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Die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie eröffnet neue Möglichkeiten, zugleich bringt sie etliche Herausforderungen mit sich. Rüdiger Retzlaff nimmt die Neuerung zum Anlass, einen aktuellen Leitfaden für den gesamten Prozess einer Systemischen Therapie vorzulegen: •Wie sieht eine schlüssige systemische Fallkonzeption aus? •Wie erstellt man einen passenden Behandlungsplan? •Wie lassen sich die einzelnen Schritte im therapeutischen Alltag effizient umsetzen? •Was ist bei der kassenfinanzierten Therapie zu beachten? Rüdiger Retzlaff gibt zunächst Einblick in die besonderen ätiologischen Modelle der Systemischen Therapie und in die Wirkfaktoren von Psychotherapie im Allgemeinen. Den Kern des Buches bilden praktische Anleitungen, z. B., wie im Erstgespräch und den Folgegesprächen eine gemeinsame Systemanalyse entwickelt, das systemische Erklärungsmodell eingesetzt und ein stringenter Behandlungsplan erstellt werden können. Zu wichtigen Diagnosegruppen wird das störungsspezifische Wissen kompakt dargestellt und durch Anregungen für Interventionen in Praxis umgesetzt. In weiteren Kapiteln werden die relevanten formalen Bestimmungen der gesetzlichen und privaten Krankenkassen und der Beihilfe vorgestellt und anhand von Fallbeispielen für Kassenanträge illustriert. Rüdiger Retzlaff hat als Gutachter bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie maßgeblich mitentwickelt und über Jahre begleitet. Heute lehrt er am Helm Stierlin Institut (hsi) in Heidelberg.
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Systemische Therapie und Beratung
In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.
Tom LevoldHerausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung
Ergänzend zu diesem Band erhältlich:
Rüdiger Retzlaff
Systemische Therapie – Materialien zu Fallkonzeption, Therapieplanung, Antragsverfahren53 Vorlagen und FormulareeBook (PDF), 2021
ISBN 978-3-8497-8350-1eISBN 978-3-8497-8260-3
https://www.carl-auer.de/systemische-therapie-materialien-zu-fallkonzeption-therapieplanung-antragsverfahren
Rüdiger Retzlaff
Ein praktischer Leitfaden
2021
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«
hrsg. von Tom Levold
Reihengestaltung: Uwe Göbel
Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann
Umschlagmotiv: © DavManVo – stock.adobe.com
Redaktion: Veronika Licher
Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach
Erste Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-0372-1 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8260-3 (ePUB)
© 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
1Einführung
1.1Mitbehandler im Gesundheitssystem
1.2Voraussetzungen für psychotherapeutische Behandlungen im Kassensystem
1.3Diagnosen
1.4Prognose
1.5Ätiologisches Modell und theoriegeleiteter Erklärungsansatz
1.6Behandlungsplan
Systemische Therapie – Ein Begriff im Wandel der Zeit
1.7Salutogenetisches Verständnis von Gesundheit
1.8Aufklärung und Information
1.9Vergütungsregeln als Systemfaktor
Die Systemische Therapie ist weit gekommen – Vom langen Marsch durch die Institutionen
1.10Empirische Fundierung der Systemischen Therapie
1.11Regulierung und Verrechtlichung
1.12Und was wird aus der Multiprofessionalität?
1.13Systemische Therapie mit Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen
Integrative Therapie
2Ätiologische Modelle
2.1Einführung
2.2Beobachtbare Interaktionsmuster und Beziehungsstrukturen
2.3Kommunikationsmuster
2.4Mehrgenerationale Prozesse
2.5Sprachliche Bedeutungsgebungsprozesse und Selbstorganisation
2.6Individuelle Ebene
2.7Somatische Prozessebene
2.8Ressourcenausstattung und Belastungen
2.9Sozialökologische Ebene
2.10Bedeutungsgebung und soziokulturelle Faktoren
2.11Entwicklungslinien der Systemischen Therapie
2.12Auslösende Faktoren
2.13Problemerhaltende chronifizierende Faktoren
2.14Gesundheitsförderliche Muster
2.15Das systemische Erklärungsmodell
3Allgemeine Wirkfaktoren in der Psychotherapie
3.1Spezifische Techniken oder allgemeine Wirkfaktoren?
3.2Aktive bewusste Gestaltung der Therapeut-Patient-Beziehung
3.3Allgemeine Faktoren oder spezifische Therapietechniken – Versuch einer Synthese
4Systemische Fallkonzeption – Entwicklung eines gemeinsamen Fallverständnisses
4.1Allgemeines
4.2Entwicklung eines gemeinsamen Fallverständnisses
4.3Telefonischer Erstkontakt
4.4Erstgespräch
4.5Eröffnung
4.6Problemklärung – Schilderung der Beschwerden und Symptome
4.7Problemerhaltende Muster und das Anregen von Änderungen
4.8Biografisches Verstehen
4.9Klärung von Anliegen und Aufträgen
4.10Gemeinsame Problemdefinition
4.11Abschlussphase
4.12Schlusskommentar und erste Verschreibungen
4.13Nach dem Erstgespräch
4.14Therapieabsprachen und Kontrakte
4.15Umgang mit der Schweigepflicht
4.16Eigene Themen des Behandlers
4.17Das »zweite Erstgespräch« – Weitere probatorische Sitzungen
4.18Weitere diagnostische Einschätzungen
4.19Kooperative Behandlungsplanung, Aufbau und Struktur von systemischen Therapien
4.20Therapieabschluss
5Systemische Therapie in Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV), Privater Krankenversicherung (PKV) und Beihilfe
5.1Allgemeine Aspekte
Mehrpersonensetting
5.2Praktische Regelungen
Telefonische Erreichbarkeit
Sprechstunde
Probatorische Sitzungen
Akutbehandlung
Kurzzeittherapie 1 und 2
Konsiliarbericht
Rezidivprophylaxe
Langzeittherapie
Weitere Leistungen
Gutachterverfahren
5.3Private Krankenversicherung und Beihilfe
5.4Selektivverträge – Systemische Therapie als Kassenleistung in Baden-Württemberg
5.5Kostenerstattungsverfahren
5.6Beispielberichte
Beispielbericht 1: Affektive Störungen
Beispielbericht 2: Zwangsstörung
Beispielbericht 3: Essstörung
Beispielbericht 4: Somatoforme autonome Funktionsstörung
Beispielbericht 5: Substanzgebrauchsstörung
5.7Kriterien für möglicherweise nicht hinreichend begründete systemische Berichte an den Gutachter
6Vorgehensweisen bei spezifischen Störungsbildern
6.1Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie (F 32–39)
Depression
Verzögerte Trauerreaktion
Burn-out
Suizidalität
6.2Angststörungen und Zwangsstörungen
Angststörungen (F 40–41)
Emotionale Trennungsangst (F 93.0)
Schulangst
Soziale Phobie (F 40.1)
Spezifische Phobien (F 40.2), phobische Störung des Kindesalters (F 93.1)
Agoraphobie F (40.0)
Panikstörung F (41.0)
Generalisierte Angststörung (F 41.1)
Zwangsstörungen (F 42)
6.3Somatoforme Störungen und dissoziative Störungen (Konversionsstörungen)
Somatisierungsstörungen (F 45)
Somatoforme Funktionsstörungen (F 45.3)
Dissoziative Störungen (F 44)
6.4Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F 43)
Anpassungsstörungen
Traumafolgestörungen
6.5Essstörungen
Anorexia nervosa (F 50)
Bulimia nervosa (F 50.2)
6.6Nichtorganische Schlafstörungen (F 51)
6.7Sexuelle Funktionsstörungen (F 52)
6.8Persönlichkeitsstörungen (F 60)
6.9Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
Störungen des Sozialverhaltens (F 91–92)
Aufmerksamkeitsstörungen (F 90)
6.10Substanzmissbrauch (F 10–19)
Alkoholmissbrauch (F 10)
Drogenkonsum (F 11–19)
6.11Seelische Krankheit aufgrund frühkindlicher emotionaler Mangelzustände oder tiefgreifender Entwicklungsstörungen (F 84)
6.12Seelische Krankheit als Folge schwerer chronischer Krankheitsverläufe (F 54)
Patienten mit terminalen Krankheiten
6.13Schizophrene und affektive psychotische Störungen (F 20–29)
Psychotische Störungen
7Ethische und berufliche Standards
Abkürzungsverzeichnis
Literatur
Über den Autor
Wanderer… es gibt keinen Weg –der Weg entsteht im Gehen.
Antonio Machado
Das vorliegende Buch ist Ausdruck einer Erfolgsgeschichte. Fast 50 Jahre nachdem die systemische Familientherapie von Helm Stierlin und anderen in Deutschland eingeführt wurde (Retzlaff 2013), hat die Systemische Therapie am 24. 1. 2020 vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (G-BA) die sozialrechtliche Anerkennung erhalten und wurde in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Zeitgleich wurde das Psychotherapeutengesetz von Grund auf reformiert. Nach der seit September 2020 gültigen Fassung gibt es einen neuen Master-Studiengang Psychotherapie, an den sich eine mehrjährige Weiterbildung in einem oder mehreren Psychotherapieverfahren anschließt. Als wissenschaftlich anerkanntes Verfahren wird die Systemische Therapie somit intensiver als in der Vergangenheit an den psychologischen Hochschulinstituten unterrichtet werden und Eingang in die Studiencurricula finden. Dies dürfte durch das Vorliegen etlicher deutschsprachiger Lehrbücher der Systemischen Therapie erleichtert werden (Sydow u. Borst 2018; Hanswille 2015; Levold u. Wirsching 2014; Schwing u. Fryzer 2006; Retzlaff 2021; v. Schlippe u. Schweitzer 2012; Schweitzer u. v. Schlippe 2007; Scheib u. Wirsching 2004). Seit dem 1. 7. 2020 ist die Systemische Therapie auch im Rahmen der Weiterbildungen zum Facharzt für Psychiatrie, für Kinder- und Jugendpsychiatrie, für Psychosomatische Medizin und für die ärztliche Zusatzbezeichnung Psychotherapie eines der offiziell anerkannten Psychotherapieverfahren.
Doch in allererster Linie hat die Anerkennung positive Auswirkungen auf die Patienten:1 Erwachsene gesetzlich versicherte Personen haben Zugang zu einem weiteren wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren erhalten, dessen Wirksamkeit in zahlreichen internationalen Studien breit bestätigt ist (Retzlaff et al. 2013; v. Sydow et al. 2010a, 2013). Die Versicherten erhalten damit mehr Wahlfreiheit und können sich für ein ambulantes Psychotherapieverfahren entscheiden, das in anderen Ländern wie der Schweiz schon seit längerer Zeit Teil der Leistungen des öffentlichen Gesundheitssystems ist. In Deutschland dagegen stand es mit Ausnahme einiger weniger Krankenkassen in Baden-Württemberg über viele Jahre hinweg lediglich Privatzahlern zur Verfügung.
Eine Grundmaxime der Systemischen Therapie lautet: »Handele stets so, dass du die Optionen der Betroffenen erhöhst« (v. Foerster 1993). In diesem Sinne ist die Aufnahme der Systemischen Therapie in den Katalog der von den Krankenkassen finanzierten Leistungen ein großer sozialpolitischer Fortschritt. Erfreulicherweise übernehmen seit der Anerkennung durch den GBA inzwischen auch die privaten Krankenversicherungen, in denen ca. neun Prozent der Bevölkerung versichert sind, die Kosten für die Systemische Therapie bei Erwachsenen. Änderungen der Gebührenordnung für Psychologen (GOP) bzw. der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), die für die privaten Versicherungen gelten, sind kompliziert, deshalb wird für die Abrechnung der Systemischen Therapie eine sogenannte Analogregelung angewandt. Für systemische Therapien werden die für Verhaltenstherapie geltenden Ziffern mit dem Vermerk »ST« verwendet. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde vor Einführung eigener Abrechnungsziffern für die Verhaltenstherapie angewendet; Verhaltenstherapeuten konnten damals psychoanalytische Ziffern mit dem Zusatz »VT« ansetzen. Für Richter und die Beamten des Bundes, der Länder und der Kommunen gibt es ein eigenständiges Krankensicherungssystem, die Beihilfe, über die ca. 4,5 % aller Versicherten versorgt sind. Mit der Änderung der Beihilfeverordnung vom 9. 12. 2020 ist die Systemische Therapie auch für Bedienstete des Bundes anerkannt. Es steht zu erwarten, dass die Beihilfestellen der Bundesländer rasch diesem Beispiel folgen werden und entsprechende Verordnungen erlassen.
Die Systemische Therapie ist damit endlich Teil des ambulanten Gesundheitsversorgungssystems geworden und wird Teil des normalen Angebotes an psychotherapeutischen Leistungen, sie verliert aber auch ihre Stellung als besonderes Verfahren und ihre Exklusivität. Anders als im Bereich der ambulanten Psychotherapie leisten systemische Therapeuten im stationären Bereich bereits seit etlichen Jahrzehnten einen wertvollen Beitrag zur Patientenversorgung. In den unterschiedlichen Landespsychotherapeutenkammern verfügen ca. 12 bis 14 % der approbierten psychologischen Psychotherapeuten bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeuten auch über eine systemische Ausbildung. In Kinderkliniken, Sozialpädiatrischen Zentren, neurologischen Kliniken, Rehakliniken etc. arbeiten systemische Therapeuten bereits seit Jahrzehnten im Rahmen einer berufsgruppenübergreifenden Versorgung von Patienten mit. Auch in den allermeisten Universitätskliniken für Psychosomatische Medizin, in Psychiatrischen und Kinderpsychiatrischen Kliniken sind Systemiker tätig. In Tageskliniken und Sozialpsychiatrischen Diensten wird seit Jahrzehnten Systemische Therapie praktiziert bzw. systemisch gearbeitet. In der Schweiz ist sie eine von vier Hauptrichtungen der Psychotherapie, die in der ambulanten Versorgung praktiziert werden, ohne dass dies der Qualität der schweizerischen Systemischen Therapie Abbruch getan hätte. Die mitunter vorgetragene Sorge, durch die Aufnahme in das ambulante psychotherapeutische Versorgungssystem drohe die Systemische Therapie zu verwässern, erscheint daher übertrieben.
Nach dem Psychologiestudium in Tübingen absolvierte ich 1985 ein Aufbaustudium in Paar- und Familientherapie in den USA. Bereits damals – vor 35 Jahren – war Systemische Therapie dort Teil der akademischen Ausbildungslandschaft, mit Promotionsstudiengängen für Paar- und Familientherapeuten, die zu einer state licence führte – analog zur Approbation. Für die Kostenübernahme von Behandlungen an der Philadelphia Child Guidance Clinic mussten wir systemisch fundierte Anträge für die Krankenkassen schreiben. In Ländern, in denen die Systemische Therapie sich schon länger etabliert hat, sind entsprechende formale Vorgaben etwas Alltägliches.
Voraussichtlich wird die sozialrechtliche Anerkennung ebenso wie die Bestätigung als wissenschaftliches Verfahren durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) am 14. 12. 2008 Auswirkungen auf die Praxis, die Ausbildungen und das Therapieverständnis der Systemischen Therapie haben. Systemische Therapien, die zulasten der gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinie (PT-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses durchgeführt werden, müssen bestimmte Vorgaben erfüllen. Es gibt eine große Bandbreite systemischen Arbeitens und systemischer Tätigkeitsfelder, etwa in Coaching und Organisationsberatung, in der Jugend- und Familienhilfe, in stationären und teilstationären Einrichtungen u. a. m. Systemische Therapie innerhalb des Systems der gesetzlichen und privaten Krankenkassen ist ein Spezialfall systemischen Handelns. Andere Konzeptionen von Systemischer Therapie und systemischer Vorgehensweisen, zum Beispiel bei der Fallkonzeption, sind ebenso möglich und gültig. Allerdings können systemische Therapeuten nicht ausschließlich den von ihnen bevorzugten Konzepten und Vorgehensweisen folgen (Keeney 1983), in der Richtlinientherapie gelten bestimmte Vorgaben. Es folgen einige Eckpunkte dazu.
Therapeuten, die im System der Kassenärztlichen Vereinigung tätig sind, arbeiten nicht isoliert, sondern an der Seite von zahlreichen Mitbehandlern. Dazu gehören Haus- und Fachärzte, insbesondere Psychiater oder Kinder- und Jugendpsychiater, Mitarbeiter der sozialpsychiatrischen Dienste, Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten, Mitarbeiter aus Stationen und teilstationären Einrichtungen, Rehakliniken etc. Eine Psychotherapie findet neben anderen Maßnahmen statt, die z. B. vom behandelnden Arzt verordnet werden, wie Medikamente, sozialtherapeutische Maßnahmen, Hilfsmittel bzw. Aufenthalte in einer Reha- oder Kurklinik. Die rechtlichen Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (G-BA) sehen eine Kooperation mit Mitbehandlern sowie den Austausch von behandlungsrelevanten Informationen unter Wahrung der informationellen Selbstbestimmung der Patienten vor.
In manchen systemischen Texten kommen Mitbehandler lediglich als überweisende Personen vor oder werden gar nicht erwähnt. Zu der Kooperation mit Mitbehandlern zählen auch das Einholen von Konsiliarberichten von ärztlichen Kollegen als Voraussetzung für die Einleitung einer Psychotherapie, Briefe ärztlichen Inhaltes über das Ergebnis eines Erstgesprächs sowie Therapieabschlussberichte, falls diese nicht explizit vom Patienten abgelehnt werden.
Versicherte haben »Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern« (§ 27 Absatz 1 SGB V).
Im Falle von psychotherapeutischen Behandlungen müssen als Voraussetzung für eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen vier Kriterien erfüllt sein:
1)das Vorliegen einer Störung von Krankheitswert (nach ICD-10)
2)eine hinreichend günstige Prognose – die Behandlung muss ausreichend Aussicht auf einen Therapieerfolg bieten
3)es muss eine stringente Beschreibung der Entstehung der Beschwerden innerhalb eines theoretisch und empirisch begründeten Ansatzes geben
4)und es muss ein klarer, nachvollziehbarer Behandlungsplan vorliegen, der in strukturierter Weise beschreibt, mit welchen Methoden die vereinbarten Therapieziele erreicht werden sollen.
Eine Bewilligung der Kostenübernahme für eine psychotherapeutische Behandlung setzt das Vorliegen einer Störung von Krankheitswert im Sinne des ICD-10 bzw. ab ca. 2022 nach ICD-11 voraus. Paartherapie, Sexualberatung, Erziehungsberatung, Lebensberatung oder Coaching sind eindeutig keine Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
Um eine Kostenzusage der Krankenkasse für eine Behandlung zu erhalten, muss eine Diagnose gestellt werden. Seit den Anfängen der systemischen Familientherapie besteht auch unter dem Einfluss der Antipsychiatriebewegung eine grundsätzlich skeptische Haltung gegenüber psychiatrischen Etikettierungen – Systemiker interessieren sich stärker für Prozessmuster und wissen um die oftmals festschreibende, eine Chronifizierung begünstigende Wirkung von Diagnosen. In diesem Zusammenhang wird manchmal die implizite Nähe zum Krankheitsmodell der somatischen Medizin kritisiert, das auf der Annahme mehr oder weniger spezifischer Ursachen für Krankheiten beruht. Neben einer somatischen Fixierung, wie tendenziell im medizinischen Modell, das psychosoziale Faktoren weitgehend außer Acht lässt, gibt es auch die Gefahr, allzu sehr auf psychische Faktoren fixiert zu sein (Aderhold 2017; Frances 2017; McDaniel et al. 2004).
In Therapieanträgen, die vom Psychotherapeuten unter Mitwirkung des Patienten erstellt werden, muss eine offene narrative Problembeschreibung gegeben werden, eine biografische Anamnese, eine Diagnose nach ICD-10, außerdem ein klassischer psychiatrischer Befund und ein systemisches Erklärungsmodell, analog zu der Bedingungsanalyse der Verhaltenstherapie oder einer psychodynamischen Einschätzung. Aus diesen wird dann ein individueller Behandlungsplan abgeleitet. Verlangt wird also eine durchaus anspruchsvolle Beschreibung auf mehreren konzeptionellen Ebenen, weit über die Diagnosestellung nach ICD-10 hinaus. Dies entspricht der batesonschen Idee (Bateson 1972) einer doppelten bzw. mehrfachen Sichtweise, die eine Tiefenwahrnehmung ermöglicht.
Klinische Diagnosen sind Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses.
»Diagnosen stellen in einem systemischen Verständnis sprachliche Bedeutungsverdichtungen als Ergebnis systematisierter Beobachtungsprozesse dar, die von einer autorisierten Personengruppe nach definierten, als allgemeingültig erklärten fachlichen Richtlinien durchgeführt wurden« (Klein u. Schmidt 2017, S. 12).
Diagnosen setzen voraus, dass es Prozessmuster bei Patienten gibt, die zum einen bemerkt werden, also nicht nur kurzfristig bestehen, und die zum anderen negativ oder positiv bewertet werden (»depressiv«, »rasche Auffassungsgabe«, »voll remittiert«).
Das systemisch-konstruktivistische Modell nimmt an, Probleme würden geschaffen, indem über sie geredet wird; erst durch Kommunikation würden Phänomene eine soziale Relevanz erhalten. Im Unterschied zu der Annahme, Probleme würden nur in Sprache und nicht per se existieren, kann man davon ausgehen, dass auch das Nichtreden und das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen von Problemen problematisch sein kann: Beispiele sind der Klimawandel, der leider existiert, auch wenn er von manchen bestritten wird, oder das massive Untergewicht einer Tochter, über das in einer Familie jahrelang nicht geredet wird, bis sie kollabiert, oder der sexuelle Missbrauch eines Mädchens, das sich niemandem anvertrauen mag, der dennoch oder auch gerade deswegen psychische und emotionale Schäden verursacht. Fisch, Weakland und Segal (1982) vom Mental Research Institute (MRI) in Palo Alto gingen von zwei Klassen von Problemen aus: Bei der einen wird aus der Mücke ein Elefant gemacht, Kleinigkeiten werden durch einen sprachlichen Zuschreibungsprozess groß gemacht. Bei der anderen wird umgekehrt »der Elefant im Wohnzimmer übersehen« und beispielsweise über das Alkoholproblem, die Magersucht oder sexuelle Übergriffe nicht geredet, sondern so getan, als ob diese nicht vorhanden wären.
Was als eine Störung von Krankheitswert gilt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Diagnose gestellt werden kann, hängt ab von Klassifikationssystemen wie ICD-10 bzw. ICD-11 oder DSM-5, die in größeren Abständen revidiert werden. Von Zeit zu Zeit werden Diagnosen komplett gestrichen, andere kommen neu hinzu. Im ICD-9 gab es beispielsweise keine Bulimie, auch keine Borderlinestörung und keine posttraumatische Belastungsstörung. Diese wurden erst später in die ICD aufgenommen. Tatsächlich sind viele psychiatrische Diagnosen nicht besonders trennscharf definiert. Sie werden außerdem oft reduktionistisch verwendet und soziale Faktoren zu wenig berücksichtigt. Psychische Diagnosen sollten nicht in Stein gemeißelt sein und nicht den Charakter einer dauerhaften Realität annehmen. Aus sozialpsychologischer Sicht fließt die Person des Therapeuten – seine subjektive Sicht, Vorerfahrungen und Vorurteile, seine Schicht und soziale Herkunft, der kulturelle Hintergrund – in die diagnostischen Beobachtungen ein. Der Therapeut ist kein außenstehender objektiver Betrachter, sondern Teil des relevanten Systems. In einer Kultur, die permissiv mit Alkoholkonsum umgeht, wird ein Therapeut möglicherweise zu einer anderen Einschätzung gelangen als in einer Ambivalenzkultur oder einer prohibitiv mit Alkohol umgehenden Kultur. Die Forschungsarbeiten von Keller (2011) zeigen z. B., dass es neben dem von Bowlby (Holmes 2002) beschriebenen Bindungsverhalten zumindest einen alternativen Bindungsstil gibt, der weltweit verbreitet und vielleicht sogar vorherrschend ist, bei dem sich »gutes« Bindungsverhalten deutlich von dem unterscheidet, was bei uns herkömmlich darunter verstanden wird. Auf der Grundlage ihrer interkulturellen Forschungen sieht Keller (2011) die klassische Bindungstheorie als nicht allgemeingültig an. Eine sichere Bindung kann abhängig von der jeweiligen Kultur auf sehr unterschiedliche Weisen erreicht werden. Neben dem bekannten autonomieorientierten Modell von Bindung, das stark auf die Förderung kognitiver Kompetenzen, des Ichs und eines unabhängigen Selbst ausgerichtet ist, gibt es u.a. ein stärker an Verbundenheit orientiertes Modell. Bei diesem erfolgt ständiger Körperkontakt zwischen Mutter und Kind, mit einer starken motorischen Stimulation, und dementsprechend wird die Bewegungsentwicklung stärker gefördert. Eine Jugendamtsmitarbeiterin mag bei der Beurteilung einer jungen aus Westafrika stammenden Mutter deren Interaktion mit einem Baby möglicherweise gründlich fehleinschätzen, wenn sie einen allzu westlichen Maßstab anlegt. Unsere Einschätzungen sind kontext- und personengebunden und hängen auch von unserer persönlichen Bedürfnislage ab (Bruner a. Goodman 1947; Kahneman 2011). Dennoch können sich in der Regel verschiedene Beobachter – etwa bei der gemeinsamen Analyse von Videosequenzen von Familieninteraktionen – konsensuell auf eine Einschätzung oder Diagnose einigen.
In ihrem Artikel »Kritisches zu Umdeutungen oder: Die Vorteile eines pathologischen Begriffssystems« haben Grunebaum und Chasin (1980) ausgeführt, dass Diagnosen nicht an und für sich gut oder schlecht sind – es komme vielmehr darauf an, was aus ihnen gemacht werde (vgl. auch Spitczok v. Brisinski 1999). Tatsächlich ist der Prozess der Diagnosestellung als ein kollaborativer Vorgang zu verstehen, bei dem Patient und Therapeut gemeinsam zusammenwirken. Diagnosen lassen sich – egal, wie man sie definiert – als Maß für Beeinträchtigung und Limitierungen von Freiheitsgraden der Lebensgestaltung verstehen. Sie können auch eine entlastende Wirkung haben. Beispielsweise beschreiben Eltern von Kindern mit einer Behinderung die Diagnosestellung als einen sehr schweren Moment, der zugleich aber auch eine befreiende Wirkung haben und auf narrativer Ebene einen Wendepunkt darstellen kann: von einer Phase der Suche nach Information und Orientierung hin zu Akzeptanz und einer neuen Balance (Retzlaff 2019a).
Auf einer pragmatischen Ebene können Diagnosen, Etikettierungen als Einschränkungen der Freiheitsgrade der Lebensgestaltung verstanden werden, die sich nicht einfach wegdefinieren lassen. Im Sinne von Berger und Luckmann (1966) besitzen sie Realitätscharakter.2Was wir als Realität ansehen, ist nach diesem sozial-konstruktionistischen Verständnis Ergebnis eines sozialen Aushandlungsprozesses, aber nicht vollständig beliebig oder unabhängig von Aspekten einer harten Wirklichkeit. Eine soziale Gruppe kann sich auf ein bestimmtes Problemverständnis einigen. Das Wissen über die Welt ist immer partiell, was nicht bedeutet, dass diese eine reine Ansichtssache wäre (Pinsof 1995).
Für die Arbeit von systemischen Therapeuten im Gesundheitssystem bietet das biopsychosoziale Modell der systemischen Familienmedizin eine gute konzeptionelle Grundlage (Altmeyer u. Hendrischke 2012). In der systemischen Familienmedizin werden Begriffe wie Krankheit und diagnostische Labels nicht vollständig abgelehnt, sondern in einer offenen, weniger wertenden und reflektiert-kritischen Form eingesetzt und auch hinterfragt (McDaniel et al. 2004).
Im Unterschied zu vielen anderen therapeutischen Methoden steht am Beginn einer systemischen Therapie keine umfassende Diagnostik, sondern eine sorgfältige Auftragsklärung – was will der Patient ändern? Wie werden die Probleme aufgefasst, welche Lösungen sind vorstellbar? Welche Ziele werden angestrebt?
Ausgangspunkt einer systemischen Therapie ist nicht primär eine objektivierende Diagnostik mit psychiatrischen Inventaren, Klassifikationsschemata, Fragebögen, Tests, Rating-Skalen usw., sondern ein oder mehrere Klärungsgespräche, in denen die Ressourcen, aber auch die Belastungen, die Lebensgeschichte, die individuellen und interaktionellen Muster erfasst werden – wobei der Therapeut Teil des Systems ist. Die weitere Vorgehensweise leitet sich aus den Anliegen und den Aufträgen der Patienten ab, wobei der Therapeut seine Fachkunde und Expertise zur Verfügung stellt.
Störungen werden weniger als objektiv gegeben betrachtet, sie sind negativ bewertete Ereignisfolgen, die innerhalb eines bestimmten soziokulturellen Kontextes zu sehen sind. Was ein behandlungsrelevantes Problem darstellt, muss immer auch mit dem Patienten verabredet werden. Auch die therapeutischen Effekte hängen davon ab, ob und in welcher Weise der Patient die Interventionen aufnimmt und annimmt. Patienten werden in erster Linie nicht behandelt, sondern im therapeutischen Prozess beraten und unterstützt, welche Schritte sie unternehmen können, die zu einer Besserung der Beschwerden beitragen könnten.
Diagnosen bzw. Einschätzungen oder Assessments werden übrigens auch im Bereich der Jugendhilfe vorgenommen, beispielsweise entscheiden Jugendämter, ob die Kriterien für eine Kindeswohlgefährdung oder eine stationäre Jugendhilfemaßnahme vorliegen oder nicht. Einschätzungen und Diagnosen sind im Grunde nichts Ungewöhnliches.
Seit ihren Anfängen in den 1950er-Jahren wurden in der systemischen (Familien-)Therapie Störungen interpersonell als Ausdruck einer schwierigen Lebenssituation verstanden, es wurde oft auf klassische ätiologische Modelle verzichtet. In der ersten unserer Heidelberg-Hamburger Expertisegruppe bekannten randomisierten kontrollierten Therapiestudie zur Systemischen Therapie wurde leider komplett auf Diagnosen verzichtet, obwohl die Patienten an Psychosen und schweren Depressionen mit psychotischen Komponenten litten (dadurch konnte diese Studie nicht für die wissenschaftliche und sozialrechtliche Anerkennung gewertet werden). Traditionelle Psychopathologie-Konzeptionen, die Störungen reduktionistisch auf biologische Faktoren oder Vernachlässigung des sozialen Kontextes zurückführen, wurden abgelehnt, stattdessen spielen für das systemische Störungsverständnis schwierige Lebenslagen, interaktionelle und kommunikative Prozesse, die Balance von Ressourcen und Belastungen, und die Familiengeschichte als Verstehenskontext eine wichtige Rolle.
Für eine günstige Prognose spricht eine kooperative Beziehung zwischen Patient und Therapeut und eine Bereitschaft zur Mitwirkung am therapeutischen Prozess. Das Nichteinlassen auf bestimmte Rahmenbedingungen einer Therapie geht mit einem ungünstigen Behandlungsverlauf einher. Bereits in den 1980er-Jahren wiesen verschiedene Autoren darauf hin (Sbattella, Viaro u. Leonardi 1984). Ein Teil der therapeutischen Arbeit kann darin bestehen, aus »Schaufensterkunden« oder aus »Klagenden« Kunden für eine Psychotherapie zu machen bzw. – treffender formuliert – sie für den therapeutischen Prozess zu gewinnen. Bei mangelnder Kooperation oder nicht hinreichenden Sprachkenntnissen ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine gelingende Therapie gegeben sind. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Bereitschaft der Angehörigen zur Mitwirkung ein wichtiger prognostischer Faktor. Im Unterschied zu manchen einzeltherapeutischen Therapieansätzen ermöglicht die Einbeziehung des sozialen Umfeldes bei zunächst weniger motivierten Patienten – und insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – eine deutlich bessere Prognose auch bei ansonsten schwieriger zu behandelnden Störungen wie Magersucht, Sozialverhaltensstörungen oder Substanzstörungen.
Nach der Psychotherapie-Richtlinie müssen psychotherapeutische Verfahren, die von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden, auf einem ätiologischen Modell beruhen und einen theoriegeleiteten Erklärungsansatz für die Entstehung psychischer Störungen aufweisen, der auch körperliche Faktoren (§ 3 PT-RL) berücksichtigt. Die Psychotherapie-Richtlinie (PT-RL) des G-BA, in der die Ausübung der ambulanten psychotherapeutischen Tätigkeit geregelt wird, basiert auf dem medizinischen Krankheitsmodell bzw. dem biopsychosozialen Modell als Grundlage einer jeden Behandlung. Eine Systemische Therapie, die körperliche Faktoren außer Acht lässt, wäre nicht genehmigungsfähig.
Die Psychotherapie-Richtlinie (PT-RL) verlangt als Voraussetzung für die Durchführung einer Behandlung zulasten der gesetzlichen Krankenkassen einen stringenten Behandlungsplan, der zielgerichtet durch Interventionen einen systematischen verändernden Einfluss nehmen und Bewältigungsfähigkeiten des Individuums aufbauen soll. Auch die Therapeut-Patient-Beziehung soll aktiv und bewusst gestaltet werden (§ 4 Absatz 3 PT-RL). Versteht man Systemische Therapie als völlig absichtslose Konversation mit Therapeuten in einer neutralen, reflektierenden Position wird man sich mit einer Fallkonzeptualisierung schwertun, die dem Antragsverfahren der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dem der privaten Krankenversicherungen und der Beihilfeträger gerecht wird.
Innerhalb der Systemischen Therapie hat die Neutralität des Therapeuten einen hohen Stellenwert, Behandlungen sind patientenzentriert, die Änderungswünsche, Anliegen und Ambivalenzen der Patienten sind entscheidend. Hauptperson der Behandlung ist der Patient und nicht etwa der Psychotherapeut mit seinen Neigungen und Vorlieben. Juristisch formuliert sind Patienten Subjekt und nicht Objekt der Behandlung. Sie sind rechtlich Auftraggeber einer Psychotherapie. Der Patient steht im Mittelpunkt, er wird nicht behandelt, sondern beraten bzw. unterstützt, im Rahmen eines Prozesses des shared decision making informierte Entscheidungen zu treffen, und er wird auch in den Prozess der Formulierung der Fallkonzeption einbezogen. Therapeuten be-handeln nicht, sondern unterstützen Patienten bei ihrer Selbstorganisation und bei Entwicklungsschritten.
Die Systemische Therapie wurde als Richtlinienverfahren mit der Erwartung aufgenommen, das bestehende Versorgungsangebot durch rasch wirksame Kurzzeittherapien zu ergänzen. In Praxen ebenso wie in Ambulanzen und Kliniken sind Behandler darauf angewiesen, wirksame Behandlungspläne aufstellen und umsetzen zu können, und Supervisoren müssen über eine entsprechende klinische Erfahrung verfügen und wissen, wie sie weniger erfahrene Behandler dabei unterstützen können (Bogdan 1987; Haley 1993).
Besser als der etwas nüchtern wirkende Begriff der Neutralität bringt der Begriff der Allparteilichkeit zum Ausdruck, um was es geht – in einer Sitzung sollen alle anwesenden Personen sich vom Therapeuten unterstützt und mit ihm verbunden fühlen, was nicht bedeutet, dass Muster und Verhaltensweisen nicht auch hinterfragt werden. Letztlich kann man nicht wirklich änderungsneutral arbeiten; aus strategischen Gründen können Nachteile von Veränderungen reflektiert werden, aber das Vorgehen bei einer Therapie zulasten der Krankenkassen ist änderungsorientiert: Wenn Patienten eine Behandlung verabreden, besteht auch im Sinne der Psychotherapie-Richtlinie ein expliziter Änderungskontrakt.
Es gibt eine lange Tradition pragmatisch orientierter systemischer Ansätze, die handlungsorientiert vorgehen, in denen mit den Patienten anhand gemeinsam verabredeter Therapieziele ein Behandlungsplan entwickelt wird. Systemische Interventionen und Gesprächsführungstechniken werden problem- bzw. störungszentriert und lösungsorientiert eingesetzt, um psychische Symptome überwinden zu helfen. Bei der therapeutischen Begleitung chronisch kranker Menschen ist das Vorgehen meist weniger zielgerichtet, weniger änderungsorientiert. Eine unterstützende, validierende, auf Akzeptanz ausgerichtete, stärker narrative Vorgehensweise, wie sie in der systemischen Familienmedizin z. T. üblich ist, dürfte möglicherweise geeigneter sein als ein Behandlungsplan mit einem zu engen Problemfokus. Behandlungspläne sollten auch Raum für eine non-direktive Vorgehensweise und die Entfaltung des Selbsthilfepotenzials der Patienten lassen. Eine rein auf Selbstorganisationsprozesse hin angelegte systemische Therapie, in der die Rolle des Therapeuten als gleichrangig zum Klienten definiert wird und dieser sich als Gastgeber hilfreicher Gespräche versteht, ist selbstverständlich eine gültige Form systemischen Arbeitens, sie ist allerdings nicht geeignet für Anträge auf Kostenübernahme durch die GKV. Analog gelten hochfrequente Psychoanalysen ohne konkreten Behandlungsplan bei psychodynamischen Gutachtern – im Unterschied zu fokalen Therapien – nicht als Ansatz der Kassentherapie (Adler 2018).
Im Kapitel 4 wird ausgeführt, wie ein nachvollziehbares systemisches Behandlungskonzept ausschauen kann. Das im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen bislang geltende Gutachterverfahren schreibt verbindlich eine individualisierte, maßgeschneiderte Therapiekonzeption vor (Müther 2017). Dies gilt analog für Anträge bei privaten Krankenversicherungen und den Beihilfestellen. Häufigster Grund für die Ablehnung von Psychotherapieanträgen sind schematische, nicht individuell maßgeschneiderte Therapiepläne mit Formulierungen, die wie aus dem Textbaukasten wirken. Nach der Psychotherapie-Richtlinie des G-BA ist eine schematische Zuordnung einer bestimmten Diagnose zu einer standardisierten therapeutischen Vorgehensweise nicht vorgesehen. Eine Fallkonzeption und ein Behandlungsplan wären wenig plausibel, wenn beispielsweise wichtige Systemaspekte nicht berücksichtigt werden oder trotz einer hohen interaktionellen Einbettung der Symptomatik nicht im Mehrpersonensetting gearbeitet werden sollte.
Ein rechtlicher Hinweis: Die Approbation als Psychotherapeut bzw. als Kinder- und Jugendpsychotherapeut gilt für psychologische Heilkunde, nicht für die Körpermedizin. Die Grenze zwischen Psychotherapie und Körperheilkunde beginnt, wo körperlich Interventionen zum Einsatz kommen, also wo am oder mit dem Körper des Patienten gearbeitet wird. Dies ist Ärzten und Physiotherapeuten usw. vorbehalten. Ohne eine heilkundliche Zulassung für körperliche Behandlungen sind beispielsweise Klopftherapien mit direktem Körperkontakt durch Psychotherapeuten nicht zulässig.
In der Anfangszeit der systemischen Familientherapie gab es eine Vielzahl an Modellen, die meist mit einer besonderen Gründerpersönlichkeit oder einer entsprechenden Gruppe mit hohem Bekanntheitsgrad verknüpft waren. Eine Gemeinsamkeit bestand in der Orientierung an kybernetischen und kommunikationstheoretischen Konzepten, sie umfassten allerdings auch recht unterschiedliche Vorgehensweisen und Orientierungen. In den 1970er- und 80er-Jahren wurde noch unterschieden zwischen der strukturellen, der strategischen, der entwicklungsorientierten systemischen Familientherapie, der mehrgenerationalen Familientherapie – z. B. der Family Systems Therapy von M. Bowen (1978), der strategischen Kurzzeittherapie – der Brief Strategic Therapy (BST) des Mental Research Instituts (MRI) und der systemischen Therapie der Mailänder Schule. Diese wurde in Deutschland insbesondere von Boscolo und Cecchin (Selvini Palazzoli et al. 1978) bekannt gemacht, die häufig die Heidelberger Gruppe um Helm Stierlin besuchten. Lange Zeit wurde systemische Therapie im engeren Sinne mit der Mailänder bzw. Heidelberger Schule gleichgesetzt. Daneben gibt es seit den 60er-Jahren auch die kognitiv-behaviorale und die psychodynamische Familientherapie. Weitere Ansätze wie die lösungsorientierte Therapie, die narrative Therapie, die hypnosystemische Therapie oder auf der Selbstorganisationstheorie basierende Vorgehensweisen wurden in die Systemische Therapie, wie sie heute praktiziert und gelehrt wird, integriert und gelten insbesondere in Deutschland als Mainstream. Den Unterschieden zwischen verschiedenen Orientierungen der systemischen (Familien-) Therapie wird inzwischen deutlich weniger Bedeutung beigemessen als in vergangenen Jahren. Systemische Lehrbücher (Hanswille 2015; Levold u. Wirsching 2014; Retzlaff 2021; v. Sydow u. Borst 2018; Schwing u. Fryzer 2006; v. Schlippe u. Schweitzer 2012; Wirsching u. Scheib 2000) und Ausbildungsinstitute vermitteln heute meist eine große Bandbreite an Theorien und systemischen Techniken.
Im angloamerikanischen Bereich sind etliche neuere, meist integrativ ausgerichtete Ansätze hinzugekommen, etwa die funktionale Familientherapie (FFT), die Brief Strategic Family Therapy (BSFT), die multidimensionale Familientherapie (MDFT), die multisystemische Therapie (MST), die bindungsbasierte Familientherapie, Attachment-Based Family Therapy (ABFT), und die mentalisierungsbasierte Familientherapie (Asen u. Fonagy 2010). Diese »Markennamen-Therapien« sind überwiegend manualisiert, ihre Wirksamkeit ist in Studien überprüft. Bislang haben sie nur zum Teil Eingang in die hiesige Versorgungslandschaft gefunden (Retzlaff 2014).
In der Expertise für den WBP wurde von unserer Autorengruppe eine breite Verfahrensdefinition der Systemischen Therapie gewählt, unter Einschluss aller maßgeblichen Strömungen, die sich im Laufe der Jahre entwickelt und bewährt haben (v. Sydow et al. 2007a). Pragmatische handlungsorientierte systemische Modelle und Interventionen zählen ebenso zum reichen Schatz systemischer Herangehensweisen wie zirkuläre, narrative und lösungsorientierte Methoden.
Eine Schlüsseltechnik sind enactments, eine Form der Problemaktualisierung im Hier und Jetzt, die Arbeit mit Problem- und Lösungsinszenierungen, außerdem die Arbeit mit Aufgaben, Verschreibungen und konkretem Handeln (Retzlaff 2021). Im Unterschied zu der primär edukativ ausgerichteten verhaltenstherapeutischen Familientherapie, einer kognitiv-behavioralen Vorgehensweise, die im Familiensetting durchgeführt wird, zielen diese Modelle weniger auf das Lernen auf individueller Ebene ab – das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile – als auf Veränderungen des Familiensystems und des inneren Systems und auf die Arbeit mit Sprachmustern und Bedeutungsgebungen.
Die große Mehrzahl der von unserer Heidelberg-Hamburger Gruppe im Verlauf der Arbeiten an der Expertise zur Systemischen Therapie gefundenen RCT-Studien bezieht sich auf klassische Konzepte und therapeutische Vorgehensweisen der strukturell-strategischen Therapie (Haley 1977; Minuchin 1977; Minuchin u. Fishman 1983) sowie auf den sozialen Konstruktivismus und auf lösungsorientierte Vorgehensweisen (de Shazer 1989). Das therapeutische Vorgehen in diesen Studien ist aktiv änderungsorientiert, mit klaren Therapiezielen und systemischen Interventionen, einer Überprüfung der Wirksamkeit, einer Beachtung der Motivation für Änderung und speziellen motivationalen Strategien. Diese sogenannten Engagement-Strategien wurden hier deutlich früher entwickelt, als es in der Verhaltenstherapie der Fall war. Eine so verstandene systemische Therapie ist damit anschlussfähig an andere Therapieverfahren, zeichnet sich aber durch Merkmale aus, die sie von diesen unterscheidbar macht. Eine primär psychoedukative Vorgehensweise und weitere Ansätze, die nicht auf das dynamische Geschehen in sozialen (Familien-)Systemen abzielen, sondern innerhalb eines Familiensettings Fertigkeiten trainieren wollen, sind nicht im engeren Sinn systemisch, auch wenn diese family interventions durchaus nützlich sein können. Im Kapitel über ätiologische Modelle findet sich ein Ordnungsschema, das die Unterschiede und Besonderheiten verschiedener systemischer Ansätze und Psychotherapieverfahren allgemein veranschaulicht.
In Anlehnung an Wynne (1988) wurde von unserer Expertisegruppe Systemische Therapie – damals noch mit der Schrägstrich-Ergänzung »Familientherapie« – folgendermaßen definiert:
»Systemische Therapie/Familientherapie ist – mit anderen Worten – ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt und das zusätzlich zu einem oder mehreren Patienten (›Indexpatienten‹) weitere Mitglieder des für den/die Patienten bedeutsamen sozialen Systems einbezieht und/oder fokussiert ist auf die Interaktionen zwischen Familienmitgliedern und deren sozialer Umwelt« (vgl. Pinsof a. Wynne 1995, S. 586).
»Psychische Störungen werden zirkulär verstanden und behandelt. ›Zirkulär‹ bedeutet: Statt einseitiger Ursache-Wirkungs-Betrachtungen von Krankheitsprozessen (z. B. ›eine bestimmte Familiendynamik erzeugt ein bestimmtes klinisches Symptom‹ vs. ›ein bestimmtes klinisches Symptom erzeugt eine bestimmte Familiendynamik‹) oder von Beziehungsprozessen (z. B. ›die überprotektiven Eltern erschweren die Ablösung ihres Kindes‹ vs. ›das unselbstständige Kind erschwert es den Eltern, es loszulassen‹) werden konsequent die Wechselbeziehungen (in Verhalten und Wahrnehmung) zwischen zwei und mehr Menschen, ihren Symptomen sowie ihrer weiteren Umwelt zum Gegenstand des Verstehens und der Veränderung gemacht. Es interessieren also gleichermaßen die Auswirkungen der Interaktionen innerhalb (und außerhalb) der Familie auf die Symptome eines Familienmitgliedes als auch umgekehrt die Auswirkungen von Symptomen auf (andere) Familienmitglieder und deren Interaktionen. Orientiert am internationalen Forschungsstand (Nichols a. Schwartz 2004; Shadish et al. 1995; Wirsching u. Scheib 2002) verwenden wir den Begriff ›systemisch‹ nicht zur Kennzeichnung einer einzelnen Orientierung (etwa im Sinne der Mailänder oder Heidelberger Schule), sondern gehen von einem breiten Verständnis von ›Systemischer Therapie/Familientherapie‹ (ST/FT) aus.
ST/FT basiert auf modernen Systemtheorien, die auch in anderen Wissenschaftsbereichen bedeutsam sind. Sie ermöglichen das Verständnis der Funktionsweisen komplexer dynamischer Systeme, im konkreten Fall komplexer biopsychosozialer Systeme. Auf dieser Grundlage wurden Interventionen für die Veränderung biopsychosozialer Verhaltensmuster entwickelt mit dem Ziel, Leid zu lindern bzw. zu beseitigen. Dieser Ansatz hat eine neue Sichtweise auf psychische Erkrankungen und die Möglichkeit ihrer Behandlung eröffnet.
Die Familie ist dabei ein wesentlicher, aber nicht der alleinige und auch nicht immer der wichtigste soziale Kontext psychischer Störungen. Orientiert an einem offenen Familienkonzept (Schneewind 1999) beschränkt sich die therapeutische Arbeit nicht allein auf biologisch oder juristisch definierte Familien und Paare, sondern schließt neben Partnern/Eltern, Kindern und zuweilen Großeltern auch andere für die Problemlösung wichtige Bezugspersonen sowie das weitere professionelle Helfersystem (Ärzte, Lehrer, Sozialarbeiter u. a.) in die Behandlung ein. Sie werden entweder direkt ›in vivo‹ und/oder indirekt durch spezielle Fragetechniken zu ihrem Verhalten, mutmaßlichem Erleben und ihren Intentionen systematisch in die Therapie einbezogen. Paartherapie (PT) mit hetero- oder homosexuellen Paaren wird als eine Variante von Familientherapie verstanden.
Ziel der ST/FT ist es, symptomfördernde familiäre Interaktionen und Strukturen, dysfunktionale Lösungsversuche und starre/einschränkende Familienerzählungen in Frage zu stellen und die Entwicklung neuer, gesundheitsfördernder Interaktionen, Lösungsversuche und Erzählungen anzuregen. Wesentliche Elemente des praktischen Vorgehens sind systemische Fragen zum Zusammenhang zwischen Symptomen und Beziehungen, positives Umdeuten von Symptomen und anderen Problemen, symbolisch-metaphorische Methoden wie Genogramm und Familienskulptur, Arbeit mit Reflektierenden Teams sowie spezielle Schlussinterventionen und die Neu-Inszenierung von Familien-Ritualen (v. Schlippe u. Schweitzer 1996; v. Sydow 2000)« (v. Sydow et al. 2007a, S. 15–16).
Systemische Therapie bzw. Familientherapie lässt sich in unterschiedlichen Settings oder Anwendungsformen einsetzen – als Familientherapie, Paartherapie, Gruppentherapie und als Multi-Familien-Therapie-Gruppen sowie als multisystemisch-familientherapeutische Therapie mit größeren Helfer- und Nachbarschaftssystemen (v. Sydow et al. 2007a).
Manche Vorgaben des Sozialgesetzbuches V passen gut zum systemischen Denken. So heißt es unter »Solidarität und Eigenverantwortung«:
»Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Versicherten. Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Die Krankenkassen haben den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken« (§ 1 SGB V).
Systemische Therapie und die systemische Familienmedizin verfolgen u. a. als übergeordnetes Ziel, die Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeit von Patienten und den für sie relevanten sozialen Systemen zu erhöhen, im Sinne eines Empowerment (Dunst, Trivette a. Deal 1988; Furman 2008; McDaniel et al. 2004; Retzlaff 2019a), und damit eine Erhöhung ihrer Freiheitsgrade, was sich sehr mit den Ausführungen im SGB V deckt.
Es macht Sinn, sorgfältig mit Worten und Sprache umzugehen und Menschen nicht auf eine Rolle zu reduzieren, z. B. als krank. Während im Kontext von Beratung und Kinder- und Jugendhilfe von Klienten gesprochen wird, werden diese innerhalb des Gesundheitssystems üblicherweise als »Patienten« bezeichnet. Deshalb erscheint es zweckmäßig, auch bei der Systemischen Therapie innerhalb des Gesundheitssystems den Begriff »Patient« zu verwenden, ohne damit eine Person auf ihre Beschwerden reduzieren zu wollen.
Nach der Berufsordnung der Psychotherapeutenkammer (Bundespsychotherapeutenkammer 2019) und dem »Patientenrechtegesetz« im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) 20133 haben Psychotherapeuten die Pflicht, ihre Patienten über das Störungsbild, über die Behandlung und mögliche alternative Behandlungsformen, etwa eine stationäre oder eine ergänzende medikamentöse Therapie, und die zu erwartenden Kosten aufzuklären, auch mögliche Nebenwirkungen sollten erwähnt werden (Szapocznik a. Prado 2007). Im heutigen Informationszeitalter holen sich Patienten ohnehin alle erdenklichen Informationen aus dem Internet. Bedauerlicherweise finden sie dort manchmal regelrechte Desinformation, deshalb ist es sinnvoll, zu klären: »Was wissen Sie bereits über die Beschwerden, die Sie zu mir führen, was ist Ihr Bild, woher das kommt und was Sie tun können?«
Generell funktionieren Psychotherapien besser, wenn die Patienten wissen, was von ihnen erwartet wird und welche Rolle der Therapeut übernimmt. Die Lösungs- und Ressourcenorientierung der Systemischen Therapie hat zu einer übergroßen Skepsis gegenüber dem Erteilen von Ratschlägen geführt. Wenn Klienten eine Beratung wünschen und um Information und Vorschläge bitten, was sie tun sollen, ist es sinnvoll, auf diese Anliegen direkt einzugehen und ihnen eigene Kenntnisse und Kompetenzen zur Verfügung zu stellen. Die Begriffe »Aufklärung von Patienten« und »Information zur Verfügung stellen« klingen kooperativer als der einseitig belehrend wirkende Begriff »Psychoedukation«.
Vorbehalte gegenüber dem Erteilen von Ratschlägen haben durchaus ihre Berechtigung, denn sie können kontraproduktiv wirken. Zahlreiche Studien belegen, dass dies eher der Fall ist, wenn Ratschläge in herablassender Weise erteilt werden, die Rat suchende Person als inkompetent behandelt wird und ein Gefühl der Verpflichtung und Abhängigkeit entsteht (Dunst, Trivette a. Deal 1988). Ratschläge und Hilfsangebote haben eine eher negative Wirkung, wenn sie an den Wünschen der Klienten vorbeigehen und ihnen die Handlungshoheit und Selbstbestimmung über das eigene Leben genommen wird. Ungebetenes helfendes Verhalten wird oft nicht angenommen und schwächt das Selbstwertgefühl der Klienten. Helfendes Verhalten weckt negative Reaktionen, wenn die erbetene Hilfe und der angebotene Rat nicht passen. Ratschläge haben eher dann schädliche Effekte und lösen negative Reaktionen aus, wenn Außenstehende die Situation als problematisch ansehen, die betroffene Person jedoch nicht. Hilfsangebote wirken eher dann positiv, wenn sie die Stärken der Familie fördern. Ratschläge und Information wirken im Sinne eines Empowerment, wenn sie weder aus einer überlegenen Position, von oben herab, noch aus einer unterlegenen bittstellerischen Position gegeben werden, sondern von einer Ich-Position »auf gleicher Augenhöhe«. Dies setzt eine gute Therapeut-Klient-Beziehung voraus. Bei einer auf Empowerment ausgerichteten Vorgehensweise werden Klienten nicht pathologisiert, das Ersuchen um Hilfe wird nicht als Beleg für Defizite gewertet, sondern als kompetenter selbstverantwortlicher Schritt, sich zu informieren und sein Leben aktiv zu gestalten. Ihre Autonomie und der Wunsch nach Selbstbestimmung sollten geachtet und vorhandene eigene Ressourcen ans Licht gebracht werden.
Kompetente systemische Ratschläge
•stellen eine ausgeglichene Beziehung zwischen Klienten und Berater her und vermeiden Gefühle von Abhängigkeit und Verpflichtung,
•gehen direkt und genau auf das Anliegen des Klienten ein,
•werden in einem engen zeitlichen Zusammenhang zum Ersuchen des Patienten gegeben und nicht einfach dann, wenn es dem Berater passt oder die Institution, in der die Klienten gesehen werden, gerade Kapazität hat,
•belassen die Entscheidungshoheit über weitere Schritte und die Verantwortung für deren Umsetzung bei den Betroffen,
•stärken das Gefühl der Selbstwirksamkeit und das Selbstwertgefühl (vgl. Retzlaff 2019a).
Dies bedeutet: Die Expertenschaft der Patienten für ihre eigene Lebenswelt wird anerkannt und genutzt, der Therapeut erkundigt sich ausführlich und eingehend über ihren Wissenshintergrund, nach ihren Wünschen und Befürchtungen, Handlungsoptionen und Einschränkungen, die selbstverständlich immer begrenzte Expertenschaft des Therapeuten wird aber nicht verschleiert, sondern das Wissen und die Erfahrungen werden in einem kooperativen therapeutischen Bündnis dem Patienten zur Verfügung gestellt.4 Therapeuten besitzen hoffentlich Expertenwissen, das angesichts des breiten Möglichkeitsraums notwendigerweise begrenzt ist (Mason 2005). Eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung von Klienten spielt die Haltung: Als Therapeut stellt man sich neben den Patienten bzw. die Familie, nicht über sie, und zeigt verschiedene Optionen und Wege auf, die als möglich erscheinen. Die systemische Therapie ist in diesem Sinne eine Form von Konsultation oder Coaching (Wynne, McDaniel a. Weber 1986).
Mit der Finanzierung von systemischer Therapie durch die Krankenkassen kommt eine weitere Systemebene zum Tragen, deren Bedeutung innerhalb der Psychotherapie mit wenigen Ausnahmen (Madanes 1994a) oft übersehen wurde – das Geld. Viele Psychoanalytiker waren in den 1960er-Jahren der Auffassung, zur Therapiefreiheit gehöre es, dass keine dritte Partei in Form der Krankenkassen zwischen sie und ihre Patienten tritt, und opponierten eine Zeit lang gegen die Einführung der Kassenfinanzierung von Psychoanalysen.
Zu Beginn meiner Tätigkeit im Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie der Universitätsklinik Heidelberg 1995 führten Jochen Schweitzer und ich ein Seminar für niedergelassene Primarärzte, also Hausärzte, Frauenärzte, Internisten und Kinderärzte durch. Das Seminar war komplett ausgebucht, es gab eine sehr lange Warteliste. Hintergrund war eine Aufwertung der Gesprächsziffern durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung, für Ärzte mit der Zusatzqualifikation »Psychosomatische Grundversorgung«. Die Gebührenziffer wurde so stark in Anspruch genommen und die Kosten für die KV stiegen so extrem, dass die Erhöhung zurückgenommen wurde. Der eigentlich geplante Folgekurs, für den es zunächst eine lange Warteliste gegeben hatte, kam dann nicht mehr zustande.
In Untersuchungen zur Versorgungspraxis stellten Cierpka et al. (1994) in Deutschland und einige Jahre zuvor Haley (1988) in den USA fest, das erfahrene systemische Familientherapeuten bevorzugt im Einzelsetting arbeiten, weil dies mit dem Praxisalltag besser kompatibel ist und beispielsweise weniger späte Dienststunden zu erbringen sind. Ob Kurzzeittherapie (KZT) oder Langzeittherapie (LZT) praktiziert wird, hängt nicht allein davon ab, was Therapeuten inhaltlich für sinnvoll halten, sondern auch von der Auslastung der Praxis und ähnlichen Faktoren. Szapocznik et al. (1983, 1986) zeigen, dass Systemische Therapie im Einzelsetting hocheffektiv sein kann, allerdings erbrachte ein empirisch gut bewährter hochwirksamer Ansatz zur ambulanten Psychotherapie von Drogenabhängigkeit nur sehr mäßige Ergebnisse, wenn der Kostenträger aus wirtschaftlichen Gründen eine zu hohe Fallzahl pro Therapeut vorgab, mit zu wenig Supervision.
In Baden-Württemberg kann systemische Therapie im Rahmen sogenannter Selektivverträge abgerechnet werden. Die Honorare sind gestaffelt, die ersten zehn Sitzungen bringen 30 % mehr als die Folgesitzungen. In der letzten Neufassung des (EBM) Einheitlichen Bewertungsmaßstabs vom 1. 4. 2020, der die Kassenhonorare festsetzt, wurde diese Regelung übernommen: Für die ersten zehn Sitzungen Kurzzeittherapie ist das Honorar 15 % höher als für die folgenden Sitzungen und auch deutlich höher als das Honorar für Privatpatienten. Diese Intervention in das System der Therapiehonorare dürfte sich als ein Steuerungsinstrument mit interessanten Auswirkungen auf die therapeutische Praxis erweisen und das Handeln von Therapeuten beeinflussen. Ähnliches gilt für ambulante Gruppentherapien, die u. a. wegen des hohen Aufwandes der bislang erforderlichen Anträge einige Jahre lang kaum noch angeboten wurden. Seit Gruppentherapiestunden deutlich besser honoriert werden, scheint es eine Art Revival der Gruppentherapie zu geben. Jahrelang waren die Honorare für Privatpatienten deutlich höher als die von gesetzlich Versicherten. Dieses Verhältnis hat sich umgekehrt, Kurzzeittherapie bei gesetzlich Versicherten wird heute merklich besser bezahlt. Jenseits einer naiven idealistischen Sicht sind nicht allein theoretische Annahmen für die Vorgehensweise von Therapeuten entscheidend, sondern eben auch Systemfaktoren auf der Ebene der Honorarregeln. In der Systemischen Therapie wird übrigens unter »Kurzzeittherapie« oder brief therapy meist eine Behandlung mit ca. zehn Sitzungen verstanden, im Bereich der Richtlinientherapie galten 25 Behandlungsstunden bzw. heute zwölf bzw. 24 Behandlungsstunden als Kurzzeittherapie.
Zu Beginn meiner Tätigkeit ab 1995 als Leiter der Ambulanz für Paar- und Familientherapie an der Universitätsklinik Heidelberg – an dem Institut, das Helm Stierlin gegründet hatte und später von Manfred Cierpka geleitet wurde – hatte ich immer bedauert, dass die Systemische Therapie in Deutschland, im Gegensatz zu den USA oder der Schweiz, kein Kassenverfahren war. Dirk Revenstorf hatte in den Sitzungen der Vertreterversammlung der Landespsychotherapeutenkammer in Stuttgart stets den Sitz neben mir inne; als er mir im Mai 2003 die von ihm verfasste Expertise zur ericksonschen Hypnotherapie für den WBP zeigte, dachte ich: »Das sollten wir Systemiker auch hinbekommen!«
Wenige Wochen später, im Juni 2003, wurde ich auf deren Jahrestagung in Miami in die American Family Therapy Academy (AFTA) aufgenommen. Bei den Vorträgen auf dieser Konferenz realisierte ich, dass eine hinreichende Zahl an randomisiert-kontrollierten Therapiestudien für eine Anerkennung durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie ausreichen müsste. Zurück in Deutschland ergriff ich die Initiative für eine Zusammenstellung der wissenschaftlichen Belege der Wirksamkeit von Systemischer Therapie mit dem Ziel eines erneuten Antrags beim WBP. Jochen Schweitzer, Stefan Beher und ich gründeten eine Projektgruppe. Kirsten von Sydow wurde eingeladen, ihrerseits eine Übersicht über die Evidenz für die Systemische Therapie für die folgende systemische Forschungstagung zu erstellen.
Gut 17 Jahre später waren die Bemühungen um eine Anerkennung der Systemischen Therapie endlich von Erfolg gekrönt5 – nach einer Zeit intensiver systematischer Literaturrecherchen, meist in nächtlichen Sonderschichten erbracht, nach mehrfachen Expertenumfragen unter den Mitgliedern der American Family Therapy Academy, der European Family Therapy Association (EFTA) und zahlreichen Kontakten und Begegnungen mit insbesondere mit Helm Stierlin befreundeten Forschern – darunter Lyman Wynne, Susan McDaniel, Alan Carr, Eia Asen, Scott Henggeler, Howard Liddle, Henk Rigter, Doug Sprenkle, Bill Pinsof, Arlene Vetere, Ivan Eisler, Ben Furman, Peter Stratton, Jay Lebow, Evan Imber-Black, Jose Szaposcznik, Russ D. Crane, Zhao Xudong und andere.
Zwei chinesischen Doktorandinnen am Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie und dem Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg und führende chinesische Kollegen der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie (DCAP) unterstützten unsere Recherchen in chinesischen Suchmaschinen. Es entstand die Expertise zur Systemischen Therapie, die Grundlage der Anerkennung durch den WBP 2008 war. In der Folgezeit wurden von uns mehr als ein Dutzend Fachartikel in deutschen und amerikanischen Journals veröffentlicht, drei davon in Family Process, die international eine große Resonanz auslösten. Die Ergebnisse wurden in zahlreichen Vorträgen auf internationalen Konferenzen, u. a. in Chicago, Paris und Istanbul, vorgestellt. Am Helm Stierlin Institut (hsi) wurde ein Treffen mit gesundheitspolitischen Sprechern der Parteien organisiert, die sich offen zeigten, aber auf die Notwendigkeit einer Anerkennung durch den G-BA verwiesen. Schließlich begann eine Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) und der Systemischen Gesellschaft (SG), sich auf der politischen Bühne intensiv für eine Anerkennung durch den G-BA einzusetzen, Netzwerke aufzubauen, Entscheidungsträger auf verschiedenen Ebenen des Gesundheitssystems zu informieren und diese für die Einleitung eines formalen Prüfverfahrens durch den G-BA zu gewinnen. Zwischen 2013 und 2018 prüfte das Institut für Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit einem immensen Aufwand unabhängig die Evidenzlage. Mit Ulrike Borst sowie mit Kirsten von Sydow nahm ich an zwei Experten-Anhörungen beim IQWiG teil und wirkte an wissenschaftlichen Stellungnahmen für das IQWiG mit.
Mit Unterstützung der DGSF wurde ein Pilotprojekt zur Systemischen Therapie von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt (Retzlaff 2019b), außerdem führten Jochen Schweitzer und Christina Hunger-Schoppe eine Studie zur Systemischen Therapie bei sozialen Phobien durch (Schweitzer et al. 2020), die ich als klinischer Experte begleitete. Beide Studien waren im Hinblick auf sogenannte Schwellenkriterien wichtig, demzufolge Studien zur Wirksamkeit insbesondere bei Angststörungen, affektiven Störungen u. a. vorliegen müssen. Von Insidern wurde die Vermutung aufgestellt, dieses Kriterium sei post hoc eingeführt worden, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass die Systemische Therapie zunächst nur wenige Studien in diesem Bereich vorweisen konnte. Nach der positiven Beurteilung der Evidenzlage durch das IQWiG am 24. 5. 2017 und den Beschlüssen zur Anerkennung der Systemischen Therapie mit Erwachsenen durch den G-BA vom 22. 11. 2018 und vom 22. 11. 2019, wurde ich 2019 vom G-BA eingeladen, an den Beratungen über die Umsetzung in konkrete Regelungen und Gebührenziffern im Rahmen einer Neufassung der Psychotherapie-Richtlinie teilzunehmen, die schließlich am 24. 1. 2020 in Kraft traten.
Als ich vor 18 Jahren dieses Projekt mit auf den Weg brachte, hätte ich mir kaum träumen lassen, dass der Prozess der Anerkennung so lange dauern würde. Bereits drei Monate nach der AFTA Conference im Juni 2006 in Chicago wurde ich gefragt, ob wir die Zulassung denn schon hätten – in Deutschland gehen die Uhren offensichtlich sehr viel langsamer! Immerhin – auch wenn längst nicht alles perfekt geregelt ist: Heute steht die Systemische Therapie ganz anders da als noch vor einigen Jahren6.
Die wissenschaftliche und sozialrechtliche Anerkennung wurde erreicht durch Faktoren wie Beharrlichkeit, Kreativität, den großen idealistischen, zu einem erheblichen Teil selbstausbeuterischen Einsatz eines engagierten Kerns von Kolleginnen und Kollegen, die detaillierte Sachkenntnis einer engagierten Gruppe von Menschen, die eine unglaubliche Zahl an Studien methodisch einordnete und die Ergebnisse in systematischen Reviews international präsentierte und publizierte, durch eine gute internationale Vernetzung in den USA, Europa und China, durch die langjährige Arbeit und Vernetzung in den Psychotherapeutenkammern und die Vision: »Die Anerkennung ist machbar!« (vgl. dazu Schweitzer, Rotthaus u. Hermans 2020). Der für mich persönlich entscheidende Punkt war die Erkenntnis auf der AFTA-Tagung in Miami 2003: »Die empirischen Belege für eine Anerkennung der Systemischen Therapie sind vorhanden.« Ohne die solide empirische Forschungsbasis von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus den USA, Großbritannien, Skandinavien, Italien, China usw., die RCT-Therapie-Studien und Metaanalysen durchgeführt haben, wäre dies nicht möglich gewesen. Auffallenderweise stammen viele empirische Studien aus Ländern wie den USA, Großbritannien und Skandinavien, selbst in China werden inzwischen mehr RCT-Studien zur Systemischen Therapie publiziert als in Deutschland. Es bleibt zu wünschen, dass sich dies mit der hoffentlich verstärkten Präsenz der Systemischen Therapie in den neuen Psychotherapie-Studiengängen dies sich ändern wird und zunehmend auch empirische Studien zur Systemischen Therapie in Deutschland durchgeführt werden.
Es gibt sehr viele unterschiedliche Strömungen, Ansätze und Modelle innerhalb der Systemischen Therapie, die ihre Gültigkeit haben. Die Anerkennung der Systemischen Therapie durch den WBP und den G-BA auf der Basis des IQWiG-Berichts basiert auf den dort rezipierten Studien zur Systemischen Therapie aus dem internationalen Feld. Die Systemische Therapie als heilkundliches Verfahren dürfte sich damit unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit einem eher klassischen Verhältnis von Therapie annähern, den Diskurs mit Entwicklungen außerhalb Deutschlands stärker pflegen und sich als Teil der Familie psychotherapeutischer Verfahren begreifen. Die Rolle eines Außenseiters ist schon seit vielen Jahren überholt: In den USA und in Großbritannien gibt es schon seit Jahrzehnten staatliche Akkreditierungen, Master- und Ph.D.-Studiengänge in Systemischer Therapie, die »Rolle eines ewigen Rebellen« erscheint nicht mehr zeitgemäß …7
Die Ausbildung und die Tätigkeit von approbierten systemischen Therapeuten wird vom Gesetzgeber, dem G-BA und den Landespsychotherapeutenkammern reguliert und nicht mehr allein von den systemischen Fachverbänden. Die Mitgliedschaft im Club der etablierten Psychotherapieverfahren hat durchaus einen Preis. Die Ausübung der Psychotherapie als Heilkunde unterliegt zahlreichen Regeln und Vorgaben – des Sozialgesetzbuches V, der Psychotherapie-Richtlinien des G-BA, der Psychotherapievereinbarungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des GKV-Spitzenverbands der Krankenkassen, der Berufsordnungen, der Weiterbildungsordnung der Psychotherapeutenkammern sowie des Bürgerlichen Gesetzbuches.
Seit Einführung des Psychotherapeutengesetzes 1999 wurden die Ausbildungen in den Richtlinienverfahren erheblich formalisiert und verrechtlicht. Als Teil dieser Entwicklung kann die Verabschiedung der Muster-Weiterbildungsordnung »Systemische Therapie« durch die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) verstanden werden. In etlichen Bundesländern können approbierte Psychotherapeuten und Kinderpsychotherapeuten den rechtlich geschützten Zusatztitel »Systemische Therapie« erwerben. In den Übergangsregelungen wurden die Zertifikate der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Beratung (DGSF) und der Systemischen Gesellschaft (SG) als Grundlage des Zusatztitels anerkannt.
Approbierte Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten sind verpflichtend Mitglied der jeweiligen Landespsychotherapeutenkammer. Die Landespsychotherapeutenkammern übernehmen im Rahmen der ihnen übertragenen hoheitlichen Aufgaben die öffentlich-rechtliche Interessenvertretung der Psychotherapeuten. Auch wenn die Landesozialministerien letztendlich die Rechtsaufsicht ausüben, obliegen die Berufsaufsicht, die Festlegung der Berufsordnung und die Ordnung der Fort- und Weiterbildung der jeweils zuständigen Psychotherapeutenkammer. In den Berufsordnungen werden u. a. Standards der Berufsausübung zum Schutz der Patienten vorgegeben. Im internationalen Vergleich sind die Arbeitsbedingungen für Psychotherapeuten im deutschen Gesundheitssystem durchaus günstig. Dies ist auch auf das Engagement der Fachverbände und der Psychotherapeutenkammern zurückzuführen. Das hohe Maß an Regularien und bürokratischen Vorgaben betrifft keineswegs nur die Psychotherapie, sondern ebenso die somatische Medizin, die Pflege, die Tätigkeit von psychiatrischen Nachsorgeeinrichtungen etc. Jammern über die Menge an rechtlichen Vorgaben ist kein gutes Alibi, lieber draußen vor der Tür der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung bleiben zu wollen (Rotthaus 1984).
Nach der Neufassung des Psychotherapeutengesetzes (PsychThG) vom 25. 11. 2019 und der Einführung eines Psychotherapiestudienganges, der mit der Approbation abschließt, gefolgt von einer Weiterbildung in spezifischen Psychotherapieverfahren inklusive der Systemischen Therapie, wird diese künftig stärker an den Psychologischen Instituten gelehrt werden. Es bleibt zu hoffen, dass dies durch qualifizierte erfahrene Dozenten mit systemischer Fachqualifikation erfolgen wird. Damit wird in Deutschland eine Entwicklung nachgeholt, die in anderen Ländern seit Langem gegeben ist. Vor über 35 Jahren hatte ich – übrigens ähnlich wie Jochen Schweitzer und Marie-Luise Conen – in den USA ein Aufbaustudium in Paar- und Familientherapie absolviert; schon damals konnte Familientherapie dort mit den Gesundheitskassen angerechnet werden, mit entsprechenden Therapieanträgen etc.
Bisher lag eine große Stärke der systemischen Ausbildungen darin, dass sie offen für Angehörige unterschiedlicher Berufsgruppen waren. Die Pioniere der systemischen Familientherapie kamen aus verschiedenen Berufsfeldern, sie waren Ärzte, Psychologen, clinical social worker u. a. m. In der Versorgungspraxis hat sich eine Multiprofessionalität bewährt: In mehreren Untersuchungen konnte die Gruppe von Crane zeigen, dass Ehe- und Familientherapeuten mit Approbation eher bessere therapeutische Ergebnisse erzielen als Ärzte oder Psychologen mit Doktorgrad (Moore et al. 2011). Die Qualität der Therapien wurde stärker von der Intensität der Ausbildung und der Zahl der erhaltenen Supervisionsstunden bestimmt als vom Grundberuf. Eine große Herausforderung für das systemische Feld wird es sein, diese Offenheit und Multiprofessionalität zu bewahren – Eigenschaften, die sich beispielsweise in den USA durchzusetzen scheinen: Auf der 5. Systemischen Forschungstagung in Heidelberg im März 2017 skizzierte Susan McDaniel, die im Vorjahr als Präsidentin der American Psychological Association amtiert hatte, in ihrem Hauptvortrag, wie sich das US-amerikanische Gesundheitssystem entwickelt habe. Aus Kostengründen würden die großen Health Care Maintenance Organisations und staatliche Krankenversicherungssysteme mehr und mehr Gesundheitszentren finanzieren, in denen Angehörige verschiedener Berufsgruppen zusammenarbeiten und eine kooperative, systemisch inspirierte Gesundheitsfürsorge anbieten können. Die eher teure Arbeit von Ärzten, aber auch Psychologen wird in vielen Einrichtungen in den USA bereits heute zu einem erheblichen Teil von anderen Berufsgruppen übernommen. Es wäre sehr positiv, wenn sich in nicht allzu ferner Zukunft das Gesundheitssystem in Deutschland für eine aus systemischer Sicht wünschenswerte Multiprofessionalität öffnen wird. Als Teil der neuen Musterweiterbildungsordnung für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, ist vorgesehen, dass eines der fünf Weiterbildungsjahre an Beratungsstellen stattfinden soll. Es bleibt zu hoffen, dass dies zu einer Wahrung der Offenheit für andere Berufsgruppen beitragen wird, die seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Einrichtungen systemisch tätig sind.
Durch die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie als Richtlinienpsychotherapieverfahren werden sich Selbstverständnis und Ausrichtung von systemischen (Approbations-) Ausbildungen wandeln. Diese werden sich vermutlich stärker an klassischen, pragmatischen Ansätzen der Systemischen Therapie orientieren, Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen wie der Sozialpsychologie, der Entwicklungspsychologie, der Bindungstheorie oder der Theorie des sozialen Lernens und anderer Psychotherapieverfahren berücksichtigen, Ergebnisse der empirischen Forschung stärker zur Kenntnis nehmen, Kernkompetenzen von Systemikern in Ausbildung definieren und deren Umsetzung validieren sowie Behandlungsergebnisse und Therapieprozesse in Ausbildungstherapien überprüfen. Kassenfinanzierte Psychotherapien müssen nach den Psychotherapie-Richtlinien den Stand der empirischen Forschung berücksichtigen. Psychotherapeuten haben eine regelmäßige Fortbildungspflicht, wenn sie ihre Approbation und Kassenzulassung erhalten wollen.
Die Systemische Therapie ist kein statisches Gebäude. Bereits Ende der 1970er-Jahre wurde erkannt, dass Homöostase und Gleichgewichtszustände kein hinreichendes Modell für dynamische Systeme bieten. Entwicklungen und Wandel hat es immer wieder gegeben. Die Frage ist weniger, »passt die Systemische Therapie in das Kassensystem?«, sondern eher, wie sich systemische Vorgehensweisen, Konzepte und Behandlungsstrategien in den derzeit bestehenden Strukturen nutzen lassen, und natürlich bleibt zu hoffen, dass wertvolle Ansätze aus dem systemischen Modell aufgenommen und zu einer Weiterentwicklung führen werden. Noch immer beklagen viele Eltern magersüchtiger Patientinnen, dass sie trotz jahrelanger ambulanter und stationärer Therapien nie konsequent familientherapeutisch behandelt wurden – ein Unding. Viele Menschen, vielleicht die allermeisten, können sich eine privat finanzierte Systemische Therapie schlichtweg nicht leisten. Es wäre zutiefst unfair, wenn ein so hilfreiches Verfahren nicht der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung stünde.
Wie beschrieben, hat sich die Systemische Therapie aus der systemischen Familientherapie heraus entwickelt. Der WBP hat das Verfahren für die vertiefte Ausbildung sowohl mit Erwachsenen als auch mit Kindern und Jugendlichen zugelassen. Diese recht grobe Differenzierung nach Altersklassen erscheint nur bedingt sinnvoll. Wenn man als Systemiker im Mehrpersonensetting arbeitet, wird man früher oder später mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Systemische Therapeuten sollten mit Angehörigen aller Altersgruppen kompetent umgehen können.
Es besteht die Hoffnung, dass nach dreizehnjähriger Wartezeit seit der Bestätigung als wissenschaftlichem Verfahren die Zulassung der Systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen nicht mehr lange auf sich warten lassen wird (Retzlaff et al. 2017). Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Abschnittes wird gerade der Antrag auf Überprüfung der Systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen beim G-BA gestellt. Aus diesem Grunde werden in diesem Buch Fallkonzeption und Therapieanträge für alle Altersbereiche behandelt.
In der Systemischen Therapie werden Symptome innerhalb eines weiteren sozialen Kontextes gesehen, behandelt wird jedoch der Patient bzw. dessen Probleme, und nicht etwa die Familie. Im G-BA wurde explizit auf die Verwendung des Begriffs Familientherapie verzichtet. Psychologische Psychotherapeuten können Behandlungen von Erwachsenen durchführen; Kinder und Jugendliche, die im Mehrpersonen-/Familien-Setting mit dabei sind, werden hoffentlich davon profitieren. Bis zu einer sozialrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie auch bei Kindern und Jugendlichen können nur erwachsene Patienten behandelt werden. Es wäre nicht zulässig, eine Jugendliche etwa mit einer Magersucht oder Ängsten zu behandeln und diese über die Versichertenkarte eines Elternteils abzurechnen.
Lebow (2005b) beschreibt moderne Systemische Therapie als integrativ ausgerichtet und offen für Techniken aus anderen Therapietraditionen, die sich als nützlich erwiesen haben. Sie basieren auf empirischen Erkenntnissen über die Grundlage und Entstehung von Störungen, deren Verlauf, über biologische Faktoren, knüpfen an andere Therapieformen an. Heutiger Stand der Heilkunst ist es, dass systemische Strategien empirisches Wissen über Familien und Störungen, individuelle Faktoren und Entwicklung sowie psychopathologische Prozesse nutzen.
Patienten erhalten Informationen über die Behandlung als solche und die Störung, die sie zur Behandlung führt. Mit Diagnosen wird behutsam umgegangen, sie werden aber nicht vermieden. Probleme und Störungen werden als solche bezeichnet, wobei die soziale Bedeutung von diagnostischen Labeln reflektiert wird. Heute wird stark beachtet, wie Störungen durch Sprache erhalten und chronifiziert werden können. Diagnosen haben ihren Platz in diesen neuen Zugängen, sie werden aber sorgfältiger und freundlicher eingesetzt.
Auch wenn es Probleme im sozialen System gibt, wird davon ausgegangen, dass auch auf der Ebene des Patienten Probleme vorliegen; es wird nicht naiv angenommen, dass eine alleinige Arbeit auf der Ebene des weiteren (Familien-) Systems automatisch zu einer Auflösung der Beschwerden führt. Früher geläufige Begriffe wie »Indexpatient« oder »dysfunktionales Familiensystem« sind heute eher ungebräuchlich (Lebow 2005b).
Die Vorgehensweise ist problemzentriert und dient der Überwindung von Beschwerden und der Entwicklung des inneren und des Familiensystems. Interventionen zielen nicht nur auf die Beschwerden ab, es wird auch an generischen übergeordneten Zielen gearbeitet, wie der Stärkung der Bindungsbeziehungen oder der Verfügbarkeit von Ressourcen. Gearbeitet wird im Einzel-, Paar- und im Familiensetting. Neben dem Geschehen im Familiensystem werden individuelle psychologische Prozesse beachtet, mit Interventionen auch auf der Ebene der Einzelperson.
Die Bereitschaft für Veränderung wird geachtet. Motivationale und Engagement-Strategien sind bedeutsam. Neben generischen Vorgehensweisen, die auf der Ebene des Familiensystems etwa an der Kommunikation, dem Umgang mit Konflikten, mit Familiengeschichten ansetzen, gibt es Strategien für spezifische Störungen. Die Effektivität von Interventionen wird empirisch geprüft, die Rolle des Therapeuten ist aktiv änderungsorientiert.
Der Fokus ist multisystemisch, geht über das Familiensystem hinaus und beachtet kulturelle Faktoren. Neuere systemische Ansätze sind ressourcen- und resilienzorientiert und nützen lösungsorientierte Begriffe, sie setzen an den Stärken von Familien an, was einen guten Zugang erlaubt. Sie greifen persönliche Narrative auf und beachten die Ziele der Klienten. Jenseits von Heilsversprechen im Ultrakurzzeitmodus ist die Sicht auf Veränderungsprozesse realistischer, und Therapien sind in der Regel kurz, können aber durchaus auch länger dauern. Sie arbeiten zudem auf der Basis einer ethischen Grundorientierung (Lebow 2005b).
Sie sind ressourcenorientiert, es wird in verschiedenen Settings und bei Bedarf aufsuchend gearbeitet, weitere soziale Systeme werden einbezogen. Ausgehend von der Annahme, dass Menschen sich und ihre Geschichten verstanden fühlen wollen, befassen sich Therapeuten