Sparks of Hope - Verena Unsin - E-Book

Sparks of Hope E-Book

Verena Unsin

5,0

Beschreibung

Levi und Lukia könnten kaum unterschiedlicher sein - er der Streber aus behütetem Elternhaus, sie die Außenseiterin, die sich mit Lippenpiercing, Butterfly-Messer und einem schweren Geheimnis durchs Leben kämpft. Trotzdem kreuzen sich ihre Wege immer wieder und eine zarte Freundschaft entsteht. Insgeheim fasziniert von Levis turbulenter Familie und seiner fürsorglichen Art, fragt Lukia sich, wieviel davon mit seinem tiefen Glauben an Gott zu tun haben könnte. Und Levi merkt, dass unter Lukias harter Schale die Frau steckt, in die er sich langsam verliebt. Doch die Wunden ihrer Vergangenheit reichen tief, und Levi muss erfahren, dass nicht er es ist, der diese heilen kann.

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Die Liedzeilen entstammen dem Lied: THE GIFT

Musik & Text: Thomas DeLonge

© Universal Music Corp. / Universal/MCA Music Publishing GmbH

Die Bibelstelle aus Johannes 8,32 folgt dem Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen.

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Die Bibelstelle aus 1. Johannes 4,18 ist der Übersetzung Hoffnung für alle® entnommen, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

© 2022 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Lektorat: Carolin Kotthaus

Illustrationen für Umschlag und Innenteil: Verena Unsin

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

ISBN Buch 78-3-7655-2126-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7639-3

www.brunnen-verlag.de

INHALT

TRIGGERWARNUNG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

DANK & NACHWORT

FÜR L.T., MEINE SCHWESTER –

OHNE SIE HÄTTE ICH NICHT WEITERGEMACHT.

OBWOHL ICH DICH ÜBERRAGE,

SCHAU ICH ZU DIR AUF.

„SO I TRY MY BEST TO SING THIS SONG.“

„UND IHR WERDET DIE WAHRHEIT ERKENNEN,

UND DIE WAHRHEIT WIRD EUCH FREI MACHEN.“

JOH 8,32

TRIGGERWARNUNG

Hallo, du wunderbarer Mensch,

dieses Buch beinhaltet Themen, die unter Umständen triggern können.

Ich möchte dich darauf hinweisen, damit du dir überlegen kannst, was dir guttut.

In dieser Geschichte tauchen Themen wie sexueller Missbrauch sowie verbale Gewalt auf. Diese Dinge werden allerdings sehr behutsam und nicht detailliert beschrieben.

Auch das Thema Trauerbewältigung wird gestreift.

Solltest du bezüglich der Inhalte Fragen oder Bedenken haben, dann nimm Kontakt mit mir oder anderen Lesern auf, die das Buch bereits kennen.

Deine Verena

1

AND SUDDENLY

YOU’VE DONE IT ALL

YOU’VE WON ME OVER

IN NO TIME AT ALL

THE GIFT – ANGELS & AIRWAVES

JETZT

Sie atmete neben ihm tief ein. „Wir sollten schwimmen gehen.“

Ein Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel. Er nickte. Noch immer hielt er den Griff ihres Reisekoffers umfasst, er hatte ihn gerade erst auf die kleine Veranda befördert. Nach der langen Fahrt endlich angelangt, hatten sie kurz innegehalten, um den Anblick des Sees, umringt von typischen roten Ferienhäuschen und hohen skandinavischen Tannen, in sich aufzusaugen.

Die Sonne warf Glitzerpunkte über das Wasser. Ihr Abendschein war so warm und einladend, dass er am liebsten sofort ihrem Vorschlag folgen und in das klare Nass eintauchen wollte.

Die Wärme des Tages hing noch über der Seeoberfläche, von Ferne drang Kinderlachen an sein Ohr. Auch wenn er das nächste Häuschen von hier nicht sehen konnte, genoss noch irgendwo ein Kind diesen Ferientag. Es war ja noch überhaupt nicht dunkel und würde es hier, mitten im Sommer, auch gar nicht erst werden. Die berühmte Mitternachtssonne …

„Was brauchst du?“

„Nix.“ Sie machte zwei Schritte auf den See zu, dann wandte sie sich zu ihm um. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er ließ den Koffer stehen und ging zu ihr.

Gemeinsam legten sie eilig die wenigen Meter zu dem kleinen Holzsteg zurück. Er spürte noch immer sein Herz, wild hämmernd. Für sie schien es die selbstverständlichste Sache auf der Welt zu sein.

Sie nahm nicht seine Hand, aber zwischen ihnen herrschte stilles Einverständnis.

Als er seine Schuhe abstreifte, spürte er das warme, leicht aufgeraute Holz unter seinen Füßen.

Eilig schüttelte sie ihre Flip-Flops ab. Sie trug ihre Lieblingsjeans, mit den Löchern an den Knien, und ein weißes T-Shirt.

Ihre Jeans landete auf dem Steg.

Er legte seine Brille behutsam zur Seite, zog sein T-Shirt über den Kopf und ließ es auf ihre Hose fallen. Seine Shorts genügten ihm zum Schwimmen.

Sie setzte sich auf den Stegrand und ließ ihre Beine ins Wasser baumeln, in ihr T-Shirt machte sie auf der Höhe ihres Bauchnabels einen Knoten.

Er ließ sich neben ihr nieder und wartete, während seine Füße Kreise in dem weichen Wasser zogen. Es war erfrischend, doch nicht eisig.

Ihre Blicke trafen sich. Er hielt ihre grünen Augen mit den seinen fest. Das Licht auf ihrem dunkelblonden Haar glänzte, ihr gebogener weißer Hals schien zu blenden, wo die Sonne ihn traf. Ihre Gesichtszüge wirkten zwar ernst, doch in ihren Augen konnte er Freude lesen.

Freude über ihren Mut, dem Impuls des Augenblicks zu folgen.

Er wollte nichts von diesem Moment vergessen.

Dann ließ sie sich vom Steg nach vorn fallen und er hinterher. Das Wasser umschloss ihn wie eine Hülle. Mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem verharrte er unter der Oberfläche. Es war wie das Eintauchen in ein neues Leben.

Etwas strich an seinen Arm vorbei, seine Augen öffneten sich. Verschwommen nahm er einen weißen Fleck und wie Algen treibende Haarsträhnen wahr. Ob sie sein Lächeln sehen konnte, wusste er nicht, doch in stiller Verabredung strebten sie beide wieder nach oben.

2

THERE’S THE STRANGEST EXCITEMENT TODAY

IF YOU’RE AWAKE THEN YOU’RE WELCOME TO HEAR

THE GIFT – ANGELS & AIRWAVES

Vor fünf Jahren

„Besondere Auszeichnung für das Fach Englisch mit einer Note von 1,0 geht an Lukia Bachmann.“

Es wurde höflich geklatscht. Er beobachtete Lukia, wie sie mit ihren über 1,80 m das Podium hinaufstieg. Alle anderen Mädchen trugen Kleider. Manche Kleider konnten wahrscheinlich eine vierköpfige Familie einen Monat lang ernähren. Nicht Lukia. Auch nicht heute.

Schwarze Skinny-Jeans, von denen man nicht wusste, ob sie davon mehrmals das gleiche Paar besaß oder es immer dieselbe war. Einen grauen Hoodie, doch die Kapuze respektvoll zurückgeschlagen. Die kinnlangen schwarzen Haare hinter die Ohren gestrichen.

Sie übernahm ihre Urkunde und schüttelte brav dem Rektor die Hand. Den Buchgutschein bekam sie auch noch. Kein Lächeln auf ihren fest zusammengepressten Lippen, die nur von dem aufblitzenden Metallring in der Mitte der Unterlippe geschmückt waren.

Make-up? Lippenstift? Wofür andere Mädchen einen Friseurbesuch und Kosmetikstudio gebucht hatten, hatte Lukia Bachmann ganz bestimmt keine Minute zu lang vor dem Spiegel gestanden.

*

Sie zitterte innerlich. Vor der ganzen Schule dort hochsteigen und angestarrt werden, wenn auch nur für ein paar Sekunden – sie hasste dieses Gefühl!

Gleichzeitig erfüllte sie Wehmut. Denn egal, was man von der Schule halten wollte, hier hatte sie sich immer sicher verwahrt gefühlt. In der Menge konnte man leicht verschwinden … Vielleicht hätte sie in Englisch absichtlich ein paar Fehler machen sollen, dann stünde sie jetzt nicht alleine hier oben.

Aber: Nur nicht die Nerven verlieren! Zähne zusammenbeißen. Hand schütteln … und dann war es ja auch schon vorbei. Zumindest bedeutete dieses Ende einen baldigen Neuanfang.

Irgendwo – nur nicht hier.

*

Er rutschte auf seinem Platz hin und her und dachte insgeheim, dass er Lukia eigentlich bewunderte. Seine Mutter hatte auf Anzug und Hemd bestanden und er hatte sich nicht widersetzt. Warum auch? Er passte wunderbar ins Gesamtbild. Hatte er schon immer.

Der brave Levi Konstantin Seibert.

Bestdurchschnitt.

Seine Mutter wandte sich leicht zu ihm: „Wo sind denn ihre Eltern?“, flüsterte sie, nachdem Lukia sich wieder ihren Weg nach unten und zu einem Stuhl am Rand gebahnt hatte. Die meisten der Abiturienten waren geflankt von stolzen Eltern oder Elternteilen, Geschwistern oder zumindest Freunden.

Lukia saß allein.

Er zuckte mit den Schultern und schob nervös seine Brille zurecht. „Ich weiß bloß, dass sie nur noch ihren Papa hat. Keine Ahnung, vielleicht muss er arbeiten.“ Er versuchte unbeteiligt zu flüstern. Doch innerlich war ihm bewusst, dass das einfach beschissen armselig war.

Sie hatten ihre gesamte Schulzeit in der gleichen Klasse verbracht.

Er sollte wissen, warum sie da alleine saß.

Doch seit dem Tag, als die Grundschullehrerin in der Vierten verkündet hatte, dass sie Lukia Bachmann rücksichtsvoll behandeln sollten, wenn sie nach den Herbstferien wiederkäme, weil sie sich von ihrer Mutter hatte verabschieden müssen, schien niemand mehr auch nur das geringste andere von Lukia zu wissen.

Nur: die mit der toten Mutter.

Und um sie nicht aufzuregen oder gar zum Weinen zu bringen, sagte niemand etwas.

Und Lukia sagte auch nichts.

Mit ihrem damals noch dunkelblonden Zopf saß sie da und schaute zur Tafel. Sie schrieb und antwortete, wenn sie gefragt wurde, doch sie meldete sich nie von sich aus.

Er hatte ihr seine Schokomilch in der Pause angeboten.

Sie hatte gesagt: „Geh weg.“

Und da war der kleine Levi mit der Harry-Potter-Brille auf der Nase verwirrt weggegangen, obwohl er schon verstand, dass Schokomilch einem nicht die Mama zurückbrachte.

In diesen Tagen hatte sein zehnjähriges Ich einige verwirrende Träume und Nächte, in denen plötzlich sein Bett nass war und er sich beschämt zu seiner Mutter schlich.

Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Nicht schlimm. Was hast du denn geträumt?“

„Dass du tot bist“, lautete jedes Mal die Antwort.

Sie zog sein Bett ab und nachdem er trockene Sachen angezogen hatte, zog sie ihn auf ihren Schoß. „Komm, wir beten.“

Erleichtert hatte sich Levi an ihre Brust gelehnt und genickt.

„Besondere Auszeichnungen in den Fächern Mathematik, Physik und Biologie – jeweils die Note 1,0 – und dazu die Urkunde für den Jahrgangsbesten überreichen wir Levi Seibert.“

Er spürte einen Rippenstoß, als seine Mutter ihn aus seinen abschweifenden Gedanken riss, und stand rasch auf. Seine Familie applaudierte natürlich am lautesten. Louise, seine neunjährige Schwester, johlte sogar – weniger ihm zuliebe, als dass sie endlich ihrer überschüssigen Energie ein Ventil geben wollte. Peinlich. Streber Levi auf dem Weg zu seinem bisher größten Triumph …

Er blickte nicht von der Bühne nach unten. Er wollte nicht sehen, wer von seinen fein gemachten Klassenkameraden genervt mit den Augen rollte, während der Rektor ein paar weitere Lobesworte vom Stapel ließ. Geschenkgutschein und Urkunden wurden übergeben, dann war die Zeugnisvergabe endlich vorbei und der zweite Teil des Abends, der mit dem edlen Abendessen und Band, Abschlussbildershows und Tanz begann.

Levi blickte sich suchend um, nachdem ihm seine Freunde und Familie samt Großeltern gratuliert hatten.

Doch der graue Hoodie war nicht mehr da.

Ein leichter Stich drang in sein Herz. Als hätte er versagt.

3

Im Hausflur stolperte er fast über die Schuhe seiner jüngeren Schwestern. Er konnte es sich nicht verkneifen, kurz in Richtung des Wohnzimmers mit dem plappernden Fernseher zu brüllen: „Ey, eure Schuhe könntet ihr aber schon aufräumen!“

Silia, die Mittlere in ihrem Trio, kam in den Flur geschlendert und hob betont langsam die Schuhe auf. „Mach mal nicht so’n Aufstand.“ Als sie an ihm vorbeiging, rümpfte sie die Nase. „Du stinkst.“

„Deswegen geh ich ja auch gleich duschen, du vorlautes Gör.“ Man sollte meinen, seine fünf Jahre Altersvorteil würden ihr ein bisschen Respekt abverlangen, aber keineswegs.

Bei seiner Ansage trampelte Silia die Treppe hinauf, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen.

„Beeil dich Levi, der Tisch ist für halb acht reserviert“, vernahm er die Stimme seiner Mutter aus der Küche. Seine Eltern hatten was zu feiern und wünschten sich deshalb, dass sich alle ein bisschen schick machten.

Er löste seinen Fahrradhelm und schob ihn im Flur auf das Regal. Seine Handschuhe landeten hinterdrein.

Der ungehaltene Ton seiner Mutter gab ihm zu verstehen, dass er zu lang unterwegs gewesen war. Doch er hatte diese Tour gebraucht. Als könne ihm der Fahrtwind den Kopf freipusten und alles davonjagen, was an Fragen in ihm schrie.

Es hatte bedingt funktioniert. Sobald seine Beine still standen, kehrte der Wirbelsturm in seinem Kopf zurück. Das Spitzenabi lag auf seinem Schreibtisch. Und jetzt?

Zwar nie wieder Schule, doch er war gern zur Schule gegangen. Er hatte sich dort in der überdachten Lernstruktur wohlgefühlt. Nun lag es an ihm, eine neue Struktur für sein Leben zu finden.

Einen Studienplatz, eine passende Uni. Neue Freunde … Und was wurde aus den bisherigen? Würde man sich in der Distanz verlieren? Er war sich sicher, dass das für einige seiner Klassenkameraden zutraf.

Aber natürlich hatte er auch ein paar tiefere Freundschaften.

Ihm schien nur, als habe er eine der wichtigsten nie geschlossen …

Er warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war erst sieben! Er brauchte doch keine halbe Stunde, um sich zu duschen und umzuziehen! Er war ja nicht Silia.

Mit einem Grinsen lief er die Treppe hinauf, suchte in seinem Dachzimmer zusammen, was er benötigte, und lief dann mit Schwung gegen die verriegelte Badezimmertür im ersten Stock.

„Was?!“, kam es prompt von drinnen. Silias Stimme, deutlich genervt.

„Kann ich duschen oder was?“, fragte er durch die geschlossene Tür und rieb sich mit seiner freien Hand die Schulter.

„O Mann, ey, in diesem Haus hat man keine zwei Sekunden seine Ruhe.“ Ein Schlüssel wurde gedreht und Silia rauschte bewaffnet mit einem Schminktäschchen an ihm vorbei. Er konnte seine vierzehnjährige Schwester nicht wirklich in sich aufnehmen, doch es schien, als sei beim Gebrauch der Wimperntusche etwas gehörig danebengegangen.

Seufzend ging er ins Bad und beeilte sich aus seinen verschwitzten Sportsachen zu kommen.

Zwanzig Minuten später stand er pünktlich an der Haustür und wartete auf den Rest seiner Familie. Seine Eltern waren startklar und Louise hüpfte mit einem lila Lackhandtäschchen auf und ab – nur Silia war noch nicht unten erschienen.

„Bist du so weit, Liebes?“, wagte sein Vater vorsichtig die Treppe hinaufzurufen.

„Jaaa, gleich. Hetzt mich doch nicht immer so.“

Sein Vater warf einen verzweifelten Blick zu seiner Mutter.

Die stieß leicht frustriert die Luft aus. „Ich wünschte manchmal, wir könnten die Pubertät überspringen.“

Doch im nächsten Moment erschien Silia und seine Mutter warf ihr einen bewundernden Blick zu.

Auch sein Vater lächelte milde. „Du siehst wunderschön aus, Schatz.“

Silia grinste verlegen. Das mit der Wimperntusche hatte nun doch noch irgendwie hingehauen.

„Ein sehr hübsches Kleid“, bemerkte seine Mutter. „Das passt ganz toll zu deinen Augen.“

Levi musterte seine Schwester. Ja, sie war wirklich ganz hübsch, aber irgendwie verstand er nicht ganz, warum sie um ihren Aufzug immer so ein Theater machte. Und eigentlich fand er sie zu jung für Schminke, doch da hatte er nichts zu melden.

Zum Glück war Louise noch nicht in dem Alter.

Sie war neun und kletterte gerne mit ihm auf Bäume, wollte mit ihm wetten, wer weiter spucken konnte, und er musste mit ihr jeden Regenwurm, den sie fanden, von der Straße retten.

Heute steckte sie zwar in einem hellblauen Kleidchen ohne Dreckflecken, doch das täuschte ihn keineswegs.

Sie mussten die paar Meter in die Innenstadt mit dem Auto zurücklegen, um noch pünktlich im Restaurant anzukommen.

Das Lokal Zum Löwen war gemütlich und nicht übermäßig vornehm, doch die Küche war ausgewählt und sehr gut. Hier hatten seine Eltern zur Feier des Tages ihrer Silberhochzeit hingehen wollen. Und zwar mit der gesamten Familie. Denn mittlerweile war Silia oft nicht so erpicht darauf, mit ihnen irgendwohin zu gehen.

Levi betrachtete diesen letzten Sommer im Kreis seiner Familie mit anderen Augen. Er empfand es zunehmend als Geschenk, noch ein bisschen Zeit mit ihnen gemeinsam zu haben, bevor er nach sonst wo aufbrach – Gott allein wusste wohin.

Mehrere Unis hatten seine Bewerbung erhalten, einige davon viele Hundert Kilometer weit weg.

Ihnen wurde ihr Platz zugewiesen, dann erschien eine Kellnerin mit weißer Bluse und schwarzer Hose, die Haare zu einem kleinen Stummel zusammengebunden. Ein Ring blitzte silbern und merkwürdig vertraut in der Mitte ihrer Unterlippe.

„Oh, hi Lukia.“ Überrascht sah Levi sie an. Er hatte nicht gewusst, dass sie hier arbeitete. Vielleicht ein Ferienjob?

„Hi Levi“, grüßte sie zurück. Sie schien keine Schwierigkeiten zu haben, sich an seinen Namen zu erinnern. „Haben Sie schon einen Getränkewunsch?“ Dienstbeflissen schaute sie in die Runde, dann notierte sie die Getränke und machte sich flink davon.

Er war immer noch ein bisschen überrumpelt, dass er sie so unverhofft getroffen hatte. Und wie wenig sie das zu jucken schien. Na ja, warum sollte es das auch?

„Das war Lukia, die mit der besten Englischnote, richtig?“, erkundigte sich auch gleich seine Mutter.

„Ja.“ Levi starrte auf das weiße Tischtuch.

„Find ich toll, dass sie sich was dazuverdient.“ Sein Vater klang anerkennend. „Solltest du dich nicht auch bald nach einem Ferienjob umsehen? Die Finanzen kannst du für die Uni bestimmt gut brauchen.“

„Ich … ja, vielleicht.“ Eigentlich hatte er sich auf ein paar Wochen Freiheit, Fahrradfahren und eventuell eine Fahrradzelttour mit ein paar Kumpels gefreut, doch er hatte keine Lust, jetzt eine Diskussion zu starten. Einen Stapel Bücher wollte er sich auch noch zu Gemüte führen – falls man ihn an einer der Unis akzeptierte, wollte er bestmöglich vorbereitet sein.

Als Lukia wiederkam und ihre Getränke verteilte, sprach seine Mutter sie an.

„Wir haben gerade noch mal an Ihre Auszeichnung gedacht. Gratulation zum bestandenen Abi. Wissen Sie denn schon, was Sie studieren möchten?“

Er wäre am liebsten unter den Tisch gerutscht, hinter seinen Brillengläsern warf er ihr einen Blick zu, den sie hoffentlich als entschuldigend empfand. Seinen Eltern waren Lernen und die Berufswahl nun mal sehr wichtig. Sie verstanden nicht ganz, wenn andere weniger interessiert daran waren, ihr Lebensglück in der akademischen Welt zu finden. Und er musste zugeben, er hatte keine Ahnung, was Lukia eigentlich vorhatte. Sie war nicht dumm, zumindest waren ihre Noten an sich ganz in Ordnung. Mathe war nie so ihr Ding gewesen, doch als er ihr in der Achten mal angeboten hatte, mit ihm für eine Arbeit zu lernen, hatte sie ihn genauso abblitzen lassen wie damals mit der Schokomilch.

Da waren ihre Haare auch schon schwarz geworden und bis zum Kinn abgeschnitten. Der unverkennbare Ring war vor zwei Jahren dazugekommen.

Lukia lächelte liebenswürdig, wie er es bestimmt seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. „Ich habe nicht vor zu studieren.“

Seine Mutter machte ein verblüfftes Gesicht. „Wirklich?“

„Na ja, sich klar zu werden, was man eigentlich mal werden will, ist gar nicht so einfach“, sprang sein Vater in die Bresche. „Für Levi war das auch nicht so einfach und nun hat er sich breit gestreut beworben …“

Er hätte seinem Vater liebend gern unter dem Tisch einen Tritt verpasst.

Lukia wandte sich ihm zu. „Ach, echt? Bei dir steht doch schon seit der fünften Klasse fest, dass du Mathe studierst.“

Er schluckte. Warum enttäuschte ihn diese Bemerkung? „Das war in der Fünften. Ich denke nicht, dass du weißt, welche Gedanken ich mir seitdem gemacht hab.“

„Nee, ist auch nicht mein Bier.“ Nun vergaß sie kurz ihre professionelle Höflichkeit.

Levi biss sich auf die Lippe und sie schien zu merken, dass sie den Bogen überspannt hatte.

„Ich wünsch dir natürlich viel Erfolg bei was auch immer.“ Dann wandte sie sich an den restlichen Tisch. „Haben Sie schon gewählt?“

Sie bestellten ihr Essen und seine Eltern ließen ihre Versuche sein, Lukia weiter über ihre Zukunft auszuhorchen.

Zum Glück wollte sein Vater keine lange Rede auf 25 Ehejahre halten, aber er versprach seiner Frau, mit ihr allein wegzufahren, und sie durfte sich aussuchen wohin.

Silia stieß ihn in die Seite. Offensichtlich dachte sie, er würde sie im Elternhaus Party machen lassen, doch da hatte sie sich gewaltig geirrt.

Seine kleinste Schwester, Louise, zog einen Flunsch, weil sie nicht mitdurfte und überhaupt nach wie vor noch nicht so gern auf Mama verzichtete. Aber mit Mousse au Chocolat zum Nachtisch ließ sie sich besänftigen.

Er konnte absolut nichts mehr essen. Nur einen Espresso mit extra viel Zucker trinken. So platt, wie er nach der Radtour war, konnte er bestimmt trotzdem schlafen.

Levi war froh, als sie schließlich die Rechnung bezahlten.

Die Frauen mussten alle noch auf die Toilette, doch er ging schon mal nach draußen, um Luft zu schnappen. Sein Vater machte sich währenddessen auf den Weg, um das Auto zu holen.

Levi atmete tief ein und schlenderte ein paar Schritte in den Hinterhof. Eine Tür klappte hinter ihm und als er sich umdrehte, schleppte Lukia gerade zwei schwarze Müllsäcke zu den Containern. Eine plötzliche Wut überkam ihn, ohne dass er wusste, warum eigentlich.

„He, Lukia.“

Sie schaute auf. „Was?“

Er lief zu ihr hinüber. Und dann war die Wut auch schon wieder fort.

Was hatte sie ihm schon getan? Gar nichts.

Was wusste er von Lukia Bachmanns Leben? Auch nichts.

Die feine Stimme in ihm gewann die Oberhand. Er schob ihr den Deckel des Containers auf, damit sie ihre Last loswerden konnte und die Säcke nicht erst abstellen musste.

Wortlos warf sie die beiden Müllsäcke hinein.

„Sorry, wegen vorhin. Ich meine, weil meine Eltern dich ausfragen wollten.“

„Schon okay.“ Einen Moment lang starrte sie in Richtung des miefenden Mülls. Dann wandte sie sich in einer Halbdrehung zu ihm und er ließ den Deckel wieder zufallen. „Ich bin’s bloß nicht gewohnt, dass jemand fragt.“ Mit diesen Worten stapfte sie zurück zum Hinterausgang der Gastwirtschaft.

Levi hörte, dass man seinen Namen rief, doch er starrte noch kurz auf die Hintertüre, versunken in ihren letzten Satz. Aber dann riss er sich los und lief zurück zur Straße. Sein Vater war guter Laune. Er hielt den Töchtern und seiner Frau gerade die Wagentüren auf und machte eine übertriebene Verbeugung. Seine Mutter kicherte, Silia verdrehte die Augen und Louise war schon auf die Rückbank gehopst.

*

Luke stand noch kurz im Gang auf dem Weg zur Küche und atmete durch, um sich wieder zu fassen. Boah, Levis Eltern sind ja fasst so wissbegierig wie er immer.

Klar hatte ihr Vater auch ihr Zeugnis sehen wollen. Er schien sogar erstaunt, dass es ziemlich gut war. Er hatte aber nur gesagt: „Verschwend’s nicht. Schau zu, dass du was Ordentliches lernst.“ Würde sie schon, keine Sorge! Ihre Bewerbungen waren längst geschrieben. Für September hatte sie eine Zusage in der Tasche. Aber das hatte er gar nicht mitbekommen. Ging ihn ja auch nichts an. Aber komisch war es schon, dass es fremde Leute mehr zu interessieren schien als ihn.

Nicht mehr lang, gar nicht mehr lang … Genervt riss sie sich von diesen Gedanken los.

Sie musste jetzt wirklich weiterarbeiten.

4

Er strampelte, so fest er konnte, er wollte den Anstieg schaffen, ohne noch einmal in einen leichteren Gang runterzuschalten. Die getönte Fahrradbrille verwandelte die sommerlichen Wiesen und Felder in eine Landschaft mit Blaustich. Sein Herz pumpte wie wild und sein Atem ging schwer.

Er wollte, er könnte immer so weitertreten, bis an den Rand der Erschöpfung, damit er sich keine Gedanken über die Zukunft mehr machen musste. Momentan hing er in der Schwebe. Es war ein Zustand, der ihm weder vertraut noch besonders angenehm war.

Die letzten paar Meter bis zur Anhöhe wurde er immer langsamer, doch er gab nicht auf, bis er die Ebene erklommen hatte und über das Tal mit der Stadt unter sich schauen konnte. Nun, in gemäßigterem Tempo, glitt er auf die riesige Eiche zu, die dort schon Hunderte von Jahren stehen musste und sich kaum um die Gedanken der vielen Menschen scherte, die sie im Wandel der Zeiten besucht hatten. In ihrem Schatten wollte er eine kurze Trinkpause einlegen.

Allerdings erkannte er beim Näherkommen, dass bereits jemand an den Stamm gelehnt saß. Er hatte keine besondere Lust auf andere Menschen und überlegte, ob er einfach noch ein Stück weiterfahren sollte. Doch dann erkannte er im Blaustich seiner getönten Sonnenbrille, wer dort saß, und änderte seine Meinung.

Lukia.

Zwar lief man in ihrer Kleinstadt meist irgendwelchen Bekannten über den Weg, doch seit dem Ende der Schulzeit war dies nun schon das zweite Mal, dass sich innerhalb von zwei Wochen ihre Pfade kreuzten. Und hier draußen hätte er es am allerwenigsten erwartet.

Daher hielt er mit etwas Abstand vor dem Baum. Das leichte Quietschen seiner Bremsen verriet ihn. Sie sah von ihrem Buch auf, in das sie bis gerade noch vertieft gewesen war.

„Hi.“ Er war noch immer leicht außer Atem.

„Hm.“ Unmittelbar stand sie auf und klopfte sich über den Hosenboden. Ihre volle Größe war imposant, sie überragte alle Mädchen in seiner Klasse. Doch gleichzeitig war sie ungemein zart, fast schon dürr. An diesem heißen Tag trug sie ein weites T-Shirt. Mal keinen Hoodie. Ihr Zeigefinger steckte zwischen den Buchseiten des schon recht mitgenommenen Taschenbuchs.

Er deutete zu der Eiche. „Genialer Platz.“ Dann zog er die Trinkflasche aus der Halterung an seinem Fahrrad, schlenderte auf sie zu und nahm einen tiefen Schluck.

„Was machst du?“, fragte Lukia.

„Biken. Nachdem das Wetter so nice ist und man endlich nach dem ganzen Gelerne wieder Zeit dafür hat. Ich fahr viel.“

Sie schnaubte verächtlich durch die Nase. „Dass du Rad fährst, kann ich mir gerade noch zusammenreimen. Ich meine, was das hier werden soll.“ Sie deutete mit ausgestrecktem Arm und flacher Hand auf ihn und das abgelegte Rad.

„Eine … Pause?“

„Großartig. Hast du vielleicht darüber nachgedacht, dass ich allein sein will?“

„Oh“, entfuhr es ihm erstaunt. Natürlich hatte er das nicht. „Nein, sorry“, gab er deshalb zu. „Willst du?“ Er sah sie direkt an. Woher kam nur diese ständige Feindseligkeit ihm gegenüber? Er hatte ihr doch wirklich nichts getan. Im Gegenteil. Er bemühte sich ständig, irgendwie nett zu ihr zu sein.

Die Frage schien sie ein bisschen aus der Fassung zu bringen.

Sie schob eine störende Haarsträhne zurück hinters Ohr und ihr Daumen strich nervös über den Rücken des zerlesenen Buchs in ihrer rechten Hand.

Er wartete auf ihre Antwort.

Sie seufzte leise und zuckte dann nur mit den Schultern. Anscheinend war sie zu dem Entschluss gekommen, dass sie ihm nicht verbieten konnte, ebenfalls hier zu sein.

„Ich find’s schön hier oben“, sagte er.

„Mhm.“

Sein Blick wanderte zu dem Buch in ihrer Rechten: „Endlich kein Lernstoff mehr, oder?“

Sie griff das Buch fester und verdeckte es, indem sie es hinter ihren Rücken hielt.

Das machte ihn erst recht neugierig. „Was liest du da?“ Ohne darüber nachzudenken, machte er einen schnellen Schritt nach vorn, um nach dem Buch hinter ihrem Rücken zu greifen.

Ein Knie traf ihn in der Magengegend und kostete ihn den Atem.

Wie eine Katze schnellte sie um ihn herum und begann mit ihren schweren Docs an den Füßen zu rennen, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.

Nach Luft ringend lehnte er sich gegen den Stamm und presste beide Hände auf die Stelle, die sie erwischt hatte. Nachdem er endlich wieder genug Sauerstoff bekam, entfuhr ihm ein lang gezogenes „Aaaaahh.“

Er hatte doch nur einen Blick auf ihr dämliches Buch werfen wollen. Warum hatte sie so heftig reagiert?

Das Buch lag jetzt im Gras.

Als nach einer Weile der Schmerz nachließ, raffte er sich auf und griff danach. Mit der einen Hand seinen Bauch reibend, überflog er mit den Augen den Einband. Ernsthaft? A Walk to Remember? Das war doch einer dieser Kitschroman-Klassiker von Nicholas Sparks, auf den sowohl Silia als auch seine Mutter abfuhren. Doch warum Lukia deswegen so dermaßen aggressiv reagiert hatte, war ihm ein Rätsel. Und um ehrlich zu sein, war sie die Letzte, der er solchen Lesestoff zugetraut hätte.

Weil er keine Tasche dabeihatte, hielt er das Buch in der Hand, als er sich wieder auf seinem Rad dem Heimweg zuwandte.

Langsam fuhr er den Hügel hinab. Ihm war, als spüre er bereits den blauen Fleck, der sich formte.

Noch bevor er ganz unten angelangt war, entdeckte er ihre hochgewachsene Gestalt. Sie rannte noch immer, doch von ihrer Haltung konnte er ableiten, dass sie Seitenstechen haben musste. Sie war um einiges langsamer geworden und warf nun einen ängstlichen Blick über ihre Schulter zurück.

„Ey!“, rief er und trat gleichzeitig schneller in die Pedale.

Sie sah sich nach einer Ausweichmöglichkeit um.

„Ey, warte mal! Dein Buch!“

Obwohl er Panik auf ihrem erhitzten Gesicht erkennen konnte, blieb sie nun stehen, ließ ihn näher kommen, wartete ab.

Er hielt einen Meter vor ihr an. „Tut mir leid. Echt, ich wollte dich nicht so erschrecken.“ Denn nun war ihm schlagartig klar geworden, dass sie durch sein impulsives Handeln fürchterlich Angst bekommen hatte.

„Ich hab mir nichts dabei gedacht. Ich wollt nur sehen, was du liest. Ehrlich.“ Er hoffte, dass sie ihm glaubte. Ihn nicht für einen Vollidioten hielt, der sie absichtlich ärgern wollte.

Er streckte ihr das Buch entgegen.

Zögernd machte sie ein paar Schritte auf ihn zu. Ihr kleiner Haarbund hatte sich aufgelöst und die Strähnen fielen zu beiden Seiten an ihren Wangen entlang, was sie etwas weicher aussehen ließ.

„Es tut mir leid“, wiederholte er noch einmal.

Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus und nahm das Buch entgegen.

Dann machte sie schnell wieder einige Schritte zurück. „Tut’s weh?“

Er nickte.

„Gut“, sagte sie und drehte sich um. Ohne ein Wort lief sie weiter, diesmal aber in normalem Tempo. Das Buch an ihre Brust gedrückt.

Er überholte sie, wusste jedoch nicht, was er sonst noch hätte sagen sollen. Daher trat er wieder fester in die Pedale und fuhr davon.

5

AND NOW I’LL STOP THE STORM IF IT RAINS

I’LL LIGHT A PATH FAR FROM HERE

THE GIFT – ANGELS & AIRWAVES

JETZT

Pitschnass waren sie zu ihren Koffern zurückgekehrt. Er mühte sich ab, möglichst schnell ihre Handtücher zu finden, ohne den gesamten Inhalt des Gepäcks draußen zu verteilen.

Darüber musste sie schallend lachen, er wusste nicht, wann er sie zuletzt so hatte lachen hören.

Er warf ihr eins der Handtücher zu und rubbelte sich dann mit seinem über Haar und Oberkörper. Als er bemerkte, dass sie nur dastand und ihn ansah, hielt er inne.

„Was ist?“

Sie lächelte. „Nix.“

„Heut’ ist das die Antwort auf alles, oder?“

Sie zog ihre Schultern hoch und begann sich notdürftig abzutrocknen. Die schwarze Sport-Unterwäsche zeichnete sich unter dem nassen T-Shirt ab. Sie sah nicht viel anders aus als ein schwarzer Bikini. Dennoch – so hatte er sie noch nie gesehen und ihm schwamm der Kopf.

Eilig kramte er aus seinem Rucksack den Schlüssel des Häuschens heraus und öffnete die Tür.

Nachdem sie die Koffer reingebracht hatten, kehrte er zurück zum Auto und holte die Kiste mit Lebensmitteln, die sie auf dem Weg gekauft hatten. Als er sie in die kleine Wohnküche trug, fragte er: „Ist ‚nix‘ auch die Antwort auf die Frage, was du dir zum Abendessen wünschst?“

Sie drehte sich in ihr Handtuch gehüllt zu ihm um und grinste. „Nein.“

Langsam ging er auf sie zu. Wie gerne hätte er sie umarmt! Stattdessen hielt er vor ihr inne. „Schön hier, oder?“

„Richtig schön. Wie im Traum.“ Sie meinte das wirklich so. Ihre Augen strahlten.

Sacht beugte er sich zu ihr und sie ließ ihn gewähren, als er mit seiner Nasenspitze spielerisch die ihre berührte und seine Stirn an ihre anlehnte.

„Ich wollte schon immer mal nach Schweden. Danke“, flüsterte sie.

„Dank nicht mir. Mama und Papa haben uns das geschenkt.“ Zu seinem Bedauern zog sie sich ein wenig zurück und blickte in sein Gesicht.

„Ich weiß jetzt die Antwort.“

„Auf was?“ Verwirrt sah er sie an.

„Na, was ich zum Abendessen möchte. Nudeln.“

Er lachte.

Sie lachte auch. Dann gab sie ihm einen Klaps auf die Brust. „Wie wäre es, wenn ich mich darum kümmere, dass unsere Schlafsachen und so weiter ausgepackt sind, und du fängst in der Küche an?“

„Das wäre vollkommen in Ordnung.“

6

WITH A TWIST OF YOUR SMILE YOUR OWN WAY

YOU LEFT ME ALL UP IN ARMS AND CONFUSED

THE GIFT – ANGELS & AIRWAVES

Vor fünf Jahren

Der blaue Fleck auf seinem Torso entwickelte sich prächtig. Nach zwei Tagen wechselte er die Farbe zu Gelbgrün. Merke: In Lukias Gegenwart keine hastigen Bewegungen machen.

Sie schien wie ein scheues Tier, das zum Angriff überging, wenn es sich in die Ecke gedrängt fühlte. Und er schämte sich, dass er in ihr dieses Gefühl geweckt hatte.

Er grübelte immer wieder über diesen Vorfall nach. Und trotz seines Entschlusses, sie nicht weiter bedrängen oder ärgern zu wollen, blieb er nun vor der Gaststätte Zum Löwen stehen. Eigentlich war er auf dem Weg in die Stadt, um sich mit ein paar Kumpels zu treffen. Doch er war früh dran.

Vielleicht hatte sie ja gerade Schicht?

Ohne zu wissen, was ihn genau dazu trieb, betrat er die Gaststube. Aufmerksam sah er sich um und als eine der Angestellten auf ihn zukam, erkundigte er sich, ob Lukia heute da wäre.

„Die Luke ist hinten, hilft beim Salatrichten. Ich kann sie aber schnell rufen.“ Die Kollegin schien sich nichts bei seiner Frage zu denken.

Luke? Wie der Comic-Cowboy, der immer einsam in den Sonnenuntergang ritt? Aber die Luke? Er hatte diesen Spitznamen für sie noch nie gehört. Dabei war er irgendwie naheliegend. Zumindest der Einzelgängerpart …

Wenige Minuten später stand sie mit einer umgebundenen weißen Schürze vor ihm.

„Was willst du denn?“ Ihre Arme waren verschränkt.

„Können wir noch mal reden?“

„Ich bin bei der Arbeit. Über was willst du denn in aller Welt reden?“ Sie schien sichtlich irritiert zu sein.

Er zuckte mit den Schultern und blickte sich kurz um, ob er sprechen konnte, ohne belauscht zu werden. Es waren weder ihre Kollegen noch Gäste in der Nähe. „Ja, sorry. Ich wusste halt nicht, wo ich dich sonst antreffe. Ich wollt mit dir noch mal über die Sache mit dem Buch reden. Dass du sauer warst, weil ich es dir einfach ‚entwenden‘ wollte, das verstehe ich ja, aber dass du mir dafür dermaßen eine verpasst … Ich muss sagen, dass …“ Er brach ab.

Sie lächelte.

„Na, wenigstens amüsiert es dich“, sagte er nun etwas eisiger.

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Hab überreagiert. Sorry. Im Notfall wehr ich mich halt.“

„Dein gutes Recht. Aber war das einer?“, versuchte er zu scherzen.

Sie hob entschuldigend die Hände. „Schwamm drüber? Ich muss jetzt weiterarbeiten.“

„Ja, klar. Ich wollte dich nicht aufhalten. Sehen wir uns bei dem Grillfest?“ Er meinte, dass das eine angemessen versöhnliche Verabschiedung war.

„Welches Grillfest?“ Sie klang völlig überrascht.

„Äh, das von unserer Stufe? Am See? Hast du die Gruppennachricht nicht bekommen?“

„Ich bin nicht in der Gruppe. Hab kein Whatsapp.“

„Oh, sorry. Wusste ich nicht. Ja, also nächsten Freitag um acht. Grillsachen und Lieblingsgetränk mitbringen. Wenn du nicht weißt, wie du hinkommen sollst, kann ich dich mitnehmen.“

„Ich glaub, da arbeite ich.“

In diesem Augenblick lief ihre Kollegin vorbei und sie schien den letzten Teil des Gesprächs mitbekommen zu haben. „Nee, Luke, da schafft die Steffi. Du bist erst am Samstag wieder eingeteilt. Da kannst schon hingehen, zu dem Fest. Siehst die Leut’ alle noch mal, des is doch schee.“

Lukia seufzte. „Okay, ich schau mal.“

„Warte. Hast du was zu schreiben?“

Sie zog ihren Block mit Stift aus der Schürzentasche, mit dem sie sonst die Bestellungen notierte. Er nahm ihn ihr aus der Hand und kritzelte seine Handynummer darauf.

„Melde dich ruhig, falls du ’ne Mitfahrgelegenheit brauchst.“

*

Sie brauchte ganz bestimmt keine beschissene Mitfahrgelegenheit zu irgendeinem beschissenen Ort!

Alles, was sie brauchte, waren ihre Arbeit und ihr stetig wachsendes Sparkonto. Sie zählte die Tage, wann sie dem Haus, in dem sich seit acht Jahren nichts an der Einrichtung geändert hatte – außer dem Fernseher, der musste natürlich das Neueste vom Neuen sein –, endgültig den Rücken kehren konnte.

Doch dann geschah etwas, das ihre Pläne durchkreuzte und sie dazu brachte, den zerknüllten Zettel mit den Ziffern wieder aus den Tiefen ihrer Hosentasche zu ziehen.

Besuch.

Ausgerechnet am Freitag kam irgendso ein blödes Fußballspiel.

Und ausgerechnet deswegen lud ihr Vater seine Kumpels ein, damit dieses Spiel in höchstmöglicher Auflösung gesehen werden konnte.

Sie brauchte einen Plan, um sich rarzumachen. Ganz dringend. Wenn sie abwog, ob sie den Freitag allein durch die Stadt streifen (nicht sicher genug), zu Hause bleiben und sich in ihrem Zimmer verbarrikadieren (zu unsicher) oder zu einer dummen, völlig sinnlosen, aber dafür relativ sicheren Grillfeier gehen sollte, gewann die Stufenparty am See.

Nur musste sie dafür tatsächlich mit jemandem mitfahren – der See war zu abgelegen, um hinzulaufen. Sie hatte kein Rad und leider auch keinen Führerschein. Der musste noch warten, bis es ihre Finanzlage hergab.

Man konnte über Streber-Levi sagen, was man wollte, aber Schiss haben musste sie vor dem bestimmt nicht. War der nicht so hyperchristlich drauf?

Nach der Episode mit ihrem Buch fühlte sie sich ihm auch durchaus gewachsen. Wenn er irgendwas Schräges versuchen sollte, dann würde sie ihm in die Eier treten, dass er nur noch Sterne sah.

So kaufte sie eine Tüte Chips und kramte ihr Uralt-Handy hervor, das sie beim Zusammenpacken der Sachen ihres verstorbenen Opas hatte mitgehen lassen. War zwar alles andere als smart, dafür hielt eine Akkuladung locker eine Woche.

Die Zahlen auf dem Zettel waren höchst akkurat geschrieben, wie man es von Levi Seibert nicht anders erwartete.

Es klingelte und klingelte. Doch kurz bevor sie auflegen wollte, meldete sich jemand.

„Levi Seibert, hallo?“

Plötzlich wusste sie nicht, was sie sagen sollte.

„Hallo?“ Die Stimme klang irritiert und ungeduldig.

Sie versuchte sich zu räuspern, verschluckte sich fast und krächzte dann ein „Hallo“ hervor.

„Wer ist da?“, fragte er.

„Ich bin’s, Luke.“

„Lukia … Mensch, ich hab die Nummer nicht erkannt.“

„Luke. Ich will Luke genannt werden.“

„Ja, okay, cool … Ist es wegen heut Abend?“

„Was?“ Sie kam sich ein bisschen dämlich vor, weil sie ihn wegen ihres Namens so motzig zurechtgewiesen hatte, aber er war überhaupt nicht drauf eingegangen. Und jetzt fand sie es schwer, die eigentliche Sache wieder in den Blick zu bekommen.

„Grillen, am Waldsee, willst du mit?“, fragte er unbekümmert und half ihr damit auf die Sprünge.

„Ja, ich hab jetzt doch Zeit.“ Nun wurde sie tatsächlich ein bisschen nervös. Sie wusste, dass sie keine Panik schieben musste, weil sie mit Leuten ihres Alters zusammentraf. Das hatte sie in der Schule auch geschafft. Zugegeben, ohne viel mit irgendwem zu interagieren, aber es drohte ganz gewiss keine Gefahr.

Von „zu Hause“ weg zu sein – das war das Wichtigste heute Abend!

„Wo soll ich dich denn abholen?“, fragte Levi gerade. „Bei dir zu Hause?“

Ganz bestimmt nicht, so weit kam es noch!

„Nee, ich kann zur Schule laufen, das liegt doch viel mehr auf dem Weg.“

„Alles klar. Sagen wir halb acht?“

„Passt.“ Sie legte auf. Halb acht würde die Männerrunde bereits hier sein, besser sie machte sich vorher vom Acker. War ja egal, ob sie eine Weile auf ihrem ehemaligen Schulhof herumhing.

Sie nahm ihren alten Rucksack, der seit Jahren für die Schule hatte herhalten müssen und nun abgeschabt, ausgebeult und ziemlich leer in der Zimmerecke stand, und packte sich eine Flasche Limo, Chips und ihre Jacke für später ein. Unter ihrem Kopfkissen fischte sie ihr zweites unauffällig entwendetes Erbstück hervor. Das Balisong ihres Großvaters hatte einfach in der Schublade zwischen den Socken und Feinripp-Unterhosen gelegen. Ihr Vater hatte auch da nicht gemerkt, dass sie es in ihre Tasche gleiten ließ. Seit drei Jahren hatte sie nun also ihr geheimes Handy und ihr Butterflymesser. Und mit Letzterem hatte sie jeden Tag geübt. Sie schob das Balisong in ihren Stiefelschaft und machte sich daran, das Haus möglichst geräuschlos zu verlassen.

Sie hatte eine halbe Stunde auf der alten Mauer gesessen und ihren Gedanken nachgehangen.

Levi hielt pünktlich um halb acht an der Busbucht vor dem Schulhof. Er war allein im Auto, doch ihr Herz schlug keinen Alarm.

Nach etwa fünfzehn Minuten, in denen Levi versuchte, Small Talk zu machen, gelangten sie zu einem Parkplatz in der Pampa, wo bereits ein paar andere Autos standen. Levi war beladen mit Essenszeug und einer Decke. Sie war noch nie hier gewesen, also lief sie ihm auf dem Trampelpfad nach, bis sich zwischen den Bäumen eine Lichtung auftat. Dort lagen die Grillstelle und ein kleiner Weiher.

Ein Steg führte auf das grünbraune Wasser hinaus. Zwei Mädchen aus ihrer Stufe saßen dort und sonnten sich in den letzten Strahlen.

Jannik, einer von Levis Kumpels, war auch da. Er hatte bereits das Lagerfeuer angefacht. Insgesamt waren es vierzehn Leute – eine Größe, mit der sie gut klarkam. Auch schien es niemand doof zu finden, dass sie dabei war. Ein paar wirkten lediglich überrascht, denn sie hatte sich in all den Jahren auf keiner Feier blicken lassen, außer bei der Zeugnisvergabe – und da auch nur, bis der offizielle Teil erledigt war.

Sie registrierte aus den Augenwinkeln ein paar Sixpacks Bier, aber ansonsten keinen Alkohol. Das beruhigte sie.

„Hey!“ Jannik winkte ihnen zu. „Was habt ihr dabei?“

Levi packte seine Sachen auf den alten Baumstamm, der als eine Art Tafel diente.

Sie legte – ein klein bisschen beschämt, was sie sich allerdings nicht anmerken ließ – die Chipstüte dazu.

Ihr fiel auf, dass Levi auch keinen Alkohol mitgebracht hatte. Er hatte ihr schon im Auto versichert, dass er sie wieder mit heimnehmen konnte, er wollte nichts trinken. Anscheinend meinte er das wirklich so.

Erleichterung machte sich in ihr breit. So weit hatte sie ihre Gedanken erst gar nicht schweifen lassen, als sie ihn wegen der Mitfahrgelegenheit gefragt hatte. Noch mehr Holz landete im Feuer und der Rost blieb oben eingehängt. Noch waren die Flammen zu hoch und keine gute Glut vorhanden, um zu grillen.

Die Mädchen auf dem Steg winkten Luke zu sich. Zögernd machte sie sich auf den Weg zu ihnen hinüber.

„Hey, Luki.“ Melli, mit den blonden Locken, winkte erneut.

„Komm zu uns!“, rief Trix, die neben ihr saß.

Sie verkniff sich, sie anzublaffen und ihren Namen zu korrigieren. Ihre Stiefel dröhnten auf den Holzbrettern des Stegs.

Melli klopfte neben sich auf das ausgebleichte Holz und sie nahm Platz. Die beiden Mädchen hatten ihre Schuhe und Socken ausgezogen und ließen ihre Füße ins Wasser baumeln.