Stadt der Finsternis - Im Netz der Magie - Ilona Andrews - E-Book

Stadt der Finsternis - Im Netz der Magie E-Book

Ilona Andrews

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Beschreibung

Eine dunkle Gefahr lauert in den Wäldern

Gerade, als Kate und Curran sich in ihrem neuen Zuhause eingelebt haben, bekommen sie ein "Angebot", dass sie nicht ablehnen können. Eine mysteriöse Macht treibt im nahegelegenen Wald ihr Unwesen und hält eine gesamte Stadt als Geisel. Und der Tag, an dem wieder ein Opfer gefordert wird, rückt unaufhörlich näher.
Es ist genau die Art von Kampf, dem die Lennarts nicht widerstehen können. Wie könnten sie den Einwohnern, welche sonst dem sicheren Tod geweiht wären, nicht zur Hilfe eilen? Und sollte ihnen die Mission gelingen, wäre nicht nur eine ganze Stadt gerettet, Kate und Curran könnten auch einen neuen Grundstein für ihre Familie und das Wilmington-Rudel legen. Doch wenn sie scheitern, steht nicht nur ihr Leben auf dem Spiel. Kein Sieg kommt ohne seinen Preis. Nun muss Kate entscheiden, ob sie bereit ist, ihn zu bezahlen.

Eine neue spannende Novella aus der Welt von Kate Daniels (Stadt der Finsternis)

Teil 2 der WILMINGTON-YEARS-Reihe


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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Ilona Andrews bei LYX

Impressum

ILONA ANDREWS

Stadt der Finsternis

IM NETZ DER MAGIE

Ins Deutsche übertragen von Andreas Heckmann

Zu diesem Buch

Eine dunkle Gefahr lauert in den Wäldern.

Gerade, als Kate und Curran sich in ihrem neuen Zuhause eingelebt haben, bekommen sie ein »Angebot«, dass sie nicht ablehnen können. Eine mysteriöse Macht treibt im nahegelegenen Wald ihr Unwesen und hält eine gesamte Stadt als Geisel. Und der Tag, an dem wieder ein Opfer gefordert wird, rückt unaufhörlich näher.

Es ist genau die Art von Kampf, dem die Lennarts nicht widerstehen können. Wie könnten sie den Einwohnern, welche sonst dem sicheren Tod geweiht wären, nicht zur Hilfe eilen? Und sollte ihnen die Mission gelingen, wäre nicht nur eine ganze Stadt gerettet, Kate und Curran könnten auch einen neuen Grundstein für ihre Familie und das Wilmington-Rudel legen. Doch wenn sie scheitern, steht nicht nur ihr Leben auf dem Spiel. Kein Sieg kommt ohne seinen Preis. Nun muss Kate entscheiden, ob sie bereit ist, ihn zu bezahlen.

1

»Aber natürlich ist es explodiert, Kate.«

Es war ein herrlicher Vormittag im September. Ich saß am Strand, unter mir ein von einem angeschwemmten Baumstamm abgesägter Holzblock. Flammen loderten in der Feuergrube. Dahinter schlug der Atlantik sanft an die sandige Küste. Sein Wasser war ein dunkles Aquamarinblau, der Himmel leuchtete azur, und die Flammen flackerten rubinrot, gespeist aus Kräutern und Magie. Einen halben Meter über dem Boden verwandelte sich das Feuer in das Abbild meiner Tante.

Die Rose von Tigris verweilte auf einer Liege, deren Holzschnitzereien lebensecht wirkende Catalina-Mariposa-Lilien darstellten. Ihr weißes Kleid fiel kunstvoll drapiert über ihren groß gewachsenen Körper und betonte die warmen Goldtöne ihrer bronzefarbenen Haut. Wir ähnelten uns, doch alles an ihr war … üppiger. Ich war eins achtundsechzig, muskulös und kräftig, sie weit über eins neunzig, muskulöser und kräftiger. Unsere Gesichter ähnelten sich, aber ihre Augen waren dunkler, ihre Lippen voller, ihre Züge kühner. Ihr glänzendes braunes Haar fiel als Mähne über ihre Schulter, nur von einem goldenen Band gehalten. Sie sah aus wie ein lebendiges Gemälde, das aus den rubinroten Flammen erwachsen war, wie eine Kaiserin des Altertums in ruhender Pose.

Zwei Monate hatten wir nicht miteinander gesprochen. Sie war mit etwas beschäftigt gewesen, über das sie nicht reden durfte oder wollte. Nicht zum ersten Mal war sie von meinem Radar verschwunden. Einmal war sie neun Monate weg gewesen, und ihre Untergebenen hatten mir fadenscheinige Ausreden geliefert. Als wir doch wieder Verbindung bekamen, sagte sie mir, ich sei eine großartige Mutter. Zwar wusste ich das Kompliment zu schätzen, aber es kam aus dem Nichts.

Da wir endlich wieder miteinander sprachen, erschien mir die Gelegenheit günstig, die Sache mit dem explodierten Kopffüßer aufzuklären. Ich hatte unabsichtlich einen Kraken in die Luft gejagt. Das war … überraschend gewesen.

»Karsaran zielt auf den Bereich eines Lebewesens, der die höchste Konzentration an Magie enthält«, sagte Erra.

»Ja, bei Wirbeltieren sind das die Knochen. Wo es keine Knochen gibt, hat das Blut den höchsten Gehalt an Magie. Das weiß ich alles.«

»Wie lautet dann deine Frage?«

»Warum ist der Krake explodiert? Ich hatte erwartet, er werde auseinanderfallen, vielleicht zerreißen, aber er ist detoniert, als hätte er eine Landmine verschluckt, und es hat zehn Sekunden Krakenteile geregnet.«

Sie lachte leise.

Etwa fünfhundert Meter weiter draußen arbeitete sich ein Schwimmer zügig durch die Wellen längs der Küste.

»Große und mächtige Tante, bitte kläre mich Einfältige doch auf …«

»Er ist explodiert, weil du nicht übst. Sechs Jahre hast du dich ins häusliche Leben zurückgezogen. Oder sind es schon sieben?«

»Ich übe jeden Tag!« Das Trainieren der Kräfte, die mir im Blut lagen, gehörte zu meinem Fitnessprogramm.

»Aber du setzt diese Fähigkeiten nicht im Kampf ein. Du hast keine Ahnung, wie viel Kraft du in einen Befehl legen musst, damit ein Krake anmutig entlang seiner Blutgefäße reißt; also geht er in die Luft und regnet auf dich runter.«

»Und was schlägst du vor? Soll ich Kraken zur Strecke bringen, um richtiges Dosieren zu üben?«

»Genau!«

»Das erscheint mir grausam.«

Erra fixierte mich mit ihrem patentierten Uralte-Mächte-Blick, beugte sich vor und schlug gegen einen unsichtbar vor ihr schwebenden Ball.

»Gibst du mir gerade eine Kopfnuss?«

»Du spielst ein gefährliches Spiel. Seit Jahren drückst du dich vor dem, was du bist, erst in Atlanta, jetzt hier.«

»Du weißt, warum wir Atlanta verlassen haben«, sagte ich ruhig. Die Stadt hatte mich langsam erstickt. Ich hatte das Gefühl, dort nicht mehr atmen, Conlan dort nicht erziehen zu können. »Ich wollte deinem Enkel ein normales Leben ermöglichen.«

Erra winkte ab. »Natürlich weiß ich, warum du Atlanta verlassen hast. Und ich war damit einverstanden und bin es noch. Atlanta war zu kompliziert. Zu chaotisch. Es gab zu viele neugierige Augen und zu viele Mächte, die Zeter und Mordio schrien, sobald du nur geniest hast. Du brauchtest einen Neuanfang, fern von all dem. Aber du hast hier längst nicht alles im Griff.«

Ich zählte an den Fingern ab: »Das Grundstück ist gesichert, das Haus repariert, Conlan geht zur Schule …«

Meine Tante beugte sich weiter vor. »Du werkelst hier an der Küste herum, baust eine Ruine auf und wiegst dich in falscher Sicherheit. Glaubst du ernstlich, du hast deine Probleme gelöst, Kind? Glaubst du, wenn du einfach in dieser kleinen Festung am Rand des Kontinents bleibst, vergisst dich die Welt, und du kannst ein ruhiges Leben führen? Auch wenn du in den abgelegensten Winkel des Himalaya flüchtest: Früher oder später spüren sie dich auf, und dann bist du nicht vorbereitet.«

Ein vertrautes Unbehagen kam über mich. »Warum sollte mich jemand aufspüren wollen?«

»Wegen deiner Macht, deines Bluts und deines Sohns. Wenn sie den Jungen rauben, haben sie dich und deinen Gatten in ihrer Gewalt. Schon einen von euch zu töten, macht sie zu Berühmtheiten. Und ihr werdet keinem gewöhnlichen Feind gegenüberstehen, sondern einer Macht, die denkt, sie kann es mit euch aufnehmen.«

Seit einigen Jahren hatte sich immer wieder eine leise Stimme in meinem Hinterkopf gemeldet. Das hatte begonnen, kaum dass ich meinen Vater verbannt hatte. Damals war ich an einem sonnigen Morgen erwacht. Curran hatte warm neben mir gelegen, friedlich geschlafen und seinen muskulösen Arm um mich gelegt. Conlan hatte in seiner Wiege geschlummert und leise geknurrt. Ich aber hatte an die weiße Decke geschaut und überlegt: »Gegen wen muss ich als Nächstes kämpfen, damit wir in Sicherheit bleiben?«

Ich hatte diese Stimme immer wieder zum Schweigen gebracht, weil ich entschlossen war, mein Leben nicht in Erwartung der nächsten Hiobsbotschaft zu verbringen. Dennoch hatte sich die Stimme immer wieder gemeldet. Ich hatte gedacht, nach dem Wegzug aus Atlanta würde sie endgültig verstummen, doch sie war im Gegenteil lauter geworden.

»Und du musst dir nicht nur deiner Feinde wegen Sorgen machen«, sagte Erra.

Ich sah sie mit hochgezogener Braue an.

»Einer der Männer, die ich geliebt habe, besaß einen Kampfhund«, fuhr sie fort, »ein riesiges sabberndes, furzendes, stinkendes Tier, auf Angriff gezüchtet. Wie habe ich es gehasst! Ich habe ihm nie wehgetan, wollte es aber nicht in meiner Nähe haben, also habe ich es immer angeschrien und verscheucht. Mir gegenüber war es erstaunlich feige. Löwen und Soldaten hat es angegriffen, aber wenn es mich sah, nahm es Reißaus.«

Vor einer Frau von eins fünfundneunzig mit der Statur einer Olympionikin, die über brodelnde, erschreckende Magie verfügte, wäre ich auch geflohen, wenn sie in voller Montur auf mich zugestapft wäre.

»Willst du auf etwas hinaus, oder hast du mir nur von deinem verstörenden Hobby berichten wollen, treue Hunde zu quälen?«

Erra verzog das Gesicht. »Du strapazierst meine Liebe nach Kräften. Wie dem auch sei – der Hund hatte nur vor zwei Dingen Angst: vor mir und vor Donner. Sobald ein Blitz am Himmel zuckte, saß er zitternd vor meinem Bett, und so viel ich ihn auch anschrie, er lief nicht weg. Er saß schlotternd da, bis das Unwetter vorbei war, und schlich dann weg.«

»Aha.«

»Schließlich habe ich Leo gefragt, warum das Tier sich so verhielt. Er sagte, ich sei das beängstigendste Geschöpf, das es kenne. Bei Donner komme es zu mir gerannt, weil ich so schrecklich sei, dass sogar der Donner vor mir Angst habe und es deshalb in Sicherheit sei.«

Ich lachte.

»Hör zu, unverfrorenes Gör! Mit Leuten ist es auch so. Egal, ob es dir passt: Du hast einen Ersten geheiratet.«

Mein Lachen erstarb.

»Und ja, ich weiß, dass eure Liebe die größte ist, die es je gab, und er sein Rudel deinetwegen verlassen hat, aber er hat mit fünfzehn die Zügel der Macht ergriffen und ist als Herr der Bestien aufgewachsen. Das war kein bloßes Amt. Das hat seine Art des Denkens geprägt. Und ich brauche dir nicht zu sagen, dass sein Nachfolger nicht gut klarkommt.«

Nein, das brauchte sie nicht. Uns waren Gerüchte zu Ohren gekommen. Nichts Konkretes, nur Hinweise darauf, dass die Dinge nicht so gut liefen, wie sie hätten laufen können.

»Letztlich wird in Atlanta alles zerfallen, ob schon dieses Jahr oder erst in fünf Jahren, und das Rudel wird sich auflösen. Wenn das geschieht, werden die Gestaltwandler panisch und vor diesem Donner zu der schrecklichsten Person rennen, die sie kennen, damit sie für ihre Sicherheit sorgt. Glaubst du wirklich, diese Person wird sie abweisen können?«

Der Schwimmer wandte sich nun Richtung Strand, glitt durch die Wellen und brachte die Entfernung mit schnellen, präzisen Bewegungen hinter sich.

»Das weiß ich nicht«, gab ich zurück.

»Deine Miene verrät mir das Gegenteil.« Erra fixierte mich wieder mit ihrem Blick. »Und sollte er zu dem Schluss kommen, Nein zu sagen, würdest du Ja sagen. Es genügt eine verletzliche, hilflose Person mit einer zu Tränen rührenden Geschichte, damit du dich überschlägst, um sie unter deine Fittiche zu nehmen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Ich bin nicht mehr im Dienst.«

»Du brauchst Land, eine Festung, die sich verteidigen lässt und viele Leute beherbergen kann, Geld, mächtige Verbündete sowie Verbindungen zu den Behörden vor Ort, damit das alles funktioniert. Hast du irgendwas davon?«

»Nein«, brachte ich hervor.

»Dann solltest du dich schleunigst darum bemühen.«

»Danke, liebe Tante, dass du einmal mehr all meine Versäumnisse aufgelistet hast.«

»Ich bemühe mich, dich am Leben zu halten. Wenn du von jemandem hören willst, wie besonders und großartig du bist, besuch deinen Vater. Er will, dass du scheiterst, damit du gezwungen bist, ihn um seine Weisheit anzubetteln.«

»Was ist aus dem Hund geworden?«, fragte ich.

»Er hat viele Nachkommen gezeugt und wurde sehr alt. Ich hatte immer ein Kissen neben meinem Bett liegen und habe ihn in eine besondere Decke gewickelt, wenn ein Unwetter aufzog. Kissen und Decke habe ich mit ihm begraben lassen, damit er sich im Jenseits nicht ängstigt. Richte deinem Mann und deinem Sohn Grüße aus und mach dich an die Arbeit.«

Das Feuer erlosch.

Schon wieder hatte ich Julie nicht gesehen. Früher hatte sie sich alle vierzehn Tage via Feuer gemeldet, doch vor etwa zwei Jahren hatte das aufgehört. Wir telefonierten zwar noch miteinander, aber ich hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Zu lange.

Curran kam aus dem Meer, und die festen Muskeln seiner kräftigen Gestalt waren vom Wasser ganz glatt. Oh, wow!

Mein Mann kam über den Sand auf mich zu. Nachts schwamm er nackt, aber weil Vormittag war, trug er eine blaue Badehose, in der er noch heißer aussah. Doch es war nicht sein Körper, der mich erregte, obwohl es sicher nicht schadete.

Curran in die Augen zu sehen, war wie die Begegnung mit einem riesigen Raubtier. In seinem Blick standen stählerner Wille, rohe Gewalt und ein Selbstvertrauen, das an Überheblichkeit grenzte, doch vor allem lag darin Liebe für mich. Erra hatte recht. Er hatte nie aufgehört, der Herr der Bestien zu sein. Er war es, der Tausende von Gestaltwandlern mit einem einzigen Blick kommandierte, der aber auch die ganze Nacht bei einem Kind wachte, wenn es im Wald giftige Kräuter gegessen hatte und vierundzwanzig Stunden brauchte, um sie auszuwürgen. Das eine ließ sich vom anderen nicht trennen. All dies waren Aspekte von Curran, und ich liebte alles an ihm.

Der Curran, den ich kannte, hatte die Nase voll von Rudeln und der Hierarchie unter Gestaltwandlern. Vor einigen Jahren war Mahon mit dem haarsträubenden Vorschlag zu ihm gekommen, ein paar Bundesstaaten weiter ein neues Rudel zu gründen, und Curran hatte ihm sofort einen Korb gegeben. Als Mahon wissen wollte, wer dann für die Sicherheit unserer Familie sorge, hatte Curran ihm nur seinen Alpha-Blick zugeworfen und ihm mitgeteilt, er selbst werde uns alle Sicherheit geben, die wir brauchten. Und doch war ich nicht sicher, was er täte, wenn das Rudel sich jetzt Hilfe suchend und verzweifelt an ihn wenden würde.

So gern du es auch anders hättest – du bleibst, wer du bist. Ein Sohn von Jushur, dem früheren Spionagechef meines Vaters, hatte mir das vor zwei Monaten gesagt, als ich ihm auf der Farm begegnet war. Und ich wollte Curran so wenig ändern wie mich. Deshalb wäre sehr viel mehr als eine rührselige Geschichte nötig, um mich aus meinem Ruhestand zu zwingen. Ich hatte mir meinen Frieden und meine Ruhe verdient, und ich würde mir beides bewahren.

Curran trat zu mir.

»Wie war das Wasser?«

»Belebend. Du solltest auch schwimmen gehen.«

»Nein danke.«

Ich schwamm sehr gern, mochte das Meer aber so warm wie mein Badewasser. An unserem Abschnitt der Küste von North Carolina ließ sich im September prima baden, wenn der Ozean fünfundzwanzig Grad warm war, doch wir hatten drei Tage sehr schlechtes Wetter gehabt, und das Meer war nur mehr zwanzig Grad warm. Das war mir zu kalt.

Curran küsste mich mit kühlen Lippen. »Was ist los?«

Land, Verbindungen, Geld … »Meine Tante hat mir eine lange Liste von Dingen aufgezählt, die wir nicht besitzen, uns aber unverzüglich zulegen sollen.«

Er lachte leise.

Verbindungen würden den Verlust unseres Inkognitos bedeuten, und Land würde Geld kosten, das wir nicht hatten. Curran und ich besaßen einen Anteil an der Söldnergilde. Daraus bezogen wir ein gutes Einkommen, aber nicht genug, um die Ausgaben zu finanzieren, die Erra für uns vorschwebten.

»Meinst du, es war ein Fehler, nach Wilmington zu ziehen?«, fragte ich.

»Ich habe meine verflucht heiße Frau, meinen Sohn, der immer für Probleme gut ist, meine Festung, meinen Strand … was kann ein Mann noch wollen?«

»Ich meine es ernst.«

»Das merke ich.« Er hob mich von meinem Holzblock.

»Was wird das?«

Curran wirbelte herum und rannte mit mir Richtung Wasser. Der Strand flog vorbei.

»Hör auf! Curran! Cu–«

Er warf mich hoch durch die Luft, und ich platschte ins Meer. Das Wasser schlug über meinem Kopf zusammen.

Aaaa!

Ich schlug um mich und kam keuchend an die Oberfläche. Curran schloss mich in die Arme, und seine grauen Augen lachten.

»Du hast belebend gesagt, dabei ist das Wasser eiskalt. Lass mich los!«

»Lass mich dich wärmen.«

»Ich wärme mich schon selbst!«

Sein Lächeln bekam etwas Schalkhaftes. »Das ist ja noch interessanter.«

Ich schubste ihn weg, trat gegen seine Brust und kraulte wie besessen los, um warm zu werden. Nach einer Minute hörte ich auf. In einem ruhigen See hätte ich hundert Meter zurückgelegt, doch im Meer gegen die Strömung waren es allenfalls fünfzig.

Curran schwamm neben mir und atmete nicht mal schwer. Wie praktisch, wenn man Werlöwe ist.

»Hallo Schatz.«

»Du bist unerträglich.«

Er zog mich an sich, und ich schmiegte mich in seine Arme. Wir trieben im Wasser.

»Zu dem, was du vorhin gesagt hast«, raunte er mir mit tiefer Stimme ins Ohr. »Ich habe den Sommer genossen, und Conlan hat ihn geliebt.«

Beide fanden es hier in der Festung großartig. Erra hatte recht – wir lebten am Rand des Kontinents, wo das Land aufhörte und das Meer begann. Möglich, dass wir hier in die Enge getrieben wurden zwischen einem aufgewühlten Ozean und einem angreifenden Feind. Wenn man die Dinge nur unter dem Aspekt der Sicherheit betrachtete, hatte ich mich in Atlanta wohler gefühlt, wo wir zwischen vielen Einwohnern verborgen und mit allen Nachbarn gut befreundet waren. Aber Atlanta kam nicht infrage.

»Gefällt es dir hier?«, fragte Curran.

»Ja.«

»Dann ist es vorläufig in Ordnung, so einfach ist das. Und wenn es uns nicht mehr gefällt, machen wir was anderes.«

Vielleicht war es wirklich so einfach.

Drei Wochen später

Der Strand war bestens für Sport geeignet, weil der Sand weich und angenehm pulvrig war.

Curran warf mich über seine Hüfte. Hätte ich losgelassen, wäre ich auf dem Rücken gelandet, aber ich hatte ihn im Schwitzkasten und konnte ihm eine Handvoll Sand ins Gesicht schleudern. Das brachte mir eine halbe Sekunde, in der ich ihm die Beine wegtrat und seinen Hals noch fester umschlang. Leider war es viel schwerer, einen Werlöwen zu würgen als einen normalen Gegner. Wer kein Gestaltwandler war, hätte aufgegeben, doch Curran erhob sich und stemmte mich in die Luft, während ich noch an seinem Hals hing.

Als ich nach seinem Kopf schlagen wollte, tippte er mir auf den Oberschenkel. Sein Blick war auf die Festung hinter uns gerichtet.

Ich ließ ihn los. Er fing mich auf und setzte mich auf den Boden, wo ich mich zur Festung umwandte.

Nach dem Angriff der Red Horn-Bande auf unser Heim hatten Curran und Conlan beschlossen, auf dem Turm der Festung einen Fahnenmast zu errichten. Dort wehte eine graue Flagge mit stilisierten schwarzen Strichen, die wie Streifen eines Tigers oder Kratzer von Krallen aussahen. Wenn etwas los war, hissten wir eine zweite Flagge, ein Frühwarnsystem, wobei Grün für Gestaltwandler stand, Rot für Gefahr. Als wir die Festung am Morgen verlassen hatten, wehte nur die graue Fahne. Nun aber war darunter eine blaue Flagge zu sehen.

Menschenbesuch. Und nicht von Conlans Schule. Als sie das einzige Mal nach Unterrichtsbeginn vorbeigekommen waren, hatte er eine scheußliche Fahne in Orange aufgezogen.

»Erwartest du jemanden?«, fragte Curran.

Die Handwerker hatten die Renovierung vor fünf Wochen beendet, und wir hatten alle entlohnt. Und Lebensmittel wurden erst in zwei Tagen geliefert.

»Nein.« Ich griff nach meinen Schuhen.

Wir trafen unsere Besucher im Hof, eine junge schwarze Frau mit üppigem, zu einem losen Knoten gebundenen Haar und einen gut gekleideten älteren schwarzen Herrn. Unser Sohn hatte sie eingelassen und an unseren Esstisch im Freien geführt, ihnen Eistee und Kekse gebracht und sich zu ihnen gesetzt, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Ich sah Curran an, dass er mit Conlan sehr bald ein ernstes Wort reden würde.

»Sei nicht so gereizt«, raunte ich ihm zu, als wir den Hof überquerten.

»Ich bin nicht gereizt«, raunte er zurück. »Ich bin ausgesprochen gastfreundlich.«

Der Mann war in seinen Sechzigern. Seine dunkelbraune Haut hatte einen roten Unterton, sein kurzes, silbernes Haar war halb unter einem hellen Filzhut verborgen. Auch sein lockiger Bart war silbergrau und nur über der Oberlippe noch dunkel gefleckt. Er war etwas kleiner als der Durchschnitt, und sein grauer Zweireiher und das granatapfelrote Oberhemd betonten seine sportliche Figur. Er trug eine Brille mit kupferrotem Rahmen, und seine Augen waren schmal und wirkten durchtrieben.

Die Frau neben ihm trug ein gelbes, ärmelloses Shirt und einen schwarzen Rock, der ihr bis weit über die Taille reichte. Zu ihren Füßen lag eine große Einkaufstasche. Sie wandte sich mir zu und lächelte. Solina.

»Ist sie eine der Nixen, die du gerettet hast?«, fragte Curran.

»Mhm.«

Wir erreichten den Tisch, und unsere Gäste standen auf. Solina umarmte mich, was ich vorsichtig erwiderte.

»Du siehst gut aus«, sagte ich zu ihr.

»Danke. Das ist mein Großonkel, Edward Calloway. Großonkel, das sind Kate und Curran.«

Edward Calloway streckte uns die Hand entgegen. »Bitte nennen Sie mich Ned.«

Curran und ich schüttelten ihm die Hand, und wir alle setzten uns.

Interessant. Ich kannte Ned Calloway nicht persönlich, hatte aber von ihm gehört. Zuerst war mir der Name aufgefallen, weil er bei der Renovierung immer wieder auf Pauls Rechnungen für Baustoffe gestanden hatte. Schließlich hatte ich ihn danach gefragt. Unserem Generalunternehmer zufolge war Ned Calloway »ein kluger und sehr erfolgreicher Mann«. Ihm gehörten viele Unternehmen vom Bauholzhandel über Möbelbau und Textilfirmen bis zu einem Werk, das Fahrzeuge mit Hybridantrieb produzierte. Viele Unternehmen in und um Wilmington trugen den Namen Calloway.

»Ihr Eistee schmeckt wunderbar«, sagte Ned. »Womit ist er gesüßt?«

»Mit Buchweizenhonig«, erklärte Conlan. Seine Großeltern waren Werbären, deshalb war mein Sohn ein Honigkenner.

»Das muss ich mir merken«, sagte Ned. »Meine Großnichte hat mir viel über Sie erzählt. Danke, dass Sie das Kind gerettet haben. Unsere Familie ist Ihnen sehr verbunden.«

»Es war ein glücklicher Zufall«, erwiderte ich. »Ich hatte nach einem anderen Kind gesucht.«

»Aber Sie haben Solina gefunden. Ich hätte früher kommen sollen, um mich zu bedanken, doch ein Notfall hat mir dafür keine Zeit gelassen. Ich besitze ein Sommerhaus in Carolina Beach. Wir sind praktisch Nachbarn.«

Sicher waren sie nicht nur gekommen, um sich bei uns zu bedanken, aber die Unterhaltung schnell auf den Punkt zu bringen, hätte dazu geführt, dass sie zäh wie kalte Melasse geworden wäre.

»Schön zu hören«, sagte Curran. »Wir sind erst kürzlich eingezogen und kennen noch nicht viele Leute. Es ist immer gut, einem Nachbarn zu begegnen.«

Ned lächelte. »Wir sind von der aufgeschlossenen Sorte. Sicher gehören Sie im Handumdrehen zu unserer Gemeinschaft.«

Wo führte dieses Gespräch hin?

»Unsere Familie ist aus Penderton«, sagte Ned. »Das ist zwar nicht unser Ursprung, aber unser letzter Wohnort, bevor Solinas Eltern und ich nach Wilmington gezogen sind.«

Penderton war eine Kleinstadt nördlich von Wilmington.

»Und woher stammen Sie ursprünglich?«, fragte ich.

»Meine Eltern sind aus Wallace«, sagte Ned. »Sie wurden in ärmlichen Verhältnissen groß und haben jung geheiratet. Meine Schwester und ich wurden in Wallace geboren, auf einem alten Bauernhof. Aber mein Vater hatte einen Sinn fürs Geschäftliche. Er begann mit Ausbesserungsarbeiten und hat bald Bauten errichtet, mit Erfolg. Daraufhin haben sie ein größeres Haus in der Stadt gekauft, aber dann kam der Wald.«

»Und hat Kleinstädte gefressen«, sagte Solina.

Ned nickte. »Bis vor dreißig Jahren bestand das Gebiet vor allem aus Feldern, Weinbergen und Gestüten. Dazwischen lag da und dort ein kleines Städtchen, Burgaw, St. Helena, Ivanhoe … Dann begann der Wald zu wuchern, und nichts konnte ihn aufhalten. Er hat die Menschen zusammenrücken lassen. Kleine Dörfer wurden verlassen, und die Einwohner von Burgaw und St. Helena zogen nach Penderton.«

Ein typisches Szenario, wie es sich überall in den Vereinigten Staaten abgespielt hatte. Die Magie hasste Technologie und Hochhäuser, doch sie liebte und nährte Pflanzen. Bäume wuchsen wie Unkraut und wurden zu riesigen Wäldern, die Wesen mit unheimlichen Zähnen hervorbrachten. Die Leute hatten schnell begriffen, dass nur größere Städte und massive Stadtmauern Sicherheit brachten.

»Momma wollte Wallace nicht verlassen. Ihre Familie lebte dort seit Generationen, und das Familiengrab war dort – genau wie die Kirche, in der wir alle getauft wurden. Es fühlte sich nicht richtig an, diese Geschichte aufzugeben«, sagte Ned. »Aber sie konnten nicht bleiben. Um ihnen den Umzug zu erleichtern, hat mein Vater ihnen in Penderton ein Traumhaus gebaut.«

»Es ist wundervoll dort«, warf Solina ein.

»Nach dem Tod meines Vaters wollte ich meine Mutter und meine Schwester dazu bringen, nach Wilmington umzuziehen«, sagte Ned, »aber Momma wollte nicht weg. Und jetzt sitzen sie in der Falle. Ich liebe diese Kekse. Ich habe eine Schwäche für Süßigkeiten, und ich muss sagen, dieses Gebäck ist etwas ganz Besonderes.«

Das hatte er wirklich nonchalant fallen lassen. Ja, meine Mutter und meine Schwester sitzen in der Falle, und wow, das sind echt tolle Kekse.

»Gute Kekse sind unerlässliche Nahrung«, sagte Curran. »Meine Frau ist eine großartige Köchin.«

»Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie diese Kekse selbst gebacken haben. Sie haben einfach das gewisse Etwas.«

»Ich gebe Ihnen eine Portion mit«, sagte ich zu ihm.

»Das kann ich unmöglich annehmen.« Ned schüttelte den Kopf.

»Ich habe ohnehin zu viele gebacken. Und warum können Ihre Mutter und Ihre Schwester die Stadt nicht verlassen?«

»Wegen des Bösen im Wald«, antwortete Solina.

Jetzt war es heraus. Deshalb waren sie gekommen.

»Darüber muss ich Genaueres erfahren«, sagte Curran. »Um was für ein Übel handelt es sich?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Ned. »Und das ist Teil des Problems. Alles hat nach dem letzten Flair begonnen.«

Flairs waren starke magische Wogen, die alle sieben Jahre auftraten und mehrere Tage andauerten. Bei jedem Flair änderte sich ein weiterer Teil unserer Welt unwiderruflich. Flairs brachten Katastrophen. Götter offenbarten sich, große Gebäude stürzten ein, seltsame Ungeheuer wüteten. Der letzte Flair lag fünf Jahre zurück.

»Drei Tage nach dem letzten Flair kamen merkwürdig aussehende Leute aus dem Wald bei Penderton«, sagte Ned.

Solina griff in die Einkaufstasche vor ihren Füßen, zog ein aufgerolltes Papier heraus und breitete es auf dem Tisch aus. Es handelte sich um die Buntstiftzeichnung einer Menschenfrau, die allerdings keinem Menschen ähnelte, den ich je gesehen hatte.

Ihre Haut besaß einen fast bläulichen Ton und hatte lauter Haarrisse. Einmal hatte Andrea, meine beste Freundin, mich in eine Wellness-Oase mitgeschleppt, wo ich Lehm aufs Gesicht geschmiert bekam. Als der Lehm getrocknet war, hatte er solche Risse gezeigt. Die Körperbemalung dieser Frau ähnelte dem ganz erstaunlich.

Ihre Schultern hingen stärker herab als gewöhnlich, Glieder und Hals waren zu lang, und auch die Proportionen des Kopfs waren seltsam. Als wäre die Gesichtsmitte in die Senkrechte gezogen und Nase und Wangenknochen dadurch länger und flacher geworden. Ihr Mund war ein Schlitz, die Mundwinkel hingen herab und gaben ihr einen höhnischen oder trauernden Ausdruck. Die Augen waren rund und fast schwarz, standen eng beieinander und waren völlig ausdruckslos.

Die Frau trug ein hellbraunes Kleid, eine Art Robe oder Tunika, die an der Taille mit einem Gürtel gerafft war. Ihr langes braunes Haar war nach hinten gebunden. Sie sah aus, als hätte sie von dem bläulichen Schlamm oder Lehm genommen, der ihr auf Gesicht und Armen klebte, ihn sich in die Haare geschmiert und ihn trocknen lassen. Ein geflochtenes Band aus golden schimmernden Metallstreifen umspannte ihren Hals. Und was hielt sie in der Hand? Einen Sack? Ein Netz?

Nach der Wende hatten sich viele Leute alten Göttern und lange vernachlässigten Religionen zugewandt. Ich hatte Neuheiden merkwürdige Dinge tragen sehen, aber das erklärte nicht die seltsamen Gesichtszüge der Frau.

»Was hat sie in der Hand?«, fragte ich.

»Ein Banner«, sagte Solina. »So verständigen sie sich.«

Sie nahm einen Druckverschlussbeutel aus ihrer Tasche und legte ihn auf den Tisch. Darin befand sich aufgerollter hellbrauner Stoff.

»Darf ich?«, fragte ich.

Sie nickte.

Ich öffnete den Beutel und nahm den Stoff heraus. Es handelte sich um drei Tücher, die sich wie Wolle anfühlten. Ich rollte das erste Tuch aus. Darauf stand in grellem Rot und Großbuchstaben: TRIBUT.

Das Wort war nicht auf die Fahne geschrieben, sondern mit blutroter Wolle eingewebt.

»Penderton hat in dem letzten Flair eine Stadtwächterin verloren«, sagte Ned, »Selma Butler. Wir sind recht sicher, dass es sich um ihre Handschrift handelt. Sie hat immer in Großbuchstaben und mit diesem Neigungswinkel geschrieben.«

Curran nahm das Banner, roch daran und hielt es Conlan hin. Unser Sohn schnüffelte lange daran.

Ich entrollte das zweite Stück Stoff. Es zeigte ein Symbol für das erste Mondviertel, eine Mondsichel. Die linke Seite war knallrot, die rechte offenbarte Mondflecke in helleren und dunkleren Rottönen.

»Der Übergabetermin«, sagte Curran.

Ned nickte.

Ein Stück Stoff war noch übrig. Ich rollte es aus. Es zeigte das Symbol für eine Person, kaum mehr als ein Strichmännchen ohne Gesichtszüge, rot ins Banner gewebt.

»Sie wollten einen menschlichen Tribut«, sagte Curran.

»Ja.«

Ein kalter, unangenehmer Knoten bildete sich in meinem Magen. Die Sache sah immer übler aus.

»Die Stadt hat diese Forderung natürlich ignoriert«, sagte Ned. »Penderton hat starke Verteidigungsanlagen, und die Wächter sind gut ausgebildet. Es handelt sich durchweg um zähe Leute, Holzfäller, Bauern, Jäger. Am Abgabetermin kamen die Waldleute bei Sonnenuntergang wieder. Die Stadt erwartete, dass sie die Mauern erstürmen würden, doch sie sind gegangen. Alles schien vorbei zu sein. Am Mittag des nächsten Tages aber flog ein großer brauner Felsbrocken aus dem Wald, landete auf dem Marktplatz und explodierte zu braunem Staub.«

»Alle auf dem Platz sind gestorben«, sagte Solina. »Neun Leute, zwei davon Kinder.«

»Am Abend waren die Frauen wieder da«, fuhr Ned fort. »Mit der gleichen Botschaft, doch diesmal wollten sie den Tribut an Vollmond. Penderton hat natürlich Alarm geschlagen und alle verständigt: Die Forstverwaltung, die Schnelle Eingreiftruppe Magie der Nationalgarde, drei Söldnertrupps, alle sind gekommen, um die Ursache dieser Katastrophe zu ermitteln. Sie gingen in den Wald. Vier Tage später kehrten einige zurück. Der Wald von Penderton ist riesig und umfasst über eintausendzweihundert Quadratkilometer. Sie waren im Kreis gelaufen. Einige waren verschwunden. Einige waren gefressen worden, und niemand weiß, von wem.«

»Warum wurde nicht evakuiert?«, fragte Curran.

»Das haben die Leute versucht«, sagte Ned. »Aber alle, die die Stadt nach dem ersten Angriff verlassen haben, sind zwei Tage später erkrankt. Einige sind zurückgekehrt und haben sich erholt. Die anderen sind gestorben. Mal für einen Tag herzukommen, das geht. Aber wer sich über vierundzwanzig Stunden außerhalb der Stadt aufhält, entwickelt Symptome.«

»Niemand kann sich das erklären«, sagte Solina.

Sie waren infiziert worden, vermutlich durch den ersten Brocken, doch es mochte auch etwas anderes gewesen sein. Und Ned und Solina waren nicht erkrankt, weil sie Penderton verlassen hatten, ehe es zu dem Schlamassel gekommen war.

»Was wurde aus der Nationalgarde?«, fragte Curran.

»Sie war einen Monat über den Fristablauf hinaus vor Ort, konnte aber nicht ewig in Penderton bleiben«, sagte Ned. »Am Tag nach ihrer Abreise ist ein zweiter Brocken vor der Schule explodiert. Zum Glück waren fast alle Kinder wegen einer Versammlung in einem entfernteren Gebäude. Darum sind nur fünf Personen gestorben.«

Er klang schrecklich nüchtern.

»Penderton hat die Abgabe geleistet«, sagte ich.

»Jimmy Codair«, erwiderte Ned. »Neunundsechzig und kurz vor dem Krebstod. Er hat sich freiwillig gemeldet und ist mit den Frauen in den Wald gegangen. Niemand hat ihn mehr gesehen. Im Jahr darauf waren sie am gleichen Tag und zur gleichen Stunde wieder da.«

Und wieder hatten sie jemanden ausgeliefert.

»Die Stadt hat den Wald gefüttert«, sagte Curran. »Kein Wunder, dass er zurückgekehrt ist.«

»Seit dem Flair sind fünf Jahre vergangen«, begann ich. »Wie …?«

»Die Stadt veranstaltet ein Losverfahren«, sagte Ned.

Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, dass man sich an fast alles gewöhnen kann, um zu überleben. Penderton hatte sich an diesen Preis für sein Überleben gewöhnt. Eine Person pro Jahr, damit die übrigen fünftausend weiterleben konnten. Es erschien mir ungeheuerlich, denn das war es auch.

»Diese Leute sind keine Monster«, sagte Ned, als habe er meine Gedanken gelesen. »Sie haben keine Alternative. Was immer sie Ihrer Meinung nach hätten unternehmen sollen – sie haben es versucht. Sie haben sich an alle gewandt, von den Soldaten und Söldnern bis zum Orden und den Hexenzirkeln. Alle haben es versucht. Ich selbst bin nach Washington gereist und habe um Hilfe gebeten. Niemand konnte helfen, und letztlich hat die Stadt den Tribut jedes Mal geleistet.«

»Dies ist das fünfte Jahr«, sagte Solina aufgebracht.

Ned sah sie an.

Sie holte tief Luft und blickte in den Himmel über uns.

Curran fixierte Ned auf seine ganz spezielle Weise. »Das ist eine furchtbare Geschichte.«

Ned nickte. »Allerdings. Danke, dass Sie mir zugehört haben. Ich habe viel zu lange geredet und sollte darauf zu sprechen kommen, warum ich hier bin.«

Er zog eine gefaltete Landkarte aus seiner Jacke.

»Penderton ist begeistert darüber, dass Sie in unsere Gegend gezogen sind. Aber Ihr schönes Heim ist noch ein ziemliches Stück entfernt. Wir möchten Sie einladen, näher zu ziehen.«

Er öffnete die Karte, eine Draufsicht von Wilmington und Umgebung. Der Atlantik befand sich im Osten, eine große hellblaue Fläche. Wilmington lag am unteren Rand der Karte, etwas nördlich der Stelle, wo der Cape Fear River in den Atlantik floss. Oberhalb von Wilmington war die Karte überwiegend in Grün gehalten: dichte Wälder, durch die Hauptstraßen als schmale Linien führten.

Nördlich der Grenze von Wilmington kennzeichnete eine gepunktete Linie den Landkreis Penderton, der wie ein großer Pilzhut an die Stadt grenzte und wegen der Ausmaße des Pender Forest fast ausschließlich grün eingefärbt war. In der Mitte, nicht weit weg von der Autobahn 40, markierte ein kleiner roter Kreis die Lage der Stadt Penderton. Und einige Kilometer nördlich der Stadt war ein großes blaues Rechteck in die Karte eingetragen, das etwa ein Drittel des Waldes einnahm.

»Näher wohin?«, fragte ich.

»Hierhin.« Ned tippte auf das blaue Rechteck.

Conlan bewegte sich lautlos, um über meine Schulter auf die Karte zu schauen.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ihr Wald.«

Was? »Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Das ist der Wald, den Penderton Ihnen geschenkt hat. Unsere Willkommensgabe an unsere wunderbaren neuen Nachbarn. Dreihundertzwanzig Quadratkilometer Wald, zwei Drittel davon Apachenkiefern, also erstklassiges Bauholz, ein Drittel Sumpf von enormer biologischer Vielfalt. Und dann ist da der Big Skunk Lake, vier Quadratkilometer. Nirgends im Landkreis lässt sich besser angeln.«

Curran starrte auf das blaue Rechteck im Wald, als sei es ein blutiges Steak und er habe Monate Hunger gelitten.

Ned legte ein Foto auf den Tisch. Es zeigte einen Kiefernwald, dessen Stämme wie Masten aufragten und aus dem von goldenen Sonnenflecken gesprenkelten Waldboden in schwindelnde Höhe emporwuchsen.

»Der Ninja-Wald«, flüsterte Conlan.

»Wir haben die schönsten Wälder«, sagte Ned. »Voller Plätze, an denen sich prima eine Festung errichten lässt.«

Eine Festung. Wie die des Rudels. Zur Hölle damit.

»Ich schätze Leute, die ihre Hausaufgaben machen«, sagte Curran. »Sie glauben zu wissen, wer wir sind. Aber wissen Sie das wirklich?«

Sein Gesicht riss entzwei, sein Schädel veränderte die Form. Ein neuer Kopf bildete sich auf seinen Schultern, eine riesige, albtraumhafte Mixtur aus Mensch und Löwe. Blasse, rauchfarbene Streifen durchzogen sein graues Fell. Seine schwarzen Lippen öffneten sich bebend, und dahinter blitzten Fänge, so lang wie meine Finger. Currans goldene Augen ruhten mit raubtierhafter Intensität auf Ned und Solina.

Solina sprang auf und wich einen Schritt zurück.

Ned schluckte, blieb aber sitzen.

»Denken Sie genau nach.« Currans Stimme knurrte dunkel. »Sind Sie sicher, dass Sie das wollen? Denn wenn ich dieses Land nehme, wird es mir dauerhaft gehören.«

»Es gehört Ihnen schon«, sagte Ned. »Und Sie verfügen über alle Rechte, was Bodenschätze, Holz, Wasser, Zugang und so weiter betrifft. Wir haben die Schenkung ins Grundbuch eintragen lassen. Ich habe die Papiere dabei.«

»Ist der Stadt klar, wen sie einlädt?«, fragte Curran. Seine Stimme hatte etwas Durchdringendes, das die Knochen vibrieren ließ.

»Es ist ihr klar«, sagte Ned.

»Auch wenn ich so aussehe? Und andere mitbringe, die so sind wie ich?«

»Alle haben mehr als nur eine Seite. Die Bewohner von Penderton wissen, wer Sie sind. Und sie wissen von Ihren Freunden. Falls sie aus dem Süden in unseren Landkreis ziehen, hat die Stadt nichts dagegen. Sie kann es auch nicht verhindern. Das Land gehört Ihnen. Machen Sie damit, was Sie wollen.«

Der Himmel war wolkenlos, doch ich hätte schwören können, dass ich Donner hörte.

»Wir sind Kleinstädter, aber Eiferer sind wir nicht, Mr Lennart«, sagte Ned. »Und wir halten unser Wort.«

Diesen Wald anzunehmen hieß, dass unser ruhiges Leben vorbei wäre. Die ganze Sache stank nach alter Magie. Sie zu bekämpfen, würde blutig, laut und gefährlich werden. Um das Böse zu besiegen, das dieser Wald hervorgebracht hatte, und den Kampf zu überleben, müssten wir dieses Land verteidigen. Früher oder später würde Curran eine neue Festung bauen, und sobald er das täte, würden scharenweise Gestaltwandler zu ihm strömen, und wir wären wieder dort, wo wir angefangen hatten.

Land, Festung, Geld, Verbündete und Verbindungen …

Meine Unauffälligkeit zerrann mir zwischen den Fingern.

»Gut«, sagte Curran. »Meinetwegen. Aber für meine Frau kann ich nicht sprechen. Wenn Sie sie überzeugen können, sind wir handelseinig.«

Ned stand auf. »Könnten Sie das Tor für uns öffnen?«

Curran warf Conlan einen kurzen Blick zu. Unser Sohn eilte zum Tor und schwang es auf. In der Einfahrt standen zwei große SUVs mit verlängerter Motorhaube, um zwei Sorten Treibstoff und den magischen Hybridmotor unterzubringen. Solina ging zu den Fahrzeugen und winkte.

Ned forderte mich mit schwungvoller Handbewegung auf, zu den Autos zu gehen.

Gut, einverstanden.

Ich stand auf und durchquerte den Hof. Curran gesellte sich zu mir.

Die Türen der SUVs gingen auf, und Leute stiegen aus, normale Leute in normaler Kleidung, manche älter, andere jünger. Ein junger Mann, knapp zwanzig, doch fast noch ein Kind, half einer gut Siebzigjährigen beim Aussteigen. Dann stellten sich alle in einer Reihe vor uns auf.

»Die Frauen waren dieses Jahr früh dran«, sagte Solina. »Sie wollen ihren Tribut in zwei Wochen kassieren. Die Stadt hat bereits gelost.«

Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken.

Der fast Zwanzigjährige zog ein Banner aus der Tasche und entrollte es. Mit blutroter Wolle waren zehn menschliche Umrisse hineingewoben.

Die Leute sahen uns an.

Curran nahm meine Hand und drückte sie.

Ich konnte Nein sagen, konnte sofort weggehen, und niemand würde mich rufen.

Doch ich erwiderte seinen Händedruck.

»Wir akzeptieren Ihr Angebot«, sagte mein Mann.

2

CURRAN

Wir winkten Ned und seinen Leuten zum Abschied. Dann wandte ich mich an Conlan.

»Folge ihnen und achte darauf, dass sie die Hauptstraße nehmen.«

»Ja, Dad.«

Er eilte den Autos nach. Grendel kam aus seinem Versteck im Hof geschossen und jagte ihm nach.

Ich wartete, bis mein Sohn weit genug weg war, um uns nicht mehr hören zu können. Wir mussten dringend ein Gespräch unter Erwachsenen führen.

Kate stand neben mir und blätterte in einer dicken Akte, die Ned dagelassen hatte, dem Protokoll von Pendertons Kampf gegen das Böse im Wald.

»Danke«, sagte ich.

»Wofür?«, fragte Kate.

»Für dein Einverständnis, ihnen zu helfen. Dafür, dass du mit mir in den Wald gehst.« Ich hielt inne, suchte nach den richtigen Worten. »Für alles, denke ich.«

»Er hat zehn Leute vor uns hingestellt und uns gesagt, dass sie sterben werden. Was hätte ich machen sollen? Ihnen ins Gesicht sagen, es komme mir ungelegen, sie zu retten.«

Nun, es kam mehr als ungelegen, wie wir beide wussten. »Richtig, das war ein fieser Schachzug.«

Sie starrte auf die Straße, die tunnelgleich durch den Wald führte und in der die SUVs verschwanden. »Ned ist ein manipulativer Dreckskerl.«

»Ja. Und verzweifelt. Wir sind, wer wir sind, Süße. Und ich bin wirklich scharf auf den Wald.«

Sie stöhnte.

»Ich mag Ned«, fuhr ich fort. »Er hat uns übertölpelt. Es ist gut, ihn zu kennen.«

»Aha. Ich habe dein Gesicht gesehen, als du die beiden bei uns entdeckt hast.«

»Ich wusste nicht, wer sie waren und warum sie sich im Haus aufhielten.«

Sie zuckte die Achseln. »Genau genommen waren sie im Hof.«

Ich schüttelte den Kopf. »Egal. Sie waren uneingeladen auf unserem Gebiet.«

»Als wir uns diesen Ort ausgesucht haben, meintest du, er sei perfekt, weil wir keine Nachbarn haben und du keine Leute magst.«

»Ich mag alle und jeden«, gab ich zurück.

Das sollte sie zum Lachen bringen, aber sie sah mich nur an.

»Nenne mir eine Person, die ich nicht mag«, setzte ich hinzu.

»Meinen Vater.«

»Na gut.«

»Meine Tante.«

»Wir gehen höflich und vorsichtig miteinander um.«

»Meinen Vetter.«

»Er ist mir weniger unsympathisch, seit er fünf Staaten entfernt wohnt und Frau und Kinder ihn im Zaum halten.«

»Und er mir nicht mehr nach dem Leben trachtet.«

»Darum geht es ja gerade«, knurrte ich. »Alle von dir Genannten wollten dich töten.«

Irgendwann in unserem Zusammenleben war es zu meiner Hauptbeschäftigung geworden, Kates reizende Familie davon abzuhalten, sie umzubringen. Es handelte sich um mächtige, mörderische Psychopathen, die nichts halbherzig taten. Wenn sie kamen, um Kate zu töten, dann in vollem Ernst.

Ihre Augen sprühten Funken. »Auch du wolltest mich mal umbringen.«

»Nein. Dich aus dem Fenster zu werfen, war das Übelste, was ich dir angedroht habe.«

Kate lächelte, dachte nach, wurde ernst, lehnte sich zurück und fuhr sich durchs Haar. Ich kannte diese Miene. Etwas beschäftigte sie schon seit einiger Zeit.

»Ich habe das durch die Suche nach Darin ausgelöst«, sagte sie.

»Du hast nichts ausgelöst. Das war unvermeidlich. Und ich bereue nicht, Darin geholfen zu haben.«