Eine Gräfin im Norden: Unheimlicher Thriller
von Jonas Herlin
Gibt es eine Liebe über den Tod hinaus? Die Hamburger Reporter
Sandra Düpree und Tom Broland bekommen es mit einem seltsamen Fall
zu tun und werden durch unbegreifliche Kräfte in eine andere Welt
versetzt, weit vor der aktuellen Zeit. Hier treffen die beiden auf
die Gräfin Maria, die nichts anderes will, als ihre unerfüllte
Liebe auf ewig an sich zu binden.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
Jonas Herlin ist ein Pseudonym von Alfred Bekker.
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
Tom Broland nahm seinen Platz in der Hamburger Oper ein, als
er angesprochen wurde.
“Dass Sie hier sind, Herr Broland!”
“Guten Tag, Herr Quandt”, sagte Tom Broland.
“Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für Opern
interessieren!”
“Das tue ich auch eigentlich gar nicht.”
“Und dann sind Sie trotzdem hier?”
“Beruflich.”
“Sie sind doch jetzt bei den HAMBURG EXPRESS
NACHRICHTEN.”
“Das stimmt”, bestätigte Tom Broland.
“Das ist doch mehr ein… Boulevard-Blatt. Ich wusste gar nicht,
dass man sich da für eine Opernuraufführung interessiert.”
“Wenn sie in Hamburg stattfindet schon,. Wir sind ja
schließlich auch eine Lokalzeitung.”
“Und dann schicken die jemanden, der sich gar nicht dafür
interessiert?”
“Ich bin gewissermaßen vertretungsweise hier. Der, der das
eigentlich machen sollte, ist krank geworden. Da bin ich
eingesprungen.”
“Eigentlich schade, dass Sie unsere Zeitungsgruppe verlassen
haben, Herr Broland.”
“Ich fühle mich wohl hier in Hamburg.”
“Und man könnte Sie nicht überreden, wieder
zurückzukehren?”
Tom Broland lächelte zurückhaltend. Dann schüttelte er den
Kopf.
“Nein, ich glaube nicht”, sagte er.
“Wir könnten über das Gehalt reden.”
“Es liegt nicht am Gehalt.”
“Haben Sie… hier jemanden kennengelernt? Private Wurzeln
geschlagen? Das ist natürlich indiskret, sowas zu fragen.
Entschuldigen Sie. Es interessierte mich eben.”
“Sagen wir so: Ich bin gerade dabei, Wurzeln zu
schlagen.”
“Ich verstehe.”
“Und wie ich schon sagte: Ich möchte vorerst in Hamburg
bleiben.”
“Sollten Sie es sich mal anders überlegen, dann wissen Sie ja,
dass Sie bei mirb immer ein offenes Ohr finden.”
“Natürlich, Herr Quandt.”
Die Instrumente wurden gestimmt.
“Gleich wird man uns in eine andere Welt versetzen, Herr
Broland. Das hoffe ich zumindest. Hängt natürlich davon ab, ob die
Inszenierung etwas taugt.”
“Sicher.”
Die Overtüre begann.
Und dann hob sich der Vorhang.
Eine andere Welt…
Nein, dachte Tom Broland.
Nicht wirklich!
*
Grau und moosbewachsen erhoben sich die düsteren Mauern des
verwinkelten Schlosses. Die Türme ragten spitz in den Nachthimmel
und hoben sich gegen den Vollmond ab, dessen fahles Licht dem
Schloss die Aura unvorstellbaren Alters zu verleihen schien.
Schwarze Wolken zogen wie drohende Ungeheuer von Osten heran. Graue
Nebel krochen wie gestaltlose böse Geister über den Boden und
umlagerten die grauen Mauern wie Spinnweben.
Das Licht des Mondes spiegelte sich in dem dunklen, modrigen
Teich, der sich vor dem Schloss befand. Eine junge Frau stand dicht
an der kniehohen Ummauerung, die den Teich begrenzte, und blickte
auf die spiegelglatte Wasseroberfläche. Ihr eigenes, totenbleiches
Gesicht blickte ihr entgegen. Ihre Augen vermittelten den Eindruck
tiefer Melancholie. Das blonde Haar fiel ihr auf die schmalen
Schultern, die von dem fließenden Stoff ihres dunkelroten Kleides
bedeckt waren. Sie atmete tief durch. Ihr Blick bekam dabei etwas
Schmerzvoll-Sehnsüchtiges.
„Tom“, flüsterte sie. „Geliebter.“ Sie schluckte und eine
Träne rann ihr über das fast weiße Gesicht. Und in Gedanken fügte
sie hinzu: Wo mag deine Seele jetzt sein?
Nichts geht verloren, auch durch den Tod nicht. Davon bin ich
überzeugt … Aber wir wurden durch ein grausames Schicksal getrennt!
Getrennt durch die Abgründe von Raum und Zeit … Die junge Frau
ballte die Fäuste. Sie schloss die Augen, während ihre Tränen die
Wangen hinunterliefen.
Erinnerungen stiegen in ihr auf.
Das Gesicht eines Mannes erschien vor ihrem inneren Auge.
Dunkles Haar umrahmte seine sympathischen Züge. Der Blick seiner
grüngrauen Augen ging ihr durch und durch.
„Ich liebe dich, Tom“, flüsterte sie. Sie glaubte beinahe
körperlich zu spüren, wie seine Hände die ihren berührten. Ein
wohliger, warmer Schauer überlief ihren Rücken. Eine Empfindung,
die so völlig im Gegensatz zur düsteren, kalten Umgebung
stand.
Ich rufe dich!, ging es ihr durch den Kopf. Wo immer du auch
sein magst, ich rufe dich … deine Seele!
Einen Augenblick lang stand sie mit geschlossenen Augen da.
Und im Geist hörte sie Tom ihren Namen flüstern.
„Maria.“
Es klang wie Musik in ihren Ohren. Sein dunkles Timbre
verzauberte sie.
Für einen Moment verlor sie sich in diesen Empfindungen,
verlor sich in dem Gefühl der tiefen Liebe, die sie empfand. Bis
langsam aber sicher wieder die düstere Erkenntnis in ihr aufstieg,
dass das alles nichts weiter als eine Illusion war. Eine
Vorspiegelung ihres Geistes. Sie war allein, so schrecklich allein
…
Oh, Tom …
Einsamkeit.
Ein schreckliches Gefühl, das sie in einer großen dunklen Woge
zu überschwemmen und mit sich zu reißen drohte. Sie
fröstelte.
Auf der bleichen, zarten Haut ihrer Unterarme fror sie
jetzt.
Sie öffnete die Augen, blickte ihr eigenes Spiegelbild in dem
düsteren, modrigen Teich an und sah dann zu den uralten Mauern des
Schlosses hinüber.
Burg Lürsen, der uralte Stammsitz ihrer Familie, die einst als
sächsische Grafen mit Wilhelm von Augustusburg an die Küste
gekommen waren.
Ein verfluchtes Gemäuer, dachte sie. Ein verfluchter Ort! Mehr
und mehr zog sich nun die dunkle Wolkendecke über den Himmel. Der
Mond verschwand jetzt phasenweise dahinter. Ein kühler Wind kam auf
und strich eisig über das Land. Die glatte Wasseroberfläche auf dem
Teich kräuselte sich leicht, und das Spiegelbild wurde
zerstört.
Modergeruch trug der Wind an ihre Nase.
Der Geruch des Alters und des Verfalls.
Des Todes!, dachte sie schaudernd.
Und das Grauen legte sich wie eine eiserne Hand um ihr Herz.
Eine Hand, die unerbittlich und fest zudrückte. Das Atmen fiel ihr
schwer.
Irgendwo in der Ferne leuchtete etwas grell in den dunklen
Wolkengebirgen auf.
Ein Blitz.
Es schien, als ob sich nun ein Gewitter ankündigte. Das dumpfe
Grollen des Donners bestätigte diese Vermutung. Und während sie die
ersten Regentropfen auf der totenbleichen Haut spürte, sah sie
andere Bilder vor ihrem inneren Auge. Es waren ebenfalls
Erinnerungen.
Keine Szenen des Glücks und der Liebe.
Nein, Augenblicke des blanken Schreckens!
Eine dunkle Kapuze hatte man ihr über den Kopf gezogen. Hände
hatten sie wie in einem Schraubstock gepackt. Sie war
gefesselt.
Sie glaubte, noch einmal zu spüren, wie der Henker ihr den
groben Strick um den Hals legte, hörte die Worte des Priesters, die
ihre verdammte Seele ins Jenseits begleiten sollten und das
schreckliche, harte Geräusch, als der Galgen betätigt wurde.
Wie eine Puppe hing sie im Wind, schwang hin und her …
„Nein!“, schrie Maria in die Nacht hinein. Sie fuhr sich mit
den Händen über das blasse Gesicht, so als hätte sie sich davon
überzeugen müssen, dass sie noch existierte. Sie raufte sich das
schulterlange, blonde Haar, während ihre Augen weit aufgerissen
waren. Eine Mischung aus Wahnsinn und Schrecken leuchtete aus
ihnen.
„Nein!“, schrie sie und versuchte verzweifelt , die grausamen
Bilder aus ihrer Erinnerung abzuschütteln. Sie schluckte, berührte
tastend ihren Hals.
Mein Gott!
Sie glaubte, den Abdruck des groben Hanfseils auf ihrer Haut
zu spüren.
Der Puls schlug ihr bis zum Hals.
Sie fühlte, dass sie am Abgrund stand. An einem Abgrund des
Wahns, der wie ein großer finsterer Schlund vor ihr gähnte. Der
Regen wurde stärker.
Dicke Tropfen benetzten ihre weiße Haut und die Haare. Sie
umrundete den Teich, raffte ihr langes Kleid zusammen und lief auf
die grauen Mauern von Burg Lürsen zu. Aber sie lief nicht auf das
eindrucksvolle Portal des Schlosses zu, sondern hielt mitten in
ihrem Weg an, und wandte sich dann nach links.
Sie zitterte.
Etwas bewegte sich dort, zwischen den Büschen. Etwas Dunkles,
das nur als bloßer Schemen zu sehen war. Sie hörte Schritte.
Vielleicht ein Tier …
„Gräfin Maria!“, rief dann eine heisere Stimme durch die
Nacht. Sie kam vom Portal her.
Ein grauhaariger Butler stieg die steinernen Stufen hinab, auf
denen sich das Moos bereits heimisch zu fühlen begann. Der Butler
trug einen Schirm in der Linken.
„Gräfin Maria, kommen Sie! Sie werden sich den Tod
holen!“
Inzwischen prasselte der Regen nur so herab.
Aber Maria schien das nicht zu kümmern.
Wie entrückt stand sie da, fast wie zur Salzsäule
erstarrt.
Und ihre bleichen Lippen murmelten immer wieder einen
Namen.
„Tom!“
2
Ich erwachte schweißnass mitten in der Nacht. Wirre Träume
hatten mich in meinen Kissen hin und her wälzen lassen. Ich hatte
einfach keine Ruhe gefunden, so sehr ich es auch versucht
hatte.
Und als ich dann schließlich doch eingeschlafen war, hatten
sich vor meinem inneren Auge Szenen entfaltet, die mir den kalten
Angstschweiß auf die Stirn trieben. Bilder von unglaublicher
Intensität, die mir mindestens so real erschienen wie der Mond, der
wie ein großes Oval am Himmel stand. Von meinem Bett aus konnte ich
ihn durch das Fenster scheinen sehen.
Er wirkte wie das große, kalte Auge eines Riesen, der mich aus
großer Ferne musterte.
Der Puls schlug mir bis zum Hals.
Das Nachthemd klebte an meinen Schultern. Schwer atmend schlug
ich die Bettdecke zur Seite. Langsam begriff ich, dass das, was ich
gesehen hatte, nichts weiter als ein Traum gewesen war.
Ich trat zum Fenster, öffnete es und einen Augenblick später
wehte der kühle Hauch der Nacht von draußen herein. Das brachte
mich wieder etwas zur Besinnung.
Ein Gesicht erschien vor meinem inneren Auge. Jenes Gesicht,
das ich in meinem Traum immer wieder vor mir gesehen hatte.
Ich konnte nicht genau sagen, was mich an diesem Gesicht so
sehr geängstigt hatte. Dieses Gefühl namenloser Furcht war einfach
da. Und war mit diesem Gesicht verbunden. Es handelte sich um das
totenbleiche Antlitz einer Frau. Ihre Züge waren feingeschnitten
und wirkten wie aus Elfenbein modelliert. Eine hübsche Frau, ohne
Zweifel. Aber so …
… tot!
Mich schauderte bei dem Gedanken an sie.
Wie eine kalte, glitschige Hand kroch dieses Gefühl meinen
Rücken empor. Gänsehaut überzog meine Unterarme. Hast du dieses
Gesicht schon einmal gesehen?, ging es mir durch den Kopf. Ich
zermarterte mir förmlich das Hirn über diese Frage. Nein, dachte
ich. Aber ich war mir nicht hundertprozentig sicher.
Dieses blasse Gesicht war die einzige Erinnerung, die mir aus
meinem Albtraum geblieben war. Alles andere war nicht mehr als ein
Konglomerat aus düsteren Farben, leckenden Schatten, Mondlicht und
einem finsteren Gemäuer. Ein Detail war da allerdings noch …
Der Strick!
Wie eine Galgenschlinge hatte er um ihren Hals gelegen. Warum
hat dich dieser Traum so aufgewühlt?, fragte ich mich. Ich sah
keinen wirklichen Grund dafür. Und doch schlug mein Herz wie wild.
Selbst jetzt, da der kühle Hauch dieser winddurchtosten Nacht
eigentlich alle Traumgespenster hätte verscheuchen müssen.
Ich brauchte nur die Augen zu schließen.
Dann stand es wieder vor mir, dieses bleiche Gesicht einer
elfenbeinhäutigen Frau, die mir wie ein Bote des Todes
erschien.
Schon im ersten Moment, nachdem ich erwacht war, hatte ich
gewusst, dass es sich um einen jener Träume handelte, die meine
leichte übersinnliche Gabe mir sandte. Eine Gabe, mit deren Hilfe
ich schlaglichtartig in Träumen, Tagträumen und Ahnungen die
Abgründe von Raum und Zeit überwinden konnte. Diese Frau wird in
deinem Schicksal irgendwann in nächster Zeit eine Rolle zu spielen
beginnen!, wurde es mir klar. Und ich wagte kaum daran zu denken,
welche Bedeutung vielleicht hinter den Bildern verborgen lag, die
mir im Traum vorgegaukelt worden waren.
3
Später setzte ich mich in einen der klobigen Sessel in meinem
Schlafzimmer und schlief ein. Wie ein Stein. Es war der Schlaf der
Erschöpfung. Am Morgen erwachte ich trotzdem früh. Eine innere
Unruhe hatte mich geweckt. An weitere Träume konnte ich mich nicht
erinnern.
Nur an diesen einen …
Ich zog mich an und fühlte mich seltsam benommen. Das Gesicht
dieser Frau ging mir nicht aus dem Sinn. Aber sobald ich in der
Redaktion der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN angekommen war, würden
mich die Hektik und der Stress, die mein Job als Reporterin bei
diesem großen Hamburger Boulevardblatt mitbrachte, schon zur genüge
ablenken.
Ich ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss von Tante
Elisabeths Villa, in der ich die obere Etage bewohnte. Tante
Elisabeth hieß eigentlich Elisabeth Düpree und war meine Großtante.
Nachdem ich schon früh meine Eltern verlor, zog sie mich wie eine
eigene Tochter auf.
Seit dem Tod meiner Eltern wohnte ich hier, in dieser
verwinkelten und etwas unheimlich wirkenden viktorianischen Villa,
deren größter Teil von Tante Elisabeths berühmtem
Okkultismus-Archiv eingenommen wurde.
Tante Elisabeth war bereits auf den Beinen.
Sie brauchte nicht viel Schlaf, und es kam durchaus vor, dass
sie ganze Nächte in der Bibliothek verbrachte und in alten,
okkulten Schriften forschte.
Ich traf sie in der Küche, wo sie den Tee auf ihre
unverwechselbare Weise zubereitete. Das war ein Ritual, an dem
nicht das Geringste geändert werden durfte.
„Hallo, Sandra“, begrüßte sie mich lächelnd. Dann zog sie die
Augenbrauen empor. „Du siehst nicht gerade besonders frisch
aus.“
„So fühle ich mich auch nicht.“
„Schlecht geschlafen?“
Ich nickte.
„Kann man wohl sagen.“
Ich nahm die volle Teekanne und ging damit zum Tisch, den
Tante Elisabeth bereits für das Frühstück gedeckt hatte. Wir
setzten uns, und sie sandte mir einen sehr ernsten Blick zu.
„Ein Traum?“, fragte sie.
„Ja“, nickte ich.
Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Tante Elisabeth wusste nur
zu gut über meine Gabe Bescheid. Sie war es gewesen, die mich einst
als erste darauf aufmerksam gemacht hatte.
„Willst du mir erzählen, was du gesehen hast, Sandra?“
„Das Gesicht einer Frau.“
„Kennst du sie?“
„Ich glaube nicht. Aber hundertprozentig sicher bin ich mir
auch nicht. Die Frau war sehr bleich. Wie eine Tote beinahe. Sie
hatte blondes Haar und eine Henkerschlinge um den Hals.“
„Gibt es sonst noch irgendwelche Einzelheiten, an die du dich
erinnerst?“
„Nein.“ Ich zuckte die Achseln. „Aber ich werde dieses Gesicht
einfach nicht mehr los … Es scheint mich zu verfolgen. Ich brauche
nur die Augen zu schließen und sehe es wieder vor mir. Es wirkt so
real.“
„Was empfindest du dabei?“, fragte Tante Elisabeth, während
sie den Tee einschüttete.
„Bedrohung“, sagte ich spontan. „Und dann dieser Strick um
ihren Hals.“ Ich musste unwillkürlich schlucken. „Was auch immer er
bedeuten mag, es kann kaum etwas Gutes sein. Weder, wenn man ihn
symbolisch versteht, noch wenn diese Szene tatsächlich eintreten
sollte.“
„Du musst wachsam sein und alles um dich herum aufmerksam
beobachten“, riet mir Tante Elisabeth. Sie nahm dabei meine Hand.
„Dieser Traum hat zweifellos eine Bedeutung, aber im Moment ist es
nicht mehr als ein Schlaglicht … Es fehlt der Zusammenhang.“
„Ja.“ Ein Gefühl der Kälte erfasste mein Inneres. Unbehagen
hatte sich in mir ausgebreitet. Etwas wird geschehen, dachte ich.
Schon sehr bald!
Es hatte keinen Sinn, solch düstere Ahnungen einfach
verscheuchen zu wollen oder sie zu ignorieren. Das hatte ich früher
versucht, als ich meine Gabe noch nicht als Teil meiner selbst
akzeptiert hatte. Ich musste mich dem stellen, was auf mich zukam.
Es gab keine andere Möglichkeit.
4
In der Redaktion der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN herrschte die
übliche Hektik. Ich traf mit leichter Verspätung ein, wofür mein
kirschroter Oldtimer-Mercedes verantwortlich war. Er hatte sich
gehörig Zeit gelassen, bis endlich der Motor angesprungen
war.
Ich hoffte nicht, dass das gute Stück – ein Geschenk von Tante
Elisabeth – jetzt langsam seine Mucken bekam. Ich betrat mit
schnellem Schritt das Großraumbüro unserer Redaktion, das beinahe
eine ganze Etage im Verlagsgebäude einnahm. Ziemlich direkt hielt
ich auf meinen Schreibtisch zu, hängte die Handtasche über den
Sessel des Drehstuhls und schaltete das Computerterminal ein. Dann
atmete ich tief durch, nahm mir eine Tasse des dünnen
Redaktionskaffees und wartete, bis das Logo unserer EDV auf dem
Computerschirm erschien.
Unser Chefredakteur Michael T. Schwanemeier hatte als einziger
ein Extra-Büro. Ich sah aus den Augenwinkeln heraus, wie sich dort
gerade die Tür öffnete. Aber nicht unser allgewaltiger Chef trat
mit den gewohnt hochgekrempelten Hemdsärmeln heraus, sondern mein
Kollege Jim Rönckendorff.
Jim war wie ich 26 Jahre alt und galt als der Starfotograf der
HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN. Sein blondes Haar war wie gewöhnlich
ungebändigt und stand wirr herum, nachdem er sich mit der Hand
hindurchgefahren war. Sein Jackett war knitterig, das Revers von
den Riemen der Kamerataschen völlig ruiniert. Und seine Jeans
wirkte wie ein Museumsstück für Woodstock-Veteranen.
Jims Kopf war hochrot.
Eigentlich war er ein stets gutgelaunter und zu witzigen
Bemerkungen aufgelegter Mann. Aber in diesem Moment stand ihm der
Ärger ins Gesicht geschrieben.
„Glauben Sie vielleicht, die NACHRICHTEN ist das einzige
Blatt, das Bilder druckt?“, rief er empört in das Büro hinein, so
dass man es bis zu meinem Schreibtisch hören konnte. Der
Geräuschpegel im Großraumbüro legte sich etwas. Das Stimmengewirr
wurde leiser.
Schwanemeiers Erwiderung war nicht zu verstehen.
Jim machte eine wegwerfende Handbewegung.
Und dann ging er davon.
Direkt auf meinem Schreibtisch zu.
Die Tür zu Schwanemeiers Büro wurde von innen ziemlich unsanft
geschlossen.
Als Jim mich sah, stoppte er mitten in der Bewegung. Dann
zwang er sich zu einem Lächeln.
„Hallo, Sandra!“
„Was ist denn los, Jim?“
Jim verdrehte die Augen. „Du kennst Schwanemeier doch.“
„Sicher.“
„Er regt sich auf, nur weil er die Bilder ein bisschen später
auf dem Tisch liegen hatte. Mein Gott, was gut werden will, muss
manchmal auch die nötige Zeit dazu haben! Aber für Schwanemeier
zählt die Minute. Als ob es um den Untergang der HAMBURG EXPRESS
NACHRICHTEN oder gar des Abendlandes ginge!“ Er atmete tief durch.
Dann ging er an die Kaffeemaschine.
„Vielleicht genehmige ich mir auch mal einen Becher von dem
Gebräu!“
„Aufgeregt hast du dich ja auch genug!“
„Na ja.“
„Wenn du mich fragst, brauchst du eher einen Beruhigungstee.
Earl Grey, lang durchgezogen.“
Jim schüttelte den Kopf. „Darauf werde ich nie umsteigen“,
meinte er. „Ist mir zu spießig. Außerdem …“
Ich sah ihn an.
„Was?“
„Man muss zu oft auf die Toilette. Und du weißt ja, als
Pressefotograph hat man ja sowieso schon häufig genug das Pech,
dass die wirklich wichtigen Dinge immer dann passieren, wenn man
den Finger nicht am Auslöser hat.“ Wir lachten beide.
Jim schien bei allem Ärger über Michael T. Schwanemeier seinen
Humor wiedergefunden zu haben.
Dann deutete er in Richtung von Schwanemeiers Bürotür.
„Trotzdem“, meinte er. „Ich frage mich, ob ich mir so etwas
bieten lassen muss!“
„Du kennst Schwanemeier doch. Er wird sich beruhigen – und du
dich auch!“
„Vermutlich hast du recht, Sandra! Bist du eigentlich so
vernünftig auf die Welt gekommen oder hat sich das erst später
entwickelt?“
„Na, hör mal!“
Er grinste.
„War ja nur ‘ne Frage“, lachte er dann. Er sah auf die Uhr.
„Ich muss jetzt los. Eine Standpauke von Schwanemeier reicht mir am
Tag!“
Er wollte gehen, aber ich hielt ihn noch einen Moment
zurück.
„Jim.“
„Ja?“
„Hast du Tom heute morgen schon gesehen?“
„Ja. Aber du bist heute ein bisschen spät dran. Er ist schon
unterwegs.“
„Schade.“
Jim grinste breit. „Na, ich denke, ihr seht euch doch oft
genug. Außerhalb der Bürozeiten in der Redaktion
wohlgemerkt!“
Ich lächelte milde und hob die Augenbrauen.
„Hast du noch nichts davon gehört, dass wir neuerdings
sechsundzwanzig Stunden täglich in der Redaktion anwesend sein
müssen? Da wird die Zeit schon mal ziemlich knapp, um sich
anschließend noch zu treffen!“
Jim zwinkerte mir zu. Das war ein Spaß nach seinem
Geschmack.
„Fragt sich, ob das eine neue Sparmaßnahme des Verlages ist
oder Herr Schwanemeier sich nachts allein in diesem großen Haus
fürchtet.“
Wir bemühten uns beide, so dezent zu lachen, dass man es nicht
bis in Herr Schwanemeiers Büro hören konnte. Die Milchglasscheibe
in der Bürotür war nämlich nicht gerade das, was man heutzutage
unter einer guten Schallisolierung verstand.
5
Ich verbrachte die nächsten anderthalb Stunden damit,
Routinearbeiten zu erledigen. Unter anderem bearbeitete ich
verschiedene Pressemeldungen so, dass daraus Artikel für unsere
Zeitung wurden, gestaltete Überschriften und Unterzeilen zu den
Bildern.
Ich war dermaßen konzentriert, dass ich für eine Weile alles
andere vergaß.
Selbst das leichenblasse Gesicht der jungen Frau, der man
einen Strick um den Hals gelegt hatte.
Meine Finger glitten über die Computertastatur, und ich schrak
zusammen, als plötzlich der Griff zweier Hände meine Schultern
erfasste.
„Hallo, Sandra“, begrüßte mich eine Stimme mit
unverwechselbarem, dunklen Timbre. Eine Stimme, deren Klang mir
durch und durch ging und mir einen wohligen Schauder über den
Rücken trieb.
Ich drehte mich herum.
„Tom“, flüsterte ich und sah in ein paar grüngrauer Augen. Tom
Broland – ehemals Korrespondent für eine große Nachrichtenagentur –
war seit einiger Zeit genau wie ich als Reporter für die HAMBURG
EXPRESS NACHRICHTEN tätig, und inzwischen hatte ich mich
unsterblich in diesen gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann
verliebt.
Unsere Lippen trafen sich zu einem kurzen Kuss.
„Ich hoffe, du hast mich auch richtig vermisst“, raunte er mir
zu.
„Du hast ja keine Ahnung, wie sehr“, erwiderte ich und strich
ihm leicht über das Kinn. „Bist du wenigstens einer interessanten
Story auf der Spur?“
Tom machte eine wegwerfende Geste.
„Ich war im Justizzentrum. Wegen einer Gerichtsreportage.
Leider ist man über die Personalien des Angeklagten nicht
hinweggekommen. Die Verhandlung ist vertagt worden, und ich frage
mich jetzt, wie ich aus der ganzen Sache noch einen Artikel
mache.“
Ich erhob mich aus meinem Drehstuhl. Tom fasste mich am
Oberarm und half mir auf. Unsere Blicke verschmolzen miteinander.
Ich wünschte mir in diesem Moment, allein mit ihm zu sein. Nur wir
beide, seine Arme um meine Schultern, unsere Körper so nah, dass
jeder den Herzschlag des anderen spüren konnte …
Aber wir befanden uns leider an einer der unromantischsten
Örtlichkeiten in ganz Hamburg: dem Redaktionsbüro der HAMBURG
EXPRESS NACHRICHTEN.
Tom strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus
meiner Frisur herausgestohlen hatte.
„Leider werde ich den Rest des Tages wohl mehr oder weniger in
den Katakomben verbringen müssen.“ Mit den Katakomben meinte er das
Archiv unseres Verlages, das sich im Keller befand.
„Was ist mit heute Abend?“
Er lächelte.
„Das geht in Ordnung.“
„Ich freue mich drauf!“
„Ich mich auch.“
„Um acht Uhr hole ich dich zu Hause ab, okay?“
„Ja.“
„Gehen wir nach dem Kino noch essen?“
„Aber zur Abwechslung mal nicht italienisch.“ Tom lachte. Er
hatte eine Vorliebe für italienisches Essen, die ich normalerweise
auch durchaus teilte. Und so waren wir vorwiegend in eines der
zahlreichen italienischen Restaurants gegangen, die es in Hamburg
gab. „Okay“, sagte er sanft.
„Weißt du, ich kann einfach für eine Weile keine Pasta mehr
sehen“, erwiderte ich. „Genug ist einfach genug!“
„Bis nachher!“
Er küsste mich zärtlich auf die Wange. Und dann sah ich ihm
nach, wie er sich in Richtung der Tür bewegte, um auf den Flur und
dann in den Aufzug zu gelangen. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch
und fragte mich, ob dieses intensive Gefühl wohl irgendwann
nachlassen oder sich ewig erhalten würde. Ein toller Mann, dachte
ich. Und sein Herz gehörte mir. Ich würde es so schnell nicht
loslassen.
6
Es war ein gewöhnlicher Tag in der Redaktion, an dem nichts
Besonderes mehr geschah.
Oder vielleicht doch.
Ich bekam nämlich ein dickes Lob von Michael T. Schwanemeier,
der sich eine Reportage von mir vorgenommen und eigenhändig
redigiert hatte. Und mit Lob ist Schwanemeier nicht sehr
verschwenderisch. Vielleicht wollte er mich aber auch darüber
hinwegtrösten, dass er meine Reportage auf die Hälfte
zusammengestrichen hatte, weil plötzlich ein wichtiger
Anzeigenkunde mit einem Großauftrag gekommen war. Es hatte leicht
zu nieseln begonnen, als ich am frühen Abend das Verlagsgebäude
verließ.
Einen Schirm hatte ich nicht dabei, denn der Tag hatte sonnig
und warm begonnen. So blieb mir nichts anderes übrig, als den
Parkplatz so schnell wie möglich zu überqueren. Ich atmete tief
durch, hielt meine Handtasche fest und spurtete los. Dabei
versuchte ich, darauf zu achten, nicht gerade in eine Pfütze zu
treten. Aber es war schon zu spät. Ich fühlte, wie das Wasser in
meinen linken Turnschuh eindrang. Zu Hause würde ich mich ohnehin
für den Abend umziehen. Das war mein einziger Trost in dieser
Sekunde. Den kirschroten Mercedes 190 hatte ich am äußersten Rand
des Parkplatzes abgestellt. Da ich am Morgen ja etwas zu spät dran
gewesen war, hatte es einfach keine andere Möglichkeit mehr
gegeben. Und dabei hatte ich noch froh sein können, überhaupt eine
Parkmöglichkeit zu finden.
Ich spurtete die lange Reihe von Pkws entlang und hielt dann
kurz inne.
Der Regen wurde stärker. Das Haar klebte mir bereits am Kopf.
Graue Wolken hatten den Himmel wie ein schmutziges Tuch überzogen.
Es war verhältnismäßig dunkel geworden. So dunkel, dass die
Helligkeitsmelder der Straßenbeleuchtung reagierten. Die Laternen
leuchteten auf.
In einer Entfernung von gut fünfzig Metern sah ich eine
Gestalt.
Eine Frau.
Irgend etwas war an ihr, das meinen Blick unwillkürlich
fesselte.
Und gleichzeitig spürte ich jenes charakteristische Unbehagen,
das stets mit meinen Ahnungen einherging. Ich lief nicht weiter,
stand nur da und riss die Augen auf. Eine junge Frau mit blondem,
fast schulterlangem Haar und einem Gesicht, das hübsch und
feingeschnitten war. Aber bleich. So blass wie das Antlitz einer
Toten. Wie aus Elfenbein modelliert wirkte dieses Gesicht. Die
Erkenntnis traf mich wie ein Schlag vor den Kopf, dass ich niemand
anderen vor mir hatte als jene Frau, die ich Traum gesehen
hatte.
Ihr Kleid war fast knöchellang. Es war dunkelrot und reich
verziert. Es entsprach nicht dem, was derzeit modern war. Ich
glaubte zu erkennen, dass es aus schwerem Samt oder einem ähnlichen
Stoff gefertigt war. Ein Winterkleid, das überhaupt nicht in die
Jahreszeit passte.
Aber das schien die bleiche Frau nicht zu kümmern. Obwohl es
seit Einsetzen des Regens etwas abgekühlt hatte, war es noch immer
sommerlich warm. Viel zu warm für so ein Kleid.
Die bleiche Frau schien das ebenso wenig zur Kenntnis zu
nehmen wie den Regen, der auf sie niederprasselte und immer stärker
wurde.
„He, Sie!“, rief ich.
Sie schien mich nicht zu hören.
Ich kniff die Augen etwas zusammen.
Seltsam, dachte ich. Der Regen schien sie nicht zu berühren.
Die Haare hätten ihr genau wie mir längst tropfnass am Kopf kleben
müssen. Aber das war nicht der Fall. Ich fühlte, wie mir der Puls
bis zum Hals schlug. Ich winkte ihr zu.
Sie wandte den Kopf in meine Richtung. Ihr Blick schien
traurig, fast schmerzvoll zu sein.
Ein kalter Schauder ging mir über den Rücken. Eine Aura des
Todes schien sie zu umgeben. Ich lief los. Direkt in ihre Richtung.
Ich musste einfach wissen, wer sie war und was sie hier, vor dem
Gebäude der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN wollte. Es muss eine
Bedeutung haben, dass sie hier ist, durchfuhr es mich. Ich spürte
es. Ganz deutlich. Vor meinem inneren Auge war dann wieder jene
Traumsequenz präsent, in der ich sie mit dem Strick um den Hals
gesehen hatte.
Dem Strick des Henkers!
Ich lief immer schneller, weil ich das Gefühl hatte, dass sie
mir ansonsten entwischte. Wie ein Schatten, ein Geist, ein
flüchtiges Gas, das sich mit Händen nicht greifen lässt.
Ich rutschte aus, taumelte kurz, konnte mich aber auf den
Beinen halten. Eine Moment lang hatte ich zu Boden geblickt und die
bleiche Frau aus den Augen verloren.
Jetzt sah ich auf, ließ den Blick schweifen und … Wo ist sie?,
ging es mir durch den Kopf.
Panik stieg in mir auf.
Ich glaubte, mein Herz schlagen hören zu können. Hektisch ließ
ich den Blick umherschweifen, während im Hintergrund die Geräusche
des Hamburger Straßenverkehrs zu hören waren.
Sie ist weg!
Ich wollte es nicht wahrhaben, lief mit schnellen Schritten zu
jener Stelle, an der ich sie gerade noch gesehen hatte. Aber von
der bleichen Frau war nirgends etwas zu sehen. Keine Spur.
Vielleicht hast du nur geglaubt, sie zu sehen, ging es mir
durch den Kopf. Eine Halluzination, mehr nicht. Ich mochte nicht so
recht daran glauben. Durch meine übersinnliche Gabe hatte ich zwar
hin und wieder Visionen, aber im Allgemeinen wusste ich sehr genau
zwischen Vision und der Realität des Hier und Jetzt zu
unterscheiden. Ganz auszuschließen war diese Möglichkeit natürlich
nicht. Und dann war da noch ein anderer, schrecklicher Gedanke, der
langsam aber sicher an die Oberfläche meines Bewusstseins stieg,
obwohl ich ihn weiß Gott lieber unter der Oberfläche gehalten
hätte.
Was, wenn du die Kontrolle verlierst, Sandra?
Das Grauen erfasste mich und legte sich wie eine eisige Hand
um mein Herz. Das Gefühl von Enge und tödlicher Bedrohung machte
sich in mir breit. Ein Gefühl, als ob ich dem Ersticken nahe war.
Ich atmete tief durch.
Du wärst nicht die erste, die über eine außersinnliche
Begabung verfügt und daran zerbricht, rief ich mir ins
Gedächtnis.
In Tante Elisabeths Archiv fanden sich Dutzende von
Pressemeldungen und Berichte über derartige Fälle. Menschen, die
über besondere, parapsychische Begabungen verfügt hatten, dann in
die Fänge von Geheimdiensten oder okkulten Zirkeln geraten waren
und schließlich mehr oder minder wahnsinnig geworden waren.
Es war ein schmaler Grad, auf dem ich wandelte. Nicht erst
seit heute.
Aber zuvor war es mir meistens nicht so bewusst gewesen. Ich
blickte in den grauen Regen.
Meine Kleider klebten mir am Leib, und ich musste niesen. Es
hat keinen Sinn!, durchzuckte es mich. Ich gab mir einen Ruck,
drehte mich herum und ging in Richtung meines 190er Mercedes.
Und doch …
Wer war sie?
Diese Frage blieb.
Und während ich Schritt für Schritt vorwärts ging, hatte ich
das Gefühl, als würde ich im selben Moment beobachtet … Ich
glaubte, den Blick eines totenblassen Gesichts auf meinem Rücken
spüren zu können. Ich drehte mich herum, aber da war niemand zu
sehen.
Ein Unbehagen blieb!
Ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Und die Ahnung,
dass ich die bleiche Gräfin nicht zum letzten Mal gesehen
hatte.
7
Als ich zu Hause eintraf, stand ein Wagen in der Einfahrt von
Tante Elisabeths Villa. Es war der Lieferwagen eines
Schreinermeisters, und ich fragte mich, wofür Tante Elisabeth ihn
wohl bestellt haben mochte. Das Parkett in der Bibliothek sah nicht
mehr besonders gut aus, aber wenn es ausgewechselt werden sollte,
bedeutete das unter anderem auch, dass sämtliche Bücher in der
Zwischenzeit anderswo gelagert werden mussten. Und das konnte ich
mir nun beim besten Willen nicht vorstellen.
Erstens befanden sich in Tante Elisabeths Sammlung okkulter
Literatur so seltene und kostbare Lederfolianten, dass ich mir kaum
denken konnte, dass Tante Elisabeth sie etwa im Keller
zwischenlagern würde. Zumal sie einen Großteil dieser Bücher selbst
liebevoll restauriert hatte! Und zweitens füllte Tante Elisabeths
Sammlung so gut wie die ganze Villa aus und selbst im Keller wäre
kaum noch genügend Platz gewesen.
Meine okkultfreie Zone!, ging es mir dann siedend heiß durch
den Kopf.
Vielleicht hatte Tante Elisabeth daran gedacht, die Stapel von
staubigen Büchern in der Zwischenzeit in meinen Räumen zu
lagern!
Ich dachte mit Schrecken daran.
Der Staub würde mich vermutlich unablässig niesen lassen. Ich
ging zur Haustür, trat ein und ging den Flur entlang. Aus der
halboffenen Tür zur Bibliothek hörte ich die Stimmen von Tante
Elisabeth und einem Mann.