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Derek Gaunt gehört keinem Rudel an und durchstreift Atlanta als einsamer Wolf. Seine Treue gilt nur wenigen Auserwählten - aber dann mit voller Inbrunst. Als aber Dereks Vertraute ermordet werden, macht er sich unaufhaltsam daran, die Killer zur Strecke zur bringen. Dicht an seiner Seite ist dabei Julie Lennart-Olsen, die mit ihm zusammen das Unrecht aufklären will. Doch schnell wird aus der Suche nach Rache ein Wettlauf gegen die Zeit: Atlanta muss gerettet werden - und dabei haben es Julie und Derek mit Gegnern zu tun, die so mächtig sind, dass sie Äonen überdauert haben. Dereks Leben steht dabei auf dem Spiel, doch es gibt Dinge, die es wert sind, darum zu kämpfen ...
"Kate ist eine vorbildliche Kick-ass-Heldin!" Locus
Eine Novella aus der Stadt-der-Finsternis-Reihe von NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin Ilona Andrews
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Seitenzahl: 112
ILINA ANDREWS
Stadt der Finsternis
KALTE MAGIE
Ins Deutsche übertragen von Bernhard Kempen
Derek Gaunt gehört keinem Rudel an und durchstreift Atlanta als einsamer Wolf. Seine Treue gilt nur wenigen Auserwählten – aber dann mit voller Inbrunst. Als aber Dereks Vertraute ermordet werden, macht er sich unaufhaltsam daran, die Killer zur Strecke zur bringen. Dicht an seiner Seite ist dabei Julie Lennart-Olsen, die mit ihm zusammen das Unrecht aufklären will. Doch schnell wird aus der Suche nach Rache ein Wettlauf gegen die Zeit: Atlanta muss gerettet werden – und dabei haben es Julie und Derek mit Gegnern zu tun, die so mächtig sind, dass sie Äonen überdauert haben. Dereks Leben steht dabei auf dem Spiel, doch es gibt Dinge, die es wert sind, darum zu kämpfen …
Derek bewegte sich leichtfüßig und leise.
Die Barkeeperin im unteren Stockwerk, eine stämmige Frau mit strengen Augen und einem noch strengeren Kinn, hatte ihn nicht kommen hören. Doch zufällig blickte sie auf, als er gerade zu der Treppe zu den hinteren Räumen ging. Sie griff nach der Schrotflinte, die sie unter der Theke bereithielt, sah dann sein Gesicht und überlegte es sich anders. Das Gesicht war für Derek immer ein Problem gewesen, aber er hatte sich allmählich daran gewöhnt. Er wusste, sein Blick gab den Leuten die Gewissheit, dass sein Inneres mit dem Äußeren übereinstimmte, und so wandte sich die Barkeeperin ab und ließ ihn nach oben gehen. Es war eine alte Holztreppe, wahrscheinlich aus der Vorwendezeit, bevor die Wogen der Magie die Welt und ihre technischen Errungenschaften zu Staub zermalmt hatten. Bestimmt hatte sie tagtäglich unter der Last der Menschen geknarrt und gequietscht, doch diesmal blieben die abgenutzten Stufen still. Er wusste, wohin er seinen Fuß zu setzen hatte.
Vor ihnen erstreckte sich ein kurzer Flur, zwei Türen rechts, drei Türen links. Unbeleuchtet. Der Wirt wollte entweder Strom oder an der Rechnung für geladene Luft sparen. Die Zimmer waren leer, abgesehen von einem, dem zweiten links. Er hielt an der Tür inne und horchte. Hinter der zentimeterdicken Holzplatte wurde geredet, und es gab Bewegung. Fünf Leute. Alles Männer. Sie tranken und sprachen leise. Der Luftstrom unter der Tür wehte den Geruch von billigem Bier und den metallischen Gestank menschlichen Bluts in seine Nase. Er war dieser Spur durch die halbe Stadt gefolgt.
Menschen konnten lügen. Gerüche niemals.
Die Schatten unter der Tür deuteten auf eine einzige Lichtquelle hin. Die Magiephase war zu Ende. Das Licht unter der Tür war elektrisch und buttergelb, und der Flur machte den Eindruck, dass der Wirt zu geizig war, um mehr als eine Glühbirne springen zu lassen. Derek griff mit der linken Hand in seine Jeanstasche und holte einen Stein heraus, den er draußen aufgelesen hatte. Hier waren keine Klauen nötig. Er zog ein Messer aus der Scheide. Ein einfaches Kampfmesser mit einer festen, achtzehn Zentimeter langen Klinge, mit schwarzem Epoxid beschichtet, damit sie das Licht nicht reflektierte.
Die fünf Männer drinnen hörten nichts. Ihre Stimmen klangen immer noch ruhig und entspannt.
Derek dachte an das Haus, aus dem er gekommen war, wich zurück und trat die Tür ein. Sie zersplitterte und brach unter der Wucht seiner übermenschlichen Kraft auf. Er schleuderte den Stein nach der einzigen Lichtquelle über dem Tisch. Das Glas zerbarst, und das Zimmer wurde in Dunkelheit getaucht.
Seine Instinkte fluteten seine Blutbahn mit einem elektrisierenden Hormoncocktail. Die Dunkelheit erblühte wie eine Blume und entließ fünf in Duft gehüllte Herzschläge. Sein Gehirn signalisierte ihm »Beute«, sodass er sich durch die Dunkelheit auf den ersten warmen Körper warf, der alarmiert eine Pistole zückte. Derek schlitzte die Kehle des Mannes auf. Das Messer sank tief ein, zu tief, zertrennte den Knochen. Zu viel des Guten. Er war etwas zu aufgeregt. Er drehte sich nach links, wich einer Kugel aus, bevor er den Strahlenkranz des Mündungsfeuers aufblitzen sah, packte unterwegs den Mann und stieß ihm das Messer in die Brust. Das Herz riss auf. Derek zog das Messer mit einem Ruck heraus, drehte sich weg und kauerte sich an der Wand nieder.
Schüsse hallten laut durch das kleine Zimmer. Sie feuerten in Panik blind durcheinander.
Ein Herzschlag ihm direkt gegenüber, der Mann wirbelte wild herum, seine Waffe spuckte Kugeln.
Bumm, bumm, bumm … klick.
Mit einem Satz sprang er über den Tisch zwischen ihnen. Die Stoßwirkung seines Gewichts warf den Mann von den Beinen. Er landete auf dem Schützen und durchtrennte seine Halsschlagader mit einem schnellen, präzisen Schnitt. Der vierte Mann fuhr herum und feuerte in Richtung der Geräusche, aber Derek war bereits in Bewegung. Er sprang vorwärts in die Hocke. Dabei schlug er den Arm des Schützen weg, versenkte sein Messer in der Leistenbeuge des Mannes, drehte es und zog es wieder heraus. Der Mann ging schreiend zu Boden.
Zwei Herzschläge waren verstummt, zwei ließen nach, ein Herz pochte rasend schnell. Im Raum war noch einer am Leben. Dereks Nasenlöcher blähten sich. Der Geruch von Blut umhüllte und berauschte ihn, verlangte nach mehr. Mehr Blut. Mehr Morde. Mehr lebende Beute, die sich in seinen Fingern wehrte. Mehr Frischfleisch, das er zerbeißen und zerreißen konnte. Er schaltete den Blutrausch ab, legte das Messer auf den Tisch und hielt inne, um das leise Geräusch eines Mannes zu lokalisieren, der ruhig durch den Mund zu atmen versuchte. Da. Er pirschte quer durchs Zimmer, umging die Blutlachen, die auf dem Fußboden abkühlten. Der Mann lag flach auf dem Boden. Derek ging in einer fließenden Bewegung in die Hocke, umschloss mit der Hand den Hals des Mannes und zog ihn hoch. Der Mann gurgelte, wand sich in seinem Griff, versuchte mit schwachen Nägeln den Arm zu zerkratzen, der ihn hielt. Kurz zudrücken, Knochen brechen, und es wäre vorbei.
Derek zerrte ihn zur Rückseite des Zimmers und zog mit einem Ruck den schweren Vorhang auf. Mondschein ergoss sich auf seinen Gefangenen, tönte sein gequältes Gesicht blau. Ein weißer Mann mit kurzem dunklem Haar, mindestens dreißig, alt genug, um zu wissen, was er getan hatte. Ein Profi-Krimineller.
Derek griff mit der anderen Hand nach einem Stuhl, stellte ihn ans Fenster und stieß den Mann darauf. Der Gangster sackte zusammen, versuchte verzweifelt, etwas Luft in die Lungen zu saugen. Er riss die Augen auf, die Pupillen voller Angst, die Schwärze verschlang die Iris, die nur noch ein schmaler blauer Ring war.
»Ich kenne dich«, presste der Gangster mit heiserer Stimme hervor. »Du bist Derek Gaunt.«
Gut. Nun würde es schneller gehen. »Vor sechs Stunden seid ihr fünf in das Haus von Randall und Melissa Ives eingebrochen.«
»Sie waren keine Gestaltwandler, ich schwöre es. Ich schwöre, das waren sie nicht.«
»Ihr habt im Flur zwei Schüsse auf Randall abgefeuert und ihn verbluten lassen. Ihr habt Melissa in der Küche mit drei Schüssen getötet, zwei in den Kopf und einen in die Brust.«
Die Augen des Mannes quollen hervor.
»Dann seid ihr in den oberen Stock gegangen und habt die zehnjährige Lucy Ives und ihren siebenjährigen Bruder Michael erschossen. Ihr habt eine ganze Familie ausgelöscht. Die Frage ist: Warum?«
»Sie waren keine Gestaltwandler!«
»Nein, sie waren Menschen. Sie waren Schmiede von Beruf.« Derek nahm das Messer vom Tisch. »Melissa Ives hat dieses Messer gemacht.«
Er stach dem Mann mit dem Messer in den Bauch und schnitt eine lange, flache Linie von der einen Seite der Hüfte zur anderen. Blut schoss aus der Schnittwunde. Ein säuerlicher Geruch verbreitete sich in der Luft, als die Klinge die Eingeweide aufschlitzte. Der Mann stieß abgehackte Schmerzenslaute aus und würgte an seiner Todesangst.
»Warum?«, fragte Derek.
»Sie hatten einen Stein.« Der Mann presste die Worte zwischen scharfen Röchellauten hervor. »Eine Art Metallstein. Caleb wollte ihn.«
»Caleb Adams?«
Der Mann nickte zitternd. »Ja.«
Caleb Adams hatte als Hexer begonnen, aber er wurde aus seinem Hexenzirkel verstoßen. Er hatte sich zum bösen Zauberer erklärt und war jetzt Anführer einer Bande am Rand von Warren. Der Stadtteil grenzte an den Southview-Friedhof und den Lakewood-Park und hatte als Teil des Stadterneuerungsprojekts begonnen, war dann aber von der Magie stark zerstört worden. Warren war nun ein armes, heimtückisches und brutales Kriegsgebiet, wo Banden einander bekämpften. Hier fühlte sich Caleb Adams wohl. Er war gewalttätig und machthungrig, und den letzten Gerüchten zufolge verteidigte er seine neue Domäne gegen zwei andere Banden und schien den Kampf zu verlieren.
»Wo ist der Stein jetzt?«
»Wir konnten ihn nicht finden.«
Zeit für ein etwas ausführlicheres Gespräch. Er hob sein Messer.
»Wir konnten ihn nicht finden!«, rief der Mann. »Ich schwöre! Bei der Suche haben wir das Haus verwüstet. Rick und Colin haben den Mann und seine Frau erschossen, und beide waren tot, bevor wir sie fragen konnten.«
»Warum habt ihr die Kinder erschossen?«
»Das war Colin. Er erschoss die Frau und rannte dann nach oben. Er drehte völlig durch.«
Er hätte gern gewusst, welcher von ihnen Colin war. Schade, dass er ihn nur ein Mal umbringen konnte.
»Wie sieht der Stein aus?«
»Er hat den Umfang einer großen Orange. Ein glänzender Metallstein. Er leuchtet, wenn man ihn ins Mondlicht bringt.«
Die Atmung des Mannes verlangsamte sich. Die Blutung zeigte ihre Wirkung.
»Drei …«, flüsterte er.
»Drei, was?«
»Drei Teile eines Steins. Rick sagte, der Stein wäre … in drei Stücke zerbrochen. Rick sagte, Caleb hätte bereits einen und wollte alle drei haben. Er schickte … zwei Teams los. Ich weiß nicht, wohin das andere Team gegangen ist. Ich habe dir … alles gesagt. Töte mich nicht.«
Dereks Lippen verzogen sich willkürlich zu einem Lächeln, aber nicht, weil es lustig war, sondern aus dem instinktiven Bedürfnis heraus, die Zähne zu zeigen, während sein wildes Inneres in seinen Augen zu erkennen war. »Deine Hand stinkt nach Schießpulver, und an deinem Hemd sind Blutspritzer. Es riecht nach Michael Ives.«
Der Mann erstarrte.
Derek lächelte noch breiter. »Ich verhandle nicht mit Kindermördern.«
Die Nacht war blau.
Der tiefe Himmel atmete, als würde er leben. Die kleinen, funkelnden Punkte ferner Sterne zwinkerten ihm zu, während er die nächtlichen Straßen entlangrannte. Der große runde Mond, der hervorgekommen war und aufstieg, goss eine Kaskade flüssigen Silbers über der schwer zerstörten Stadt aus. Er rief ihn zu sich, wie er alle Wölfe rief. Hätte er keine Aufgabe zu erledigen gehabt, wäre er aus Atlanta hinaus zu dem magischen Wald dahinter gerannt, hätte seine menschliche Haut gegen ein Fell und vier Pfoten eingetauscht und ihn angesungen. Seine menschlichen Stimmbänder hatten bei dem Kampf, der sein Gesicht entstellt hatte, großen Schaden erlitten, aber seine Wolfsstimme war so gut wie früher. Er würde in den Silberglanz eintauchen, bis er ihm aus den Augen strahlte, und ein langes Lied über die Jagd durch den dunklen Wald in tiefer Nacht singen. In Nächten wie dieser erinnerte er sich daran, dass er erst zwanzig war. Aber er musste weiter.
Calebs fünf Mörder hatten sich nicht weit vom Haus entfernt, das sie zerstört hatten, etwa acht Kilometer, deshalb lief er in einem lockeren Tempo von etwa fünfundzwanzig Kilometern pro Stunde und nahm die Nachtluft in seine Lungen auf. Das Casino glitt vorbei, eine weiße Festung, die im Mondschein grün aussah. Er konnte gerade noch die hageren, unmenschlichen Gestalten der auf den Brüstungen herumkriechenden untoten Vampire erkennen, die von je einem menschlichen Navigator telepathisch gesteuert wurden. Derek hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu töten, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Das passierte nicht sehr oft – die Vampire gehörten dem Volk, und das Volk und Kate hatten einen vorübergehenden Waffenstillstand geschlossen. Er war damit nicht einverstanden, aber es war nötig. Manchmal musste man seine persönlichen Gefühle zurückstellen und tun, was nötig war.
Eine Woge der Magie überflutete die Welt, löschte die vereinzelten elektrischen Lichter aus und entzündete die geladene Luft in den verschlungenen Glasröhren der Feenlampen. Das magische Licht war blau und unheimlich. Macht erfüllte ihn. Seine Muskeln wurden stärker, sein Herz pumpte mit jedem Schlag mehr Blut, die Gerüche und Geräusche wurden schärfer. Als wäre er mit einer durchsichtigen Plastikkapuze über dem Kopf durch die Welt gegangen, die ihm plötzlich heruntergerissen worden war. Die Luft schmeckte frisch. Reine Freude erfüllte ihn, und für einen kurzen Augenblick vergaß er die hingerichtete Familie, grinste und rannte einfach nur.
Die richtige Straße tauchte viel zu früh auf. Er sprang, prallte von einer Eiche ab, um eine scharfe Kurve zu nehmen, und ließ sich in den dunklen indigoblauen Schatten neben einem Haus fallen. Seine Ohren nahmen die Geräusche von Möbeln auf, die herumgerückt wurden. Jemand durchwühlte das Haus der Ives. Diese Nachbarschaft zog Plünderer förmlich an.
Das Krachen hörte auf.
Er wartete eine Weile.
Nichts.
Er stand windwärts zu ihnen. Vielleicht hatten sie aus irgendeinem anderen Grund aufgehört. Es war aber auch möglich, dass sie ihn wittern konnten. Es gab nur einen Weg, um es herauszufinden.
Derek richtete sich auf und ging auf das Haus zu.
Drei Leute kamen aus dem Gebäude und schwärmten auf der Straße aus. Sie bewegten sich in einer verräterischen Balance. Gestaltwandler. Doch sie gehörten eindeutig nicht zum Herrn der Bestien. Derek kannte alle Gestaltwandler, die in der Stadt arbeiteten, und sie kannten ihn. Diese drei kamen ihm nicht bekannt vor. Eine Gruppe des Rudels hätte hier ohnehin nichts zu suchen gehabt. Die Ives waren Menschen, und das Haus stand weit von der unsichtbaren Grenze entfernt, die Atlanta in das Territorium des Rudels und die restliche Stadt zerschnitt.