 oder – in Bezug auf die Situation Geflüchteter – als noch im Jahr 2015. Ein aufmerksamer, theoriegeleiteter Blick auf gesellschaftliche Veränderungen und Verschiebungen, z. B. im Hinblick auf Zugehörigkeiten seitens der Soziologie als auch der Sozialen Arbeit, erscheint mehr denn je von Nöten. Der Wert der von uns ausgewählten Theorien liegt nicht darin, dass sie explizit auf die konkreten, historisch spezifischen Veränderungen eingehen, sondern, dass sie eine kritische Reflexion der aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen ermöglichen. Wenn die ausgewählten Theorien dazu anregen, nicht nur im Studium und als Sozialarbeitende, sondern grundsätzlich reflexiv auf die neue Gegenwart, ihre Themen, Momente und Ereignisse zu blicken, dann ist ein großes Stück jener Intention der Autor*innen eingelöst, ein solches Buchprojekt an- und umzusetzen. Denn damit erweisen sich die ausgewählten Theorien in besonderer Weise als nachhaltig.

Ein solches Buch ist nie nur das Werk der Autor*innen, sondern braucht die tatkräftige Unterstützung von Kolleg*innen, Mitarbeitenden und studentischen Hilfskräften. Diese möchten wir an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen und danken insbesondere unserer Lektorin Christin Wegener, die dieses Buch gleich mehrmals geduldig gelesen und korrigiert hat, unserer studentischen Mitarbeiterin Nina Schick, die unermüdlich all den diffizilen ›Kleinkram‹ wie Querverweise und Quellenangaben bearbeitet hat, und nicht zuletzt unseren Kolleg*innen Jeanette Bohr, Helga Christians und André Lohse, die uns mit ihrer fachlichen Expertise beratend zur Seite standen.

Esslingen und Basel, 31. 08. 2022,Andrea Janßen, Monika Götsch, Jörg Dittmann

Einführung in Soziale Ungleichheiten I: Fragen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung

Überblick

Der Soziologe Max Weber unterscheidet in Bezug auf die Herausbildung, Etablierung und Charakterisierung sozialer Beziehungen zwei Formen: die Vergesellschaftung und die Vergemeinschaftung (Weber 1980 [1921], 21). Unter Vergesellschaftung werden rational begründete Beziehungen, die auf gemeinsamen Interessen beruhen, verstanden. Vergemeinschaftung bedeutet dagegen eine emotionale Bindung, der ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe zugrunde liegt.

Mit dieser Unterscheidung lassen sich wichtige Antworten auf Fragen finden, die wir als Schwerpunkt in diesem Teil des Buches herausstellen: Was ist erstens die Funktionsweise sozialer Beziehungen und zweitens, wie gelingt ein Zusammenhalt in Gesellschaften, und drittens, wie wird das Individuum Teil der Gesellschaft? Die erste Frage ist dem Punkt Vergesellschaftung zuzuordnen; die beiden letzteren der Vergemeinschaftung. Antworten auf diese grundlegenden Fragen, die neben Weber bereits andere ›frühe‹ Soziologen wie Georg Simmel oder Emile Durkheim beschäftigt haben, sollen theoretische Überlegungen der unterschiedlichsten Art liefern: Sozialisationstheorien (▶ Kap. 1) beschäftigen sich mit der Eingliederung des Individuums in die Gesellschaft, die Systemtheorie nach Luhmann (▶ Kap. 2) betrachtet die Funktionsweisen moderner und komplexer Gesellschaften. Auch Macht und Herrschaft sind Mittel, um Gesellschaften zusammenzuhalten, und werden in Kapitel 3 exemplarisch vorgestellt. Weitere Schwerpunkte in diesem Teil stellen die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und der Entwicklung der Arbeitsteilung (▶ Kap. 4) sowie die Frage nach dem gesellschaftlichen Wandel dar (▶ Kap. 5).

1 Sozialisation und Habitus

Monika Götsch

T In diesem Kapitel lernen Sie

·

zentrale Konzepte von Sozialisation kennen,

·

dass und wie Menschen zu Gesellschaftsmitgliedern werden und sich Identität‍(en) herausbilden,

·

dass auch der Körper für die soziale Position von Menschen relevant ist.

Mit dem Begriff der Sozialisation beschreibt die Soziologie den Prozess, wie Individuen Mitglieder einer Gesellschaft werden und bleiben, wie sie zu gesellschaftlich kompetenten Subjekten bzw. zu mehr oder weniger angepassten Gesellschaftsmitgliedern und zugleich zu einer individuellen Persönlichkeit werden. Gefragt wird danach, inwieweit und wie Subjekte eine individuelle Persönlichkeit ausbilden und inwieweit die Persönlichkeiten der Einzelnen von gesellschaftlichen Bedingungen beeinflusst und abhängig sind. Es geht um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, um den Einfluss von Gesellschaft auf die Individuen und umgekehrt um die Einflussmöglichkeiten der Individuen auf die Gesellschaft. Verbunden ist damit die Frage, wie Identität‍(en) hergestellt werden. Identität‍(en) bezeichnet das Verhältnis eines Individuums zu sich selbst und die Identifikation mit einer Gruppe bzw. die Zuschreibung von außen, Mitglied einer bestimmten Gruppe (z. B. Frauen*) zu sein – häufig in Abgrenzung zu (vermeintlich) ›Anderen‹ (z. B. zu Männern*).

Mit dem Konzept der Sozialisation wird die Annahme einer natur- oder gottgegebenen sozialen Position zurückgewiesen und das gesellschaftlich bedingte Geworden-Sein von Individuen und sozialen Gruppen sowie die Kontingenz (unterschiedliche Wahrnehmbarkeit und Veränderlichkeit) von Gesellschaft betont.

1.1 Strukturfunktionalismus – von Institutionen und Rollen: Talcott Parsons

Der US-amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1902 – 1979) hebt als Begründer des Strukturfunktionalismus die strukturellen Bedingungen von Sozialisation hervor. Parsons (2012, 1975, 1972) fokussiert, wie sich Gesellschaften bzw. soziale Ordnungen, d. h. Strukturen erhalten, welche generellen Voraussetzungen die Stabilität von sog. ›modernen‹ Gesellschaften bedingen.

Dies geschieht, indem Gesellschaftsmitglieder durch die Sozialisation vor allem in der Kindheit und Jugend soziale Rollen erlernen.

Durch Sozialisation werden Menschen zu gesellschaftlich kompetenten Subjekten, die für die Gesellschaft funktionale Rollen erlernt haben und sich durch ihre Rollen der Gesellschaft entsprechend anpassen. Effekte von als gelungen bewerteter Sozialisation sind demnach eine gesellschaftlich akzeptierte und die gesellschaftliche Ordnung erhaltende Rollenübernahme sowie die damit verbundene Akzeptanz gesellschaftlicher Werte und Normen.

Die Identifikation mit Rollen und Normen benötigt die Einbindung in und Identifikation mit der Gesellschaft. Indem die Rollen normenkonform erlernt werden und entsprechend gehandelt wird, wird die soziale Ordnung erhalten: Jungen* werden männlich* geprägt und übernehmen in der Folge die Rolle männlicher* Schüler* (in Vorbereitung auf die Rollen als Männer*) und verhalten sich entsprechend (bspw. laut, dominant und aggressiv) – ebenso werden Mädchen* weiblich* geprägt und verhalten sich entsprechend (bspw. sozial und empathisch). Damit wird gewährleistet, dass die (Geschlechter-)‌Ordnung zwischen Schülern und Schülerinnen wie auch die Generationen-Ordnung zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen oder Eltern erhalten bleiben (Parsons 2012). Parsons vertritt damit die Annahme, dass Rollen determiniert, d. h. vorherbestimmt und nicht oder kaum veränderbar sind. Kritisch ist bezüglich eines solchen Determinismus anzumerken, dass damit gesellschaftlicher Wandel wie bspw. der Wandel und die Ausdifferenzierung von Geschlechterrollen nicht erklärt werden kann. Zugleich kann mit Parsons aber gezeigt werden, dass Gesellschaft und gesellschaftliche Normen relativ träge sind und sich nur sehr langsam verändern.

Bezugnehmend auf den Behaviorismus und auf Sigmund Freud konzipiert Parsons Sozialisation als Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen und Erfordernisse. Der Behaviorismus erklärt menschliches Verhalten als kausal durch Belohnung und Sanktionen konditioniert. Daraus lässt sich nach Parsons das Erlernen von Rollen ableiten. Sigmund Freud gilt als Begründer der Psychoanalyse. Parsons bezieht sich u. a. auf Freuds Überlegungen zum Über-Ich und leitet daraus »die Verinnerlichung von Elementen der normativen Kultur der Gesellschaft« (Parsons 1977, 101) ab, z. B. von Werten und Verhaltensnormen.

Das Rollenlernen geschieht über Sanktionen von Fehlverhalten und Anerkennung von angemessenem Verhalten. Die erfolgreiche Rollenübernahme wird schließlich als befriedigend erlebt. Erlernt werden die Rollen in den sog. Sozialisationsinstanzen wie der Familie, aber auch in speziell für die Sozialisation geschaffenen Institutionen wie der Schule. Angelehnt an Parsons wird auch heute noch häufig von Sozialisationsinstanzen gesprochen, gemeint sind damit zumeist die Familie (als primäre Sozialisationsinstanz, vgl. Hurrelmann 2002, 127 ff.) sowie Schule, Peers und die Medien.

1.2 Handlungstheorien – von Interaktionen und Sprache: George Herbert Mead, Peter L. Berger und Thomas Luckmann

Anders als Parsons rücken George Herbert Mead bezüglich Sozialisation in seiner Theorie des symbolischen Interaktionismus wie auch Peter L. Berger und Thomas Luckmann in Anschluss daran die alltäglichen Handlungen und Interaktionen von Menschen in den Vordergrund. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei die Sprache ein. Demnach wird die Welt von Menschen nicht einfach erkannt und wahrgenommen, sondern interpretiert und mit Bedeutung versehen. Diese Bedeutungen und Interpretationen werden kollektiv geteilt, so dass ein interaktives Verstehen über Sprache möglich wird. Mead wie auch Berger und Luckmann fragen danach, wie Menschen zu einer gemeinsamen ›Sprache‹ und Symbolik und dadurch zu einem entsprechend gemeinsamen Bedeutungs- und Interpretationswissen kommen.

George Herbert Mead geht in der Folge davon aus, dass Rollenidentitäten in Interaktionen, d. h. interaktiven Handlungen zwischen zwei oder mehreren Menschen entstehen: »Nur während wir handeln sind wir uns unserer selbst bewußt« (Mead 1973, 217). Demnach interpretieren Menschen in sozialen Interaktionen wechselseitig ihr Handeln und beeinflussen es dadurch zugleich, wobei immer auch die angenommene Position der ›Anderen‹, des* Gegenübers mitgedacht wird. Persönlichkeit und Identität bildet sich einerseits darüber aus, dass antizipiert wird, wie die Anderen mich sehen. Mead bezeichnet dies als »Me« und meint damit »das sich selbst als Objekt erfahrende Ich« (ebd., 216). Andererseits gehört zur Identität auch ein impulsives Ich, das »I«, das unabhängig von der Position der ›Anderen‹ ausagiert. Nach Mead beinhaltet Identität immer beides: »Me« und »I«, d. h., Menschen sind immer von gesellschaftlichen Werten und Normen beeinflusst und relativ eigenwillig zugleich.

Mead versucht damit zu erklären, dass Menschen durch Sozialisation nicht einfach gesellschaftliche Normen übernehmen, sondern auch eigensinnig und (selbst-)‌bewusst mit Normen umgehen.

Wenn der Fokus von Sozialisation auf die wechselseitig bezogen handelnden Menschen gelenkt wird, dann geht es weniger um die Effekte von Sozialisation (wie bei Parsons), sondern vielmehr um den Prozess der Sozialisation.

Mead zeigt darüber hinaus auf, wie Sozialisation und Identitätsausbildung in der Kindheit beginnen. Zunächst fangen Kinder mit einfachen Rollenspielen an, die Mead als »play« bezeichnet. In diesen ersten Rollenspielen handeln die Kinder abwechselnd in ihrer eigenen Rolle und in der Rolle einer anderen Person, d. h. vom Standpunkt der* ›Anderen‹ aus, oder wie Mead dies bezeichnet der* »signifikanten Anderen«. In dieser Phase bilden Kinder zunächst ein Gefühl für einzelne* Andere und für sich selbst aus und eignen sich damit ihre Identität und die soziale Welt, die sie unmittelbar umgibt, an, indem sie bspw. den Vater oder die große Schwester spielen. Die Rollenspiele der Kinder werden immer komplexer und die gemeinsam spielende Gruppe verfolgt zugleich ein gemeinsames Ziel. Dies bezeichnet Mead als »game«. Ein Beispiel hierfür wäre das Spielen von Familie, in dem alle beteiligten Kinder eine »organisierte« (Mead 1973, 194) Rolle übernehmen. Notwendig ist hierfür die Fähigkeit, das eigene Verhalten und seine Konsequenzen ebenso wie das Verhalten der verschiedenen im »game« Interagierenden sowie die Konsequenzen ihres Verhaltens und ihrer Interaktionen einschätzen zu können und das eigene Handeln entsprechend abzustimmen. Identität wird dann über dieses Ins-Verhältnis-Setzen der unterschiedlichen Handlungen einer Gruppe, über das »verallgemeinerte Andere« (ebd., 196) hergestellt. Die Herstellung von Identität‍(en) geschieht demnach über den Abgleich der eigenen Haltung mit den Haltungen der Mitmenschen und der gleichzeitigen Integration von gesellschaftlichen Leitideen.

Anknüpfend an Mead beschreiben Berger und Luckmann (2004 [1966]) in ihrer sozialkonstruktivistischen Theorie, wie durch Sozialisation gesellschaftliche Wirklichkeit hergestellt wird. Grundsätzlich gehen Berger und Luckmann davon aus, dass gesellschaftliche Wirklichkeit, die als objektiv gegeben wahrgenommen wird, permanent in sozialen (insbesondere sprachlichen) Interaktionen hergestellt, reproduziert und modifiziert, d. h. als objektive Wirklichkeit konstruiert und verändert wird. Menschen werden in diese »objektivierte« Wirklichkeit hineingeboren und eignen sich diese Wirklichkeitswahrnehmung und -konstruktion vor allem in der Kindheit an. Berger und Luckmann unterscheiden (wie Mead) zwischen primärer und sekundärer Sozialisation. Die primäre Sozialisation findet in der Kindheit statt und ermöglicht durch enge (familiale) Beziehungen und wechselseitige Identifikationen, ein Mitglied der Gesellschaft zu werden. Dies geschieht, indem das Wissen über die (objektivierte soziale) Welt verinnerlicht und für das Individuum selbstverständlich und sinnhaft wird. Da diese Sozialisationsprozesse fortlaufend und in Interaktionen stattfinden, ist die Wirklichkeit nur vorläufig objektiviert und wirklich, es besteht permanent die Möglichkeit, das Wissen über die soziale Wirklichkeit zu verändern. Das Wissen über die soziale Welt ist kein bewusstes Wissen, sondern internalisiertes, nicht bewusst abrufbares (d. h. implizites) ›Alltagswissen‹ darüber, wie das soziale Miteinander funktioniert, was als normal oder davon abweichend gilt, welches Verhalten als angemessen oder unangemessen wahrgenommen wird und wie Gesellschaft organisiert ist. Dieses Wissen erscheint so selbstverständlich, dass es weder hinterfragt wird noch einer Begründung bedarf. Es wird durch Sozialisation kollektiv gewusst und ermöglicht, dass Menschen ihr eigenes Handeln und das der anderen vermeintlich automatisch und auf ähnliche Weise verstehen und einordnen können.

Subjekte werden zu kompetenten Gesellschaftsmitgliedern, weil sie das dafür notwendige Wissen internalisiert haben, was zu tun und was zu unterlassen ist, wie Alltagsroutinen bewerkstelligt werden und wie Beziehungen gestaltet werden müssen – und sie reproduzieren (und modifizieren) dies in jeder Interaktion wieder aufs Neue.

Das gesellschaftlich ›normale‹ Wissen wird über Sprache vermittelt: Sprache ermöglicht die Objektivation (das Objektiv-Machen) der sozialen Welt, das Einordnen von Handlungen und Erfahrungen in dieses Wissen, so dass sie für alle Gesellschaftsmitglieder logisch begründbar erscheinen. »Sprache typisiert die Erfahrungen auch, indem sie erlaubt, sie Kategorien zuzuteilen, mittels deren sie nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitmenschen Sinn haben« (Berger & Luckmann 2004 [1980], 41).

1.3 Theorie der Relationalität – von Inkorporation und Habitus: Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu (1930 – 2002) war ein französischer Soziologe, der sich in seiner (empirischen) Forschung auf die relative Konstanz von sozialen Ungleichheiten und Machtverhältnissen fokussierte. Er beschreibt vor diesem Hintergrund Sozialisation als Inkorporation eines Lebensstils, als einen Prozess in dem das Soziale bzw. gesellschaftliche Bedingungen und soziale (Macht-)‌Strukturen sich in die Körper der Individuen einlagern (bzw. einverleibt werden) und sich der menschliche Körper entsprechend dieser Bedingungen formt, zeigt und verhält. Bourdieu verweist darauf, dass Menschen körperlich sichtbar sind, mit dem Körper handeln und andere Menschen-Körper und Körper-Handlungen wahrnehmen und bewerten. Der Körper ist folglich auch sozial, er verkörpert das Soziale. Zugleich reproduzieren Körperhandeln oder Körperpraxen die sozialen Strukturen, die durch Sozialisation inkorporiert wurden. Körperhandeln zeigt sich z. B. in einem bestimmten Kleidungsstil, der zugleich mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse und/oder zu einem Geschlecht verbunden ist, die als Strukturmerkmale gelten, also als Merkmale der sozialen Ungleichheit, die sich nicht auf andere Dimensionen der Ungleichheit zurückführen lassen. Bourdieu stellt sich damit gegen eine einseitige Bedeutungshoheit von entweder Handlungs- oder Strukturtheorien sowie gegen die häufige Gegenüberstellung dieser Theorien in der Soziologie. Damit entwirft Bourdieu eine relationale Theorie.

Relationale Theorien

·

Soziale Strukturen und soziale Handlungen bedingen sich gegenseitig.

·

Sozialisation beschreibt sozialisatorische Prozesse und hat Effekte (relativ dauerhafte Auswirkungen) auf Individuen und Gesellschaft.

Die Inkorporation des Sozialen geschieht nach Bourdieu durch Eltern und Pädagog*innen, die Kinder fortwährend dazu auffordern, ihren Körper ›richtig‹, d. h. sozial angemessen zu gebrauchen, bspw. mit Ermahnungen wie ›Sitz gerade‹, ›Mach die Beine zusammen‹, ›Sprich nicht mit vollem Mund‹, ›Was auf dem Boden liegt, ist eklig, das kann man nicht mehr essen‹ usw. Das Soziale prägt sich zudem durch alltägliche Routinen, Rituale und Regelmäßigkeiten der Verhaltensweisen (wie z. B. Begrüßungsgesten) in den Körper ein und führt zu spezifischen Körperhaltungen, Körperpraxen und spezifischem Körpergebrauch.

Dieses Körper-Wissen ist den Individuen meist nicht bewusst, es erscheint vielmehr selbstverständlich oder gar natürlich, was der Körper kann, macht und empfindet. Bourdieu analysiert, dass und wie Körperlichkeit keine angeborene Veranlagung, sondern eine inkorporierte soziale Disposition ist. In seiner Studie »Die feinen Unterschiede« (Bourdieu 1987 [1979]) beschreibt er, dass der Geschmack nicht individuell, sondern klassenspezifisch ist und durch Inkorporation (Sozialisation) klassenspezifisch erworben und reproduziert wird. Untersucht hat er hierfür, wie und was in unterschiedlichen sozialen Klassen gegessen wird, wie Menschen ihre Wohnungen einrichten, wie sie sich kleiden, welche Filme sie schauen, ob und welche Museen sie besuchen, welche Musik sie hören und welchen Sport sie betreiben. Für das Frankreich der 1970er Jahre zeigt Bourdieu auf, dass die ›oberen‹ Klassen (die Bourgeoisie) einen exquisiten, kostspieligen (Luxus-)‌Geschmack haben. Sie essen bspw. teure Produkte, viel frisches Gemüse und kleine, schön angerichtete Portionen, die manierlich verspeist werden. Während die Arbeiter*innenklasse, so Bourdieu, deftige Eintöpfe mit viel Fleisch bevorzugt – nicht zuletzt weil sie durch ihre körperbetonte Erwerbsarbeit viele Kalorien braucht. Bourdieu bezeichnet dies als Notwendigkeitsgeschmack (ebd., 298 ff.). Die ›mittlere‹ Klasse (bei Bourdieu: »Kleinbürgertum«) versucht der Bourgeoisie nachzueifern und sich damit von der Arbeiter*innenklasse abzugrenzen, was Bourdieu als »Distinktion« (ebd., 727 f.) beschreibt.

Jede Klasse hat also ihren Geschmack, den Klassengeschmack. Indem die einen teure und die anderen nahrhafte Lebensmittel essen, reproduzieren sie zugleich über ihren Geschmack die Klassenstruktur. Zugleich ist damit auch ein Machtverhältnis verbunden, da die Bourgeoisie über die Mittel und Definitionsmacht verfügt, was als exquisit und was als einfach gilt, wie ›man‹ Essen auftischt und ›gesittet‹ isst. Dies wird sowohl von der Bourgeoisie wie auch von der ›mittleren‹ und der Arbeiter*innenklasse akzeptiert und als selbstverständlich anerkannt (▶ Kap. 3).

Sozialisation als Inkorporation eines Lebensstils bedeutet nach Bourdieu die Inkorporation von Habitus.

Habitus bezeichnet die Haltung des Individuums zu sich und der Welt, d. h. wie sich Menschen selbst in der sozialen Welt erleben und wie sie die soziale Welt in Bezug auf sich selbst wahrnehmen. Der Habitus ist aber nicht individuell, sondern klassen-‍, alters-‍, und geschlechtsspezifisch. Menschen haben also nicht nur einen Habitus, sondern sowohl einen Klassenhabitus als auch einen Geschlechts- und Altershabitus, zudem ebenfalls damit verbunden häufig einen Berufshabitus. Mit dem Habitus verfügen Menschen über ein Handlungsrepertoire für eine ›soziale Laufbahn‹ als Angehörige* der Mittelschicht, als Frau* oder Mann* (oder*), als Jugendliche*, Erwachsene*, Senior*in und als Sozialarbeiter*in. Letztere verfügen dann über das inkorporierte Wissen, wie sich Sozialarbeiter*innen verhalten, was sie (nicht) essen, wie sie sich (nicht) kleiden, wie sie ihre Adressat*innen wahrnehmen usw. Indem sie sich (weitgehend) entsprechend verhalten, reproduzieren sie zugleich die Verhaltensnormen für (weibliche*, männliche* oder diverse*, junge oder ältere) Sozialarbeitende. Entsprechend werden mit dem Habitus spezifische Handlungs-‍, Wahrnehmungs- und Denkschemata inkorporiert, ebenso wie Gewohnheiten, Lebensweisen, Wertvorstellungen, Gefühle und schließlich auch der Geschmack. Der Habitus ermöglicht die Teilnahme an sozialer Praxis (z. B. Praxen der Sozialen Arbeit) und durch die konkrete Teilnahme bringt er relational die soziale Praxis (der ›typischen‹ Sozialarbeit) auch hervor. In der Folge reproduziert der Habitus soziale Ungleichheitsverhältnisse: durch geschlechtsspezifische Praxen und den Geschlechtshabitus, z. B. hierarchische Geschlechterverhältnisse, oder durch klassenspezifische Praxen (wie des Kleidungsstils, s. o.) Klassenverhältnisse usw. Wenn zu einem weiblichen* Habitus Emotionalität und Empathie gehört, erscheint es logisch, dass mehr Frauen* den schlechter bezahlten Beruf der Sozialen Arbeit ergreifen. Indem dann die Mehrzahl der Sozialarbeitenden Frauen* sind, wird zugleich die Logik bestätigt, wonach Frauen* emotionaler und empathischer seien. Zugleich wird die Hierarchie zwischen schlechter bezahlten sozialen (weiblichen*) Berufen und besser bezahlten technischen (männlichen*) Berufen aufrechterhalten.

Nach Bourdieu und Wacquant (1996, 161) ist der Habitus das »Körper gewordene Soziale«. Der Habitus verkörpert das Soziale, produziert und reproduziert das Soziale und ist gleichzeitig das Produkt des inkorporierten Sozialen. Dem Habitus ist ein »sozialer Sinn« immanent, der die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen bzw. die Unterscheidung von anderen sozialen Gruppen u. a. über Körperformen, Körperdarstellungen und den Umgang mit dem eigenen Körper herstellt.

Wie der Klassenhabitus über den (Essens-)‌Geschmack inkorporiert wird und zugleich der Körper ein Effekt klassenspezifischer Sozialisation ist, verdeutlicht das folgende Zitat. Verbunden ist mit Inkorporation auch ein (unbewusstes) Wissen über die klassenspezifischen Bewertungsmaßstäbe bspw. von Ernährung und Körper (vgl. dazu auch Barlösius ▶ Kap. 1.4):

»Der Geschmack für bestimmte Speisen und Getränke hängt im weiteren sowohl ab vom Körperbild, das innerhalb einer sozialen Klasse herrscht, und von der Vorstellung über die Folgen einer bestimmten Nahrung für den Körper, das heißt auf dessen Kraft, Gesundheit und Schönheit, als auch von den jeweiligen Kategorien zur Beurteilung dieser Wirkungen; da nicht alle sozialen Klassen auf die gleichen Kategorien zurückgreifen, lassen sich klassenspezifische Rangstufen der Folgen erstellen: so sind die unteren Klassen, denen mehr an der Kraft des (männlichen) Körpers gelegen ist als an dessen Gestalt und Aussehen, nach gleichermaßen billigen wie nahrhaften Produkten aus, während die Angehörigen der freien Berufe den geschmackvollen Erzeugnissen, die gesundheitsfördernd und leicht sind und nicht dick machen, den Vorzug geben. Der Geschmack: als Natur gewordene, d. h. inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse, trägt er bei zur Erstellung des ›Klassenkörpers‹; als inkorporiertes, jedwede Form der Inkorporation bestimmendes Klassifikationsprinzip wählt er aus und modifiziert er, was der Körper physiologisch und psychologisch aufnimmt, verdaut und assimiliert, woraus folgt, daß der Körper die unwiderlegbarste Objektivierung des Klassengeschmacks darstellt, diesen vielfältig zum Ausdruck bringt: zunächst einmal in seinen scheinbar natürlichsten Momenten – seinen Dimensionen (Umfang, Größe, Gewicht, etc.) und Formen (rundlich oder vierschrötig, steif oder geschmeidig, aufrecht oder gebeugt, etc.), seinem sichtbaren Muskelbau, worin sich auf tausenderlei Art ein ganzes Verhältnis zum Körper niederschlägt, mit anderen Worten, eine ganz bestimmte, die tiefsitzenden Dispositionen und Einstellungen des Habitus offenbarende Weise, mit dem Körper umzugehen, ihn zu pflegen und zu ernähren. In der Tat erweist sich über kulinarische Vorlieben, die über die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstanden sind, hinaus Bestand haben können (wie in anderen Bereichen Akzent oder Auftreten), und natürlich auch über den Gebrauch des Körpers im Arbeitsprozeß wie in der Freizeit die klassenspezifische Verteilung der körperlichen Eigenschaften« (Bourdieu 1987 [1979], 305 ff.).

Der durch Sozialisation und Inkorporation erworbene Habitus ermöglicht und verunmöglicht es Menschen, in bestimmten sozialen Kontexten ›mitzuspielen‹. Diese Kontexte oder gesellschaftlichen Bereiche nennt Bourdieu Feld und führt beispielhaft das Feld der Wissenschaft oder das Feld der Kirche an. Nicht jeder Habitus ermöglicht es Menschen, in jedem Feld aktiv und anerkannt zu sein. Das Feld beschreibt Bourdieu wie ein Spielfeld im Sport mit klaren Grenzen, eigenen Spielregeln, spezifischen Zielen und verschiedenen Spieler*innen, die miteinander konkurrierend um Macht, Ansehen und Durchsetzung ihrer Interessen kämpfen. Ein Habitus funktioniert nur dann in einem Feld, wenn die inkorporierten Handlungs-‍, Denk- und Wahrnehmungsschemata dem des Feldes entsprechen: »Als Ergebnis der Verinnerlichung der äußeren Strukturen reagiert der Habitus auf die Anforderungen des Feldes weitgehend kohärent und systematisch« (Bourdieu & Wacquant 1996, 39). Das bedeutet, nur mit einem sozialarbeiterischen Habitus oder dem Habitus als Adressat*in ist es möglich im Feld der Sozialen Arbeit mitzuspielen.

Um in einem Feld ›mitspielen‹ zu können und Einfluss und Macht zu gewinnen, ist es darüber hinaus notwendig, über unterschiedliche »soziale Energie« (Bourdieu 1987 [1979], 194) zu verfügen. Diese Energie nennt Bourdieu Kapital und meint damit nicht wie Marx (▶ Kap. 4) ausschließlich ökonomisches Kapital, sondern auch kulturelles, soziales und symbolisches Kapital.

Das ökonomische Kapital bezeichnet den materiellen Besitz, Einkommen und Vermögen einer Person, das einen bestimmten Lebensstil ermöglicht. Es ist tauschbar, kann in Geld umgewandelt werden und ist durch Eigentumsrechte abgesichert. Das kulturelle Kapital kann im weitesten Sinne mit Bildung und dem Beherrschen von sog. ›Kulturtechniken‹ beschrieben werden, die materiell, inkorporiert und institutionalisiert sind. Materiell existiert kulturelles Kapital in »kulturellen Gütern« (Bourdieu 1983, 185) wie Büchern, Musikinstrumenten und Kunstgegenständen. Institutionalisiert ist kulturelles Kapital durch Zeugnisse, Bildungsabschlüsse, Zertifikate und akademische Titel. Insbesondere ist kulturelles Kapital aber inkorporiert. Es sind die Fähigkeiten, das materielle kulturelle Kapital zu nutzen, d. h. sich anzueignen, wie Bücher lesen, Musikinstrumente spielen, Kunststile erkennen zu können. Kulturelles Kapital zeigt sich zudem in der Art und Weise, über was und wie darüber gesprochen wird.

»Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ›Person‹, zum Habitus geworden ist; aus ›Haben‹ ist ›Sein‹ geworden« (ebd., 187).

Die Inkorporation von kulturellem Kapital erfordert Zeit, um zu lernen und sich zu ›bilden‹ sowie die Möglichkeit und die Ressourcen, die Zeit dafür aufzubringen. Diese Möglichkeiten sind je nach Klasse bzw. gesellschaftlicher Gruppe unterschiedlich, nicht zuletzt weil nicht alle Klassen über gleich viel kulturelles Kapital verfügen, das sie ›vererben‹ können, und/oder nicht über genügend ökonomisches Kapital verfügen, um kulturelles Kapital z. B. über kostspielige, lange Bildungszeiten und Bildungspraktiken (wie Klavierunterricht) aufzubauen.

Das soziale Kapital beschreibt das Netz von sozialen Beziehungen, das sich durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergibt. Diese relativ stabilen und exklusiven Beziehungen kennzeichnen gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung. Das soziale Kapital misst sich dann daran, inwieweit diese Beziehungen Zugang zu wichtigen Informationen gewähren und Unterstützung ermöglichen. Soziales Kapital könnte mit dem alltagssprachlichen ›Vitamin B‹ übersetzt werden, wenn bspw. über diese Beziehungen Kontakte zu Arbeitsstellen, die Unterstützung bei Bewerbungen oder Empfehlungsschreiben erhalten werden können.

Je nach Feld wird eines dieser Kapitalien mehr, ein anderes Kapital weniger gebraucht: Während im Feld der Kunst hohes kulturelles und hohes soziales Kapital ausschlaggebend sind, ist im Feld der Wirtschaft vielmehr hohes ökonomisches Kapital und hohes soziales Kapital entscheidend. Das bedeutet, dass die Spezifika des Feldes die Wirksamkeit der Kapitalien bestimmen. Diese Wirksamkeit ist auch an einen angemessenen Einsatz des Körpers gebunden, d. h. eine den Kapitalien, des Habitus und des Feldes entsprechende Körperdarstellung (z. B. über Kleidung) und entsprechendes Körperhandeln (z. B. Manieren beim Essen oder Begrüßungsregeln).

Zusammenfassend zeigt sich die Relationalität von Bourdieus Sozialisationskonzept darin, dass Inkorporation, Habitus, Feld und Kapitalien miteinander verbunden sind, sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. Der inkorporierte Habitus ist abhängig von bestimmten Kapitalien, die wiederum einen bestimmten Habitus ermöglichen. Zugleich braucht der Habitus ein Feld, um wirksam zu sein bzw. für das erfolgreiche ›Mitspielen‹ in einem Feld braucht es den angemessenen Habitus sowie die damit verbundenen Kapitalien.

1.4 Neuere Entwicklungen

Der französische Soziologe Didier Eribon (2016) setzt sich in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« autobiographisch mit Bourdieus Habitustheorie auseinander. Eribon ist in von Armut geprägten Verhältnissen, d. h. nach Bourdieu in der Arbeiter*innenklasse aufgewachsen. Bereits auf dem Gymnasium versucht er, den Habitus des Arbeiter*innenkindes abzulegen und sich die ›Hochkultur‹, den Intellektualismus und das Sprechen der ›Bourgeoisie‹ anzueignen. Seine Karriere als Professor der Soziologie sowie die Möglichkeit, offen homosexuell zu leben, bewertet er als ein Wunder. Verbunden ist damit jedoch ein ›gespaltener Habitus‹, bestehend aus dem zwar verdrängten, aber dennoch konservierten Habitus des Herkunftsmilieus und dem angeeigneten Habitus der Bourgeoisie. »Es tritt etwas ins Bewusstsein, wovon man sich gerne befreit hätte, das unverkennbar die eigene Persönlichkeit strukturiert: das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren« (ebd., 8). Eribons Lebensgeschichte kann ermutigen, denn der Habitus scheint nicht unausweichliches Schicksal zu sein. Der ursprünglich inkorporierte Habitus kann zwar nicht abgelegt, aber dennoch verlernt und ein weiterer, privilegierterer Habitus angeeignet werden. So resümiert Eribon (ebd., 219): »Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.«

Ebenfalls inspiriert durch Bourdieu hat sich die deutsche Soziologin Eva Barlösius mit unterschiedlichen Aspekten des Körpers und den damit verbundenen Inkorporationsmustern befasst: der Ernährung und der Hochgewichtigkeit. Mit der »Soziologie des Essens« (Barlösius 2016) beschreibt sie, dass und wie das normative Wissen über ›gesunde‹ und gesellschaftlich akzeptierte Ernährung privilegierend wirkt, da sich nicht alle einen entsprechenden Ernährungsstil finanziell leisten können. So wirken auch der (Essens-)‌Geschmack und die Unterscheidung von ›armen‹ und ›reichen‹ (Barlösius 2016, 149) Kochgewohnheiten sowie Essensrituale als sozial identitätsstiftend und zugleich als Distinktionsmerkmale. In ihrer Studie »Dicksein – Wie der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt« zeigt Barlösius (2014) auf, dass hochgewichtige Menschen »sich ihre sozialstrukturelle Positionierung [vergegenwärtigen] ebenso wie den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen in einer Art und Weise, als wären sie Angehörige einer sozialen Klasse und ›Abweichler‹ von der gesellschaftlichen Ordnung« (Barlösius 2014, 14). Im Verhältnis zum eigenen Körper offenbart sich also auch ein (inkorporiertes) Verhältnis zur Gesellschaft und umgekehrt prägen sich gesellschaftliche Verhältnisse durch Sozialisationsprozesse in das scheinbar individuelle Körpergefühl ein.

1.5 Erkenntnisse für die Soziale Arbeit

Für die Soziale Arbeit ist das Konzept der Sozialisation nicht zuletzt deshalb anschlussfähig, versteht sie sich doch als Disziplin, die sowohl auf gesellschaftliche Bedingungen wie auch auf Individuen einwirkt und verändernd einwirken kann. Dabei wird das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum als widersprüchlich und spannungsreich beschrieben. Einerseits will Soziale Arbeit Menschen Handlungsfähigkeit und eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen, andererseits zielt sie auf gesellschaftliche Integration ab, was auch als normalisierende Sozialisation beschrieben werden könnte. Soziale Arbeit befasst sich also unmittelbar mit Sozialisation, will Sozialisationsprozesse sowohl anstoßen als auch verändern. Als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft greift Soziale Arbeit in gesellschaftlich problematisierte Lebenspraxen teilweise kontrollierend ein (z. B. in der Drogenhilfe oder der Straffälligenhilfe) oder gestaltet Sozialisationsprozesse normativ (z. B. in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit) entsprechend dessen, was gesellschaftlich als ›normal‹ und notwendig gilt, bspw. bezüglich bestimmter Körperpraxen. Darüber hinaus begreift sich Soziale Arbeit vor allem in der stationären Kinder- und Jugendhilfe als stellvertretende, kompensatorische Sozialisationsinstanz, wenn die ›eigentliche‹ Sozialisationsinstanz Familie die gesellschaftlich geforderten Sozialisationserwartungen, d. h. die Ermöglichung gesellschaftlicher Integration nicht erfüllt. Als Sozialisationsinstanz soll Jugendhilfe Kinder und Jugendliche zu eigenverantwortlich handlungsfähigen und gesellschaftsfähigen bzw. gesellschaftlich ›normalen‹ Subjekten erziehen und sozialisieren.

Problematisch ist hierbei, dass bestimmten Eltern (Empfänger*innen von Leistungen nach SGB II, Alleinerziehenden, Familien mit Migrationserfahrung ...) häufiger als anderen gesellschaftlichen Gruppen förderliche, normalisierende und moralisch integre Sozialisationsleistungen abgesprochen werden. Dies zeigt sich u. a. darin, wer ›Hilfen zur Erziehung‹ erhält, nicht zuletzt mit der Idee, eine ›gelingende‹ Sozialisation zu ermöglichen (Ziegler 2015). Holger Ziegler (ebd., 465) betont entsprechend, »dass die Kinder- und Jugendhilfe eine öffentliche Einrichtung darstellt, der es um die Gestaltung von Sozialisationsprozessen geht. Dies geschieht durch personenbezogene Maßnahmen, durch Versuche, lebensweltliche und sozialräumliche Kontexte zu gestalten, und durch die Beeinflussung (kommunal-)‌politischer Prozesse und Entscheidungen«. Soziale Arbeit befasst sich normativ mit Sozialisation, oft wird die Vorstellung einer gelingenden bzw. misslingenden Sozialisation als »gesellschaftliche Tatsache« (ebd., 466) angenommen und nicht als gesellschaftlich normatives und veränderliches Konstrukt hinterfragt. Denn was (durch die Soziale Arbeit) als ›gelingende‹ Sozialisation verstanden wird, ist historisch veränderlich: Während in den 1950er und 1960er Jahren die sexuelle Sozialisation insbesondere von Mädchen abgelehnt wurde und sexuell aktive Mädchen als »gefallene Mädchen« oder als »sexuell verwahrlost« in Heime eingewiesen wurden (Klein & Sager 2010), wird heute von Mädchen eine aktive, (hetero-)‌sexuelle Sozialisation im Jugendalter erwartet.

Folglich ist Soziale Arbeit aufgefordert, sich immer wieder kritisch zu hinterfragen, inwieweit sie sozialisierend und normalisierend agiert oder agieren will und wie sie mit ihren Interventionen anerkannte und ausgeschlossene Identitäten sowie integrierende und exkludierende gesellschaftliche Strukturen re-produziert (Kessl & Plößer 2010).

Zum Weiterlesen

Abels, H. & König, A. (2016): Sozialisation. Über die Vermittlung von Gesellschaft und Individuum und die Bedingungen von Identität. Wiesbaden: Springer VS.

Eribon, D. (2016): Rückkehr nach Reims. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Grendel, T. (Hrsg.) (2019): Sozialisation und Soziale Arbeit. Studienbuch zu Theorie, Empirie und Praxis. Wiesbaden: Springer VS.

Hurrelmann, K., Bauer, U., Grundmann, M. & Walper, S. (Hrsg.) (2015): Handbuch Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel: Beltz.

2 Die Gesellschaft aus der Perspektive der Systemtheorie: Niklas Luhmann

Andrea Janßen

T In diesem Kapitel lernen Sie

·

die Grundzüge der Systemtheorie nach Niklas Luhmann kennen,

·

welche Perspektive die Systemtheorie auf Ausgrenzung und Exklusion bietet,

·

warum man mit der Systemtheorie einen sehr kritischen Blick auf die Soziale Arbeit werfen kann

Ebenso wie Talcott Parsons (▶ Kap. 1.1) beschäftigt sich Niklas Luhmann (1927 – 1998) mit der Frage, wie sich moderne Gesellschaften organisieren und trotz vielfältiger und ausdifferenzierter Aufgaben funktionieren. Die Systemtheorie Luhmanns gilt als universelle soziologische Theorie, also als ein theoretischer Ansatz, der einerseits die Gesellschaft als Ganzes beschreiben will und nicht nur Ausschnitte von ihr, und der sich andererseits nicht auf bestimmte gesellschaftliche Formen und Zustände wie z. B. kapitalistische Gesellschaften begrenzen, sondern gesellschaftsübergreifende Beschreibungen für soziale Phänomene geben will: eine »Supertheorie«, wie Luhmann es selbst formulierte (Luhmann 2021 [1987], 19).

2.1 Wesentliche Aussagen

Die Systemtheorie nach Luhmann ist nicht die erste ›soziologische‹ Theorie, die die Gesellschaft als eine Anordnung von Systemen begreift. Es gibt nicht die ›eine‹, sondern viele Theorien, die sich mit der Struktur und Wirkungsweisen von Systemen beschäftigen. So gab es bereits im 17. Jahrhundert Überlegungen zur Frage, wie die Anordnung von Dingen ins Gleichgewicht gebracht bzw. wie Störungen eines Gleichgewichts behoben werden können, was nach Luhmann bereits auf eine systemische Denkweise hindeutet: Wie kann ein System stabil bleiben (vgl. Luhmann 2017 [2002], 41 ff.)? Luhmann ist dabei beeinflusst von einer früheren Theorie des US-Amerikaners Parsons. Parsons entwickelte eine Handlungstheorie, die im Gegensatz zum reinen Rational-Choice-Ansatz, der die eigene Nutzenmaximierung als Grundlage menschlichen Handelns sieht, Werthaltungen und Normen der Gesellschaft als ein handlungsleitendes Element betrachtet. Um die Bedingungen für das Handeln zu beschreiben, entwarf er einen strukturfunktionalistischen Ansatz, der im Kern aussagt, dass sich ein System um eine bestimmte Funktion herum ausbildet (»Handlung ist System«, vgl. ebd., 18). Neben den Einflüssen Parsons auf Luhmann gibt es weitere, die zum Teil auch aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen kommen: Aus der Biologie übernimmt Luhmann z. B. den Begriff der Autopoiesis, mit dem Humberto Maturana die »zirkuläre Selbstreproduktion« (ebd., 75) von (biologischen) Systemen bezeichnet; aus der Mathematik die Überlegungen Spencer Browns zur Notwendigkeit von Unterscheidungen und von Differenz (vgl. ebd., 71 ff.).

Die Systemtheorie zu erklären beinhaltet eine Schwierigkeit, die dem Erklären zwar immanent zugrunde liegt, die bei der Systemtheorie aber aufgrund der Zirkularität der Begrifflichkeiten besonders deutlich wird: Es ist schwer, einen Anfang zu finden, da sich die Begriffe und Inhalte aufeinander beziehen, so dass man, erläutert man einen Begriff, dazu eigentlich alle anderen Begriffe bereits eingeführt haben müsste (vgl. ebd., 78). Wo also anfangen? An dieser Stelle wird der Versuch unternommen, dieser vielseitigen Verwobenheit dadurch zu entkommen, dass die Begriffe anhand einer – unterkomplexen und aufgrund der notwendigen Begrenzung auch nicht erschöpfenden – Grafik eingeführt werden (▶ Abb. 1). Zwar empfiehlt diese anhand der Nummerierung eine Reihenfolge der Auseinandersetzung, von dieser kann aber aufgrund der Interdependenz jederzeit abgewichen werden. Die Erläuterungen zur Grafik beinhalten eine grobe Zusammenfassung der wichtigsten Gedankengänge der Systemtheorie nach Niklas Luhmann.

Abb. 1:Begrifflichkeiten der Systemtheorie nach Niklas Luhmann

Erläuterungen zur Grafik (Systemtheorie):

1.

Die Gesellschaft als System ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich durch Kommunikationen »produziert und reproduziert« (Luhmann 2018 [1998], S. 70). Moderne Gesellschaften zeichnen sich zudem dadurch aus, dass ihre Kommunikationen immer häufiger, vielfältiger und komplexer werden. Steigt die Komplexität, ist eine Gesellschaft irgendwann nicht mehr in der Lage, diese zu überschauen und zu bewältigen, und ist somit in der Existenz bedroht. Durch die Teilung der Gesellschaft in einzelne Teilsysteme, die bestimme Aufgaben übernehmen (und andere damit nicht), kann die Gesellschaft Komplexität reduzieren. Somit ist die Gesellschaft zunächst als eine »umfassende Gesamtheit von Systemen« zu verstehen (Maaß 2007, 13). Mit der Gesellschaft ist keine national definierte Gesellschaft gemeint, sondern Luhmann geht davon aus, dass es mittlerweile eine ›Weltgesellschaft‹ gibt.

2.

Individuen werden in der Systemtheorie psychische Systeme oder Bewusstseinssysteme genannt. Sie sind – ebenso wie soziale Systeme – autopoietisch, d. h., sie erzeugen bzw. reproduzieren sich selbst und unterscheiden sich dadurch von allopoetischen Systemen (Maschinen), die sich nicht selbst, sondern etwas anderes erzeugen: »Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen« (Luhmann 2018 [1998], 65). Das psychische System in der Grafik ist zwar an den Kommunikationen des Gesellschaftssystems beteiligt, aber aktuell nicht an denen der anderen hier abgebildeten Systeme wie z. B. dem Wirtschaftssystem (vgl. 5.). Die Systemtheorie beschäftigt sich nicht mit den psychischen Systemen selbst, also damit, wie und was sie denken oder fühlen, sondern mit den Kommunikationen dieser psychischen und der anderen Systeme.

3.

Das Interaktionssystem ist ein soziales System und besteht wie alle sozialen Systeme aus Kommunikationen. Das Interaktionssystem besteht nur für den Zeitraum, in dem psychische Systeme kommunizieren. Endet die Kommunikation, löst sich das System auf. Psychische Systeme erleben dabei Sinn, und soziale Systeme kommunizieren mithilfe von Sinn, wobei dieser reproduziert wird (Luhmann 2017 [2002], 215 ff.). Sinn kann nach Luhmann in Medium (wie wird der Sinn transportiert, z. B. durch die Sprache) und Form (was wird vermittelt, also der Inhalt) unterschieden werden, wobei das Medium Sinn immer auch auf andere Möglichkeiten des Sinns verweist und die Unterscheidung des aktuell gewählten Sinns auch andere Möglichkeitsperspektiven impliziert. Dies bezeichnet Luhmann als »Ineinander von Aktualität und Möglichkeit« (ebd., 223). Sinn kann nicht negiert werden, auch das Feststellen von ›Unsinn‹ bezieht sich auf Sinnhaftigkeit. Der Sinn kann auch auf die Grenzen eines Systems verweisen, in dem Sinngrenzen als ›Selektionshilfen‹ die Entscheidung eines psychischen oder sozialen Systems erleichtern, ob eine Kommunikation verarbeitet werden soll oder nicht (Baraldi 2019 [1997], 172). Sinngrenzen könnten z. B. erreicht werden, wenn immer mehr eigentlich fachfremde, verwalterische Tätigkeiten der Sozialen Arbeit zugeordnet werden.

4.

Kommunikation selbst teilt sich in die Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen auf, wobei sie grundsätzlich kontingent ist: »Kontingenz ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist« (Luhmann 1984, 47). Vor jeder Kommunikation stehen eine Unterscheidung und die Entscheidung, was kommuniziert werden soll; es muss also eine Information aus der nahezu unendlichen Anzahl von Informationen ausgewählt werden. Ist dies geschehen, haben sich die Möglichkeiten des weiteren Verlaufs der Kommunikation wesentlich verringert, wobei es nicht unmöglich gewesen wäre, eine andere und nicht gerade diese Information auszuwählen. Die Mitteilung als zweite Phase der Kommunikation kann nicht nur sprachlich, sondern auch mit Gestik und Mimik erfolgen. Das Verstehen als dritte Phase bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine Person die andere in dem Sinne verstanden hat, wie diese es gemeint hat. Auch eine missverständliche Kommunikation kann über einen längeren Zeitraum fortlaufen. Da Kommunikation zwischen mehreren Personen, also zwischen Alter und Ego (d. h. dem* Anderen und dem* Ich) ablaufen, spricht Luhmann von doppelter Kontingenz: Sowohl Alter als auch Ego gehen davon aus, dass ihre Handlungen als auch die Handlungen des* Anderen voneinander abhängig sind, sind aber nicht in der Lage, die Handlungen des* Anderen zu antizipieren, da »Ego und Alter sich den Anderen als prinzipiell intransparent vorstellen« (Kron & Dittrich 2002, 212). Alter kann nicht wissen, was Ego denkt und umgekehrt, so dass die Inhalte einer Kommunikation zunächst kontingent und durch diese Offenheit nahezu unbegrenzt sind. Dass Kommunikation unter diesen Umständen überhaupt stattfinden kann, begründet Luhmann mit den Erfahrungen aus früheren Kommunikationen, aus denen Strukturen und Erwartungshaltungen resultieren, die die Unsicherheit verringern, wenngleich diese nicht komplett beseitigt werden kann (vgl. Kron & Dittrich 2002, 216 ff.).

5.

Funktionssysteme sind wichtige Teilsysteme in der Gesellschaft, die jeweils spezifische Aufgaben übernehmen und dadurch Komplexität reduzieren. Sie bestehen wie alle sozialen Systeme aus Kommunikationen. Die Charakteristika von Funktionssystemen werden am Beispiel des Wirtschaftssystems erklärt:

a.

Funktionssysteme entscheiden anhand eines binären Codes, ob von außen herangetragene Kommunikationen aufgenommen und im System verarbeitet werden. Das Wirtschaftssystem hat den binären Code ›Zahlen/Nicht-Zahlen‹ (in dem Sinne, dass eine Person etwas bezahlen kann oder nicht). Kann das Funktionssystem den binären Code ›Zahlen/Nicht-Zahlen‹ anwenden, wird diese Kommunikation vom System aufgenommen.

b.

Das Medium führt dazu, dass unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlich wird. Im Wirtschaftssystem gibt es das Medium Geld: Ein Geschäft zu betreten und sich dort Dinge auszusuchen und sie mit nach Hause zu nehmen, wird nur durch das Medium Geld zu einer wahrscheinlichen Kommunikation. Über Geld zu verfügen, ist somit die Bedingung, um im Wirtschaftssystem an Kommunikationen teilzunehmen.

c.

Das Funktionssystem hat eine gesellschaftliche Funktion, beim Wirtschaftssystem ist es die Versorgung mit Kaufkraft und Gütern.

d.

Das Funktionssystem erbringt Leistungen für andere Systeme