Sportsozialarbeit - Heiko Löwenstein - E-Book

Sportsozialarbeit E-Book

Heiko Löwenstein

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Beschreibung

Sport und Bewegung bieten körperliche, spielerische und handlungsorientierte Zugänge in verschiedenste Handlungsfeldern Sozialer Arbeit. Das Lehrbuch arbeitet diese systematisch auf und gibt einen fundierten Einblick in Strukturen und Anwendungsformen der Sportsozialarbeit. Dazu werden Theorien und Konzepte der Fachwissenschaft (z.B. Lebensweltorientierung) auf ihren spezifischen Beitrag zu einer professionellen Praxis mittels Sport und Bewegung hin ausgewertet und um sportwissenschaftliche, körpersoziologische und erlebnispädagogische Beiträge ergänzt. Ausgewählte Beispiele veranschaulichen den Mehrwert von Sport und Bewegung als Interventionsformen und geben Ideen für die Praxis in Jugendzentren, Wohngruppen und Fankurven.

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Der Autor und die Autorinnen

Heiko Löwenstein ist seit 2019 Professor für Theorien, Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit mit Schwerpunkt Inklusion an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Köln. Von 2014 bis 2019 war er Professor für Soziale Arbeit, Schwerpunkt Sozialpädagogik, an der Evangelischen Hochschule Freiburg. 2014 wurde Heiko Löwenstein an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Rehabilitationswissenschaften promoviert. Als Dipl.-Sozialpädagoge (BA) und Master of Arts in Social Work war er in der Gemeindepsychiatrie tätig. Er ist Sprecher der Fachgruppe »Bewegung, Sport und Körper« in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit und kooptiertes Mitglied im Vorstand des Stadtsportbundes Köln. Im Rahmen der Hochschulzusatzqualifikation »Erfahrungs- und bewegungsorientierte Soziale Arbeit« verantwortet er den Schwerpunkt »Sportsozialarbeit«. Kontakt: [email protected]

Birgit Steffens hat seit 2009 eine Professur für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Erwachsene in besonderen Lebenslagen an der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB) inne. Seit 2015 bietet sie, gemeinsam mit Julie Kunsmann, an der EHB das Schwerpunktstudium »Soziale Arbeit & Sport« an. Birgit Steffens wurde im Jahr 2005 an der Freien Universität Berlin im Fach Soziologie promoviert. Sie ist Diplom-Sozialarbeiterin mit beruflichen Erfahrungen in der Jugendhilfe und der Drogenhilfe und Präventionstrainerin (A-Lizenz). Kontakt: [email protected]

Julie Kunsmann ist seit 2014 Lehrbeauftragte an der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB) und bietet gemeinsam mit Birgit Steffens das Schwerpunktstudium »Soziale Arbeit & Sport« an. Sie ist Dipl. Sozialarbeiterin (FH) und staatl. gepr. Gymnastiklehrerin. Als Sozialarbeiterin ist Julie Kunsmann seit 2012 bei der Gesellschaft für Sport- und Jugendsozialarbeit tätig, erst im Bereich der Schulsozialarbeit, seit 2019 als Projektleitung für das sozialraumbezogene Angebot »BEIspielhaft« in Berlin-Kreuzberg. Seit 2000 ist sie nebenberuflich als Übungsleiterin im Bereich Tanz im Sportverein tätig und befindet sich aktuell in der Weiterbildung »Tanz- und Bewegungstherapie«. Als Vorstandsmitglied der Sportjugend Berlin engagiert sich Julie Kunsmann seit 2009 für den Berliner Kinder- und Jugendsport und die sportbezogene Jugendsozialarbeit. Kontakt: [email protected]

Heiko Löwenstein, Birgit Steffens, Julie Kunsmann

Sportsozialarbeit

Strukturen, Konzepte, Praxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035721-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-035722-8

epub:    ISBN 978-3-17-035723-5

mobi:    ISBN 978-3-17-035724-2

Vorwort

 

 

 

Mit dem so genannten »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

 

 

 

Sport wird als Medium nicht nur in der Sozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt, sondern findet auch in anderen sozialpädagogischen Handlungsfeldern wie der Straffälligenhilfe oder der Migrationssozialarbeit zunehmend Berücksichtigung. Sport und Bewegung sind durch den niedrigschwelligen, egalitären Zugang besonders geeignet, Benachteiligungen und Teilhabehemmnisse abzubauen. Die systematische Nutzung der im Sport liegenden Bildungs- und Integrationspotentiale setzt die Kenntnis sportwissenschaftlicher und sportpraktischer Grundlagen und deren Verankerung in Konzepten Sozialer Arbeit voraus. Der Band gibt einen Einblick in Strukturen und Konzepte der Sportsozialarbeit und deren Verknüpfungen mit dem organisierten Sport und benennt Einsatzmöglichkeiten in relevanten Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit.

Ein besonderer Fokus des Buches liegt auf der Darstellung und Diskussion theoretischer Ansätze der Sozialen Arbeit wie der Lebensweltorientierung oder der Lebensbewältigung und deren Relevanz für die Sportsozialarbeit. Die Ausführungen sind darauf angelegt, eine vertiefte theoretische Reflexion und den Austausch über die vorgestellten Konzepte anzuregen.

Sport- und bewegungsbetonte Ansätze haben in den letzten Jahrzehnten ein enormes Potential für die Soziale Arbeit entwickelt. Die zunehmende Digitalisierung der Alltagswelt führt zwar zum Rückgang von Bewegungs- und Sozialerfahrungen bis zu einer gesellschaftlichen Verdrängung des Körpers, gleichzeitig findet aber eine Aufwertung des eigenen Körpers statt. Sportlich zu sein gilt als soziales Kapital. Dies greift Sportsozialarbeit für die berufliche Praxis auf und entwickelt geeignete Unterstützungsangebote. Soziale Arbeit versteht sich im Gegensatz zu anderen (therapeutischen) Hilfen primär alltagsorientiert und zieht sich nicht an einen dritten, geschützten Ort zurück. In der Sozialen Arbeit richten sich soziale Hilfen auf die Erweiterung von Ressourcen und die Gewährleistung von sozialer Teilhabe, während pädagogische Hilfen die Integrität und Bildung des Subjektes als sozialen Akteur zum Gegenstand haben. Sport und Bewegung bieten angehenden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern eine Erweiterung des methodisch-konzeptionellen Spektrums und Zugänge, die erstens in den Alltag integriert und verselbständigt werden können und zweitens den engen Rahmen kognitiver Zugänge ergänzen. Handlungsfähigkeit und Gemeinschaft können körperlich unmittelbar erfahrbar gemacht werden, um Bildungs- und Sozialisationsprozesse zu unterstützen. Sportbezogene sozialpädagogische Ansätze ergänzen in der beruflichen Praxis das klassische Handlungsrepertoire der fall-, gruppen- und sozialraumbezogenen Arbeit und erleichtern den Zugang u. a. zu Adressaten und Adressatinnen Sozialer Arbeit, die in herkömmlichen Beratungs- und Betreuungssettings nicht erreicht werden.

Anhand der Darstellung sportbezogener Angebote in verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit wie z. B. der offenen Jugendarbeit, der Fanarbeit oder der Sozialen Arbeit mit von Exklusion bedrohten Gruppen werden mögliche Einsatzbereiche sportbezogener Sozialer Arbeit anschaulich geschildert, Konzepte konkretisiert und Studierenden wie Fachkräften berufliche Perspektiven aufgezeigt. Die Skizzierung von Praxisbeispielen und Modellprojekten lädt zur Diskussion des jeweiligen theoretischen Bezugsrahmens und dessen praktischer Umsetzung ein.

 

Heiko Löwenstein, Birgit Steffens und Julie Kunsmann

Inhalt

 

 

 

Vorwort

Zu diesem Buch

1 Einleitung

1.1 Zur Entwicklung der sportbezogenen Sozialen Arbeit

1.2 Begriffliche Klärung und Ziele der Sportsozialarbeit

1.3 Aufbau des Buches

2 Sporttreiben und Sportorganisation

2.1 Sportverständnis

2.2 Organisierter Sport

2.2.1 Aufbau und Struktur des organisierten Sports

2.2.2 Sportvereine

2.2.3 Gesellschaftliche Bedeutung des organisierten Sports

2.3 Schulsport

2.3.1 Unterrichtlicher Schulsport

2.3.2 Außerunterrichtlicher Schulsport und dessen Relevanz für die Sportsozialarbeit

2.4 Informeller Sport

2.5 Kommerzieller Sport

3 Sportrelevante Praxisfelder der Sozialen Arbeit

3.1 Gesundheit

3.1.1 Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit

3.1.2 Bewegung und Gesundheit

3.1.3 Sportorientierte sozialpädagogische Angebote im Gesundheitswesen

3.2 Bildung

3.2.1 Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe

3.2.2 Die Bedeutung des Sports im Aufwachsen

3.2.3 Sportorientierte sozialpädagogische Angebote in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

3.2.4 Fanarbeit

3.2.5 Sportorientierte Soziale Arbeit mit Erwachsenen und älteren Menschen

3.3 Soziales

3.3.1 Soziale Teilhabe, Inklusion und Diversität

3.3.2 Diversitätssensible sportorientierte sozialpädagogische Angebote

4 Theorien Sozialer Arbeit und ihre Relevanz für die Sportsozialarbeit

4.1 Lebensweltorientierung nach Thiersch

4.1.1 Entstehungskontext: Reflexive Moderne, Selbstinszenierung und Expertokratie

4.1.2 Grundverständnis: Lebenswelt als Strukturiertheit von Raum, Zeit und sozialen Beziehungen

4.1.3 Relevanz: Welcher Sport macht »Sinn« im Alltag?

4.1.4 Praxisbeispiel: KICK-Projektverbund zur Gewaltprävention

4.2 Lebensbewältigung nach Böhnisch

4.2.1 Entstehungskontext: Jugendforschung, Gesellschaftskritik und Hans Thiersch

4.2.2 Grundverständnis: Anomie und Streben nach Handlungsfähigkeit

4.2.3 Relevanz: Stress, (Körper-)Selbst und funktionale Äquivalenz

4.2.4 Praxisbeispiel: Fanprojekt Bremen

4.3 Relationaler Konstruktivismus nach Kraus

4.3.1 Entstehungskontext: Systemtheorie und Radikaler Konstruktivismus

4.3.2 Grundverständnis: »Von der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer relationalen Theorie der Sozialen Arbeit«

4.3.3 Relevanz: Strukturelle Kopplung zwischen psychischen, sozialen und biologischen Systemen

4.3.4 Praxisbeispiel: Vitura Bogenschießen

4.4 Deweys pragmatistische Philosophie und Sozialpädagogik

4.4.1 Entstehungskontext: Soziale Probleme und Sozialreform

4.4.2 Grundverständnis: Deweys Pragmatismus

4.4.3 Relevanz: Körper-Geist-Relation und geteilte Erfahrung

4.4.4 Praxisbeispiel: football3

4.5 Sozialraumorientierung

4.5.1 Entstehungskontext: Settlementbewegung, Community Organizing und Raumhandeln

4.5.2 Grundverständnis: Von der Gemeinwesenarbeit zur Sozialraumorientierung

4.5.3 Relevanz: Vom Ort zum Raum durch Aneignung

4.5.4 Praxisbeispiel: Le Parkour

4.6 Agency und Akteursorientierung

4.6.1 Entstehungskontext: Empowerment, Praxistheorie und Netzwerktheorie

4.6.2 Grundverständnis des pragmatistisch-relationalen Agency-Konzepts

4.6.3 Relevanz: Der strukturierte und der strukturierende Körper

4.6.4 Praxisbeispiel: Ein Vereinstag für geflüchtete Kinder und Jugendliche

4.7 Fazit: Sportsozialarbeit im Lichte der Wissenschaft Sozialer Arbeit

5 Überlegungen zur Professionalisierung der Sportsozialarbeit

5.1 Die soziale Diagnose als Scharnier zwischen Theorie und Praxis

5.2 Evidenzbasierung

5.3 Relevanz sportwissenschaftlicher Wirkungsforschung für die Soziale Arbeit am Beispiel der Kinder- und Jugendsportberichte

6 Beiträge der Bezugswissenschaften

6.1 Bewegungs- und Sportpädagogik

6.2 Erlebnispädagogik

6.3 Sport- und Körpersoziologie

7 Internationale Perspektiven

7.1 Nutzung des Sports in klassischen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit

7.2 Entwicklung der Sportsozialarbeit im Amateur- und Profisport als neues Handlungsfeld Sozialer Arbeit

7.3 eSport als künftiges Handlungsfeld Sozialer Arbeit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Stichwortverzeichnis

1       Einleitung

 

 

 

1.1       Zur Entwicklung der sportbezogenen Sozialen Arbeit

Sport zählt seit ihren Anfängen zu den klassischen Zugängen der Sozialen Arbeit. Bereits im 19. Jahrhundert erfolgte eine Grundlegung im von Jane Addams gegründeten Chicagoer Settlementhaus Hull House. So wurden um 1900 mit der Erweiterung des Gebäudekomplexes Trainingsräume für Sportkurse eingerichtet. Es gab Angebote wie Baseball oder Tanzen, aufgeteilt nach verschiedenen Schwierigkeitsgraden, die Gruppen traten teils zu Wettkämpfen an, den sogenannten Match Games (Linn, 1935, S. 151ff).

In Deutschland sind seit den 1980er Jahren kontinuierliche systematische Bemühungen zur Nutzung von Bewegung und Sport als Medium in der Sozialen Arbeit erkennbar, die in der Konsequenz zur Etablierung von Strukturen und zahlreichen unterschiedlich ausgestalteten Projekten sowohl in den sozialen Diensten als auch in den Sportorganisationen mit deren angegliederten Sportvereinen geführt haben. Sport- und bewegungsorientierte Angebote sind in allen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit zu finden, insbesondere in der Jugendhilfe sind sie stark vertreten. Mit der Fanarbeit hat sich ein eigenes neues Handlungsfeld Sozialer Arbeit entwickelt.

Vorangetrieben wurde diese Entwicklung insbesondere durch das Engagement einzelner Hochschulvertreter und -vertreterinnen sowohl der Sozialen Arbeit als auch der Sportwissenschaft, durch Kampagnen und Strategien des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und der Deutschen Sportjugend (DSJ), durch verschiedene Förderprogramme auf Bundesebene und durch zahlreiche und vielgestaltige Projekte in der Praxis.

Schon Mitte der 1960er Jahre unterstützte der Europarat unter dem Motto »Sport für alle« eine Bewegung, die das Ziel verfolgte, durch politische Initiativen alle Menschen zum Sporttreiben zu bewegen (Europarat, 1975). In diesem Kontext entstanden infolge in vielen europäischen Ländern Kampagnen zur Förderung des Breitensports. In Deutschland wurde durch den DOSB, damals noch Deutscher Sportbund (DSB), der stärker vereinsbezogene zweite Weg des Sports bevorzugt, der neben dem leistungsorientierten Sport als erstem Weg den Breitensport fördern wollte (Krüger & Jütting, 2017, S. V). Anfang der 1970er Jahre startete in Deutschland die Trimm-dich-Bewegung, mit der versucht wurde, möglichst viele Menschen für Bewegung auch außerhalb der Sportvereine zu begeistern. Insgesamt haben diese Entwicklungen zu einer Vielfalt sportiver Praxen innerhalb und außerhalb der Vereine beigetragen (ebd., S. Vf).

Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde für die Sportorganisationen die soziale Aufgabe formuliert, auch Gruppen einzubeziehen, die in den Sportvereinen für Kinder und Jugendliche unterrepräsentiert waren (Michels, 2007, S. 13f). Hierzu zählten u. a. Kinder aus Haushalten mit geringer sozio-ökonomischer Ausstattung, Mädchen sowie Heranwachsende mit Migrationshintergrund. Der Forderung, diese Jugendlichen zu erreichen, wurde mit Verweis auf die doppelte Benachteiligung dieser Gruppen Nachdruck verliehen, da die positiven Zuschreibungen des Sports, z. B. hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung oder des sozialen Lernens, durch die fehlende Vereinszugehörigkeit nicht ermöglicht würden (Welsche, Seibel & Nickolai, 2013, S. 26f).

Verschiedene Programme förderten deshalb sportbetonte Projekte im organisierten Sport zur Überwindung sozialen Ausschlusses. So wurde u. a. in 1999 im Rahmen des vom Bundesamt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aufgelegten E & C-Aktionsprogramms »Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten« von der DSJ in Kooperation mit der Sporthochschule Köln das Projekt »Soziale Offensive« unter Leitung des Sportwissenschaftlers Christoph Breuer durchgeführt. Zugleich wurde in diesem Rahmen neben vielen anderen Aktivitäten eine Datenbank sozialer Initiativen im Jugendsport entwickelt, die ihre Angebote insbesondere auch an sozial benachteiligte Menschen richten (ehemals: www.soziale-projekte-im-jugendsport.de; jetzt: www.jugendprojekte-im-sport.de). Außerdem wurde ein Fachforum mit Praktikern und Praktikerinnen durchgeführt, um das Leben der Jugendlichen zu beschreiben und daraus Handlungsimplikationen für die Sportjugendarbeit abzuleiten (Rittner & Breuer, 1999). Im Ergebnis zeigte sich, dass das große Engagement in den Sportvereinen zu würdigen ist, die Trainer und Trainerinnen jedoch nicht ausreichend für die Arbeit mit den benannten Gruppen qualifiziert und vorbereitet sind (Michels, 2007, S. 14f). Beklagt wurde, so Michels, dass die Vereinstrainer und -trainerinnen die konkreten Lebenswirklichkeiten und Bedürfnisse der Jugendlichen zu wenig kannten und berücksichtigten. Entsprechend wurden diese zu wenig aktiv in die Trainingsabläufe und -inhalte einbezogen. Im Mittelpunkt des Trainings stand allein die sportliche Praxis (ebd., S. 15).

Hinzu kam, dass Sport und Bewegung, auch mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahr 1991, in dem der Begriff Sport in § 11 SGB VIII erstmalig für die Jugendarbeit gesetzlich verankert wurde, zwar vermehrt in der sozialpädagogischen Praxis genutzt wurden, aber sportpädagogisches Wissen bei den Fachkräften der Sozialen Arbeit häufig fehlte:

»Sozialpädagogen (…) fehlt oft die sportbezogene Fachkompetenz, vielfach werden Arbeitsweisen aus der selbst erlebten Sportbiographie bezogen, dabei so manches antiquierte Konzept wieder belebt« (Michels, 2007, S. 14).

Die im Rahmen dieser Bemühungen mehrfach beklagte unzureichende Zusammenarbeit der Beteiligten hat den Wunsch nach mehr Dialog und Kooperation hervorgebracht, sowohl zwischen den Hochschulen für Sozialwesen und Sportwissenschaft als auch, auf Praxisebene, zwischen sozialen Diensten und Sportvereinen sowie der DSJ bzw. dem DOSB als deren Überbau (ebd.).

Vertreter und Vertreterinnen der Sozialen Arbeit bekundeten ihrerseits die Notwendigkeit der Kooperation; die »Bad Boller Erklärung« von 1997, die als Ergebnis eines Werkstattgesprächs in der Evangelischen Akademie festgehalten wurde, wird hier von den Beteiligten als Meilenstein gesehen. Trotz der Vorgabe, die Kooperation zwischen Hochschulen für Sportwissenschaft und Hochschulen für Soziale Arbeit auszubauen, gab es, so Seibel, seitens der Sportwissenschaften eher wenig Initiativen, die sozialpädagogische Expertise der Hochschulen für Soziale Arbeit zu nutzen (Seibel, 2007, S. 5f).

Zusätzlich zu den Vernetzungsbemühungen gewann an den Hochschulen im Fachbereich Sozialwesen die Qualifizierung der Studierenden an Bedeutung. Anliegen war es hier nicht zuletzt, den zunehmenden Einsatz des Sports in der Praxis qualitativ zu entwickeln. Die Vermittlung sport- und bewegungsorientierter Konzepte erfolgt meist in Form von Zusatzqualifikationen an Hochschulen im Fachbereich Sozialwesen, häufig verbunden mit der Vergabe von Übungsleiterlizenzen. Strukturell, so Michels, sind die Lehrinhalte heute in der Regel im Studienbereich Medien bzw. didaktische Methoden verortet (Michels, 2007, S. 15). Bis heute sind Sport und Bewegung nicht explizit im Kerncurriculum Soziale Arbeit verankert (DGSA, 2016).

Im Kontext der Sozialen Offensive wurde außerdem deutlich, dass Sport nicht per se ›wirkt‹ (Welsche, Seibel & Nickolai, 2013, 27). Das Training mit heterogenen Gruppen stellt für Trainer und Trainerinnen oftmals eine Überforderung dar. Außerdem zeigten verschiedene Studien, dass die dem Sport zugeschriebenen Sozialisationspotentiale nur teils empirisch belegbar sind, auch wenn sie immer wieder hervorgehoben werden (siehe u. a. DOSB, 2009; Brettschneider & Kleine, 2002). Die sich seit den 1990er Jahren langsam durchsetzende Haltung, dass Sport eines speziellen pädagogischen Settings und einer spezifischen Inszenierung bedürfe, hat einen sozialpädagogischen Boom im Sportbereich mit sich gebracht (siehe u. a. Welsche, Seibel & Nickolai, 2013), der in der Aussage, Sportvereine »seien qua Definition ein Ort Sozialer Arbeit«, so Pilz (2002, S. 11) kritisch, verkürzt zusammengefasst wurde. Dies birgt die Gefahr der Über- als auch der Unterbewertung Sozialer Arbeit im Sport in sich. Mit der Überbetonung sozialer Kompetenzen und Settings wird eine zu kritisierende Sozialpädagogisierung des Sports betrieben, gleichzeitig ist eine Entwertung und Deprofessionalisierung Sozialer Arbeit durch die Übertragung sozialpädagogischer Aufgaben an Trainer und Trainerinnen zu verhindern (siehe u. a. Michels, 2007; Pilz, 2002).

Die Relevanz des Themas Sport und Soziale Arbeit wurde seitens der Politik zunehmend anerkannt und entsprechend gefördert. Dies zeigte sich u. a. durch die Erwähnung in den Kinder- und Jugendberichten. So wurde im 10. Kinder- und Jugendhilfebericht von 1998 erstmalig kurz auf die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen hingewiesen und gefordert, deren Integration in außerschulische Bildungs- und Freizeitangebote anzustreben (Welsche, Seibel & Nickolai, 2013, S. 20). Insbesondere ab dem 11. Kinder- und Jugendhilfebericht von 2002, der erstmals ausführlich Kinder- und Jugendarbeit im Sport und die Sportjugend als Jugendhilfeträger behandelt, hat das Thema Sport in den Kinder- und Jugendberichten der Bundesregierung einen festen Platz erhalten. Zudem sei auf verschiedene Programme verwiesen wie z. B. das 1989 aufgelegte, von BMI und BAMF geförderte und vom DOSB durchgeführte Bundesprogramm »Integration durch Sport«, das die interkulturelle Öffnung von Sportvereinen fördert. Das Programm besteht seit 30 Jahren; es richtete sich ursprünglich an die Zielgruppe der Aussiedler und Aussiedlerinnen und wurde an die gesellschaftlichen Entwicklungen und das gewandelte Verständnis von Migration jeweils angepasst.

In den Folgejahren wurde das Thema Sport und Soziale Arbeit kontinuierlich vorangebracht und konsolidiert, so dass Sportsozialarbeit mittlerweile als selbstverständlich und als geeignetes Medium sozialpädagogischen Handelns gilt (ebd., S. 23). Belegbar wird dies u. a. durch ihre Berücksichtigung im »Handbuch Soziale Arbeit«, erstmals 2001 durch Krüger.

Zur Strukturierung des Themenfelds, insbesondere mit Blick auf Wirkungen des Sports, aber auch auf die Lebenswelten der Adressaten und Adressatinnen, hat zweifellos die Einführung der Kinder- und Jugendsportberichte beigetragen (Schmidt et al., 2003).

In Verbindung damit stehen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, wie z. B. der Ausbau der Gesundheitsförderung, das Wachstum der Gesundheits- und Breitensportbranche oder Initiativen hin zu einer nachhaltigen Entwicklung. So wird Gesundheit von den Vereinten Nationen als eines der 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung benannt (UN, 2015; siehe auch Seibel, 2007, S. 6).

Insgesamt fällt in der Entwicklung, zumindest zu Beginn, eine starke Fokussierung auf Kinder und Jugendliche auf (ebd.). Außerdem erfolgt die Behandlung des Themenfelds Sport und Soziale Arbeit, u. a. bedingt durch die Förderströme, sportbetont. Die Bundesprogrammlinien werden vom DOSB bzw. der Sportjugend als dessen Jugendabteilung durchgeführt. Größere Studien und Publikationen, so auch die Kinder- und Jugendsportberichte, werden bisher vornehmlich von Sportwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen vorgelegt.

Dem DOSB kommt in der Entwicklung eine ambivalente Rolle zu. Auf der einen Seite zeigt er sich als Motor der Entwicklung und ist in alle wichtigen Vorhaben und Programme eingebunden, gleichzeitig hat er durch die Propagierung der positiven Wirkungen zu einer normativen Prägung und Mythologisierung des Sports als Heilsbringer beigetragen.

Zur weiteren Professionalisierung der Sportsozialarbeit besteht, bei Würdigung der bisherigen anerkennenswerten Ansätze, Forschungs- und Diskussionsbedarf, um Praxiskonzepte wissenschaftlich zu fundieren, fachliche Standards zu benennen und die Anschlussfähigkeit sozialpädagogischer Konzepte zu konkretisieren (siehe u. a. Michels, 2007, S. 15f).

1.2       Begriffliche Klärung und Ziele der Sportsozialarbeit

Zur Beschreibung sozialpädagogischen Handelns, in dem Sport als Medium genutzt wird, werden in der Literatur verschiedene Begrifflichkeiten genutzt, von sportbetonter über sportorientierter bis zu sportbezogener Sozialer Arbeit etc. Eine einheitliche Benennung hat sich bislang nicht durchgesetzt. Alle Begriffe betonen die Soziale Arbeit und fügen den Sport attributiv als Medium in der Sozialen Arbeit hinzu. Im vorliegenden Buch wird von Sportsozialarbeit gesprochen. Damit soll zum einen Anschlussfähigkeit an international übliche Sprachregelungen hergestellt werden (Sport Social Work). Zum anderen werden durch diese sprachliche Regelung erste Bemühungen betont, die Soziale Arbeit als Bezugsdisziplin der Sportwissenschaft, analog z. B. zur Sportpsychologie, zu etablieren. Während die Soziale Arbeit die Sportwissenschaft bereits als eine ihrer Bezugsdisziplinen nutzt, bestehen seitens der Sportwissenschaft, anders als beispielsweise in den USA, bislang wenig Bemühungen, die Soziale Arbeit als mögliche Bezugsdisziplin zu sehen bzw. anzuerkennen. Unlängst gibt es jedoch einen Vorstoß der Deutschen Sporthochschule Köln, die mit dem Weiterbildungsangebot »Sport in der Sozialen Arbeit« die Bedeutung sozialarbeitswissenschaftlicher Wissensbestände für die Sportpraxis hervorhebt (DSHS, 2019).

Eine allgemeingültige Definition von Sportsozialarbeit liegt bislang nicht vor, eine begriffliche Diskussion gibt es nur in Ansätzen, häufig dient der in der Sportpädagogik formulierte sogenannte Doppelauftrag Erziehung im und durch Sport als Anknüpfungspunkt. Im vorliegenden Buch wird mit der Darlegung eines theoretischen Bezugsrahmens Sozialer Arbeit anhand ausgewählter Theorien und Konzepte ( Kap. 4) der Versuch einer sozialpädagogischen begrifflichen Annäherung unternommen. Mit der Darlegung verwandter disziplinärer Zugänge wie z. B. der Bewegungspädagogik ( Kap. 6) wird die Verhältnisbestimmung zwischen Bewegung, Sport und Körper als Teil der begrifflichen Auseinandersetzung betont. Das Autorenteam versteht die Überlegungen als Ausgangspunkt für Austausch und Diskussion.

Gemäß den Ausführungen des Sportwissenschaftlers Michael Krüger zu Sport und Sozialer Arbeit im »Handbuch Sozialer Arbeit« wird dem Sport eine hohe soziale Bedeutung im Sinne des sozialen Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung bis hin zu emanzipativen Wirkungen beigemessen (Krüger, 2003, S. 1813ff). So kann Sport u. a. dazu beitragen, die Bedeutung von Regeln für das Zusammenleben zu vermitteln, aber auch deren Aushandlung einzuüben, den Umgang mit Sieg und Niederlage in Wettkämpfen zu erlernen oder soziale Rollen spielerisch zu erproben. Diese Lernprozesse können sowohl unbewusst als auch intendiert eingesetzt werden (ebd., S. 1816). Dies kommt im sogenannten Doppelauftrag Erziehung zum und im/durch Sport zum Ausdruck. Während Erziehung im Sport Erziehungsprozesse in den Blick nimmt, die in sportlichen Kontexten per se, d. h. unintendiert ablaufen, sind mit Erziehung durch Sport Erziehungsprozesse gemeint, bei denen Sport bewusst als Instrument eingesetzt wird (ebd., S. 1816). Neben diesen pädagogischen Motiven wird in den Sportwissenschaften mit der Formel Erziehung zum Sport auch ein sportbezogenes Motiv verfolgt, das auf die Erschließung der Sportkultur und der darin enthaltenen Werte wie Leistung, Teamgeist oder Fair Play zielt. Dadurch sollen persönlichkeitsbildende Effekte erzielt werden (DOSB, 2009, S. 5; Baur & Braun, 2003). Um die soziale Wirkung des Sports zu entfalten, ist die pädagogisch verantwortliche Inszenierung und die Reflexion des Sportgeschehens notwendig (u. a. DOSB, 2009, S. 5).

In der Sozialen Arbeit wird Sport gemeinhin als ein Medium oder spezifischer Zugang zur Umsetzung sozialpädagogischer Zielsetzungen, ähnlich wie z. B. die Kunst oder das Theater, bezeichnet und ergänzt in dieser Bedeutung das sozialpädagogische Handlungsrepertoire (siehe u. a. Krüger, 2003; Welsche, Seibel & Nickolai, 2013). Sportsozialarbeit wird dabei nicht als einfache Rezeption sportpädagogischer Ansätze in der Sozialen Arbeit verstanden und lässt sich auch nicht z. B. unter bewegungs- oder erlebnispädagogische Ansätze subsumieren. Das Sozialpädagogische der sportorientierten Sozialarbeit ist weder allein die Zielgruppe noch das soziale Setting. Eine Verwebung mit sozialpädagogischen Handlungsansätzen wie der Lebensweltorientierung oder der Sozialraumorientierung und die Einbeziehung der Lebenswelt außerhalb des professionellen Settings, z. B. Familie oder Schule, machen Sport zum Bestandteil eines integrierten Unterstützungsprozesses mit dem sozialpädagogischen Ziel der Förderung von Teilhabe und Lebensbewältigung. Eine Schnittstellenbestimmung zwischen Sport und Sozialer Arbeit wird mit dem Selbstverständnis der Sozialen Arbeit, d. h., aus den Strukturen und Logiken dieser Disziplin heraus vorgenommen, sportwissenschaftliche Zugänge werden ähnlich wie Wissensbestände der Soziologie oder der Sozialmedizin einbezogen (Steffens & Winkel, 2017, S. 293). Dabei wird die Definition Sozialer Arbeit durch die International Federation of Social Workers (IFSW) zugrunde gelegt.

Soziale Arbeit

»Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein« (FBTS & DBSH, 2016).

Sport kann demzufolge sowohl emanzipativ-fallbezogen als auch gesellschaftskritisch-strukturell einen wichtigen Baustein in der Umsetzung sozialpädagogischer Ziele darstellen. Ausgangspunkt ist ein lebensweltorientierter, ganzheitlicher Blick auf Menschen, der die Kasuistik vom Sprechakt zum gemeinsamen Tun erweitert und den Blick auf positives Erleben und die Ressourcen von Menschen lenkt. Wie kann es gelingen, allen Menschen einen gleichberechtigten Zugang zum Sport als gesellschaftlichem Teilsystem zu verschaffen und Möglichkeiten zur Partizipation zu geben? Zum einen geht es darum, Zugangsbarrieren abzubauen und Gleichstellungsstrategien aufzubauen. Zum anderen verfolgt Sportsozialarbeit das Ziel, den Sport als Medium für die Unterstützung Einzelner zu nutzen. Der nicht-sprachliche Zugang ermöglicht es, pädagogische Interventionen einzusetzen, wo Hilfen sonst abgelehnt werden. Sportsozialarbeit soll Menschen dazu befähigen, Sport und Bewegung für die eigene Lebensbewältigung nutzbar zu machen. Die folgende Grafik veranschaulicht die Bedeutung des Sports in der Sportpädagogik und der Sozialen Arbeit ( Abb. 1).

Abb. 1: Bedeutung des Sports in der Sportpädagogik und der Sozialen Arbeit (eigene Darstellung)

1.3       Aufbau des Buches

Nach dieser Einführung wird im zweiten Kapitel zunächst das zugrunde gelegte Sportverständnis skizziert. Das Sporttreiben wird anhand der einzelnen Sportbereiche, dem organisierten Sport, dem Schulsport, dem informellen Sport und dem kommerziellen Bereich dargelegt. An dieser Stelle wird auch auf die Sportjugend gesondert eingegangen, die als Dachorganisation der Kinder- und Jugendsportvereine sowie als Träger von Jugendhilfeangeboten fungiert. Anschlussmöglichkeiten für die Sportsozialarbeit werden skizziert ( Kap. 2).

Im dritten Kapitel werden die einzelnen Praxisfelder Sozialer Arbeit, unterteilt in Gesundheit, Bildung und Soziales, in ihrer Struktur und Grundausrichtung vorgestellt. Bestehende sportorientierte Angebote in diesen Bereichen werden benannt und mögliche Ausbaupotentiale ausgelotet. Um einen breiten Überblick über die Angebotsvielfalt zu geben, werden zahlreiche Praxisbeispiele präsentiert ( Kap. 3).

Im vierten Kapitel werden theoretische Ansätze Sozialer Arbeit dargestellt und hinsichtlich ihrer Relevanz für sportorientierte Konzepte diskutiert. Hier steht der Nutzen für das praktische Handeln im Vordergrund. Zur Veranschaulichung wird jeweils ein sportorientiertes Praxisbeispiel ausführlich vorgestellt ( Kap. 4).

Im fünften Kapitel werden Überlegungen zur Professionalisierung der Sportsozialarbeit angestellt. Nach der Darstellung des zugrunde gelegten Professionsverständnisses wird auf evidenzbasierte Forschung eingegangen und ein erster Versuch unternommen, den Forschungsbedarf zu benennen ( Kap. 5).

Im sechsten Kapitel erfolgt eine Abgrenzung und Schnittstellenbestimmung zu den Bezugswissenschaften der Sport- und Bewegungspädagogik, der Sport- und Körpersoziologie und der Erlebnispädagogik ( Kap. 6).

Das Buch schließt im siebten Kapitel mit einem Ausblick auf internationale Perspektiven. Hier werden allgemeine Entwicklungstrends sowie Perspektiven im Leistungs- und eSport dargelegt ( Kap. 7).

Das Lehrbuch richtet sich an Studierende, Fachkräfte und Lehrende der Sozialen Arbeit sowie verwandter Disziplinen wie z. B. der Sportwissenschaft oder der Heilpädagogik. Zur Veranschaulichung der Inhalte werden Fallbeispiele und Abbildungen genutzt.

2          Sporttreiben und Sportorganisation

 

 

 

Was Sie in diesem Kapitel lernen können

In diesem Kapitel werden die Bedeutung und Ausbreitung von Sport als gesellschaftlichem Teilsystem in Deutschland dargelegt und ein Einblick in zentrale Sportfelder gegeben. Der Bereich des organisierten Sports, des Schulsports, des informellen Sports und des kommerziellen Sports werden unter Berücksichtigung der Relevanz für die Sportsozialarbeit beleuchtet. Darüber hinaus werden Praxisangebote, die auf sozial(pädagogisch)e Zielsetzungen ausgerichtet sind, präsentiert.

2.1       Sportverständnis

Sport in Deutschland stellt heute neben Kultur, Medien, Gesundheit, Bildung und anderen Sektoren einen eigenen Gesellschaftsbereich mit hoher gesellschaftlicher Relevanz dar. Ein individuelles Sportverständnis, die Ausdifferenzierung an Sportarten und die Nutzung unterschiedlicher Sporträume führen zu einer kaum überschaubaren Vielfalt bewegungskultureller Phänomene und Kontexte.

Zur Entwicklung des Sports haben vielfältige gesellschaftspolitische Strömungen beigetragen, die hier nur in einem kurzen Abriss dargestellt werden können. So kann insbesondere die Bedeutung des Sports in der Zeit des Nationalsozialismus, die u. a. zu einer sportorganisatorischen Zersplitterung und massiven Veränderung des Wertesystems geführt hat, aufgrund seiner Komplexität im Folgenden nicht behandelt werden (dazu u. a. Teichler, 2010; Luh, 2010).

Im 18. und 19. Jahrhundert beeinflussten v. a. Entwicklungen in Deutschland und England den Prozess. In Deutschland waren es zunächst reformpädagogische Ansätze der Philanthropen, wie u. a. Gutsmuths (1759–1839), Salzmann (1744–1811) und Basedow (1724–1790). Sie werden noch heute als »Wegbereiter einer modernen Theorie der Leibeserziehung« (Krüger, 2009, S. 52) gesehen, weil sie erstmalig die Idee einer ganzheitlichen Erziehung durch Bewegung in Form von gymnastischen Leibesübungen vertraten. Daran anschließend entwickelte sich die Turnbewegung um Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), welche als Ursprung des außerschulisch organisierten Breitensports und des Vereinswesens gesehen werden kann (Krüger, 2010, S. 175ff; kritisch zu Jahn: Dueding, 1978; Schnitzler, 2003). Parallel dazu setzte sich in England mit der Einführung sportlicher Wettkämpfe ein Gegenstück zum Turnen und zur Gymnastik durch. War Sport in England bis dato als exklusive Freizeitbeschäftigung dem Adel und der Oberschicht vorbehalten, führten gesellschaftspolitische Widerstände zu einer Ausbreitung des Sports in bürgerlichen Kreisen (Eisenberg, 2010, S. 181ff). Der auf die englische Tradition von Sports and Game zurückgehende Universalbegriff Sport hat sich bis heute durchgesetzt (Krüger, 2008, S. 58). Im Laufe der Zeit hat Sport einen Differenzierungsprozess durchlaufen mit der Folge, dass immer mehr körperliche Aktivitäten unter dem Begriff Sport subsumiert werden und das Begriffsverständnis von Sport zu einer diffusen Vielfalt geworden ist. Nach Krüger (2008, S. 58) ist »›Sport‹ […] als Gegenstandsbegriff nur dann geeignet, wenn er alle historisch gewordenen sowie sozial und kulturell geformten Inhalte von körperlichen Spielen und Übungen mit einschließt.« Als Einflussfaktor auf den Wandel von Sport ab dem 20. Jahrhundert gilt aus soziologischer Perspektive v. a. die Individualisierung:

»Bedeutung, Form und Inhalt des zeitgenössischen Sports sind Resultat des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses« (Gugutzer, 2008, S. 88).

Kennzeichnend für diesen Prozess waren u. a. eine Pluralisierung von Lebenswelten durch den Ausbau des Wohlfahrts- und Sozialstaats, die Freisetzung aus traditionellen (Geschlechter-)Rollen, ein gesteigertes individuelles Leistungsdenken, ein Wandel von gesellschaftlichen Grundwerten und die Hinwendung zum Hedonismus (ebd.; auch Bette, 1999, S. 150ff; vertiefend zur Individualisierungsdebatte: Beck, 1986). Der Einfluss des Individualisierungsprozesses auf den Sport wird auf unterschiedlichen Ebenen festgestellt. Zum einen wird der Leistungsindividualismus hervorgehoben, der im Wettkampf-, Leistungs- und Hochleistungssport ein optimales Handlungsfeld findet (Bette, 2001, S. 95). Zum anderen benennt Gugutzer weitere Veränderungen, die sich im Zuge der Individualisierung für den Sport ergeben haben. Der Ausbau des Wohlfahrts- und Sozialstaats und ein damit verbundener erhöhter Lebensstandard ermöglichten vielen Menschen den Zugang zum Sport:

»Denn erst ein gewisses Maß an materiellem Lebensstandard ermöglicht es z. B. teure Sportkleidung oder Mitgliedschaftsbeiträge […] bezahlen zu können, wie auch erst ein entwickelter Sozialstaat die infrastrukturellen und ökonomischen Bedingungen schafft, damit kranke und behinderte Menschen […] Sport betreiben können« (Gugutzer, 2008, S. 92).

Diese Entwicklung war auch für den Ausbau des organisierten Sports unter dem Slogan »Sport für Alle« von hoher Bedeutung. Damit einher ging die Ausdifferenzierung des Sportbegriffes und die Pluralisierung an Sportarten und Organisationsformen, welche Bette (2001, S. 100) als »Einheit der Vielheit« beschreibt. Im Laufe der Zeit sind eine Vielzahl an Typen sportlichen Handelns entstanden, u. a. Freizeitsport, Gesundheitssport, Trend- und Abenteuersport, Risikosport oder Mediensport (Heinemann, 2007, S. 55). Neben der Entstehung einer begrifflichen Vielfalt und Ausdifferenzierung führt die Pluralisierung von Sportformen und -organisationen zu einer neuen Sportlichkeit. Sportsoziologen sprechen von einem »Wertewandel« des Sports (Digel, 1990). Der sogenannte »alte Sportgeist« war von Worten wie Fairness, Leistung, Wettkampf, Kameradschaftlichkeit und Vereinsbindung begleitet (ebd.). Zwar existieren diese Bedeutungen auch heute noch, jedoch ist das Sportverständnis laut Grupe heute zudem an individualistischen und hedonistischen Werten, wie z. B. dem Genuss, der Erfüllung, der Ungebundenheit und der Abwechselung, orientiert (Grupe, 2003, S. 7f). Ein weiteres Merkmal individualisierter Bewegungspraxen ist die Aufwertung des eigenen Körpers.

Resultat dieser Ausdifferenzierungen ist, dass heute kaum mehr erfasst werden kann, was unter Sport eigentlich zu verstehen ist und was den modernen Sport ausmacht.

»Semantisch und logisch kaum haltbare Gegensatzpaare wie Freizeit- contra Wettkampfsport oder Leistungssport contra Breitensport, unscharfe Begriffe wie Körper- oder Bewegungskultur haben dabei fragwürdige Auswirkungen bis hinein in die meist ideologisch geprägten Antwortvorgaben, wenn es um die empirische Erfassung von Sportangeboten, Motiven oder Interessen […] geht« (Digel, 1995, S. 143).

Trotz dieser offenkundigen Vielfalt haben sich einige Begrifflichkeiten allgemein durchgesetzt.

•  Breitensport ist sowohl der Sport, der mehrheitlich in Amateurligen der Sportvereine wettkampfmäßig organisiert wird, als auch der Sport in den Vereinen, der nicht wettkampfmäßig organisiert ist und häufig als organisierter Freizeitsport bezeichnet wird (Cachay & Thiel, 2000, S. 115).

•  Freizeitsport ist ein Sammel- und Oberbegriff für vielfältige Erscheinungsformen von Sport in Abgrenzung zum Leistungs- und Hochleistungssport. Unter Freizeitsport können auch z. B. Breitensport, Gesundheitssport, Spaßsport verstanden werden (Dieckert, 2003, S. 205f).

•  Gesundheitssport beinhaltet die Förderung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von physischer und psychischer Gesundheit mithilfe von Gesundheitssportprogrammen und lässt sich in die Bereiche Gesundheitsförderung, Präventionssport, Sporttherapie, Rehabilitationssport untergliedern (Bös & Brehm, 2006).

•  Leistungssport ist dadurch gekennzeichnet, dass die Erbringung von wettkampfbezogenen (körperlichen) Leistungen mit hohem Trainingsaufwand im Vordergrund steht. Sportliches Handeln wird dabei entweder am Ziel der Leistungssteigerung, am Sieg oder an einer Kombination beider ausgerichtet (Emrich, 2003, S. 343).

•  Hochleistungssport richtet sich an internationalen Rekorden aus und zielt darauf ab, die eigene Leistung an Normen der international gültigen Wettkampfklassen auszurichten (Anders, 2008, S. 309).

Nach Franke (1978, S. 140) bekommt eine sportliche Handlung ihre Bedeutung erst durch die Zuschreibung seiner Handelnden und die Einbettung in einen jeweiligen Kontext. Sport wird demnach als ein soziales Konstrukt betrachtet. Heinemann greift diesen Gedanken auf und beschreibt, dass Sport für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben kann, die sich im Laufe der Zeit und auch kulturbedingt stetig wandeln (Heinemann, 2007, S. 53f). Zwar bleibt eine klare Definition aus (»Keine Definition kann weit genug gefasst werden, um alles angemessen zu erfassen – die aber letztlich auch nichts mehr ausschließen kann«, ebd., S. 55), jedoch benennt Heinemann vier konstitutive Elemente, die für eine Begriffsbestimmung und Systematisierung von Sport in einem engen Verständnis herangezogen werden können.

Grundmerkmale von Sport im engeren Sinne

•  Körperliche Leistung: zielgerichteter Umgang mit dem Körper und notwendige motorische Fähigkeiten wie Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit

•  Wettkampf: Leistungsvergleich, messbar am erzielten Wettkampfergebnis

•  Sportartenspezifisches Regelwerk: eine sozial organisierte Form des Umgangs mit dem Körper; Sport ist durch ein Bündel von Regelungen definiert

•  Unproduktivität: Handlungen im Sport zielen nicht darauf, Produkte zu erstellen oder ein Werk zu schaffen (ebd., 56f)

Aus diesen konstitutiven Elementen entwickelte Heinemann eine Modell-Systematik, in der die Einheitlichkeit von Sport aufgebrochen und eine Vielschichtigkeit des Sportverständnisses widergespiegelt wird. Dabei unterscheidet er verschiedene Modelle (traditioneller Wettkampfsport, professioneller Showsport, expressives Sportmodell, funktionalistisches Sportmodell, traditionelle Spielkulturen; ebd.). Treffen im wettkampfbezogenen Modell noch alle Elemente zu, so werden sie bei den weiteren Modellen nur noch bedingt berücksichtigt. Hierbei ist zu beachten, dass die einzelnen Ausprägungsformen nicht immer klar voneinander abzugrenzen und Übergänge zwischen den Modellen als fließend zu betrachten sind. Im Alltagsgebrauch werden zudem viele Aktivitäten als Sport bezeichnet, die sich diesen Elementen nicht zuordnen lassen, wie z. B. Schach oder Angeln. Daher stimmt der Klassifikationsversuch von Heinemann auch nicht immer mit dem überein, was gesellschaftlich unter Sport verstanden wird (Burk & Fahrner, 2013, S. 31f). Aus Sicht der Sozialen Arbeit ist kritisch anzumerken, dass unter den konstitutiven Elementen vermehrt die körperliche Leistung und der Wettkampfgedanke berücksichtigt werden, nicht aber z. B. psychosoziale Ressourcen. Die Sportsozialarbeit orientiert sich an einem weiten Sportverständnis, wie es in der Begriffsreihung Bewegung, Spiel und Sport vorkommt, z. B. in schulischen Lehrplänen (Beckers 2014b, S. 39). Beckers sieht im Begriff Sport »einen wesentlichen Teil unserer Kultur, in dem die körperbetonte, spielerische und körperliche Bewegung […] in unterschiedlichen Formen und Zugangsweisen Gestalt angenommen hat« (ebd.). Diese Entwicklung zeigt sich auch an den sportwissenschaftlichen Instituten der Universitäten; an verschiedenen Instituten, z. B. in Erfurt, Duisburg-Essen oder Stuttgart, wurden Studiengänge von klassischen Sportwissenschaften zu Sport- und Bewegungswissenschaften erweitert.

Ein erweitertes Begriffsverständnis von Sport führte im Zuge des Individualisierungsprozesses dazu, dass sich zunehmend quer zum traditionellen, wettkampforientierten Vereinssport und dem Schulsport weitere Sportanbieter etabliert haben. Dazu gehören u. a. kommerzielle Sportanbieter, soziale Dienste, Familienbildungsstätten, Volkshochschulen, Kirchengemeinden oder Krankenkassen (Gugutzer, 2008, S. 93). Auch das selbstorganisierte Sporttreiben erfährt, gerade im Jugendalter, zunehmend an Bedeutung. Diese Vielfalt lässt sich in verschiedene Organisationsformen untergliedern ( Abb. 2).

Abb. 2: Organisationsformen des Sports in Deutschland (eigene Darstellung)

Auf die einzelnen Organisationsformen des Sports wird im Folgenden näher eingegangen, die Relevanz für die Sportsozialarbeit wird dabei mit betrachtet.

2.2       Organisierter Sport

2.2.1     Aufbau und Struktur des organisierten Sports

Einen bedeutenden Sektor in Deutschland stellt der organisierte Sport unter der regierungsunabhängigen Dachorganisation des DOSB dar. Der DOSB ist ein eingetragener Verein (e. V.) mit Sitz in Frankfurt am Main. Laut Satzung liegt der Zweck des DOSB darin, den deutschen Sport in all seinen Erscheinungsformen zu fördern, zu koordinieren und ihn gegenüber der Gesellschaft, dem Staat sowie sonstigen Institutionen im In- und Ausland zu vertreten. Weiterhin obliegen ihm alle Zuständigkeiten eines Internationalen Olympischen Komitees wie z. B. der Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an Olympischen Spielen. Zudem ist der DOSB für die Betreuung seiner Mitglieder nach Maßgaben der Satzung zuständig (DOSB, 2018a, § 2). Zum DOSB gehören 101 Mitgliedsorganisationen, darunter 16 Landessportbünde, 66 Spitzenverbände sowie 19 Verbände mit besonderen Aufgaben (DOSB, 2019).

Insgesamt sind unter dem Dach des DOSB ca. 27,4 Millionen Menschen in Mitgliedschaften registriert, die in ca. 90.000 Turn- und Sportvereinen organisiert sind (DOSB, 2018b). Als Dachverband des gesamten organisierten Sports erfüllt der DOSB Ordnungs-, Programm- und Dienstleistungsfunktionen (Heinemann, 2007, S. 141). Konkrete Aufgaben werden im Kurzportrait des DOSB benannt. Als anschlussfähig für die Sportsozialarbeit gelten v. a. die Aufgaben, welche unter Allgemeines aufgeführt werden. Dazu gehören u. a.

»die Förderung einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung im Sport, die Förderung des Kinder- und Jugendsports, insbesondere die Gewinnung junger Menschen für den Sport, der Kampf gegen Doping und Spielmanipulationen, der Kampf gegen sexualisierte Gewalt im Sport, die Förderung von Sport, Spiel und Bewegung im Elementarbereich sowie in Schule und Hochschule, die Förderung von Bildung im und durch Sport« (DOSB, 2018a, § 3 (1), I.).

Abb. 3: Das System des organisierten Sports in Deutschland (eigene Darstellung)

Die Jugendorganisation des DOSB bildet die DSJ (DSJ). Unter ihr sind mehr als 9,5 Millionen junge Menschen aktiv. Sie vereint nicht nur die Sportvereine für Kinder und Jugendliche unter einem Dach, sondern ist auch bundesweit der größte Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe. Mit ihren Mitgliedsorganisationen, den Landessportjugenden und deren Untergliederungen (Verbände und Vereine), gestaltet die DSJ im gesamten Bundesgebiet flächendeckend Angebote mit dem Medium Sport, um junge Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung im Sinne des SGB VIII zu fördern (DSJ, 2019).

Das System und der Aufbau des organisierten Sports werden in obiger Abbildung in Anlehnung an Heinemann 2007 stark vereinfacht dargestellt ( Abb. 3).

2.2.2     Sportvereine

Sportvereine bilden mit ihren Mitgliedern die strukturelle Basis des organisierten Sports. Ca. 90.000 Sportvereine mit rund 27,4 Millionen Mitgliedschaften sind über Bezirks- und Stadtsportbünde als Mitglieder in Landessportbünden und Fachverbänden unter dem Dach des DOSB organisiert (DOSB, 2018a). Sportvereine sind durch Grundprinzipien bestimmt, die gesetzlich geregelt und zivilgerichtlich verankert sind.

Sportvereine

Sportvereine als Mitgliedsorganisationen des DOSB werden in der Organisationssoziologie dem Typus der Freiwilligenorganisation zugeordnet. Konstitutive Merkmale von freiwilligen Vereinigungen, somit auch von Sportvereinen ergeben sich nach Heinemann & Horch (1988) durch das Verhältnis der Mitglieder zu der Organisation. Diese sind freiwillige Mitgliedschaft, Orientierung an den Interessen der Mitglieder, Unabhängigkeit von Dritten, Freiwilligenarbeit, demokratische Entscheidungsstruktur. Die konstitutiven Merkmale kommen jedoch in der Reinform nur noch selten vor. Zum Beispiel wird ehrenamtliches Engagement besonders bei Großsportvereinen durch das Hauptamt abgelöst, demokratische Entscheidungskultur kann durch Mitgliederpassivität nicht ausgeschöpft sein, Mitgliedschaften durch z. B. Gruppenzwang beeinflusst werden (Nagel, 2006).

Zwar unterliegen Sportvereine einer gemeinsamen Struktur und gesetzlichen Grundlagen, dennoch haben sie viel Gestaltungsfreiraum und unterscheiden sich maßgeblich in Größe, Zielen, Inhalten und Erscheinungsformen. Es kann daher nicht von dem Sportverein gesprochen werden. In erster Linie geht es um die Förderung von Sport und die Bereitstellung von Sportgelegenheiten, darüber hinaus werden auch soziale Ziele verfolgt ( Kap. 2.2.3) (Heinemann & Horch, 1988). Systematische Befunde zur Entwicklung von Sportvereinen in Deutschland liefern die Sportentwicklungsberichte des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp). Im zweijährigen Turnus werden von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Deutschen Sporthochschule Köln unter der Leitung von Breuer Daten der bundesdeutschen Sportvereine erhoben und aufbereitet, die für Sportpraxis und Sportpolitik Befunde zur aktuellen Situation des Vereinssports liefern. Im Erhebungszeitraum 2015/16 haben sich mehr als 20.000 Vereine an den Befragungen beteiligt (Breuer, 2017, S. 15ff).

2.2.3     Gesellschaftliche Bedeutung des organisierten Sports

Sportvereine grenzen sich als freiwillige Organisationen von kommerziellen und marktorientierten Dienstleistungsunternehmen sowie vom informellen Sport ab und bewegen sich zwischen den Polen Markt, Staat und informeller Sektor. Aus der daraus folgenden Strukturlogik werden Sportvereine dem Dritten Sektor zugeordnet ( Abb. 2). Bei Organisationen des Dritten Sektors liegt die Zielsetzung nicht wie beim Sektor Markt in der Gewinnmaximierung, sie verfolgen demnach keine eigenwirtschaftlichen Ziele wie z. B. Fitnessstudios. Auch übernehmen sie, im Gegensatz zum Staat, keine »genuin hoheitlichen Aufgaben«. In Abgrenzung zum informellen Sektor unterliegen sie einer formaleren Organisationsstruktur, z. B. in Form fester Trainingszeiten und -gruppen oder der Vereinsmitgliedschaft (Heinemann, 2004, S. 77). Organisationen des Dritten Sektors werden auch als Non-Profit-Organisationen (NPO) bezeichnet. Diese erfüllen wichtige gesellschaftliche Aufgaben wie z. B. die Aufwertung bürgerschaftlichen Engagements oder die Förderung sozialer Integration (vertiefend dazu u. a. Nagel, 2006, S. 29; Heinemann, 2004, S. 78; Zimmer et al., 2005; Badelt et al., 2007).

Im Zuge der Bewegung »Sport für alle« erweiterte sich die Angebotsstruktur in den Sportvereinen; es gelang die Einbindung sozialer Gruppen, die lange Zeit erschwerten Zugang zu Sport hatten, darunter u. a. Frauen, Senioren oder Menschen mit Beeinträchtigungen (Cachay, 1988, S. 266ff; Gugutzer, 2008, S. 92; Nagel, 2006, S. 44ff). Das Wachstum an Mitgliedszahlen verdeutlicht dies. Waren es 1950 noch ca. drei Millionen Menschen, so stieg die Anzahl bis zum Jahr 2018 auf ca. 27 Millionen Menschen an (DOSB, 2011; DOSB, 2018a).

Das zivilgesellschaftliche Potential des organisierten Sports in Deutschland genießt daher eine besondere Wertschätzung und wird durch staatliche Mittel vielfältig gefördert (Braun, 2013a, S. 23; Haring, 2010).

Gleichzeitig sind die Erwartungen an die Sportvereine hoch. Neben dem praktischen Sporttreiben und der Vermittlung sportspezifischer Kenntnisse soll sozialen Herausforderungen u. a. im Kontext von Gesundheit, Bildung, Integration, Inklusion und Kinderschutz begegnet werden (Rittner & Breuer, 2004).

In der Gesundheitsförderung ging der DOSB mit der Vorlage einer gesundheitspolitischen Konzeption (1995) erste Schritte zur konzeptionellen Verankerung von Qualitätssicherung im Sport. Gesundheit und Sport wurden zu zentralen Zukunftsaufgaben der Sportvereine erklärt. Zu nennen sind hier im Gesundheitssport z. B. das Siegel »Sport pro Fitness« oder das Siegel »Sport pro Gesundheit«, die eine Qualitätssicherung der Angebote und eine Anerkennung durch die Krankenkassen sicherstellen (DOSB, 2010; 2015). Mittlerweile ist das Thema Gesundheitsförderung im Sportverein durch Gesundheitssportangebote, Qualifizierung der Trainerinnen und Trainer, die Festlegung von Qualitätsmaßstäben oder die Kooperation mit Krankenkassen weiter vorangetrieben worden.

Im Bildungssektor kann die gesellschaftliche Bedeutung des organisierten Sports u. a. anhand der Zusammenarbeit mit Schulen und Kitas belegt werden ( Kap. 2.3.2). Hierbei bilden Sportvereine ein wichtiges Strukturelement für die sozialräumliche Vernetzung, zu nennen sind hier z. B. die gemeinnützige Kindergarten Träger-Gesellschaft KIB gGmbH (Kinder in Bewegung) des LSB und der SJ Berlin oder Landesprogramme zur Kooperation von Schulen & Vereinen.

Konkrete Bildungsangebote unterbreiten die Bildungsstätten der Sportjugenden. Sie bieten zum einen z. B. Seminare für Schulkassen zu jugendpolitischen Themen oder Sozialkompetenztrainings, zum anderen fungieren sie als Aus- und Fortbildungszentren für die Jugendarbeit im Sport (DSJ, 2018). Die Initiative »Lernort Stadion« führt politische Bildung an Lernzentren in Fußballstadien durch (Lernort Stadion e. V., 2017).

Im Bereich der Integration und Inklusion stellt der organisierte Sport Angebote für diverse Zielgruppen bereit. Zu nennen sind hier u. a. das Bundesprogramm »Integration durch Sport«, Initiativen zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit im Sport oder Programme im Rahmen von Inklusion für eine gleichwertige Teilnahme und Teilhabe von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen (DOSB, 2019). Dem Thema Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Sport widmen sich speziell ausgearbeitete Programme (DSJ, 2019). Zum anderen leistet die Fanarbeit hier gezielt Präventionsarbeit (KOS, 2019) ( Kap. 4.2.4). Zur Prävention von sexualisierter Gewalt im Sport haben die DSJ und die Landessportjugenden Handlungsleitfäden und Qualifizierungsangebote für ihre Mitgliedsorganisationen entwickelt (DSJ, 2019).

Gleichzeitig weisen unterschiedliche Positionen auf eine soziale Ungleichheit im Sport hin, die trotz zahlreicher Bemühungen der Vereine weiterhin bestehen (u. a. Cachay & Hartmann-Tews, 1998; Haut, i. E.; Nagel, 2003) ( Kap. 3.3.2).

Es existiert eine Vielzahl an sozialen Initiativen des organisierten Sports im Kinder- und Jugendbereich. Einen Überblick dazu liefert die Projektdatenbank der DSJ (www.jugendprojekte-im-sport.de/), die aus dem Fachforum »Soziale Offensive im Jugendsport. Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten« (Rittner & Breuer, 1999) entstanden ist. Diese Projektdatenbank wurde für den Zweiten und Dritten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht ausgewertet. Demnach werden 260 sportliche Projekte für den Zeitraum zwischen 2002 und 2015 vorwiegend in den Themenfeldern Integration, Zusammenarbeit mit Schule, Gewaltprävention, Ehrenamt und Partizipation angegeben (Derecik & Züchner, 2015, S. 228). Diese sozialen Initiativen im Jugendsport stellen eine Schnittstelle zwischen Sport und Sozialarbeit dar. Akzeptanz, Anschlussfähigkeit und Synergien in der interdisziplinären Zusammenarbeit führten dazu, dass sich einige Projekte über die Jahre fest etablieren konnten, z. B. Projekte des Landessportbunds NRW oder der Sportjugend Berlin (Prenner, 2008, S. 34). In Berlin hat sich aus der Zusammenarbeit des organisierten Sports mit der Gesellschaft für Sport und Jugendsozialarbeit gGmbH (GSJ) ein eigenständiger Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe entwickelt, der in enger Zusammenarbeit mit der Sportjugend Berlin flächendeckende Angebote der sportorientierten Jugendsozialarbeit, u. a. schulbezogene Jugendsozialarbeit, offene Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung oder KICK-Projekte zur Gewaltprävention, bietet.

Ob die gesellschaftliche Funktion des organisierten Sports in der Vereinswirklichkeit tatsächlich erfüllt wird, lässt sich auf der Grundlage der derzeitigen empirischen Datenlage nur unzureichend beantworten (Rittner & Breuer, 2004).

Einigkeit herrscht darüber, dass Sportvereine in Deutschland weit mehr Menschen integrieren als vergleichbare Freiwilligen-Vereinigungen (ebd., 35). Dies ist v. a. für den Kinder- und Jugendbereich in diversen Studien belegt (u. a. Gerlach & Brettschneider, 2013; Züchner, 2016). Der höchste Organisationsgrad von Kindern und Jugendlichen im Sportverein ist in der Altersgruppe 7 bis 14 Jahren zu erkennen. Hier weisen laut der Mitgliedererhebung des DOSB 2018 ca. 80 % der Jungen und 60 % der Mädchen eine Vereinsmitgliedschaft auf, in der Altersgruppe der 15- bis 18-Jährigen sind ca. 65 % der Jungen und knapp die Hälfte der Mädchen Mitglied in einem Sportverein (DOSB, 2018a). Laut Gerlach & Brettschneider (2013, S. 150) sind Sportvereine »unangefochten die ›Nr. 1‹ unter den Kinder- und Jugendorganisationen […] keine andere Organisationsform (kann) auf eine derartige Partizipationsrate verweisen.« Mehr als in anderen Verbänden ermöglicht Sport auch die Begegnung junger Menschen über verschiedene soziale Schichten und Milieus hinweg, wobei es sportartspezifische Differenzen gibt und z. B. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Gesamtbetrachtung noch immer unterrepräsentiert sind (Picot, 2011, 23).