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Dieses Lehrbuch stellt die gesamte Bandbreite an Techniken und Interventionen vor, die sich für die systemisch-therapeutische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern als nützlich erwiesen haben. Prägnante Fallbeispiele und übersichtliche Anleitungen erleichtern die praktische Umsetzung. Neben der ressourcenorientierten Perspektive und einer besonderen Haltung zeichnet sie sich durch einen reichen Schatz handlungs- und erlebnisorientierter kreativer Methoden aus. Das Buch vermittelt einen praxisnahen Leitfaden für den Aufbau und die Durchführung von Therapien, angefangen vom Erstkontakt über die mittlere Behandlungsphase und den Umgang mit Therapiefortschritten und -krisen bis zur Beendigung von Therapien. Ein weiterer Schwerpunkt des Buches ist die anschauliche Darstellung der großen Fülle von systemischen Methoden und Interventionen. Neben Standardinterventionen wie der Arbeit mit Aufgaben und Verschreibungen werden kreative Techniken, die Arbeit mit Geschichten und Metaphern, Rituale, Skulpturen und Ausdruckstechniken ausführlich dargestellt. Abschließend wird auf den Einsatz von Entspannungsverfahren, Imagination und Hypnose im Kontext von Familien und auf Verfahren des systemischen Elterncoachings eingegangen. Die übersichtliche Darstellung und der reiche Fundus an Techniken und kreativen Interventionen machen das Buch zu einem unentbehrlichen Werkzeug für alle Praktiker.
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Seitenzahl: 702
Rüdiger Retzlaff
Spiel-Räume
Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen
Mit einem Vorwort von Jochen Schweitzer
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Klett-Cotta
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Umschlag: Klett-Cotta-Design
unter Verwendung eines Fotos des Autors
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98327-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10500-1
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20290-8
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Vorwort von Jochen Schweitzer
Vorwort des Autors
IEinleitung
1Kinder und Jugendliche im Kontext systemischer Therapie
1.1 Einführung
1.2 Ätiologische Modelle
1.3 Grundprinzipien der systemischen Therapie
1.4 Therapeutische Haltung und Beziehungsgestaltung
1.5 Spielen aus systemischer Sicht
2Rahmenbedingungen der systemischen Therapie
2.1 Flexible Gestaltung des Settings
2.2 Räumliches Setting
2.3 Ausstattung des Therapiezimmers
2.4 Regeln im Therapiezimmer
2.5 Besondere Settings der systemischen Therapie
IIDer Aufbau eines therapeutischen Systems mit Kindern und Jugendlichen
3Das Erstgespräch
3.1 Vor dem ersten Gespräch
3.2 Phasen des Erstgesprächs – die Begrüßung
3.3 Die Eröffnungsphase
3.4 Die Phase der Problemexploration
3.5 Die Interaktionsphase
3.6 Kooperative Planung der Behandlungsziele
3.7 Die Abschlussintervention
3.8 Die Phase der Therapieabsprachen und Kontrakte
3.9 Nach dem Erstgespräch
4Besonderheiten der Arbeit mit Jugendlichen
4.1 Einführung
4.2 Gesprächsführung mit Jugendlichen
5Kooperation und Netzwerke
5.1 Einführung
5.2 Kooperation mit dem medizinischen System
5.3 Kooperation mit dem Schulsystem
5.4 Kooperation mit dem Jugendhilfesystem
5.5 Medikamente
6Diagnostik und systemische Therapie
6.1 Einführung
6.2 Individuelle Diagnostik
6.3 Symptombezogene Diagnostik
6.4 Familiendiagnostik
6.5 Die Resonanz des Therapeuten als diagnostische Information
6.6 Symbolisch-metaphorische Techniken
6.7 Ziel-Skalierungen
7Der weitere Therapieverlauf
7.1 Folgegespräche
7.2 Umgang mit Fortschritten
7.3 Teilerfolge
7.4 Stagnation im Therapieprozess
7.5 Kooperationsprobleme
7.6 Therapeutische Sackgassen und Krisen
7.7 Aufbau und Struktur von systemischen Therapien
7.8 Therapieabschluss
IIISprach- und handlungsorientierte Interventionen
8Einfach anfangen
8.1 Aufklärung und Information
8.2 Das systemisches Modell vermitteln
8.3 Aufgaben, Anregungen und Verschreibungen
9Organisationsberatung mit Familien
9.1 Einführung
9.2 Offene Kommunikation
9.3 Eltern als Ressource
9.4 Die Bindung stärken
9.5 Rechte und Pflichten
9.6 Grenzen stärken
9.7 Die Partnerschaft stärken
9.8 Die Eltern stärken
9.9 Systemische Streitkultur
9.10 Netzwerke stärken
10Paradoxe Interventionen
10.1 Einführung
10.2 Paradoxe Symptomverschreibungen
10.3 Paradoxe Umdeutungen
10.4 Weitere paradoxe Techniken
11Lösungsorientierte Interventionen
11.1 Einführung
11.2 Lösungsorientierte Fragetechniken
11.3 Weitere lösungsorientierte Techniken
12Narrative Techniken, Metaphern und Geschichten
12.1 Einführung
12.2 Externalisierung des Symptoms
12.3 Weitere narrative Techniken
12.4 Metaphern
12.5 Anekdoten
12.6 Therapeutische Geschichten
13Rituale und ritualisierte Verschreibungen
13.1 Einführung
13.2 Ritualisierte Verschreibungen
13.3 Therapeutische Ritualtechniken
IVAnaloge Interventionen
14Systemische Gestaltungstechniken
14.1 Einführung
14.2 Malen und Gestalten in der Anfangsphase der Therapie
14.3 Problembilder
14.4 Therapieanlass-Bilder
14.5 Bilder der Familie
14.6 Gemeinsame Familienbilder
14.7 Lösungsbilder
14.8 Weitere systemische Gestaltungstechniken
15Handpuppen
15.1 Einführung
15.2 Systemische Handpuppen-Techniken
16Systemische Rollenspiel- und Theatertechniken
16.1 Einführung
16.2 Techniken des systemischen Rollenspiels
16.3 Theater- und Improvisationsspiele
16.4 Sprechchöre
16.5 Familien-Opern
17Familienskulpturen und Choreografien
17.1 Einführung
17.2 Skulpturentechniken
17.3 Familienkonstellationen
17.4 Choreografien
17.5 Zeitlinienarbeit
18Mini-Figuren
18.1 Einführung
18.2 Techniken der Mini-Figurenarbeit
VWeitere Interventionen
19Bewegungs- und körperorientierte Interventionen
19.1 Einführung
19.2 Körper- und bewegungsorientierte Techniken
20Entspannung, Hypnose, Imagination
20.1 Einführung
20.2 Entspannung
20.3 Hypnose in der Familientherapie
20.4 Imagination
20.5 Träume
21Systemisches Elterncoaching
21.1 Einführung
21.2 Videounterstützte Beratung und Arbeit mit der Einwegscheibe
21.3 Marte meo
21.4 Familien-Spieltherapie
21.5 Theraplay
21.6 Eltern als Team
21.7 Elterliche Präsenz
22Ende gut, alles gut
22.1 Einführung
22.2 Techniken für das Therapieende
22.3 Therapieabschlussritual
Ausblick
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
»Wow«, dachte ich, als ich das Manuskript dieses Buches zum ersten Mal sah, und denke es jetzt noch beim Schreiben dieses Vorworts.
»Alles über (systemische) Kindertherapie« – so könnte dieses Buch auch heißen, weil es in wirklich großer Spannbreite allen Kinder- und Jugendlichentherapeuten ein ungeheuer großes und kreatives systemtherapeutisches Methodenrepertoire anbietet. Wenn einem in Therapien die Ideen auszugehen beginnen, dann kann man künftig vielleicht eine kurze Pause einlegen, an das Bücherregal gehen, in diesem Buch blättern – und dann nach kurzer Zeit mit neuem Schwung zurückkehren.
Ein Praxisbuch also, aber eines mit solider theoretischer und forscherischer Fundierung. Man merkt es dem Buch an, dass der Autor nicht nur ein spielfreudiger großer Junge ist – der diese Spielfreude in langjähriger und wechselvoller Tätigkeit in Schulpsychologie, Erziehungsberatung, Psychiatrie und Psychosomatik behalten und vielleicht noch gesteigert hat und der in diesem Buch viele »pfiffige Ideen« ausbreitet, die er selbst entwickelt oder bei anderen abgeschaut hat. Vielmehr ist er auch in der Theorie der systemischen Therapie gut beheimatet und kennt sich mit der Wirksamkeitsforschung über die systemische Therapie gut aus.
Quasi nebenher und beiläufig bietet dieses Buch einige Anregungen zu aktuellen Entwicklungsdebatten der systemischen Therapie und der Psychotherapie allgemein.
An manchen Fallbeispielen zeigt es, wie unsinnig eine Trennung in Erwachsenenpsychotherapie hier, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie dort ist – und dass die Symptombeseitigung beim einen fast immer mit einer intensiven Beratung des anderen verbunden und verbindbar ist. In einem Fallbeispiel wird ein Kind zum Co-Therapeuten für die Flugängste seiner Mutter. In einem anderen Fall werden mit Kindern und Eltern Wettkämpfe verabredet, wer von beiden seine jeweiligen Macken schneller überwunden haben wird.
Der Autor lädt systemische Therapeuten dazu ein, sich auf die gesamte Geschichte der systemischen Therapie seit ca. 1950 zu besinnen, nicht erst seit der konstruktivistischen Wende um 1980. Damit geraten insbesondere symbolisch-spielerische und handlungsorientierte Therapieformen wieder stärker in den Blick. Mit Kindern kann man viele wesentliche Dinge nicht in Sprache kommunizieren. Vieles lässt sich leichter spielen, malen, singen, durch Symbole ausdrücken – und insbesondere: tun. Narrative Arbeitsformen sind in Rüdiger Retzlaffs Methodenwelt nur Teile einer weit umfassenderen Arbeitsweise.
Dabei wird auch deutlich: Wo verhaltensorientiert gearbeitet wird, geschieht oft keine Verhaltenstherapie, sondern genuin systemische Therapie. Pioniere der systemischen Therapie wie Watzlawick und seine Mitarbeiter am Mental Research Institute in Palo Alto, wie Salvador Minuchin, Cloe Madanes oder Jay Haley, haben oft »eng am Symptomverhalten« gearbeitet und präzise zugeschnittene Vorschläge für die Veränderung von Verhalten gemacht. Aber es geht dabei immer um »Verhalten-im-Kontext«. Die Veränderung von leiderzeugenden Verhaltensweisen ist nicht immer, aber sehr häufig als »Gemeinschaftsleistung« viel leichter möglich.
Die systemische Therapie bei Kindern und Jugendlichen ist weit verbreitet und ist gut evaluiert – besonders bei den »schweren« Störungen, die auch für deren Umwelt schnell und leidvoll bemerkbar werden, wie Drogenmissbrauch, Essstörungen, chronischen Krankheiten und delinquentem Verhalten. Rüdiger Retzlaffs Buch zeigt in seinen Fallbeispielen, dass die Palette der damit gut therapierbaren Probleme weit größer ist, als Evaluationsstudien dies bislang zeigen konnten.
Man merkt beim Lesen, dass der Autor nicht nur mit Kindern und Jugendlichen und deren Eltern, sondern auch mit Ärzten, Lehrern, Jugendhilfeeinrichtungen und Ämtern viel Erfahrung hat. Erfolgreiche Therapie bedarf zumindest bei »schwierigen Fällen« eines gut geknüpften »Zusammenarbeitsnetzes« auch mit den jeweils wichtigen Mit-Behandlern. Und Rüdiger Retzlaff zeigt in Kapitel 5 anschaulich, wie man solche Netze gut knüpfen kann. Solch eine gute Kooperation zwischen Behandlern sollte in allen Psychotherapieweiterbildungen, aber auch in den Finanzierungsrichtlinien von Psychotherapie dringend zum Standard erhoben werden.
Das Buch hat nach meinem Eindruck beste Aussichten, für Weiterbildungen in systemischer Kinder- und Jugendtherapie zum Standardwerk zu werden – also nicht nur »Lehrbuch« zu heißen, sondern es auch zu sein. Elemente von systemischen Techniken werden zunehmend auch in den Weiterbildungsgängen anderer Psychotherapieansätze dargeboten (wenn auch zuweilen unter anderem Namen), deshalb vermute ich, dass man es auch in den Postgraduiertenausbildungen von Psychotherapeuten häufig zur Hand nehmen wird.
Rüdiger Retzlaffs Buch Spiel-Räume kann uns anregen, in unserem eigenen Leben mehr Raum zum Spielen zu schaffen. Wer sich mit Kindertherapie beschäftigt, muss zwangsläufig schon spielfreudig sein oder etwas spielfreudiger werden, damit sie oder er und die Kinder dabei Spaß haben. Ich selbst verdanke dem Autor aus gemeinsamer Lehrtätigkeit am Helm Stierlin Institut zahlreiche Spielimpulse und vermute: Die Lektüre des Buches wird auch die Spielfreude vieler anderer Leserinnen und Leser anregen.
Prof.Dr.Jochen Schweitzer
Heidelberg, Dezember 2007
Die systemische Therapie zählt zu den am weitesten verbreiteten Verfahren im Bereich der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Ihre Wirksamkeit ist durch zahlreiche Studien empirisch gut belegt (Cottrell & Boston 2002, Sprenkle 2002, v.Sydow et al. 2006, 2007a). Dies gilt besonders für schwere psychische Störungen mit hohem Leidpotenzial. Nationale Leitlinien empfehlen, Familientherapie bei zahlreichen Beschwerdebildern als Standardbehandlung anzubieten (Scheib & Wirsching 2004). In vielen europäischen Ländern wie Österreich und der Schweiz ist sie ein anerkanntes Psychotherapieverfahren. In Deutschland gehört sie im Bereich der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung seit über 25 Jahren zum Regelangebot. Die praktische Arbeit vieler niedergelassener Kinder- und Jugendpsychotherapeuten wird zu einem erheblichen Teil von der systemischen Perspektive geprägt. An den Erziehungs- und Familienberatungsstellen verfügt der weitaus größte Teil der Mitarbeiter über eine systemische bzw. familientherapeutische Zusatzqualifikation. Systemische Konzepte und Vorgehensweisen gehören zum alltäglichen Handwerkszeug von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern, die im Rahmen der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe tätig sind (v.Sydow et al. 2007b).
Über viele Jahrzehnte wurde für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein reicher Schatz an kindzentrierten Interventionen, kreativen Techniken und spezifischen Therapieansätzen entwickelt (Retzlaff 2002, 2005, 2006a). Seit der Diskussion zwischen Milton Erickson und Jay Haley über das Verhältnis von Einzel- und Familientherapie hatten führende Vertreter der systemischen Therapie immer wieder eine stärkere Berücksichtigung der Perspektive von Kindern und eine kinderfreundliche Vorgehensweise in Familientherapien verlangt (Ackerman 1970, Combrinck-Graham 1986, Keith & Whitaker 1981, Minuchin et al. 1967, Ford Sori & Sprenkle 2004, Montalvo & Haley 1973, Satir 1964, Zilbach et al. 1972). Diese Forderung kann heute als erfüllt gelten.
Um den Besonderheiten der systemischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen auch auf der Ebene der Therapieausbildung besser Rechnung zu tragen, habe ich zusammen mit Jochen Schweitzer das Curriculum »Systemische Kinder- und Jugendpsychotherapie« für das Helm Stierlin Institut entwickelt. Heute gibt es Richtlinien deutscher und amerikanischer systemischer Verbände für die Ausbildung in systemischer Therapie mit Kindern und Jugendlichen (DGSF 2005, Ford Sori & Sprenkle 2004). Für spezifische Störungen im Kindes- und Jugendalter werden zunehmend differenziertere systemische Behandlungsmodelle entwickelt (Lebow 2005, 2006, v.Schlippe u. Schweitzer 2006, Wirsching u. Scheib 2002).
Das Handbuch Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen stellt die große Bandbreite an Techniken und Interventionen vor, die in den systemischen Kinder- und Jugendlichen-Curricula gelehrt werden und sich für die praktische therapeutische Arbeit als nützlich erwiesen haben. Sie stammen überwiegend aus der systemischen Therapietradition oder wurden gezielt für die Arbeit mit Familien entwickelt. Im Laufe ihrer Entwicklung hat die systemische Therapie viele Impulse aus anderen Therapieverfahren aufgenommen – aus der psychodynamischen Kindertherapie, den humanistischen Therapien, der Verhaltenstherapie und der Hypnotherapie. Umgekehrt integrieren viele Kinder- und Jugendpsychotherapeuten unterschiedlicher Orientierung familientherapeutische Aspekte in ihre Arbeit. So hoffe ich, dass die in diesem Handbuch dargestellten Techniken eine Bereicherung für die Arbeit von Therapeuten unterschiedlicher Orientierung sein werden.
Einige Hinweise für die Leser dieses Buches: Die meisten Techniken eigenen sich für Kinder und für Jugendliche, auch wenn dies nicht jedes Mal ausdrücklich gesagt wird. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich die männliche Form verwendet, wobei die weibliche Form selbstverständlich miteinbeschlossen ist. Alle Namen in den Fallbeispielen wurden zur Wahrung der Vertraulichkeit geändert. Bei der Beschreibung von Gesprächsführungstechniken und Interventionen habe ich mich um eine möglichst klare Darstellung des Ablaufs bemüht. Es handelt sich dabei um Empfehlungen, die selbstverständlich abgewandelt und an die Arbeitsweise jedes einzelnen Lesers angepasst werden müssen. Die große Fülle der beschriebenen systemischen Techniken legt es nahe, dieses Arbeitsbuch nicht nur einmal zu lesen, sondern es zum Nachschlagen von Interventionsideen immer wieder in die Hand zu nehmen.
Die systemische Therapie ist aus der Arbeit mit Kindern und Erwachsenen heraus entstanden, die an schweren Verhaltensstörungen, Suchtproblemen, Essstörungen oder Psychosen litten oder in widrigen Lebensverhältnissen aufwuchsen, und besser im Kontext ihrer Familien behandelt werden konnten (Hoffman 1982, v.Schlippe & Schweitzer 1996).
Ausgangspunkt der systemischen Therapie ist eine ökologische Perspektive: Kinder, die an Beschwerden leiden, leben nicht in einem Vakuum, sondern sind Teil eines sozialen Bezugssystems. Alle Aspekte der Entwicklung von Kindern werden maßgeblich vom familiären Kontext beeinflusst (Combrinck-Graham 1986). Es liegt daher nahe, Kinder nicht isoliert zu behandeln, sondern sie im Rahmen ihrer Familie zu sehen. Die Einbeziehung ihrer Lebenswelt in die therapeutische Arbeit führt zu einem umfassenderen Verständnis von Beschwerden. Der Fokus der systemischen Therapie liegt deshalb auf dem sozialen Kontext als Bedeutungshintergrund von psychischen Störungen. Will man erfolgreich mit Kindern arbeiten, ist es erforderlich, sich auf ihre Welt und ihre Sprache einzustellen. Therapeuten müssen spielerisch vorgehen und kreative Techniken nutzen, die den kindlichen Ausdrucksformen entsprechen (Gammer 2007). Sie sollten aber auch kompetent mit Erwachsenen arbeiten können. Die Therapie von Kindern unterscheidet sich aus systemischer Perspektive nicht grundlegend von der Arbeit mit Erwachsenen – viele Aspekte der systemischen Kindertherapie können als Paradigma für die Behandlung von Erwachsenen gelten (Combrinck-Graham 1989, Keith & Whitaker 1981, Retzlaff 2005).
In der Entwicklungsgeschichte der systemischen Therapie wurden unterschiedliche Erklärungsmodelle für Störungen entwickelt (Rotthaus 2001, Nichols & Schwartz 2004, v.Schlippe & Schweitzer 1996). Bis in die 80er Jahre galten beobachtbare Interaktionsprozesse als problemerzeugend, wie beispielsweise starre interpersonelle Grenzen, konflikthafte Dreiecksbeziehungen, Rollenkonfusion zwischen Eltern und Kindern, unklare Kommunikation, generationsübergreifend tradierte Verhaltensmuster und repetitive kontraproduktive Lösungsversuche. In einer zweiten, mehr sprachorientierten Phase der systemischen Theorieentwicklung ab 1980 wurden Bedeutungsgebungsprozesse, Glaubenssysteme und einschränkende Narrative als Erklärungsmodell für Verhaltensprobleme herangezogen, beispielsweise negative Zuschreibungen und problemgesättigte Narrative, die das Kind und die Eltern auf problematische Verhaltensweisen festlegen (Ludewig (1992). Heute gelten die unterschiedlichen Techniken, die in diesen Entwicklungsphasen entwickelt wurden, als gleichberechtigte Bestandteile der systemischen »Werkzeugkiste«.
Traditionell wurden Familienals Entstehungsort von Pathologie (miss-) verstanden. Die vermeintlich prägende Wirkung der Familie auf die Entwicklung von Kindern ist jedoch keine hinreichende Erklärung für das Auftreten von psychischen Störungen. Zwar lassen sich Problemmuster beschreiben, die Familien anfälliger für das Auftreten von psychischen Störungen machen. Es gibt jedoch keinen linearen Zusammenhang zwischen familiären Beziehungsmustern und spezifischen Störungen.
In Anlehnung an das biopsychosoziale Modell von Engel (1977) erscheint es sinnvoll, Aspekte der »harten« Wirklichkeit beim Zugang zu Problemen und Störungen ebenso zu berücksichtigen wie die weichere Wirklichkeitskonstruktion. In meiner Arbeit mit Kindern und Familien interessiert mich daher: Wie sieht die »objektive« Lebenswelt eines Kindes aus – wie ist die Arbeits- und Wohnsituation der Familie, wie sind die Einkommensverhältnisse der Eltern? Wenn die Eltern getrennt sind – können sie miteinander kooperieren, oder gibt es eine Geschichte von Eskalation und Streit? Welche Belastungen, etwa durch Krankheit, Armut, Folgen von Migration oder Flucht, sind gegeben? Über welche Ressourcen verfügt die Familie, etwa in Form von Bildung, guter sozialer Unterstützung, Gesundheit oder einer guten Auffassungsgabe? Welches Temperament hat das Kind, und wie ist die Passung zwischen Kind, Familie und sozialer Umgebung? Ich versuche aber auch zu verstehen, was die Familie aus den Gegebenheiten zu machen weiß, in welcher Weise sie ihre Familien-Geschichte als Ressource nutzt, um gegebene Probleme zu lösen, oder sich als Opfer einer nicht zu beeinflussenden Wirklichkeit sieht.
In der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen werden neben sprachlichen Kommunikationsformen Zugangsmodalitäten genutzt, wie sie von Kindern im Alltag bevorzugt werden: Spiel, Aktion, Singen, Musik und insbesondere Malen und künstlerisches Gestalten (Ackerman 1970, Keith & Whitaker 1981, Retzlaff 2005, Zilbach et al. 1972). Die psychotherapeutische Arbeit mit Erwachsenen verlässt sich überwiegend auf die verbale Kommunikation. Doch sprachliche Austauschprozesse sind nicht zwangsläufig die wirksamste Kommunikationsform in der Psychotherapie (Watzlawick 1977). In Therapien mit Kindern würde man mit ausschließlich sprachlichen Mitteln rasch an Grenzen stoßen: Viele Kinder können sich nicht gut artikulieren oder sprechen noch überhaupt nicht, sind scheu oder speziell im therapeutischen Kontext befangen.
Eine natürliche Ausdrucksform von Kindern ist das Spiel, das weite Bereiche ihres Lebens prägt. Will man Kinder verstehen, muss man deshalb spielerische Modalitäten nutzen (Reiners 2006). Kinder sind gelöster und erzählen spontaner, wenn der Therapeut eine Puppe sprechen lässt oder Geschichten erzählt. Bilder, Puppen, magische Objekte und ein Zauberstab, mit dem man drei magische Wünsche für die Familie aussprechen kann, machen die Arbeit für Kinder interessant. Sie teilen sich gerne mit, wenn man lustig und humorvoll auftritt und vermittelt: »Hier gibt es keine richtigen oder falschen Antworten.« Spielerische Kommunikationsformen erleichtern es ihnen, sich mit ihren Symptomen auseinanderzusetzen.
Kinder artikulieren sich nicht in der unter Erwachsenen üblichen rationalen, diskursorientierten und kontrollierten Form. Erst ab einem Alter von sechs Jahren sind sie kognitiv in der Lage, komplexere zirkuläre Fragen zu verstehen und familiäre Interaktionsmuster zu beschreiben. Es macht wenig Sinn, komplizierte Fragesätze an ein jüngeres Kind zu richten, das sich noch auf der präoperationalen Stufe befindet und nicht in der Lage ist, die Frage zu erfassen (Gelcer & Schwartzbein 1989). Will man eine Beziehung zu einem Kind aufbauen, muss man deshalb die eigene Sprache an das Entwicklungsalter des Kindes anpassen (Taffel 1991). Das kann zum Beispiel erreicht werden, indem man die Stimme affektiv moduliert und mit jüngeren Kindern »dramatisierend« spricht (Efron & Rowe 1987). Das Kind muss aktiv in das Geschehen einbezogen werden. Wenn die Therapiesitzung Kinder erreichen soll, muss sie lebendig sein, neue Erfahrungen ermöglichen und die unterschiedlichen Sinnesmodalitäten ansprechen. »Die besten therapeutischen Gespräche mit Kindern nutzen die besonderen Gaben der Kindheit – Imagination, die Fähigkeit zu Fantasie und Emotionalität« (Diller 1991, S.24; Hervorhebung R. R.). Allerdings geht es nicht darum, immer kindzentriert vorzugehen, spielen kann auch zur Vermeidung von Konfliktthemen dienen. In manchen Situationen nimmt man Kinder ernst, wenn man darauf besteht, dass wichtige Anliegen besprochen werden, obwohl sie unangenehm sind (Cooklin 2001).
Das Vorgehen der systemischen Kinder- und Jugendtherapie ist aktiv und handlungsorientiert. Probleme werden als eine Herausforderung angesehen. Menschen, die unter widrigen Lebensumständen aufwachsen und dennoch auf lange Sicht gut zurechtkommen, zeichnen sich durch eine aktive Grundhaltung aus (Lösel & Bender 1999). Systemische Therapie verfolgt das Ziel, Klienten von einer ohnmächtigen, hilflosen Position zu einem Gefühl von Selbstwirksamkeit zu führen.
Zu Beginn einer Beratung definiere ich Psychotherapie als Hilfe zur Selbsthilfe. Ich betone, dass ich ein aktiver Therapeut bin, der Vorschläge anbietet und Anregungen gibt. Das Kind oder der Jugendliche und die Eltern werden eingeladen, ein Team zu bilden, das bei der Lösung des Problems zusammenarbeitet und dabei von mir unterstützt wird. Die Vorgehensweise ist symptomzentriert, regt aber gleichzeitig Veränderungen der familiären Organisation an. Gegenüber den Familien beschreibe ich meine Vorgehensweise folgendermaßen: »Nach meiner Erfahrung kommen Familien weiter, die neue Wege ausprobieren und Probleme aktiv anpacken. Viele Eltern glauben, eine Psychotherapie würde wie ein Medikament wirken, das man einfach einnehmen muss. Das stimmt natürlich so nicht. Es geht darum, aktiv zu werden. Manche Eltern glauben, dass sich nur ihr Kind ändern muss. Doch Kinder entwickeln sich am besten, wenn sie von ihren Eltern unterstützt werden. Sie als Eltern sind ein wichtiger Teil dieser Therapie!«
Eine zentrale Aufgabe für den Therapeuten besteht darin, die »Problemtrance« von Kind und Eltern zu überwinden, problemfreie Bereiche zu erkunden und Hoffnung zu induzieren. Mit Hilfe von verschiedenen Techniken wird die Familie zu einem Perspektivenwechsel eingeladen, um sie an ihre Kompetenzen zu erinnern. Familien-Geschichte(n) über den Umgang mit vergangenen widrigen Lebensumständen werden gewürdigt und die Möglichkeit des Andersseins, im Sinne eines Lebens jenseits der Problemhaftigkeit, eingeführt (Watzlawick 1977).
▸ Der 9-jährige Adrian hatte in seiner Familie die Rolle eines Sorgenkindes inne: Nach mehreren bedrohlichen Asthmaanfällen waren die Eltern verständlicherweise besorgt. Die Eltern fühlten sich zusätzlich durch seine rasch wechselnde Aufmerksamkeit und sein hohes Sprechtempo belastet. Sie waren entnervt von den vielen vergeblichen Versuchen, ihn durch Ermahnungen zu einem geordneten Verhalten hinzuführen. Die 11-jährige Schwester Anna fand es lästig, dass sich alles immer um den kleinen Bruder drehte, und Adrian selbst hatte überhaupt keine Lust auf eine weitere »Psycho-Beratung«, weil er die Erwartung hatte, sowieso wieder den Schwarzen Peter zugeschoben zu bekommen. In dieser Situation bat ich die Kinder, in die Rolle der Eltern zu schlüpfen und das morgendliche Aufsteh- und Frühstücksritual zu spielen, mit der festen Absicht, die »Kinder« ruhig und gelassen auf den Weg zur Schule zu bringen, während die Eltern den Part der Kinder übernahmen. Sehr rasch entstand – unter allgemeinem Gelächter – eine zugespitzte Situation, in der die Kinder als Eltern erlebten, wie lästig es sein kann, zwei schulunlustige große »Kinder« zu wecken, und die Eltern erkannten, dass sie in den Augen der Kinder lange nicht so gelassen auftraten, wie sie selber glaubten. Dieser Perspektivenwechsel in einer anderen affektiven Grundstimmung öffnete das Gespräch für einen Bericht über die erfolgreiche Bewältigung der sehr schweren Krisen, die mit dem Asthma verbunden waren. Dazu gehörte die Erfahrung, dass eine ruhige, besonnene Haltung weitaus förderlicher war als hektische Vorhaltungen. Adrian ging ja inzwischen hochkompetent mit dem Asthma um. Die Gelassenheit der ganzen Familie gegenüber diesem Gesundheitsthema war eine Referenzerfahrung, die sich auf die Aufmerksamkeitsproblematik übertragen ließ: »Wir wissen, wie man damit lebt, es ist eine Einschränkung, doch es gibt eine Menge Dinge, die wir konkret tun können, um es uns leichter zu machen. Ansonsten können wir als Familie eine Menge Spaß haben!«
In manchen Familiengesprächen herrschen laute Töne vor, oder die Stimmung ist gedrückt und resigniert. Dies kann als Ausdruck einer Problemtrance verstanden werden. In Familientherapien kann die Affektlage von kleinen und großen Klienten aggressiv und anklagend sein, oder die Stimmung ist hilflos, defensiv und depressiv. Bestimmte Affektlagen und Aktivierungszustände wirken lähmend, hemmen den Zugang zu Lösungsideen, eigenen Kompetenzen und kreativem Potenzial. Als Therapeut versuche ich, die vorherrschende Affektlage der Familie zu beeinflussen, und lade dazu ein, andere Grundmelodien, die den Ton im Alltag bestimmen, zu erkunden und in das eigene Repertoire aufzunehmen. Der Vorgang, Familien affektiv auf eine andere »Wellenlänge« zu bringen, ist weniger verbal vermittelt, sondern primär ein affektiv-physiologisches Geschehen.
Systemische Behandlungen sind eher kurzzeitorientiert und dauern in der Regel zwischen fünf und 15 Sitzungen. Bei Kindern, die sehr krank sind, oder wenn bei Eltern erhebliche Beeinträchtigungen bestehen, können Behandlungen durchaus auch länger dauern; die Kurzzeitorientierung ist kein Dogma.
Einer der ersten Schritte zu Beginn einer Therapie ist die Klärung des Auftrags der Eltern, des Kindes oder des Überweisenden. In der Regel sind Kinder keine »Kunden« für eine Psychotherapie, sondern kommen auf Veranlassung Dritter. Es fällt ihnen leichter, ihre Anliegen zu formulieren, wenn kindgerechte Fragen gestellt werden und man zum Beispiel nach drei magischen Wünschen fragt, die das Kind für seine Familie hat.
Familiäre Konflikte werden auf dem Hintergrund einer entwicklungspsychologischen und lebenszyklusorientierten Perspektive normalisiert und als Phänomen gewertet, das zum Leben und Aufwachsen gehört. Im Laufe der Entwicklung müssen Eltern mit ihren Kindern zahlreiche kleine und große Dramen durchstehen. Familien finden heute bei ihrer Erziehungsarbeit weniger Unterstützung aus dem sozialen Umfeld, als dies in vergangenen Jahrzehnten der Fall gewesen sein mag. Das unmittelbare soziale Umfeld gibt weniger direkte Rückmeldung, und viele Eltern suchen Familientherapeuten auf, um von einer außenstehenden Person eine Einschätzung der familiären Situation zu erhalten. Ob das Verhalten eines Jugendlichen als klinisch relevantes Symptom zu bewerteten ist oder nicht, hängt stark von der Bedeutungsgebung der Umgebung ab. Raufereien zwischen Jungen können als alterstypisches Verhalten, aber auch als aggressive, expansive Verhaltensstörung eingeordnet werden. Es kann hilfreich sein, Symptome als Teil eines größeren Entwicklungsabschnitts zu begreifen, der mit langem Atem angegangen werden sollte.
Probleme zu normalisieren bedeutet jedoch nicht, Fehlverhalten gutzuheißen. Zum Erziehungsjob von Eltern gehören auch das Vertreten von unpopulären Positionen, Grenzsetzungen und das Durchsetzen von Forderungen. Ein zentrales Thema der Familientherapie ist die Frage, wie in sich wandelnden Lebensabschnitten eine Balance zwischen dem Wunsch nach Autonomie und Individuation auf der einen Seite und dem Wunsch nach Bezogenheit und Verbundenheit auf der anderen Seite ausgehandelt werden kann. Die systemische Therapie unterstützt Familien bei dem Aushandlungsprozess von stark belastenden »heißen« emotionalen Themen und Konflikten und bei der Entwicklung von konstruktiven Lösungen.
Die Position des Therapeuten ist dabei allparteilich; die Rechte von Kindern gegenüber ihren Eltern oder Geschwistern werden unterstützt, gleichzeitig aber auch berechtigte Anliegen der Eltern gestärkt. Das Menschenbild der systemischen Therapie ist grundlegend optimistisch und lösungsorientiert. Es beruht auf der Annahme, dass Klienten über Kompetenzen und Strategien verfügen, die sich für die Lösung des präsentierten Problems nutzen lassen und nicht erst erlernt werden müssen. Aus Sicht der Salutogeneseforschung sind einschränkende Lebensbedingungen, Krankheiten und Behinderungen keine kritischen Ausnahmeereignisse, sondern ubiquitäre Bestandteile des Lebens (Retzlaff 2006b). Belastende Faktoren wie Armut, körperliche und sexuelle Gewalt, psychische und körperliche Erkrankungen, Sucht, Streit zwischen den Eltern oder Scheidungen haben Folgen (Felitti et al. 1998, Franz 2006). Doch die Resilienzforschung bietet eine Fülle an Belegen, dass Menschen eine enorme Bandbreite an Reaktionen auf Belastungen und widrige Lebensumstände zeigen (Holtz 2006, B. Müller et al. 2006, Retzlaff 2006a, Rutter 1999). Kinder und Familien sind nicht so zerbrechlich, wie manchmal behauptet wird – sie verfügen über das Potenzial, auch mit schwierigen Bedingungen umzugehen (Werner & Smith 1992).
Aus systemischer Perspektive ist Resilienz das Potenzial von Familien, Belastungen abzupuffern. Zu den Merkmalen von Familien, die es verstehen, auch mit schweren Belastungen kompetent umzugehen, zählen eine offene Kommunikation, ein guter affektiver Austausch, Flexibilität beim Aushandeln von Rollen, Macht und Aufgaben, die Nutzung von sozialer Unterstützung und kohärente gemeinschaftliche Glaubenssysteme (Retzlaff 2006a, 2007, Walsh 1998). Familien – als eine Form sozialer Organisation – kommen besser zurecht, wenn ihre Mitglieder wertschätzend miteinander umgehen. Die systemische Therapie will diese Schlüsselprozesse von Familien fördern, die zu ihrer Resilienz und Kohärenz beitragen. Die therapeutische Vorgehensweise der systemischen Therapie ist deshalb ressourcenorientiert. Das Potenzial des Kindes und seiner Angehörigen wird gewürdigt und im therapeutischen Prozess genutzt (Karpel 1986). Die Aktivierung von Ressourcen gilt als zentraler Wirkfaktor von Psychotherapien.
Die Ressourcenorientierung wurde zunächst in der systemischen Therapie und der Hypnotherapie entwickelt und hat heute breiten Eingang in andere Therapieverfahren gefunden (Borg-Laufs 2001, Grawe & Grawe-Gerber 1999, Klemenz 2003). Erst wenn man gezielt nach Ressourcen fragt, erfährt man vielleicht, dass ein Kind, abgesehen von all den Problemen, zum Beispiel sehr lieb mit kleinen Geschwistern umgeht, ein Haustier zuverlässig versorgt oder hervorragend am Computer arbeitet und sich dabei sehr gut konzentrieren kann. Ebenso werden Eltern nicht auf ihre Defizite festgelegt, sondern als Menschen gesehen, die in ihrem Leben schon zahlreiche Hürden und Sackgassen gemeistert haben.
Eine allzu einseitige Ressourcenorientierung birgt allerdings die Gefahr, soziale Benachteiligung, Ungerechtigkeit und Unterdrückungsverhältnisse zu ignorieren. Die Erwartung, Kinder sollten ihre Probleme alleine mit ihren eigenen Ressourcen lösen, ist eine Überforderung. Sie erinnert an die Legende des Barons von Münchhausen, der sich am eigenen Zopfe aus dem Morast herauszuziehen vermochte.
Insgesamt hat die systemische Therapie mehr den Charakter einer Konsultation, die Hilfe zur Selbsthilfe vermittelt, als den einer Behandlung (Wynne et al. 1986). Diese Grundhaltung impliziert, sich als Berater neben der Familie einzuordnen und zu helfen, die präsentierten Probleme effektiv zu lösen, statt sich über die Familie zu stellen. Auf Wunsch stelle ich mein Expertenwissen den Klienten zur Verfügung und vermittle Informationen über entwicklungspsychologische Zusammenhänge, Störungsbilder und das systemische Modell von Verhalten (Minuchin 1985, Resch 1999). Zu einer richtig verstandenen Kundenorientierung gehört auch, Kinder und Familien im Sinne eines empowerment darin zu stärken, ihre Angelegenheiten selbst zu gestalten.
Aus einer integrativ-systemischen Perspektive werden Familien als Entwicklungskontext verstanden, in dem Kinder mit unterschiedlicher Ausstattung ihre Verschiedenartigkeit entwickeln und den familiären Einfluss für die Entwicklung der eigenen Individualität nutzen. Der Therapeut hilft den Eltern dabei, diese besonderen Fähigkeiten zu erkennen, die individuellen Bedürfnisse des Kindes einzuschätzen und zu berücksichtigen. Veränderungen sind leichter möglich, wenn die Lebensgeschichte und der soziale Kontext des Kindes und seiner Familie gewürdigt werden. In Familiengeschichten zeigen sich Muster der Weltauffassung und Sinnstrukturierung. Sie konstituieren einen Bedeutungskontext, der ein umfassenderes Verständnis der aktuellen Situation ermöglicht. Familienmuster zeigen sich in den »Skripten« und »Drehbüchern«, wie mit Schwierigkeiten in der Vergangenheit umgegangen wurde. Neue Handlungsoptionen und Entwürfe lassen sich leichter entwickeln, wenn diese Drehbücher, Narrative und Erzählungen in einem weiteren soziopolitischen und historischen Kontext gesehen werden (Reich et al. 1996, 2007). Symptome sind mehr als dysfunktionales Verhalten – sie können als metaphorischer Ausdruck eines Beziehungsgeschehens verstanden werden. Die systemische Therapie zielt deshalb nicht allein auf die Beseitigung von Symptomen ab, sondern will helfen, den Beziehungskontext von Kind, Familie und sozialer Umwelt in einer Weise zu gestalten, welche die Symptome überflüssig macht.
▸ Der 11-jährige Marek musste immer weinen, wenn er sich von seinen Lehrern ungerecht behandelt fühlte. Er war dann völlig blockiert, und seine Eltern machten sich Sorgen um ihr einziges Kind. Ihr Lösungsversuch bestand darin, dem Jungen zuzureden, er brauche nicht zu weinen. Sein Schluchzen wurde dadurch nur stärker – aus Wut, dass er nicht in der Lage war, seine Tränen zu unterdrücken. Rasch wurde deutlich, dass sich Marek wahnsinnig unter Leistungsdruck setzte. Trotz des niedrigen Einkommens der Familie bekam er Tennisunterricht, in der Hoffnung, er könnte ja vielleicht ein erfolgreicher Tennisprofi werden. Seine Eltern waren als Spätaussiedler unter schwierigen Umständen nach Deutschland gekommen. Für die Übersiedlung hatte die Familie einen sehr hohen Preis gezahlt. Der Vater hatte eine sehr gut bezahlte Stelle als Künstler aufgegeben. Im Westen hatte er eine weitaus schlechter bezahlte Anstellung als ungelernter Arbeiter gefunden, seine Frau musste als Putzhilfe arbeiten. Die Geschichte der Migration und das Gespräch über all das, was Vater und Mutter aufgegeben hatten, machten die Haltung verständlich: »Es muss sich doch gelohnt haben – wenigstens der Marek soll erfolgreich sein und es einmal besser haben!« Und deshalb litt der Junge so sehr, wenn er sich auf seinem Erfolgsweg aufgehalten und verkannt fühlte. In diesem Fall bestand die Lösung in einer Annahme der eigenen Geschichte. Den Eltern und dem Jungen wurde deutlich, dass es in Ordnung ist, über Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten zu weinen, und Marek begann, die Meinung von anderen weniger wichtig zu nehmen.
Anders als in Laborstudien gibt es in vielen Familien mehr als nur ein einzelnes Kind mit einer eng umschriebenen Symptomatik. Oft leiden mehrere Angehörige an klinisch relevanten Beschwerden. In der systemischen Therapie ist es deshalb üblich, mehr als nur einen Symptomträger gleichzeitig zu behandeln, statt Familien mit multiplen Problemen von einer potenziell verwirrenden Zahl von Helfern parallel oder konsekutiv zu therapieren.
Systemische Therapeuten bevorzugen ein maßgeschneidertes, am Einzelfall orientiertes ideografisches Vorgehen, das auf jede einzelne Familie abgestimmt ist. Für bestimmte Störungsbereiche wie Delinquenz, Drogenabhängigkeit oder körperliche Erkrankungen existieren manualisierte Therapieprogamme. Sie haben den Vorzug, Therapieeffekte einer empirischen Erforschung besser zugänglich zu machen (Liddle 1993, Swenson & Henggeler 2005, Szapocznik et al. 2003). Die therapeutische Arbeit mit Kindern macht es häufig erforderlich, weitere Helfersysteme mit einzubeziehen, etwa Mitarbeiter des Jugendamtes, Lehrer, Freunde, professionelle Helfer oder Angehörige des erweiterten Familiensystems. Die Therapie ist netzwerkorientiert und hilft, soziale Unterstützung zu mobilisieren (Schweitzer 2001b).
Für Therapeuten ist es wichtig, die eigene Position in einem, zum Teil komplexen, Netz von Helfern richtig einzuschätzen und innerhalb dieses Netzes kooperativ aufzutreten. Kinder und Familien existieren nicht in einem sozialen Vakuum, und Kinder-Therapien finden nicht in einem Freiraum statt. Eine solche Netzwerkorientierung ist insbesondere bei komplexen Problemen wie sexuellem Missbrauch für eine gelingende Arbeit von überragender Bedeutung.
Systemische Therapeuten bezweifeln – zu Recht oder zu Unrecht – aus erkenntnistheoretischen Vorbehalten, ob es prinzipiell überhaupt möglich ist, Menschen zu beeinflussen (Rotthaus 1999). Die Kunst der systemischen Therapie besteht jedoch nicht darin, Menschen direktiv zu verändern, sondern darin, einen Kontext zu schaffen, der zu Veränderungen einlädt und Entwicklungsschritte begünstigt. Statt Kinder oder Eltern beeinflussen zu wollen, setzt der Therapeut primär bei sich selbst an, am eigenen Tun und der Art und Weise, wie die therapeutische Situation gestaltet wird. Dabei steht er nicht außerhalb des Behandlungssystems, sondern ist ein Teil von ihm und wird rekursiv beeinflusst.
Wichtigstes Instrument der systemischen Therapie ist die Person des Beraters: Wir nutzen uns selbst als Werkzeug und nehmen eine aktive, kreative und spielerische Haltung ein (Gadamer 2000). Eine gute Stimmung und eine vertrauensvolle Atmosphäre fördern Entwicklungsschritte (Grabbe 2001). Dies bedeutet, dass wir uns als Person mit der Vielfalt unserer Erfahrungen, mit unseren Wesenzügen und Eigenarten in die Therapie einbringen und nutzen, was immer zur Verfügung steht. Humor und die Offenheit, über sich selbst etwas mitzuteilen und über sich zu lachen, führen zu einer wohltuenden Leichtigkeit der Therapie (Smoller 1994). Eine persönliche Entwicklung und eigene Interessen über die Profession hinaus sind wichtige Aspekte der therapeutischen Selbst-Erziehung. Die »Zutaten« für gelingende Therapien werden nur zu einem Teil in den Lernkatalogen der Psychotherapieausbildungen vermittelt.
Systemische Therapeuten sind grundsätzlich optimistisch und vertreten eine kohärente Position: »Ja, es gibt Wege, wie es jenseits eures großen oder kleinen Dramas weitergehen kann. Es lohnt sich, diesen Weg zu gehen, ihr habt die erforderlichen Ressourcen oder könnt sie euch erschließen. Auch wenn wir die Einzelheiten des Weges noch gemeinsam ausloten müssen – ich kann euch weiterhelfen.« Menschen, die gut mit Kindern umzugehen verstehen, verfügen über die Fähigkeit, zu faszinieren, zu begeistern und zu inspirieren. Eine oft übersehene Ressource von Therapeuten ist die Fähigkeit, Interesse zu wecken und kleine und große Menschen dafür zu gewinnen, sich auf etwas Neues einzulassen. Auf einer langen Reise mit kleinen Kindern, die unruhig werden, ist es vielversprechender, sie mit einer Geschichte, einem Spiel oder witzigen Liedern in den Bann zu schlagen, als Grenzen setzen zu wollen.
Psychotherapie ist mehr als Sprache. In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern ist es erforderlich den eigenen Körper, Bewegung und Berührung als Ausdrucksmittel zu nutzen – etwa, indem man mit Gesten visuelle Bilder malt oder verbale Aussagen unterstreicht, durch das Aufstellen von Skulpturen oder indem man mit respektvollen Berührungen arbeitet und das eigene Körperempfinden nutzt, welches eine Familie bei einem auslöst. Die Überbewertung von Sprache, kognitiven Prozessen und den subjektiven Bedeutungsgebungen, wie dies in der systemischen Therapie radikalkonstruktivistischer Prägung lange üblich war, und die Reduktion aller menschlichen Probleme und Systeme auf Sprache (Anderson & Goolishian 1990, Dell 1986) führen dazu, dass Kleinkinder, Kinder mit Behinderungen und alte Menschen, die zwar aktiv kommunizieren, aber einen sprachlichen Verständigungs-Code nicht oder nur bedingt meistern, von Therapeuten ignoriert werden.
Für die Arbeit benötigt man entwicklungspsychologische Kenntnisse der wichtigsten Entwicklungsaufgaben verschiedener Altersstufen und darüber, wie sich Kinder die Welt aneignen (Schneewind 1999, Seiffge-Krenke 2006). Nach einem alten Ausspruch von Sal Minuchin (1977) muss man Familien mit den Augen eines Kindes sehen können.
Therapeuten, die sowohl die elterliche als auch die kindliche Seite in sich vereinen, haben es leichter. Konkret heißt dies, eine Struktur geben zu können, ohne Kontrolle auszuüben, aber auch spielerische und »verrückte« Seiten in der Therapie zu nutzen. Es hilft, wenn man als Therapeut Kinder mag, auch in Situationen Spaß hat, in denen nicht alles nach Plan läuft und dabei zentriert bleiben kann.
Klienten bevorzugen Familientherapeuten, die als Person ein greifbares Gegenüber bieten (Green & Herget 1991). Als Therapeut präsent zu sein verlangt, nicht wie eine neutrale, blasse Nummer zu wirken, sondern eine ethisch verantwortliche Haltung einzunehmen und auf Grundlage der eigenen Werte zu handeln. Ein achtsamer Umgang mit sich und den Klienten und eine gelebte Spiritualität sind Ressourcen für die Arbeit mit Kindern, die schwer krank sind, ausgebeutet wurden oder andere schwere Erfahrungen durchgemacht haben.
Jugendliche durchschauen rasch, wenn man sich anders gibt, als man eigentlich ist. Echtheit und Kongruenz, die Bereitschaft, gelegentlich eigene Erfahrungen mitzuteilen und Schwächen zu benennen, wirken überzeugend (Roberts 2005). Therapeuten müssen zeitlich verfügbar sein und Präsenz zeigen. Wenn Jugendliche erleben, dass der Therapeut viel redet, ansonsten aber abwesend ist, untergräbt dies seine Glaubwürdigkeit. Manche Entwicklungsschritte benötigen Zeit. Lösungen stellen sich längst nicht immer kinderleicht oder spielerisch wie durch ein Wunder ein. Kinder benötigen angemessenen Rückhalt, auch bei der Lösung von Problemen. Beharrlichkeit und die Bereitschaft, Ziele mit viel Ausdauer zu verfolgen, sind wichtige Qualitäten der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen.
Ein Bewusstsein für die eigenen Stärken und Schwächen und eine gewisse Toleranz für die eigene Fehlbarkeit machen Therapeuten versöhnlicher und weniger kränkbar. Familien spüren sehr genau, ob ein Therapeut über Lebenserfahrung verfügt und schon selbst die eine oder andere Schwierigkeit gemeistert hat. Eigene Kinder sind keine Voraussetzung dafür, erfolgreiche Kindertherapien durchführen zu können, doch gute und leidvolle Erfahrungen in der Erziehung eigener Kinder machen bescheidener und führen dazu, Eltern mit größerer Demut zu begegnen.
Als Metapher für die Beziehung von Therapeut und Familie verwende ich häufig das Bild eines Bergführers, der von einer Familie gebeten wird, Wege in einem neuen Gelände zu weisen. Der Bergführer steht im Dienst der Familie und soll helfen, ein bestimmtes verabredetes Ziel zu erreichen. Durch seine Erfahrung von früheren Exkursionen verfügt er über Expertenwissen in bezug auf das Gelände. Er kennt leichte und beschwerlichere Wege, Abkürzungen und Umwege, Aussichtspunkte und Gefahrenstrecken und die Regionen, in denen mit Unwettern und anderen Überraschungen zu rechnen ist. Er weiß, welche Vorbereitung und Ausrüstung erforderlich ist. Ob die Familie den Weg gehen will oder lieber verharrt, ob sie ihn ganz zurücklegen will oder sich mit einer kürzeren Etappe zufriedengibt oder aber auf halber Strecke lieber umkehrt, ist die Entscheidung der Familie. Manche Familien schreiten rascher voran als andere. Ob es eine Abenteuer-Tour oder ein Spaziergang wird, ob es zusammen unterwegs lustig wird oder die Tour eher als Anstrengung erlebt wird, hängt davon ab, wie die Familie an die Sache herangeht. Als Bergführer kann ich Wege und Abwege weisen, aber jedes Familienmitglied muss selbst laufen und eigene Schritte tun, um weiterzukommen. Manche Ziele werden nur mit Geduld und viel Ausdauer erreicht.
Spielen ist eine Form des emotionalen Austauschs, bei dem neue Regeln des Handelns entwickelt und neue Seiten der eigenen Person entdeckt werden (Fröhlich-Gildhoff 2006, Goetze 2002). Spielen kann als Explorationsverhalten verstanden werden, als Ausdruck von inneren Konflikten und emotionalen Prozessen (Axline 1969, Guerney & Guerney 1989, VanFleet 1994, Zulliger 1995), als inhärente Neugierde, als Form des kindlichen Lernens, als Aneignung von Wirklichkeit (Piaget 1969) oder als Selbstheilungsversuch (Zulliger 1995). In der systemischen Therapie liegt der Fokus nicht primär auf der symbolisch-expressiven Funktion des Spiels, sondern stärker auf neuen Beziehungserfahrungen im familiären Kontext und der Konstruktion von Lösungen (Ariel et al. 1985). Die Vorgehensweise ist nicht betont non-direktiv, sondern stärker themenzentriert (Watzlawick 1977).
Nach Piaget entwickeln sich höhere geistige Prozesse aus der Aneignung von Objekten, Tätigkeiten, Situationen und Rollen durch spielerisches Handeln. Kognitive Fähigkeiten werden geübt, intensiviert, verändert und weiterentwickelt. Er unterscheidet drei Formen von Spielen: Übungsspiele (zum Einüben von Funktionen), Symbolspiel (das Spiel mit Symbolen und Vorstellungen) und Regelspiele (bei denen die soziale Umwelt einbezogen wird).
Auch in der Entwicklungstheorie von Vygotski sind Freude am Spiel und der emotionale Ausdruck von zweitrangiger Bedeutung (West 2001). In seiner Theorie sind gesellschaftliche und soziale Prozesse für die Vermittlung von höheren Funktionen des Menschen – und insbesondere die kognitive Entwicklung und das Denken – entscheidend. Wenn ein Kind spielt, »Mutter« zu sein, übernimmt es dabei die gesellschaftlichen Regeln, die zu dieser Rolle dazugehören. Beim Spiel »Vater, Mutter, Kind« kann ein Kind die Regeln, wie sich beispielsweise eine Mutter zu verhalten hat, nicht unbedingt explizit benennen. Es ist aber durchaus in der Lage, sie im Spiel handelnd auszudrücken. Kinder entwickeln durch ihr Spiel ein Verständnis des regelgeleiteten Verhaltens anderer Menschen. Sie konstruieren soziale Bedeutungen und verändern ihr Selbst. Ihre Erfahrungen werden überformt und transformiert und es wird eine Basis für künftiges eigenständiges regelgeleitetes Handeln geschaffen.
»So-tun-als-ob-Spiele« sind ein reiches Ausdrucksmittel von Kindern. Sie eignen sich in besonderer Weise für therapeutische Prozesse. Bereits Bateson (1954/dt. 1981, S.259) erkannte Übereinstimmungen zwischen Spiel und Psychotherapie: »Die Ähnlichkeit zwischen dem Prozess der Therapie und dem Phänomen des Spiels ist in der Tat groß.« Menschen und einige höhere Tiere, wie etwa Delphine, können ein bestimmtes Verhalten zeigen, sie können es aber auch spielerisch zeigen und so tun, als ob sie ein bestimmtes Verhalten ausführten. Gleichzeitig wird durch andere Verhaltensweisen ein Kontext markiert, der deutlich macht: »dieses Verhalten ist nur Spiel!«
Nach Bateson ist Spiel mehr als ein Name für eine bestimmte Form von Handlungen – es bezeichnet vielmehr einen bestimmten Rahmen von Handlungen. Die Bedeutung von Verhalten wird durch die Kontextmarkierung hergestellt. Dieser Rahmen bestimmt, welche Bedeutung einem Verhalten beigemessen wird. Der Kontext für die Einordnung von Verhalten hat eine übergeordnete Bedeutung und ist wichtiger als die Regeln des Verstärkungslernens. Ein Faustschlag kann als schmerzhafte aggressive Handlung, als Ausdruck eines sportlichen Wettkampfs oder als Begrüßung unter Männern gewertet werden, die Reaktion wird entsprechend unterschiedlich ausfallen.
Verhaltensweisen, die den Bedeutungsrahmen von Verhalten markieren, gehören einer anderen, übergeordneten logischen Kategorie an. Durch die Markierung als Spiel ändert sich die Bedeutung des Verhaltens im interaktiven Kontext: Ein Kind, das »Ich bin ein böser Räuber!« spielt, markiert auf einer anderen Ebene gleichzeitig, dass es nicht wirklich böse und sein wildes Verhalten nicht ernst gemeint ist. Dieser metakommunikative Akt ist gleichzeitig eine selbstreferenzielle Botschaft, die eine Aussage über sich selbst macht. Situationen, die als Spiel gekennzeichnet werden, sprechen sowohl den primären als auch den sekundären Prozess an und wirken »rechts- und linkshemisphärisch«.
Für die therapeutische Arbeit mit kleinen und großen Kindern folgt aus dem systemischen Verständnis von Spiel: Schaffe einen Rahmen, der die Bedeutung des Problemverhaltens ändert, indem der »Tanz« um das Problem herum als Spiel markiert und das Symptomverhalten absichtlich ausgeführt wird. Wenn ich spiele, Angst zu haben, ändert sich die Bedeutung, denn: eine gespielte »Angst« ist keine wirkliche Angst. Durch das Spielen einer Problemsituation wird ein besonderer Bezugsrahmen geschaffen, der die Bedeutung dessen verändert, was innerhalb des Rahmens gesagt oder gezeigt wird. Die paradoxe Aufforderung, ein Symptomverhalten absichtlich herbeizuführen oder »frei« zu assoziieren, verleiht dem sonst spontanen, scheinbar unkontrollierbaren Verhalten, Gedanken und Vorstellungen eine »Als-ob«-Qualität. Sie sind ja nicht spontan aufgetreten, sondern »bestellt«.
Grundsätzlich sagen Eltern von Kindern mit Problemen: »Unser Kind hat ein Problem – wir sind hilflos und wissen nicht, wie wir ihm helfen können.« Probleme werden als unerwünschter, aber nicht beeinflussbarer Zustand definiert. Viele systemische Techniken, wie zum Beispiel zirkuläre Fragen, versuchen diese Position zu hinterfragen. Sie machen zur Präsupposition, dass zumindest auf Vorstellungsebene Einflussmöglichkeiten vorhanden sind. Sie laden dazu ein, auf imaginativer Ebene so zu tun, als ob der Klient aktiver Gestalter der eigenen Handlungen wäre und das Symptomverhalten beeinflussen könnte. Im Sinne eines Reframings werden damit Verantwortung und Selbstwirksamkeit reattribuiert.
Im Salutogenese-Modell von Antonovsky besteht eine enge Verbindung zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit und dem Kohärenzgefühl (Antonovsky & Sourani 1988). Das Kohärenzgefühl ist die Glaubenshaltung oder Grundüberzeugung, dass die Welt verstehbar und handhabbar ist, und es erscheint als sinnvoll und lohnend, sich zu engagieren und aktiv Schritte zur Lösung der anstehenden Probleme zu tun. Es besteht die grundlegende Zuversicht, über die erforderlichen Ressourcen zu verfügen und künftige Schwierigkeiten zu meistern. Nach meinem Verständnis ist Psychotherapie ein Prozess, in dem Klienten von einer hilflosen, entmutigten Position zu einer kohärenten Position gelangen.
Dies setzt einen Perspektivenwechsel voraus, der über eine lineare, zweidimensionale Sicht hinausgeht. Die Palo-Alto-Gruppe um Watzlawick geht von der Annahme aus, dass Probleme aus repetitiven, kontraproduktiven Lösungsversuchen heraus entstehen. Diese kontraproduktiven Lösungsversuche erscheinen auf dem Hintergrund der Weltsicht der Klienten und ihrer Biografie als schlüssig. Positive Entwicklungen werden eher möglich, wenn die Welt nicht als Universum, sondern als »Multiversum« erkannt und die »Möglichkeit des Andersseins« eingeräumt wird (Bateson 1972, Watzlawick et al. 1974). Aus entwicklungspsychologischer Sicht entspricht dies dem Vorgang des Dezentrierens, welcher den Übergang von einer präoperationalen Stufe zu einer konkret-operationalen Stufe markiert. In dem bekannten Drei-Berge-Experiment betrachtete Piaget zusammen mit einem Kind von verschiedenen Seiten aus drei Sandhaufen mit verschiedenen Gegenständen (Montada 1995). Es zeigte sich: Wenn man Kinder, die auf einer präoperationalen Entwicklungsstufe stehen, bittet, zu beschreiben, was der Versuchsleiter von seiner Seite des Bergs aus sieht, können sie diesen Perspektivenwechsel noch nicht vornehmen und sich nicht in die andere Person hineinversetzen. Das Denken der präoperationalen Stufe ist egozentrisch, nicht-relational und von magischen Vorstellungen und eher wenig realistischen Erwartungen geprägt, es lässt einen Perspektivenwechsel nicht zu.
Nach Gelcer und Schwartzbein (1989) neigen Kinder, die wegen psychischer Beschwerden behandelt werden, dazu, in sozialen Problemlöse-Situationen auf einen präoperationalen Denkstil zurückzugreifen, obwohl sie bereits eine konkret-operationale Stufe erreicht hatten. Auch das Denken von Erwachsenen, die unter psychosozialem Stress stehen, kann auf eine präoperationale Stufe zurückfallen. Diese Form des Denkens herrscht zudem vor, wenn Eltern allein das Kind als Problem sehen, bestimmte Aspekte einer Situation selektiv beachten, rigide an ihrer Sicht festhalten und nicht relational denken. Viele klassische systemische Gesprächsführungstechniken – wie relationale Fragen, Fragen nach Interaktionsfolgen, hypothetische Fragen und die Wunderfrage – führen zur Hinterfragung eines egozentrischen Standpunktes im Sinne von Piaget und ändern die lineare Epistemologie der Familie. Zirkuläre Fragen vermitteln ein systemisches Modell, sie laden zu Vergleichen ein und setzen das Tun des Einen und das Tun oder Lassen der Anderen miteinander in Verbindung (Tomm 1994). Die dabei erforderlichen kognitiven Prozesse entsprechen der konkret-operationalen Stufe: Aus entwicklungspsychologischer und systemischer Sicht können Probleme als Resultat eines rigiden Verharrens in einer linearen, egozentrischen Position verstanden werden: »So wie ich die Welt sehe, ist es richtig – basta!« Der Prozess des Heranwachsens geht einher mit einer zunehmenden Entwicklung der Kompetenz, unterschiedliche Rollen und Perspektiven zu übernehmen. Es mag vorteilhaft sein, die Welt eindimensional aus der eigenen Perspektive wahrzunehmen; doch wenn man sich in Probleme verrannt hat, ist es nützlich, die Dinge von einer anderen Warte aus sehen zu können und im Sinne von Piaget zu dezentrieren.
Nach Keith und Whitaker (1981) ist eine gute Familientherapie immer eine Form von Spieltherapie, die Klienten hilft, ihre kreativen und spielerischen Seiten wiederzuentdecken und diese bei der Lösung ihrer Probleme zu nutzen. Die Fähigkeit zu dezentrieren und die Flexibilität, einen Perspektiven- und Rollenwechsel vorzunehmen, sind Schlüsselprozesse der systemischen Therapie. Viele Techniken, die in diesem Buch dargestellt werden – wie systemische Rollenspiele, Externalisierungen, kreatives Gestalten, die Arbeit mit Geschichten, Handpuppen und systemische Aktionstechniken und Imagination –, regen diese Fähigkeiten an.
In der Regel sind die Eltern Auftraggeber einer Psychotherapie. Wenn ein Kind als Indexpatient angemeldet wird, beginne ich die Behandlung am liebsten mit der gesamten Familie. Im Verlauf des ersten Gesprächs wird dann ausgehandelt, wer an weiteren Sitzungen teilnehmen soll. Auf Wunsch der Eltern oder bei einer langen Behandlungsvorgeschichte biete ich ein oder zwei Elterngespräche an, bevor ich die gesamte Familie einlade. Abhängig vom therapeutischen Prozess und den Bedürfnissen der Klienten sind auch Sitzungen mit Teilen der Familie möglich, etwa Einzelgespräche mit einem Jugendlichen, mit den Eltern oder Geschwistern oder andere Konstellationen (Carr 1990). In spätere Sitzungen lade ich gerne die Freunde von Jugendlichen und andere Personen aus dem weiteren sozialen Netz ein (Framo 1965). Therapeutischen Modellen, welche die Kinder aus dem therapeutischen Prozess ausschließen, stehe ich ebenso skeptisch gegenüber wie einer Vorgehensweise, die es versäumt, Eltern als Ressource für die Behandlung zu gewinnen und ihre Kompetenzen zu nutzen.
Häufig arbeite ich parallel im Einzel- und im Familiensetting. Die systemische Arbeit ist für mich befriedigender und effektiver, wenn es zu einem aktiven Austausch und Aushandelungsprozessen über Generationsgrenzen hinweg kommt und Eltern und Kinder in einer neuen, bedeutsamen Weise miteinander in Kontakt kommen.
Die Zeitstruktur der Gespräche muss auf kindliche Bedürfnisse abgestimmt werden. Sitzungen mit kleinen Kindern sind deutlich kürzer und finden in engeren Abständen statt. Gesprächspausen zur Besprechung mit Teamkollegen mache ich wegen des damit verbundenen hohen Aufwands nur bei Konsultationen und bei außerordentlich komplexen Fällen.
Therapieräume sollten kindgerecht gestaltet sein. Dies beginnt mit der Ausstattung des Wartezimmers, einer Garderobe, die für Kinder erreichbar ist, und einer kindgerechten Toilette. Im Wartebereich sollte Lesestoff für Erwachsene und für Kinder ausliegen. Es geht weniger darum, pädagogisch wertvolles Lesematerial anzubieten, aber das Angebot sollte Kinder und Eltern ansprechen und ihnen signalisieren: »Dies ist eine kinderfreundliche Zone!«
Empfehlenswert ist eine Dreiteilung des Therapiezimmers in einen Gesprächsbereich, eine Spielecke und einen Beobachtungsbereich. Möbel für Kinder sind für Erwachsene oft unbequem. Umgekehrt fühlen sich Kinder in zu hohen Stühlen leicht unsicher, weil ihre Füße nicht den Boden berühren. Neben Sitzmöbeln für Erwachsene im Gesprächsbereich gibt es deshalb bei mir einige Kindermöbel in der Spielecke. Der Spielbereich sollte räumlich etwas von der Gesprächszone abgetrennt sein. Gerne arbeite ich auf einem Drehstuhl, mit dem ich flexibel Nähe oder Abstand schaffen kann. Leichte, bewegliche Sessel gestatten es, das Sitzarrangement umzugruppieren, wenn man mit Teilfamilien arbeitet. Nützlich sind einige Decken, um sich auf den Boden legen zu können – Kindertherapien müssen nicht zwangsläufig auf Stühlen stattfinden.
Arbeitet man in einer Einrichtung, in der mehrere Therapieräume zur Verfügung stehen, ist es sinnvoll, stets denselben Raum zu belegen, um eine Gefühl der Konstanz und Sicherheit zu fördern. Ein separater Beobachtungsbereich mit Spiegelscheibe ist eine aufwendige, aber sinnvolle Investition. Videokameras filtern die emotionale Atmosphäre eines Gesprächs sehr viel stärker heraus, als dies bei der Beobachtung durch eine Einwegscheibe der Fall ist. Günstig ist ein zusätzliches Warte- oder Spielzimmer, falls eine Sitzung geteilt werden soll. Eine ökopsychologisch durchdachte Gestaltung des Raumes gewährleistet, dass man nicht ständig darauf achten muss, dass ein Kind sich wehtun oder etwas zerbrechen könnte. Schalldichte Türen sind ein Muss. Wegen der Gefahr für kleine Kinder sollten Steckdosen mit Kindersicherungen versehen sein, und es sollte auf Pflanzenkübel mit Blähton verzichtet werden (Proshansky et al. 1970).
Alle Räume der Einrichtung können für die Therapie genutzt werden. Kinder, die sich fürchten, alleine zu sein, schicke ich auf eine Entdeckungstour durch das Haus, um die Toiletten auf allen Stockwerken zu zählen und dem Kiosk auf der Straßenseite gegenüber einen Besuch abzustatten. Gerne lade ich Familien hinter die Einwegscheibe ein. Kinder sind meist total begeistert, vom Regieraum aus zuschauen zu können.
Der Therapieraum sollte kindgerecht ausgestattet sein, ohne zu viele Spielsachen zu enthalten. Ein Teil des Spielmaterials wird deshalb in Schränken verwahrt. Ich mache gerne ein strukturiertes Angebot und wähle für eine Sitzung gezielt zwei oder drei Spielsachen aus.
Das Spielmaterial sollte einige Kriterien erfüllen: Es sollte sicher sein, nicht verschluckt werden können und nicht zu sehr ablenken oder zu kompliziert sein. Auf Rasseln und andere lärmerzeugende Dinge verzichtet man lieber. Besser als Klötze sind weiche Steckspielteile, die weniger Lärm erzeugen und deshalb eher in Körben statt in Holzkästen aufbewahrt werden sollten. Material, das auch einen Aufforderungscharakter für Erwachsene hat und kreative und interaktive Spiele ermöglicht, ist besser geeignet als repetitive Spiele (Keith & Whitaker 1981, Zilbach 1986, Zilbach et al. 1972).
Mal- und Zeichenutensilien, Malblöcke und Papier in verschiedenen Farben, Buntstifte, Fingerfarben, Posterpapier, Weißwandtafel mit Spezialstiften;
Bastelmaterial, Knete, Glitter, Federn, Kleber, farbiges Papier, Kinderscheren, Fimo-Modelliermasse, farbiger Karton;
Steck- und Bauspiele, zum Beispiel aus Magnet-Teilen, Brettspiele;
Mini-Figuren (s. Kap. 18);
ein Puppenhaus;
Kästen oder ein Tablett mit Sand, oder ein großer Sandkasten; Matschraum;
Handpuppen, Menschenpuppen, Tierfamilien, einige ausdrucksstarke Monster- und Dinosaurierfiguren (s. Kap. 15);
Utensilien – Batakas (Schaumstoffschläger für Spiele zum Umgang mit Aggressionen), große Schaumstoffwürfel, Autos, Zauberstäbe, Symbolsteine, Kiesel, Halbedelsteine, zwei Telefone, Mikrofon, »Problem-Steine«, Hoffnungssymbole, Babyflasche, Küchenutensilien, Spielgeld, Kaleidoskop, Verbandskasten;
farbige Seile aus weichem Material, verschiedene Längen und Muster (nicht aus Nylon);
Podeste (40 cm x 40 cm, 50 cm x 40 cm, 65 cm x 40 cm);
Matten, bunte Kissen in verschiedenen Größen, ein oder zwei farbige Decken, großes regenbogenfarbenes Seidentuch, bunte Jongliertücher;
Verkleidungskiste mit Hüten, Tüchern, Gürteln, Waffen, Schuhen;
Obst, Kekse, Rosinen, Nüsse, Wasser, Saft;
einige faszinierende Objekte;
technische Geräte: Mikrofon, MP3-Player mit Aufnahmefunktion, Digitalfotoapparat, Sofortbildkamera, tragbare Videokamera zum Verleihen;
Kinderbücher, zum Beispiel zu Themen wie
Trennung und Scheidung
und
Kinder im Krankenhaus
.
Die Vorgabe einiger klarer Regeln gibt dem Kind Sicherheit und unterstreicht die Verantwortlichkeit des Therapeuten für den Rahmen. Einfache Regeln beziehen sich auf:
den Zeitrahmen des Gesprächs;
das Verlassen des Raumes;
das Aufsuchen der Toilette;
den sorgsamen Umgang mit Spielsachen und Gegenständen;
essen und trinken im Raum;
das Aufräumen am Ende der Sitzung.
In lebhaften Familien mit Kindern, die alle gleichzeitig reden möchten, kann ein »Redehut« oder ein anderes Symbol markieren, wer gerade an der Reihe ist (Hennig & Knödler 1987). Falls Kinder das Zimmer in eine Turnhalle verwandeln oder die benachbarten Therapiezimmer stürmen wollen, bitte ich die Eltern, dafür zu sorgen, dass ein Rahmen gewahrt wird, der therapeutisches Arbeiten zulässt. Grundsätzlich bin ich als Therapeut für einen gelingenden Ablauf der therapeutischen Gespräche verantwortlich. Bei Regelverstößen – wenn sich beispielsweise ein Kind chaotisch verhält – ist es sinnvoll, die Eltern zum Handeln zu bringen und aufzufordern, für die Einhaltung der Regeln zu sorgen. Nur wenn ein Kind versucht, Sachen zu zerstören, oder auf den Therapeuten losgehen will, ist es geboten, direkt einzuschreiten und das eigene Territorium zu schützen. Dies gilt auch für die seltenen Fälle, in denen ein Kind sich in Gefahr bringt und die Eltern untätig bleiben, obwohl es beispielsweise droht, auf die Straße zu rennen. Der Therapieraum darf nicht zur Bühne für therapiewidriges Verhalten werden. Dies zu garantieren gelingt sehr viel leichter, wenn man Kinder fasziniert, einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herstellen kann und Spielsachen anbietet, die die Sinne ansprechen, und die kindliche Lust an spielerischem Lernen und Ausprobieren zu nutzen weiß.
Die aufsuchende Familientherapie erreicht Familien, die von den üblichen therapeutischen Angeboten mit »Komm-Struktur« wenig profitieren (Conen 2002). Hausbesuche intensivieren die therapeutische Arbeit (Minuchin & Fishman 1983, Moynihan 1974). Beratungen in der Wohnung der Klienten sind eine wirksame, hoch kosteneffektive Form der Behandlung (Crane 2007). Jugendlichen, denen es schwer fällt, in die Praxis zu kommen, kann man entgegenkommen und zu ihnen fahren, man kann im Auto mit ihnen sprechen, unter freiem Himmel arbeiten oder zusammen durch die Stadt bummeln. Die Koppelung von materiellen Zuwendungen und Sozialleistungen an die Teilnahme an einer Therapie ist eine empirisch bewährte, aber nicht sehr geläufige Setting-Variante, die sich unter anderem bei obdachlosen Familien bewährt. Bei körperlich kranken Kindern, Delinquenz, Anorexie oder Behinderungen wird zunehmend die Multi-Familientherapie angewandt (Asen 2006, Steinglass 1998). Die systemische Gruppentherapie für Kinder und Jugendliche (Caby 2002, Hubert & Vogt-Hillmann 2002, Selekman 1997, Schmidt 2001) und für Eltern (Selekman 1993, Zimmerman & Protinsky 1990) ist überwiegend ressourcen- und lösungsorientiert ausgerichtet. Antworten auf die wachsende elterliche Hilflosigkeit sind das systemische Elterncoaching (Omer & v.Schlippe 2004, Price 1996) und die videounterstützte systemische Elternarbeit bei Säuglingen, Kindern mit Bindungsstörungen und speziellen Entwicklungsproblemen. Sie zielen auf eine Stärkung elterlicher Kompetenzen ab (Cierpka et al. 2002, Sirringhaus-Bünder 2005, Thiel-Bonney 2002, s. Kapitel 21).
Systemische Therapien mit Kindern können in eine Einzeltherapie oder eine Paartherapie übergehen, wenn die präsentierten kindbezogenen Probleme gelöst sind. Zu Beginn einer Einzeltherapie mit Erwachsenen lade ich gerne die Kinder für ein oder zwei Sitzungen mit ein, um sie kennenzulernen und um direkt zu erleben, wie die Klienten in ihrer Rolle als Eltern auftreten.
▸ Eine alleinerziehende 32-jährige Mutter kam in Behandlung, weil sie gerne in ihren Beruf zurückkehren wollte, sich diesen Schritt wegen ihrer Angst vor öffentlichen Auftritten und vor dem Fliegen jedoch nicht recht zutraute. Sehr rasch fand sie eine attraktive Stelle, in der sie allerdings erwartungsgemäß regelmäßig zu Firmen fliegen und Vorträge halten sollte. Für die Sitzung kurz vor dem ersten Geschäftsflug war eine intensive symptomorientierte hypnotherapeutische Übung verabredet. Überraschenderweise erschien sie mit ihrer zweieinhalbjährigen Tochter, weil kurzfristig die Kinderbetreuerin erkrankt war. Das kleine Mädchen präsentierte stolz ein broschiertes Kinderbuch mit Müllautos, der Feuerwehr und verweilte dann bei den Seiten, die einen Flughafen zeigten. Ein Gespräch mit ihr über den nahegelegenen Frankfurter Flughafen, über kleine und große Flieger und Flugreisen löste bei dem Mädchen Faszination, bei der Mutter dagegen eine gewisse Anspannung aus. Rasch entstand ein Spiel, bei dem ich zusammen mit dem Mädchen mit ausgestreckten Armen im Therapieraum herumsegelte und wir »Starten und landen« spielten; die Mutter wurde in dieses von lauten Geräuschen begleitete Spiel einbezogen. In einer weiteren Runde wurde das Therapiezimmer in ein Flugzeug mit Stühlen in Sitzreihen verwandelt. Die flugerprobte Mutter wurde gebeten, ihrer Tochter den Vorgang des Startens und Landens genau zu erklären und sie zu beruhigen, wenn es wegen des Rumpelns beim Abheben und Landen im Bauch kribbelte. Die Sitzung wurde in fröhlicher Stimmung beendet, und die Klientin hatte durch dieses »Als-ob-Spiel« im Rahmen dieser »Familien-Spieltherapie« ihre Zuversicht wiedergewonnen.
Im Erstgespräch stellen sich dem Therapeuten eine Reihe von Aufgaben: Eine kooperative Beziehung muss – als Basis für eine gute therapeutische Zusammenarbeit – aufgebaut werden, die Wirklichkeitssicht der Familie muss umgedeutet und eine weiter gefasste Wirklichkeit definiert werden, um die Hoffnung zu wecken, dass Veränderungen möglich sind, Therapeut und Familie müssen Ziele vereinbaren und erste kleine, greifbare Schritte verabreden.
Telefonischer Erstkontakt. Der erste Kontakt erfolgt in der Regel per Telefon. In Institutionen werden die Anmeldedaten meist von einer Mitarbeiterin des Anmeldesekretariats erhoben. Der Anmeldegrund, das Alter des Kindes, die besuchte Schule und der Beruf der Eltern sowie Angaben zum Überweisungskontext werden erfragt. Zur Terminvereinbarung rufe ich gerne persönlich zurück, um einen Kontakt herzustellen, weitere Informationen einzuholen und mir einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Dabei achte ich darauf, welches Familienmitglied angerufen hatte. Handelt es sich bei dem Indexpatienten um einen Jugendlichen, der älter als 16 Jahre ist, so bitte ich, ihn ans Telefon zu holen.
Nach einer kurzen Zusammenfassung der Vorinformationen lasse ich mir den Anlass für die Beratung schildern. Die Schilderung der Beschwerden wird aufgegriffen und durch kontextorientierte Fragen erweitert. Ich stelle präzisierende Fragen, bis ich mir das präsentierte Problem szenisch vorstellen kann, und erkundige mich, durch wen der Anrufer von mir gehört hat. Von besonderem Interesse sind Vorinformationen und Erwartungen an die Therapie, die vielleicht von der vermittelnden oder überweisenden Person geweckt wurden. Oft haben Familien Adressen von weiteren Beratern erhalten. Deshalb frage ich: »Bei wem sind Sie gegenwärtig noch in Behandlung? Wo haben Sie sich noch für eine Beratung angemeldet?«
Neben der Schilderung des Anliegens achte ich auf paraverbale Aspekte: Steht die Person unter Druck, oder ist das Anliegen eher weniger dringend? Ist die Position anklagend, fordernd, ratlos oder proaktiv? Wird erwartet, dass ein gravierendes Problem noch schnell vor den Sommerferien in ein, zwei Gesprächen gelöst wird, oder sucht der Anrufer nach einer längeren Unterstützung?
Viele Familien sind durch schulische Aktivitäten, durch Sport, Nachhilfeunterricht oder die Berufstätigkeit der Eltern terminlich stark eingebunden. Will man berufstätige Väter und Mütter in die Therapie einbeziehen, muss man der Familie bei den Terminen entgegenkommen und unter Umständen auch Abendtermine anbieten. Im telefonischen Erstkontakt müssen Abrechnungs- und Honorarfragen geklärt werden. Schließlich wird verabredet, wer zum ersten Gespräch erscheinen soll.
Der telefonische Erstkontakt ist bereits eine erste Intervention und stellt Weichen für die weitere Therapie. Gegen Ende des Telefonats, das selten länger als zehn Minuten dauert, wecke ich eine positive Erwartungshaltung und lenke die Aufmerksamkeit der anrufenden Person auf Ressourcen und kleine oder große Ausnahmen vom Problem, die sich in der Zeit bis zum Erstgespräch einstellen können und in diesem aufgriffen werden (Prior 2006): »Bringen Sie als Material für unser Gespräch in zwei Wochen ein oder zwei Ausnahmen von dem üblichen Problemmuster mit – kleine Situationen, in denen Sie denken: ›Wenn es öfter so wäre wie jetzt, wäre dies ein kleiner Schritt in eine richtige Richtung!‹«
Der Familie kann eine schriftliche Einladung mit Anmeldebögen, Informationen über mögliche Videoaufzeichnungen der Gespräche, Fragebögen und eine Wegbeschreibung zugesandt werden, um die erste Begegnung von bürokratischen Formalitäten zu entlasten.
Hypothesenbildung. Auch bei einer offenen, neutralen Haltung fließen unsere Vorerfahrungen und Erwartungen in die erste Begegnung ein. Vorannahmen und Hypothesen gründen auf Erfahrungen mit ähnlichen Familien, Problemen und Interaktionsmustern und Phasen im Lebenszyklus. Unser Allgemeinwissen, systemische Konzepte und entwicklungspsychologisches Grundlagenwissen fließen in die Hypothesenbildung ein, aber auch Kenntnisse über die Lebensbedingungen der Region und soziale und soziologische Gegebenheiten (Fleuridas et. al. 1986, Selvini Palazzoli et al. 1981). Hypothesen geben den therapeutischen Fragen eine Richtung und helfen uns, die Informationen sinnvoll zu ordnen.
Entwickele Hypothesen, die den folgenden Kriterien entsprechen:
nützliche Hypothesen: Es gibt keine »richtigen« Hypothesen. Das Ziel ist nicht so sehr, die »Wahrheit« zu erkennen, sondern vielmehr, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die Familie nützlichste Hypothese zu formulieren;
systemische Hypothesen: Sie müssen alle Teile der Familie umfassen und eine Aussage über die Gesamtheit der Beziehungsfunktionen treffen;
Hypothesen müssen sich auf die Sorgen der Familie beziehen;
sie müssen sich von den Hypothesen der Familie unterscheiden und damit dem System neue Information bieten.
Überprüfe diese Hypothesen im Verlauf des Gesprächs. Trenne dich von Hypothesen, die sich nicht bestätigt haben, und folge Hypothesen, die sich als nützlich erweisen.
Die erste Begegnung findet in der Regel vor dem Therapiezimmer statt und dauert etwa fünf Minuten. Die Situation, die man im Wartebereich vorfindet, vermittelt ein Bild des Familiensystems: Erscheint die Familie deutlich zu früh oder verspätet, mit dem Vorwurf an den Therapeuten: »Sie sind aber schwer zu finden!«? Stürmen die Kinder voller Energie herein, oder werden sie widerstrebend von den Eltern hinterhergezogen? Prognostisch ungünstig ist es, wenn Rahmenbedingungen nicht eingehalten werden und versäumt wird, Anmeldeunterlagen oder Honorarvereinbarungen auszufüllen und mitzubringen (Viaro & Leonardi 1983). Im Therapieraum sorge ich dafür, dass für alle erwarteten Personen ein Stuhl bereitsteht; meinen eigenen Platz mache ich vorab kenntlich.