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Seit Atlanta unter Kate Daniels Schutz steht, hat sich das Verhältnis zu ihrem mächtigen Vater nicht zum Besten gewendet. Roland fordert sie stets heraus, doch einem Kampf ist Kate noch nicht gewachsen. Zu allem Überfluss hat ein Orakel geweissagt, dass Atlanta brennen wird und ihr Geliebter Curran Lennart für immer verloren ist, sollten Kate und er ihren Bund durch eine Hochzeit besiegeln. Die Zukunft sieht wirklich düster aus ... doch hat sich Kate jemals dem Schicksal unterworfen?
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Seitenzahl: 540
ILONA ANDREWS
Stadt der Finsternis
UNHEILIGER BUND
Roman
Ins Deutsche übertragen vonBernhard Kempen
Nachdem Kate Daniels und ihr Geliebter Curran Atlanta abermals vor dem Untergang retten konnten, müssen sie sich dringenderen Problemen zuwenden: ihrer Hochzeit! Die beiden wollen den Schritt wagen und vor den Traualtar treten. Vermählen soll sie Roman, der Priester des Gottes des Bösen – mit einem erstaunlich geschmackssicheren Händchen für Brautkleid, Häppchen und Partyplanung. Doch über allem dräut der Konflikt mit Kates gottähnlichem Vater Roland: Zwar hat er Atlanta Kates Schutz überlassen, aber im gleichen Atemzug vor den Toren der Stadt eine kleine Enklave für sich geschaffen … und fordert seine Tochter immer wieder heraus. Als er den Eisgott Saiman entführt, kann Kate diesen Affront nicht auf sich sitzen lassen. Sie muss ihren Vater konfrontieren, wohlwissend, eine Auseinandersetzung mit ihm nicht gewinnen zu können. Währenddessen geraten die Hochzeitsvorbereitungen ins Stocken – und ein Kampf zwischen Kate und Roland rückt unaufhaltsam näher. Da weissagt ein Orakel etwas Furchtbares: Sollten Kate und Curran sich vermählen, wird Atlanta brennen, und der Herr der Bestien ist dem Tod geweiht. Die Chancen stehen ziemlich schlecht für sie, doch Kate ist die Letzte, die sich vom Schicksal unterwerfen lässt …
Für Onkel Gene. Wir vermissen dich.
Der Totenschädel starrte mich aus leeren Augenhöhlen an. Auf der Stirn prangten merkwürdige Runen, die in den gelblichen Knochen eingeritzt und mit schwarzer Tinte ausgefüllt waren. Der schwere Unterkiefer trug eine Reihe langer Reißzähne, die scharf und kegelförmig wie Krokodilzähne aussahen. Der Schädel steckte oben auf einem alten Stoppschild. Jemand hatte die Fläche des Achtecks weiß übermalt und mit großen gezackten Buchstaben BETRETEN VERBOTEN! quer darüber geschrieben. Ein rötlich brauner Spritzer beschmutzte den unteren Rand und sah verdächtig nach getrocknetem Blut aus. Ich beugte mich näher heran. Ja, Blut. Auch ein paar Haare. Menschenhaare.
Curran betrachtete stirnrunzelnd das Schild. »Meinst du, er will uns damit etwas sagen?«
»Ich weiß nicht. Er macht es sehr dezent.«
Ich blickte am Schild vorbei. Etwa hundert Meter weiter stand ein zweistöckiges Haus. Offensichtlich war es in der Nachwendezeit aus solidem Holz und Sandstein von Hand gebaut worden, damit es die Magiephasen sicher überstand. Doch es war kein quadratischer oder rechteckiger Kasten wie die meisten Gebäude der Nachwendezeit, sondern mit dem Schnickschnack eines modernen Hauses im Prärie-Stil der Vorwendezeit ausgestattet: hohe Fenster in schwungvollen horizontalen Reihen und ein großzügiger Grundriss. Doch im Gegensatz zu den üblichen langen Flachdächern mit wenig Ornamentik des Prärie-Stils protzte dieses Haus mit aufwendig geschnitzten Giebeldächern, schönen Ortgängen und kunstvoll verzierten Holzfenstern.
»Als hätte man ein russisches Blockhaus und ein Haus aus der Vorwendezeit in einen Mixer gesteckt und dann hier abgeladen.«
Curran blickte finster drein. »Das ist sein … wie nennst du es? Terem.«
»Ein Terem ist, wo russische Prinzessinnen wohnten.«
»Genau.«
Zwischen uns und dem Haus war der Boden schwarz. Er sah weich und pulvrig aus, wie Blumenerde oder ein frisch gepflügter Acker. Ein Pfad aus wackeligen, halb vermoderten und gespaltenen alten Brettern zog sich in weitem Bogen bis zur Eingangstür. Ich hatte, was die schwarze Erde betraf, kein gutes Gefühl.
Wir hatten versucht, um das Haus herumzugehen, und waren in einen dichten, dornigen Naturzaun aus wilden Rosenbüschen, Brombeergestrüpp und Bäumen geraten. Der Zaun war vier Meter hoch, und als Curran versucht hatte, hoch genug zu springen, um hinüberschauen zu können, waren die dornigen Ranken wie Lassos hervorgeschossen und hatten sich heldenhaft bemüht, ihn auf das Grundstück zu ziehen. Nachdem ich ihm geholfen hatte, die Stacheln aus den Händen zu zupfen, entschieden wir uns zum Frontalangriff.
»Keine Tierfährten auf dem Boden«, berichtete ich.
»Ich wittere auch keine Tiere«, sagte Curran. »Überall um uns herum und im Wald sind Duftspuren, nur nicht hier.«
»Deshalb hat er diese riesigen Fenster ohne Gitter. Nichts kann sich dem Haus nähern.«
»Entweder das, oder es ist ihm egal. Warum zum Teufel geht er nicht ans Telefon?«
Wer konnte schon die Handlungen des Priesters des Gottes Allen Übels und der Finsternis nachvollziehen?
Ich nahm einen Kieselstein, warf ihn in auf den Erdboden und machte mich auf etwas gefasst. Nichts. In der Erde explodierten keine Mäuler voller Zähne, es gab weder ein magisches Feuer noch einen erderschütternden Knall. Der Stein blieb einfach liegen.
Wir könnten später zurückkommen, nach der Magiephase. Das wäre vernünftig. Doch wir waren zehn Meilen durch den nervigen Verkehr in der strapaziösen Sommerhitze Georgias gefahren und eine weitere Meile durch den Wald hierhergelaufen, und unser Termin rückte schnell näher. Irgendwie würde ich in das Haus hineinkommen.
Ich setzte den Fuß auf das erste Brett. Es sank unter meinem Gewicht ein wenig ein, aber es hielt. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Es hielt immer noch.
Ich ging auf Zehenspitzen über die Bretter, Curran dicht hinter mir. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt …
Der dunkle Boden erzitterte.
Noch zwei Schritte.
Rechts von uns bildeten sich Wellen in der Erde, wie in einem pechschwarzen Meer, und ein kleiner Hügel wölbte sich auf.
Au weia!
»Rechts!«, murmelte ich.
»Ich sehe es.«
Lange schlangenartige Knochendornen stachen durch den Hügel und glitten durch den Boden auf uns zu wie die Finnen einer Seeschlange dicht unter der Oberfläche eines mitternachtsschwarzen, pulvrigen Ozeans.
Wir sprinteten zur Tür.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie links eine Wolke aus loser Erde explodierte. Ein schwarzer Skorpion von der Größe eines Ponys schoss heraus und krabbelte hinter uns her.
Würden wir seinen Hausskorpion töten, würde er uns das nie verzeihen.
Ich rannte die Veranda hinauf und schlug gegen die Tür. »Roman!«
Hinter mir brachen die knöchernen Dornen aus der Erde. Was mir wie Finnen vorgekommen war, erwies sich als ein Gewimmel aus Tentakeln, deren einzelne Segmente durch Knorpelreste und getrocknetes faseriges Bindegewebe zusammengehalten wurden. Die Tentakel peitschten und packten Curran. Er schloss die Hände um die Knochen und zog sie mit aller Kraft auseinander. Die Knochen knirschten, das Bindegewebe zerriss, und der linke Tentakel schlug wild um sich, als die Hälfte auf dem Boden lag.
»Roman!« Verdammt noch mal!
Ein knöcherner Tentakel packte mich und riss mich zurück und in die Höhe und ließ mich zwei Meter über dem Boden hängen. Der Skorpion schoss vor und hielt seinen Stachel zum Töten bereit.
Die Tür schwang auf, und da stand Roman. Er trug ein T-Shirt und eine karierte Pyjamahose. Das dunkle, an den Seiten ausrasierte Haar bildete eine lange pferdeähnliche Mähne, die links vom Kopf abstand. Er machte den Eindruck, als hätte er geschlafen.
»Was hat das zu bedeuten?«
Alles erstarrte.
Roman sah mich blinzelnd an. »Was macht ihr beiden denn hier?«
»Wir mussten zu dir kommen, weil du nicht an dein verdammtes Telefon gehst.« Currans Stimme klang eiskalt, was bedeutete, dass er mit seiner Geduld am Ende war.
»Ich bin nicht rangegangen, weil ich den Stecker gezogen hatte.«
Roman winkte. Der Skorpion zog sich zurück. Die Tentakel setzten mich sanft ab und glitten in die Erde zurück.
»Das würdest du auch machen, wenn du mit meiner Familie verwandt wärst. Meine Eltern streiten sich mal wieder, und ich soll Partei ergreifen. Ich habe ihnen gesagt, sie könnten mit mir reden, wenn sie sich wieder wie verantwortungsbewusste Erwachsene benehmen.«
Eher würde die Hölle gefrieren! Romans Vater Grigorii war der oberste schwarze Wolchw der Stadt. Seine Mutter Evdokia war ein Drittel des Hexenorakels. Wenn sie Streit hatten, kochte er nicht nur über, sondern explodierte förmlich.
»Bislang bin ich beiden aus dem Weg gegangen und genieße die Ruhe und den Frieden. Kommt herein.«
Er hielt uns die Tür auf. Ich trat an ihm vorbei in ein riesiges Wohnzimmer. Goldene Holzböden, ein riesiger Kamin, zehn Meter hohe Decken und bequeme Möbel. Überfüllte Bücherregale säumten die hintere Wand. Hier sah es richtig gemütlich aus.
Curran kam hinter mir herein und ließ das Wohnzimmer auf sich wirken. Er zog die dichten Augenbrauen hoch.
»Was?«, fragte Roman.
»Kein Altar?«, fragte Curran. »Keine blutigen Messer und verängstigte Jungfrauen?«
»Keine von Totenschädeln umringte Opfergrube?«, fragte ich.
»Ha, ha.« Roman verdrehte die Augen. »Der ist gut. Die Jungfrauen sind im Keller angekettet. Wollt ihr einen Kaffee?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ja«, sagte Curran.
»Schwarz?«
»Nein, mit Sahne.«
»Guter Mann. Nur zwei Sorten Mensch trinken ihren Kaffee schwarz: Bullen und Serienmörder. Nehmt Platz.«
Ich setzte mich aufs Sofa und versank fast darin. Beim Aufstehen würde ich Hilfe brauchen. Curran lümmelte sich neben mich.
»Hübsch«, sagte er.
»Hm.«
»Wir sollten uns so eins fürs Wohnzimmer zulegen.«
»Bei uns würde nur Blut draufkommen.«
Curran zuckte mit den Schultern. »Na und?«
Roman kehrte mit zwei Bechern zurück, der eine pechschwarz, der andere offensichtlich zur Hälfte mit Sahne gefüllt. Er reichte Curran den helleren Becher.
»Du trinkst ihn schwarz, verstehe«, sagte ich zu ihm.
Mit einem Schulterzucken setzte er sich aufs Sofa. »Äh, das gehört zum Job. Und was kann ich für euch tun?«
»Wir wollen heiraten«, sagte ich.
»Ich weiß. Glückwunsch! In der Iwan-Kupala-Nacht, der Sommersonnenwende. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber jedenfalls ist es mutig.«
Die Iwan-Kupala-Nacht war in der slawischen Folklore eine Zeit wilder Magie. Die alten Russen glaubten, dass an diesem Datum die Grenzen zwischen den Welten verschwammen. In unserem Fall würde die Woge der Magie sehr stark sein. In der Iwan-Kupala-Nacht ereigneten sich merkwürdige Dinge. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich einen anderen Tag gewählt, aber Curran hatte das Datum festgelegt. Für ihn war es der letzte Tag des Werwolfsommers, ein Feiertag der Gestaltwandler und der perfekte Tag für unsere Hochzeit. Ich hatte ihm zugesagt, ihn zu heiraten, und wenn er in der Iwan-Kupala-Nacht heiraten wollte, dann sollte es so sein. Nachdem ich den Tag mehrere Male verschoben hatte, war es das Mindeste, was ich tun konnte.
»Seid ihr gekommen, um mich einzuladen?«, fragte Roman.
»Ja«, sagte Curran. »Wir möchten, dass du die Trauung vollziehst.«
»Wie bitte?«
»Wir möchten, dass du uns traust«, erklärte ich.
Roman machte große Augen. Er zeigte auf sich. »Ich?«
»Ja«, sagte Curran.
»Euch trauen?«
»Ja.«
»Ihr wisst schon, was ich tue, oder?«
»Ja«, sagte ich. »Du bist Tschernobogs Priester.«
»Tschernobog« bedeutete wörtlich Schwarzer Gott, und er war auch unter anderen spaßigen Namen wie Schwarze Schlange, Herr der Dunkelheit, Gott der Eisigen Kälte, der Zerstörung, des Bösen und des Todes bekannt. Bei einigen antiken Slawen war das Pantheon in helle und dunkle Gegenkräfte aufgeteilt. Diese Kräfte bestanden nebeneinander im Gleichgewicht, und so betrachtet war Tschernobog ein notwendiges Übel. Jemand musste sein Priester sein, und schließlich fiel Roman der Job zu. Wie er sagte, war es ein Familienunternehmen.
Roman beugte sich vor, und seine dunklen Augen blickten intensiv. »Seid ihr sicher?«
»Ja«, sagte Curran.
»Ihr werdet es euch nicht anders überlegen?«
Warum so viele Fragen? »Machst du es oder nicht?«
»Natürlich mache ich es.« Roman sprang vom Sofa auf. »Ha! Ich wurde noch nie gebeten, jemanden zu trauen. Sonst gehen alle zu meinem Cousin Nikolai, Vasiliys ältestem Sohn.«
Roman hatte einen weitverzweigten Familienstammbaum, aber ich erinnerte mich an seinen Onkel Vasiliy. Er war Belobogs Priester, Tschernobogs Bruder und das genaue Gegenteil von ihm. Er war auch sehr stolz auf seine Kinder, vor allem auf Nikolai, und prahlte bei jeder Gelegenheit mit ihnen.
Roman tauchte hinter dem Sofa ab und kam mit einem Telefon wieder hervor.
»Wenn irgendeine übernatürliche Abscheulichkeit die Kinder entführen will, ruft Roman, damit er zu ihrer Rettung durch Blut und Abwasser waten kann, aber wenn es um etwas Erfreuliches wie eine Hochzeit oder eine Einweihung geht, oh nein, da wollen wir Tschernobogs Wolchw nicht dabeihaben. Das bringt Unglück. Nehmt Nikolai. Wenn er herausfindet, wen ich trauen werde, wird er ein Aneurysma bekommen. Sein Kopf wird explodieren. Wie gut, dass er Arzt ist, vielleicht kann er sich selbst behandeln.«
Er steckte das Telefon an die Steckdose an.
Es klingelte.
Roman starrte es an, als wäre es eine Natter.
Das Telefon klingelte noch einmal.
Er zog den Stecker wieder heraus. »Seht ihr?«
»So schlimm kann es doch nicht sein«, sagte ich zu ihm.
»Oh, es ist schlimm.« Roman nickte. »Mein Dad wollte meiner zweiten Schwester nicht beim Kauf eines Hauses helfen, weil er ihren Freund nicht mag. Meine Mutter rief ihn an, und es endete böse. Sie verfluchte ihn. Immer wenn er Wasser lässt, erhebt sich der Strahl und schießt in die Höhe.«
Oh.
Curran zuckte zusammen.
»Habt ihr Hunger? Wollt ihr was essen?« Roman wackelte mit den Augenbrauen. »Ich habe geräucherte Rinderbrust.«
Curran beugte sich mit plötzlichem Interesse vor. »Saftig oder trocken?«
»Saftig. Bin ich etwa ein Heide?«
Genau genommen war er ein Heide.
»Wir können nicht«, erwiderte ich. »Wir müssen weiter. Wir haben heute Abend Konklave.«
»Ich wusste nicht, dass ihr da immer noch hingeht«, sagte Roman.
»Ghastek hat sie geoutet«, sagte Curran.
Das Konklave hatte als allmonatliches Treffen von Volk und Rudel begonnen. Da die beiden größten übernatürlichen Fraktionen der Stadt oft miteinander in Konflikt gerieten, wurde irgendwann beschlossen, lieber kleine Probleme zu besprechen und zu lösen, als alle fünf Minuten am Rande eines Blutbads zu stehen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich das Konklave zu einem Geschäftstreffen der Mächtigen von Atlanta. Wir waren bei vielen Konklaven anwesend, als Curran Herr der Bestien war, aber nach seinem Rücktritt dachte ich, unsere Tortur wäre vorbei. Tja, so bald wohl nicht.
»Letzten März fingen Rolands Banden an, Lastwagenfahrer zu belästigen«, sagte ich.
»In der Stadt?« Roman runzelte die Stirn.
»Nein.« Ich hatte Anspruch auf Atlanta erhoben, um es vor meinem Vater zu retten, und war nun für die Stadt verantwortlich. Zwischen meinem Vater und mir herrschte ein wackeliger Frieden, den er bisher öffentlich nie verletzt hatte. »Fünf oder sechs Meilen außerhalb des von mir beanspruchten Gebiets. Die Lkw-Fahrer waren mit ihren Fuhrwerken oder Lastwagen unterwegs und wurden plötzlich von zwanzig bewaffneten Leuten aufgehalten, die die Straße blockierten und fragten, wohin sie wollten und weswegen. Die Gewerkschaft wurde nervös und schickte einen Vertreter zum Konklave, der fragte, was wir dagegen unternehmen würden.«
»Warum sind sie nicht einfach zum Orden gegangen?«, fragte Roman. »Dafür ist er doch da.«
»Der Orden und die Gewerkschaft konnten sich nicht einigen«, sagte Curran.
Der Orden der Ritter der mildtätigen Hilfe bot seine Hilfe unter bestimmten Bedingungen an. So erledigten sie etwa einen Auftrag nach eigenem Gutdünken, und die Kunden waren mit dem Resultat nicht immer zufrieden.
»Der Vertreter der Lkw-Fahrer verlangte vom Volk klipp und klar, dass es aufhören solle, ihre Transporte zu schikanieren«, sagte Curran. »Ghastek erwiderte ihm, dass Kate als Einzige in der Lage wäre, das hinzubekommen.«
»Ist es dir gelungen?«
»Ja«, sagte ich. »Deshalb muss ich jetzt an den Treffen des Konklave teilnehmen.«
»Ich bin als zukünftiger Ehegatte zur Unterstützung dabei.« Curran entblößte grinsend die weißen Zähne.
»Und warum legt sich dein Vater mit den Transporteuren an?«, fragte Roman.
»Ohne Grund. Er tut es, um mich zu ärgern. Er ist ein unsterblicher Zauberer mit Größenwahn. Wörter wie ›nein‹ oder ›Grenze‹versteht er nicht. Es wurmt ihn, dass ich dieses Land habe. Er kann es nicht einfach loslassen, darum treibt er sich an meiner Grenze herum. Er hat versucht, am Rand von Atlanta einen Turm zu bauen. Ich habe ihn gezwungen, ihn zu verlegen. Deshalb baut er sich jetzt ungefähr fünf Meilen außerhalb ›eine kleine Residenz‹.«
»Wie klein?«, fragte Roman.
»Ungefähr dreitausend Quadratmeter«, sagte Curran.
Roman pfiff, klopfte dann auf den Holztisch und spuckte dreimal über seine Schulter.
Curran sah mich an.
»Im Haus pfeifen bringt Unglück«, erklärte ich ihm.
»Du wirst all dein Geld wegpfeifen«, sagte Roman. »Dreitausend Quadratmeter?«
»Mehr oder weniger. Er macht Kate immer wieder Ärger«, sagte Curran. »Seine Bauarbeiter stören das Jagdgebiet des Rudels außerhalb von Atlanta. Seine Soldaten setzen ständig den kleinen Siedlungen außerhalb des beanspruchten Gebiets zu, damit ihm die Leute ihr Land verkaufen.«
Mein Vater trieb mich allmählich in den Wahnsinn. Während der Magiephasen durchquerte er mein Gebiet, damit ich seine Anwesenheit spüren konnte, verließ es aber wieder, bevor ich da war und ihn rausschmeißen konnte. Während der ersten paar Male war ich ausgeritten und hatte einen Krieg befürchtet, aber es war nie jemand da, gegen den ich kämpfen konnte. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, wenn ich spürte, dass er in mein Land eindrang; dann lag ich zähneknirschend da und kämpfte gegen den Drang an, zum Schwert zu greifen und aus dem Haus zu stürzen, um ihn zur Strecke zu bringen.
»Vergiss nicht die Monster«, sagte ich. »Sie vermehren sich außerhalb der Grenze, um Atlanta zu überfallen.«
»Es lässt sich nur in den wenigsten Fällen auf ihn zurückverfolgen«, sagte Curran. »Wenn, dann stellt sie ihn zur Rede. Er entschuldigt sich und zahlt eine großzügige Entschädigung.«
»Am Ende sitzen wir alle in einem Fischlokal, wo er die gesamte Speisekarte bestellt und die Kellner uns mit glasigen Augen bedienen«, sagte ich.
Curran trank seinen Kaffee in einem Zug aus. »Letzte Woche griff ein Harpyien-Schwarm Druid Hills an. Die Gilde brauchte sechs Stunden, um sie zu erledigen. Ein Söldner landete mit einer akuten magischen Tollwut im Krankenhaus.«
»Zumindest ist es Tollwut«, sagte Roman. »Sie übertragen auch Lepra.«
»Ich habe Roland zur Rede gestellt«, sagte ich. »Er antwortete: ›Wer weiß schon, warum Harpyien irgendetwas tun, meine Blüte.‹ Dann erzählte er mir, er hätte zwei Karten, um Aivisha singen zu hören, und auf einer würde mein Name stehen.«
»Eltern!« Roman seufzte. »Man kann nicht mit ihnen leben. Man kommt nicht von ihnen weg. Versucht man wegzuziehen, kaufen sie sich ein Haus in der neuen Nachbarschaft.«
»Das ist der einzige Vorteil, wenn beide Eltern ermordet wurden«, sagte Curran. »Ich habe kein Elternproblem.«
Roman und ich sahen ihn an.
»Wir müssen jetzt wirklich los«, sagte ich.
»Danke für den Kaffee.« Curran stellte den leeren Becher auf den Tisch.
»Keine Ursache«, sagte Roman. »Ich kümmere mich um die Trauung.«
»Das rechnen wir dir hoch an«, sagte ich.
»Oh nein, nein. Es ist mir ein Vergnügen.«
Wir standen auf und gingen zur Tür, die ich schwungvoll öffnete. Ein schwarzer Rabe flatterte an mir vorbei und landete auf der Sofalehne.
Roman hielt sich die Hände vors Gesicht.
»Da bist du ja«, sagte der Rabe mit Evdokias Stimme. »Du undankbarer Sohn.«
»Es geht schon wieder los …«, murmelte Roman.
»Achtzehn Stunden Geburtswehen, und das ist der Dank. Er kann nicht mal ans Telefon gehen, um mit seiner Mutter zu reden.«
»Mutter, siehst du nicht, dass ich Besuch habe?«
»Ich wette, wenn ihre Mütter anrufen, gehen sie ans Telefon.«
Das wäre mal ein hübscher Trick für uns. Leider ließen sich auch im Atlanta der Nachwendezeit keine toten Mütter herbeizaubern.
»Es war nett, dich zu sehen, Roman.« Ich nahm Currans Hand.
Der Vogel fuhr zu mir herum. »Katya!«
Oh nein.
»Geh nicht. Ich muss mit dir reden.«
»Ich muss los, tschüss!«
Ich sprang aus dem Haus. Curran war nur eine halbe Sekunde hinter mir und stieß die Tür zu. Ich rannte den Holzpfad entlang, bevor Evdokia auf die Idee kommen konnte, mir nachzuspüren.
»Läufst du tatsächlich vor Evdokia weg?«
»Ja, genau.« Die Hexen waren nicht besonders erfreut über mich. Sie hatten mir den Schutz Atlantas und seiner Hexenzirkel anvertraut, und ich hatte stattdessen Anspruch auf die Stadt erhoben.
»Vielleicht könnten wir das Konklave heute Abend auslassen«, sagte Curran.
»Das geht nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil Mahon an der Reihe ist.«
Der Kodiakbär von Atlanta war tapfer und mächtig, und er war für Curran so etwas wie ein Vater. Außerdem hatte er die verblüffende Fähigkeit, alle im Raum gegen sich aufzubringen, sodass er sich verteidigen musste, wenn es zu einer Schlägerei kam. Er nahm die Selbstverteidigung sehr ernst. Und manchmal war kein Stein mehr auf dem anderen, wenn er damit fertig war.
»Jim wird da sein«, sagte Curran.
»Nein.« Die Alphas des Rudels wechselten sich beim Konklaven-Dienst ab, sodass niemals die gesamte Führungsriege ausgelöscht werden konnte, falls im Konklave etwas passieren sollte. »Jim war letztes Mal dabei. Du würdest es wissen, wenn du hingegangen wärst, statt gegen das Ding in der Kanalisation zu kämpfen. Es werden Raphael und Andrea, Desandra und dein Vater da sein. Unbeaufsichtigt.«
Curran fluchte. »Was hat sich Jim bei dieser Aufstellung verdammt noch mal gedacht?«
»Geschieht dir recht, wenn du so tust, als hättest du keine Elternprobleme.«
Er knurrte leise vor sich hin.
Mahon und ich waren nicht immer einer Meinung. Er fand, dass ich keine gute Partnerin für Curran war, außerdem war ich angeblich schuld daran, dass Curran das Rudel verlassen hatte. Das hatte er mir gesagt, aber inzwischen hatte er sich damit abgefunden. Da wir beide Curran liebten, mussten wir miteinander auskommen und machten das Beste daraus. Obwohl Mahon in letzter Zeit ungewöhnlich nett zu mir gewesen war. Aber das war vermutlich eine Falle.
»Wir bringen das Konklave hinter uns, gehen dann nach Hause, trinken Kaffee und essen den Apfelkuchen, den ich gestern Abend gebacken habe«, sagte ich. »Es wird wunderbar.«
Er legte die Arme um mich. »Das Konklave ist doch nur ein Abendessen.«
»Schön wär’s.«
»Wie …«
Ich sah ihn an. »Im Ernst. Ich möchte einen netten, ruhigen Abend verbringen.«
»… schlimm könnte es werden?«
»Jetzt hast du es verdorben. Falls ein brennender Riese durch ein Fenster geflogen kommt und alle zerquetschen will, während wir im Konklave sind, werde ich dir in den Arm knuffen.«
Während wir über den gewundenen Waldweg zu unserem Wagen joggten, lachte er.
*
Im Bernard’s war es zwar immer voll, aber nie überfüllt. In dem Restaurant, das in einem massiven Gebäude im englischen Landhausstil in einem wohlhabenden nördlichen Stadtviertel untergebracht war, musste man mindestens zwei Wochen im Voraus reservieren. Das Essen war sehr edel und teuer, die Portionen winzig, aber die eigentliche Attraktion waren die Stammgäste. Männer in Tausend-Dollar-Anzügen und Frauen in glitzernden Kleidern mit glänzenden Steinen an Hals und Armen standen herum und unterhielten sich höflich und mit gedämpfter Stimme, während sie an Wein und teurem Likör nippten.
Curran und ich marschierten ins Bernard’s in unserer Arbeitskleidung: abgewetzte Jeans, T-Shirts und Stiefel. Ich hätte gern auch mein Schwert dabeigehabt, aber Waffen waren im Bernard’s streng untersagt, also musste Sarrat im Wagen warten.
Die Leute starrten uns an, als wir zum Sitzungszimmer gingen. Eigentlich starrten und flüsterten sie immer.
»Ist sie das?«
»Sie sieht nicht aus wie …«
Ahhh!
Curran wandte sich mit eiskalten Augen und ausdrucksloser Miene dem Geflüster zu. Es verstummte sofort.
Wir betraten das Sitzungszimmer, wo ein langer Tisch hergerichtet worden war. Das Rudel war bereits versammelt. Mahon saß in der Mitte, mit Blick zur Tür, Raphael rechts von ihm, Desandra drei Plätze weiter zu seiner Linken. Mahon sah uns und grinste, strich sich den Bart, der früher einmal schwarz und jetzt silber meliert war. Wer den Kodiak von Atlanta sah, dem fiel sofort ein Wort ein: »gewaltig«. Groß mit massiven Schultern, einem enormen Brustkasten und breit, aber nicht dick, vermittelte Mahon Stärke und rohe körperliche Kraft. Während Curran eine explosive Gewalt ausstrahlte, sah Mahon aus wie jemand, der ein einstürzendes Dach auffangen und gerade mal leise ächzend aufhalten könnte.
Raphael neben ihm hätte nicht unterschiedlicher sein können. Der Alpha des Bouda-Clans mit den stechenden blauen Augen war schlank, groß und dunkel, aber er sah nicht nur auf normale Weise gut aus. Es gab etwas in seinem Gesicht, das Frauen in seinen Bann schlug. Sie sahen ihn an und dachten an Sex. Dann sahen sie seine bessere Hälfte und beschlossen, dass es die Sache nicht wert war. Vor allem in letzter Zeit, denn Andrea war im neunten Monat schwanger und kommunizierte hauptsächlich durch Knurren. Aber sie saß nicht am Tisch.
Desandra, hübsch, blond und wie eine Profiboxerin gebaut, stocherte in einem kunstvollen Arrangement aus Blumen und Fleischaufschnitt auf ihrem Teller, was vermutlich irgendeine Gourmetspeise sein sollte. Sie grüßte uns mit einer Gabel und stocherte weiter.
Curran setzte sich neben Mahon. Ich nahm den Stuhl zwischen ihm und Desandra und beugte mich vor, damit ich Raphael sehen konnte. »Wo ist Andrea?«
»In der Festung«, sagte er. »Doolittle will sie im Auge behalten.«
»Ist alles in Ordnung?« Sie war nun jeden Tag fällig.
»Alles bestens«, sagte Raphael. »Doolittle weicht ihr nicht von der Seite.«
Und der Heilmagier des Rudels war wahrscheinlich der Einzige, der Andrea in ihre Schranken weisen konnte.
»Junge.« Mahon klatschte seine Hand auf Currans Schulter. Er strahlte übers ganze Gesicht. Curran grinste zurück. Allein dafür hatte sich das Konklave fast schon gelohnt.
»Alter Mann«, sagte Curran.
»Du siehst dünner aus. Nimmst du für die Hochzeit ab? Oder gibt sie dir nicht genug zu essen?«
»Er isst, was er tötet«, sagte ich. »Ich kann nichts dafür, dass er ein miserabler Jäger ist.«
Mahon schmunzelte.
»Ich hatte viel zu tun«, sagte Curran. »Die Gilde macht eine Menge Arbeit. Außerhalb der Festung ist kein Schlaraffenland. Du solltest es mal ausprobieren. Du kriegst jetzt schon einen Bauch, und der Winter kommt erst in sechs Monaten.«
»Ach ja.« Mahon drehte sich um, kramte in der über den Stuhl gehängten Tasche und holte eine große rechteckige Tupperdose hervor. »Die schickt euch Martha, weil ihr nie zum Haus kommt.«
Curran öffnete den Deckel. Sechs perfekte goldene Muffins. Der Duft von Honig und Vanille schwebte über den Tisch. Desandra wurde plötzlich lebendig wie ein Wolf im Winter, der in seiner Nähe ein Häschen hört.
Curran nahm einen Muffin, reichte ihn mir und biss in den zweiten hinein. »Wir waren letzte Woche bei euch im Haus.«
»Ich war für den Clan unterwegs. Das zählt nicht.«
Ich biss in den Muffin, und die fünf Minuten, in denen ich ihn kaute, waren himmlisch.
Das Volk betrat den Saal im Gänsemarsch. Angeführt von Ghastek, der groß, schrecklich dünn und durch den schwarzen Anzug noch dünner wirkte. Rowena lief einen Schritt hinter ihm und sah wie immer verblüffend gut aus. Heute trug sie ein whiskyfarbenes Cocktailkleid, das ihre üppigen Brüste und Hüften umschmeichelte und die schlanke Taille betonte. Die Kaskade ihrer roten Haare war zu einem dicken Zopf geflochten und auf der Seite zu einem Knoten gedreht. Ich wüsste nicht einmal, womit man anfangen musste, um eine solche Frisur zu bekommen.
Ich vermisste mein langes Haar. Es reichte gerade noch bis zu den Schultern, und ich konnte nicht viel damit anfangen, außer es offen zu tragen oder zu einem Pferdeschwanz zu binden.
Curran beugte sich zu mir herüber. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Warum sind die beiden nie zusammengekommen?«
»Keine Ahnung. Warum sollten sie?«
»Weil alle anderen Herren der Toten eine Beziehung haben. Die beiden sind ungebunden und ständig zusammen.«
Gestaltwandler tratschten mehr als alte Damen. »Vielleicht sind sie ja zusammen, und wir wissen es nur nicht?«
Curran schüttelte leicht den Kopf. »Nein, ich habe sie jahrelang observieren lassen. Er kam nie aus ihrem Haus, und sie nie aus seinem.«
Das Volk nahm uns gegenüber Platz.
»Steht etwas Wichtiges an?«, fragte Ghastek.
Mahon zog ein liniertes Blatt hervor.
Eine halbe Stunde später hatten das Volk und das Rudel nichts mehr zu besprechen. Es war nichts Schlimmes passiert, und der aufkeimende Streit über eine Immobilienfirma auf der Grenze zwischen Rudel und Volk war schnell beigelegt.
Es wurde Wein serviert, gefolgt von raffinierten Nachspeisen, die jedoch nicht annähernd an Marthas Honigmuffins herankamen. Es war tatsächlich ganz nett, dort zu sitzen und lieblichen Wein zu nippen. Ich hätte nie gedacht, dass mir das Rudel fehlen würde, aber ein wenig vermisste ich es schon. Vor allem die großen Gelage und die Verbundenheit.
»Glückwunsch zur bevorstehenden Hochzeit«, sagte Ghastek.
»Danke«, gab ich zurück.
Eigentlich gehörten Ghastek und das gesamte Büro des Volkes in Atlanta meinem Vater, der sie im Stillen verstärkt hatte. Ghastek wurden zwei neue Herren der Toten zugewiesen, sodass es nun insgesamt acht Herren der Toten gab. Auch dem Casino waren mehrere neue Gesellen zugeteilt worden. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, hin und wieder daran vorbeizufahren, und jedes Mal spürte ich mehr Vampire innerhalb der weiß strukturierten Mauern des Palastes. Ghastek war wie ein Dolch, der es auf meinen Rücken abgesehen hatte. Bisher war der Dolch in der Scheide geblieben, und er war sehr freundlich zu mir, aber ich vergaß nie, wem er Gefolgschaft leistete.
»Ghastek, warum hast du nie geheiratet?«, fragte ich.
Er schenkte mir ein dünnes Lächeln. »Wenn ich heiraten würde, wollte ich auch eine Familie. Für mich ist eine Ehe mit Kindern verbunden.«
»Und was ist das Problem? Bist du impotent?«, fragte Desandra.
Ich wäre am liebsten tot umgefallen.
»Nein«, antwortete Ghastek ihr. »Falls du es nicht bemerkt hast, die Stadt befindet sich im Belagerungszustand. Da wäre es unverantwortlich, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn man nicht für seine Sicherheit sorgen kann.«
»Dann zieh woandershin«, sagte Desandra.
»Es gibt keinen Ort auf diesem Planeten, der vor ihrem Vater sicher ist«, sagte Rowena. »Solange er lebt …«
Ghastek legte seine langen Finger auf ihre Hand. Rowena riss sich wieder zusammen. »… solange er lebt, sind wir ihm zu Diensten. Wir bestimmen nicht über unser Leben.«
Nick Feldmann kam zur Tür herein. Der Orden der mildtätigen Hilfe nahm nur selten am Konklave teil. Das war kein gutes Zeichen. Ganz und gar nicht.
»Hier kommt der Protektor«, warnte Raphael uns leise.
Alle blickten zu Nick. Er blieb vor dem Tisch stehen. Als ich Nick zum ersten Mal begegnete, sah er wie ein Penner aus, der sich bei Bedarf aufhübschte. Als ich ihn wiedersah, war er als verdeckter Ermittler für Hugh d’Ambray tätig, den Kriegsherrn meines Vaters, und sah aus wie jemand aus Hughs innerem Zirkel: hart, schnell, ohne Schwächen, wie eine zu unzerbrechlicher Härte geschliffene Waffe. Jetzt lag er irgendwo dazwischen. Er zeigte immer noch keine Schwächen, hatte kurzes braunes Haar, bleigraue Augen und war wie eine stille Bedrohung, die mich nervös machte.
Nick hasste mich. Meine Mutter war an Nicks unglücklicher Kindheit schuld. Vermutlich war das nicht der einzige Grund, warum er mich hasste, aber es half. Nick verabscheute mich, weil er meinem Vater sehr nahegekommen war. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Roland agierte, und dachte, ich wäre genauso. Ich war froh, dass ich ihn in dieser Hinsicht enttäuschen musste.
»Genießt ihr euer Essen als große glückliche Familie?«, fragte er.
»Der Protektor beehrt uns mit seiner Anwesenheit«, sagte Rowena.
»He, Hübscher!« Desandra zwinkerte ihm zu. »Erinnerst du dich an mich?«
Sie waren schon einmal aneinandergeraten und hätten sich fast gegenseitig umgebracht. Nick sah sie nicht an, aber ein kleiner Muskel in seinem linken Augenwinkel zuckte. Er erinnerte sich also.
»Was können wir für dich tun?«, erkundigte sich Curran.
»Für mich nichts.« Nick richtete den Blick auf mich.
»Spuck es aus«, sagte ich zu ihm.
Er warf eine Handvoll Papiere auf den Tisch. Sie fächerten sich im Fallen auf. Fotos. Die steinerne »Residenz« meines Vaters. Schwarz gekleidete Soldaten zogen gemeinsam eine riesige Leiche zu den Toren. Die schneeweiße Haut des nackten Oberkörpers war mit blauen und roten Flecken übersät. Ein schwarzer Sack verbarg den Kopf. Auf einem anderen Bild waren die Beine der Person zu sehen, deren Füße wie Hackfleisch zugerichtet waren. Wer auch immer das war, für einen normalen Menschen war er oder sie zu groß.
Raphael hob das Foto neben sich auf, stand auf und legte es behutsam vor mich hin.
Die Kapuze war heruntergezogen. Eine Mähne aus bläulichem Zottelhaar fiel über die Schultern des Gefangenen. Sein Gesicht war unscharf, aber ich erkannte ihn trotzdem. Saiman. In seiner natürlichen Gestalt.
Mein Vater hatte Saiman gekidnappt.
Sofort kochte glühend heiße Wut in mir auf.
Ich hatte all den Mist meines Vaters ertragen, aber dass er nun meine Leute entführte, ging eindeutig zu weit.
»Wann ist das passiert?«, fragte Curran mit ruhiger Stimme.
»Gestern Abend.«
Auf Saiman als Experte für alles Merkwürdige und Magische war in der Vergangenheit immer Verlass gewesen. Aber als ich ihn das letzte Mal anheuern wollte, sagte er mir, dass mich mein Vater früher oder später umbringen würde und er nicht so dumm wäre, für die unterlegene Mannschaft zu spielen. Ich wusste zwar, dass sich Saiman für den Mittelpunkt des Universums hielt, aber es hatte mich dennoch überrascht. Ich hatte ihn mehr als einmal gerettet. Ich hatte keine Freundschaft erwartet – so etwas kannte er nicht –, aber mit einer gewissen Loyalität hatte ich schon gerechnet. Eins wusste ich sicher: Saiman würde nicht für meinen Vater arbeiten. Roland machte ihm Angst. Beim geringsten Anzeichen, dass er sich für ihn interessierte, würde Saiman weglaufen, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Ich wünschte, ich könnte die Entfernung überwinden und einen brennenden Felsen aus dem Weltall auf das Haus meines Vaters stürzen lassen.
Nick blickte zu mir. Ein Teil von ihm musste daran Vergnügen finden. Er lächelte nicht, aber ich konnte es in seinen Augen sehen.
Ich bemühte mich, meine Stimme gelassen klingen zu lassen. »Übernimmt der Orden den Fall?«
»Nein. Der Orden muss darum ersucht werden, aber das ist bislang nicht geschehen.«
»Sollte das nicht unter die Bürger-in-Gefahr-Klausel fallen?«, fragte ich. »Ein Agent des Ordens hat diese Aufnahmen gemacht. Sie haben gesehen, dass Saiman in unmittelbarer Gefahr war, aber sie haben nichts unternommen.«
»Wir unternehmen etwas«, sagte Nick. »Ich setze dich davon in Kenntnis.«
»Dein Mitgefühl ist überwältigend«, sagte Ghastek.
Nick richtete die bleigrauen Augen auf den Herrn der Toten. »Angesichts der Herkunft des beteiligten Bürgers und seines langen und kreativen Strafregisters ist seine Rettung nicht so dringlich. Tatsächlich ist die Stadt ohne ihn sicherer.«
»Warum erzählst du mir das überhaupt?«, fragte ich.
»Weil ich gern zusehe, wenn sich dein Vater und du wie zwei wilde Katzen, die man zusammen in einen Sack steckt, ineinander verbeißen. Würde einer von euch den anderen umbringen, würde es der Welt besser gehen.« Nick lächelte. »Mach ihm die Hölle heiß, Sharrim.«
Mahon schlug mit der Faust auf den Tisch. Das Holz dröhnte wie eine Trommel. »Bleib höflich, wenn du mit meiner Schwiegertochter redest!«
»Deine Schwiegertochter ist eine Abscheulichkeit«, sagte ihm Nick.
Mahon sprang auf. Raphael packte ihn am rechten Arm, Curran am linken.
»So ist es richtig, haltet den tollwütigen Bären in Schach«, sagte Nick. »Deswegen behandelt die Welt euch wie Tiere.«
Ich sprang auf den Tisch, rannte zu Mahon hinüber und stellte mich zwischen ihn und Nick. »Schon gut. Er kotzt sich nur aus, weil er sonst nichts tun kann.«
Nick drehte sich um und verließ den Raum.
Curran ließ seine Muskeln spielen. »Setz dich hin, alter Mann. Setz dich!«
Schließlich ließ sich Mahon auf den Stuhl zurückfallen. »Der verfluchte Mistkerl.«
Raphael sackte auf seinem Stuhl zusammen.
Ich hockte zwischen den Tellern auf dem Tisch. Der Geschäftsführer des Bernard’s würde ausrasten, aber das war mir egal. Mahon zurückzuhalten beanspruchte meine ganze Kraft.
Ghastek und Rowena starrten mich an.
»Wusstet ihr es?«, fragte ich.
Ghastek schüttelte den Kopf. »Wir werden nicht über seine Aktionen unterrichtet.«
»Was wirst du nun tun?«, fragte Desandra.
»Wir müssen ihn rausholen«, sagte ich. Lieber würde ich Glasscherben verspeisen.
»Diesen Perversen?«, fragte Raphael. »Warum lassen wir ihn nicht einfach dort?«
»Weil Roland sich nicht einfach Leute aus der Stadt schnappen kann, wenn es ihm passt«, erklärte Curran. Seine Miene war finster. »Und das Arschloch wusste es, als es mit den Bildern kam.«
»Ich hätte ihm gern den Kopf abgerissen«, sagte Mahon. »Du darfst nicht zulassen, dass man deine Frau beleidigt, Curran. Eines Tages wirst du dich zwischen der Diplomatie und deiner Frau entscheiden müssen. Und ich sage dir jetzt, dass es um deine Frau geht. Der Diplomatie ist es egal, ob du lebst oder tot bist. Deiner Frau nicht.«
Vor mir schlängelte sich die ramponierte Interstate 85 von Bäumen flankiert in die Ferne. Hoch darüber wölbte sich ein von Sonnenschein durchfluteter blauer Himmel. Es war erst sechs Uhr, doch die Temperatur drohte bereits über dreißig Grad zu steigen. Es würde ein verdammt heißer Tag werden.
Ich blickte mich nach den zehn Söldnern hinter mir um, die neben Curran parkten. Sie waren in allen Formen und Größen gekommen. Eduardo überragte alle, mit Ausnahme von Douglas King, der fast zwei Meter groß, war mit Schultern, die durch keine Tür passten, und Beinen wie Baustämme. Douglas rasierte sich den Kopf, weil er glaubte, sonst nicht krass genug auszusehen, und malte sich mit schwarzer Tarnfarbe angeblich magische Runen auf die Kopfhaut und eine Gesichtshälfte. Die Runen waren Unsinn. Das hatte ich ihm schon einmal gesagt. Aber es war ihm egal.
Neben ihm wirkte Ella mit ihren anderthalb Metern noch viel kleiner. Mit schulterlangem braunem Haar, einem hübschen, freundlichen, meist ungeschminkten Gesicht wirkte sie unauffällig und hätte gut in einen Sandwichladen oder eine Tierarztpraxis gepasst. Sie wurde deshalb oft unterschätzt. Ella war zierlich und blitzschnell und konnte mit ihrem geschätzten Wakizashi-Schwert alles in Fetzen schneiden.
Die übrigen Söldner bewegten sich zwischen diesen Extremen: schlank oder wuchtig, groß oder klein. Einige trugen Klingen, andere Pfeil und Bogen. Das war Currans Eliteeinheit, der Kern, um den herum er die neue Gilde aufbaute. Er hatte dieses Team gebildet, als er einen Job übernahm, den alle in der Stadt abgelehnt hatten. Sogar die Red Guard hatte sich zurückgezogen. Die vier Reiter der Apokalypse, das beste Team der Gilde, hatten es rundheraus als selbstmörderisch bezeichnet. Curran und ich übernahmen, Eduardo schloss sich uns an, und irgendwie spuckte die Gilde neun Leute aus, die verrückt genug waren mitzumachen, und gut genug, um es zu überstehen. Wir erledigten die Aufgabe, die Aufträge der Gilde verdoppelten sich über Nacht, und die zehn erarbeiteten sich einen gewissen Ruf. Sie gehörten zu den Besten der Besten der Gilde, und nach diesem Job würden sie für Curran sterben.
Keiner von uns hatte, was das bevorstehende Gespräch mit Roland betraf, ein gutes Gefühl. Curran würde zurückbleiben. Erstens würde es die Verhandlungen vereinfachen. Die Gemüter würden sich erhitzen, und da mein Vater und mein Verlobter schon über die Frage, woher der Wind wehte, in Streit gerieten, wollte ich die Sache lieber selbst in die Hand nehmen. Und wenn mir zweitens etwas zustoßen sollte, wäre Curran der Einzige, der die Stadt halten und mich möglicherweise herausholen konnte.
Er würde es versuchen. Sollte etwas schiefgehen, würde er Reißzähne und Klauen sprießen lassen und mit seinem Team aus schweren Jungs und Mädels mit brutalen Waffen in Lawrenceville aufmarschieren und versuchen, mich aus dem Zugriff meines Vaters loszueisen. Ich musste dafür sorgen, dass es gar nicht erst so weit kam, weil es dann für niemanden gut enden würde.
Ich beugte mich zu Curran hinüber und küsste ihn. Er nahm mich in die Arme und zog mich eine Sekunde fest an sich.
»Ich bin weg.«
»Ich werde hier sein«, sagte er.
»Viel Spaß mit deinem A-Team. Schleife die Messer. Reinige die Gewehre. Aber töte niemanden, während ich fort bin.«
»Ich kann nichts versprechen.«
Ich stieg auf Knuddels Sattel. Die schwarz-weiße Mammut-Eselin zuckte mit den Ohren.
»Ich werde meinem guten, alten Dad sagen, dass es dir leidtut, ihn zu verpassen.«
Hinter Curran schnaufte Eduardo.
Curran fletschte die Zähne. »Ihm würde es viel mehr leidtun, wenn ich zu ihm mitkommen müsste.«
»He, Daniels!«, rief Ella. »Bring uns ein paar Kekse mit!«
»Wie kommst du darauf, dass es Kekse geben wird?«
»Wenn ich zu meinen Eltern fahre, gibt es immer Kekse.«
Wenn es bei Roland tatsächlich Kekse gäbe, würde ich davon vermutlich Feuer speien müssen. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Ich machte mich auf den Weg. In ihrer Glanzzeit war die Interstate 85 eine riesige Fernstraße mit insgesamt sechs Spuren und zwei Express-Fahrbahnen in beide Richtungen gewesen. Die Magie hatte das Wachstum der Bäume beschleunigt. An den Rändern bröckelte der Asphalt, denn die schonungslosen Angriffe der Magiewogen trieben die Wurzeln hinauf, und der einst so gewaltige Highway hatte sich in einen Waldweg verwandelt. Flankiert von riesigen Hickory- und Ahornbäumen und weißen Eschen, die gegen gewaltige, mit Louisianamoos bewachsene Virginia-Eichen um ihren Platz an der Sonne kämpften. Die Hitze war brutal, die Sonne hämmerte förmlich auf die Straße ein. Ich würde etwa zwanzig Minuten bis nach Lawrenceville brauchen und dort wahrscheinlich knusprig geröstet ankommen. Ich hielt mich im Schatten unter den Bäumen.
Was zum Teufel hatte Roland mit Saiman vor?
Beim Gedanken daran biss ich die Zähne zusammen. Er hatte mein Territorium betreten. Er hatte einen meiner Männer mitgenommen. Was auch immer ich von Saiman hielt, er war ein Bewohner Atlantas. Hätte ich Nackenhaare gehabt, hätten sie sich gesträubt.
Könnte er mich nicht die vierzehn Tage bis zu meiner Heirat in Ruhe lassen? So wie es sich gehörte.
Ich hatte immer noch kein Kleid gekauft. Ich war deswegen dreimal shoppen gegangen und mit leeren Händen zurückgekommen, weil ich nichts gefunden hatte, was mir gefiel.
Vor mir trat Derek hinter einer dicken Esche hervor, bewegte sich mit der leichtfüßigen Grazie eines Gestaltwandlers. Er war Anfang zwanzig, mit breiten Schultern und einem Gesicht, das durch die Mühlen des Lebens verhärtet war, und sah mich mit dunklen Augen an. Bei manchen Gestaltwandlern war die Natur ihrer Bestie offensichtlicher. Selbst in menschlicher Gestalt sah Derek wie ein Wolf aus. Ein räuberischer, einsamer, kluger Wolf.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst.«
Der ehemalige Wunderknabe zuckte mit den Schultern. »Ich habe vorausgespäht.« Die Stimme passte zu seinem Aussehen: leise, bedrohlich und roh.
»Gibt’s was?«
»Keine Patrouillen zwischen uns und Lawrenceville.«
Ich war mir nicht sicher, ob das gut war, weil ich nun niemanden einschüchtern oder möglicherweise töten müsste, oder schlecht, weil sich mein Vater vermutlich so wenig von mir bedroht fühlte, dass er auf die Verteidigung seines Stützpunkts verzichtete.
»Du siehst aus, als wolltest du jemanden ermorden«, sagte Derek.
»Sehe ich nicht immer so aus?«
»Nicht so.«
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass mein Vater mir wieder einmal auf den Nerven herumtrampelt.«
Ich ritt weiter. Derek trottete neben mir her.
»Curran hat mir von dem Konklave erzählt«, sagte er.
»Hm-hm.«
»Warum hasst Nick dich?«, fragte er.
»Du kennst doch die Geschichte über Voron und mich? Wie Voron mich aufzog, nachdem Roland meine Mutter getötet hatte?«
Derek nickte.
»Immer wenn wir in die Gegend von Atlanta kamen, besuchte uns Greg Feldman. Als ich älter war, fand ich es merkwürdig, weil Greg ein Wahrsager und Ritter war, während sich Voron möglichst vom Orden fernhielt. Als ich ihn einmal danach fragte, erzählte er mir, dass meine Mutter, Greg und seine Exfrau Anna früher mal befreundet waren. Nach Vorons Tod wurde Greg zu meinem Vormund. Er nahm mich gelegentlich in Annas Haus mit. Sie mochte mich zuerst nicht, aber dann half sie mir. Sie ist eine Hellseherin. Ich habe mich gewundert, warum ich so lange nichts von ihr gehört hatte, aber jetzt verstehe ich es.«
»Okay«, sagte Derek. »Und was hat Nick damit zu tun?«
»Erinnerst du dich daran, wie Hugh die Ritter des Ordenskapitels von Atlanta tötete und Nick seine Tarnung fallen ließ? Maxine nannte ihn Nick Feldman. Als wir in die Festung zurückkehrten, bat ich Jim zu recherchieren. Er fand heraus, dass Nick Feldman der Sohn von Greg Feldman ist.«
Derek runzelte die Stirn. »Wusstest du nicht, dass er einen Sohn hat?«
»Nein. Greg kümmerte sich etwa zehn Jahre um mich. Weder er noch Anna hatten jemals von einem Kind gesprochen. Es gab keine Fotos, und niemand hatte je seinen Namen erwähnt. Nachdem Jim es mir gesagt hatte, rief ich Anna an.«
Ich musste sie viermal anrufen und ihr drohen, sie in ihrem Landhaus in North Carolina aufzusuchen, bis sie endlich zurückrief.
»Ich hatte Greg und Voron immer für Freunde gehalten. Ich habe ein Foto, auf dem sie zu viert nebeneinanderstehen, Greg und Anna, Voron und meine Mutter. Angeblich ist das alles Unsinn. Sie kannten sich zwar, waren aber durchaus nicht befreundet. Meine Mutter hatte eine Zeit lang für den Orden gearbeitet, bevor sie Roland heiratete. Sie begegnete Greg, und der verliebte sich in sie. Er erzählte es Anna, aber Nick war zwei Jahre alt, und sie beschlossen, seinetwegen zusammenzubleiben. Meine Mutter und Greg kamen wieder zusammen, als sie und Voron vor Roland auf der Flucht waren. Damals war ich noch ein Baby. Greg verließ Anna an dem Tag, als er herausfand, dass meine Mutter tot war. Nick war damals sechs Jahre alt.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Derek. »Warum die Frau verlassen, wenn die andere tot ist?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was in Gregs Kopf vor sich ging. Vielleicht dachte er, er würde das Andenken an meine Mutter beschmutzen, wenn er bei Anna bleibt.«
Die Gedanken daran ließen all die Treffen zwischen Voron und Greg in einem neuen Licht erscheinen. Das waren keine alten Freunde, die sich auf den neuesten Stand brachten, sondern zwei Männer, die um den Tod derselben Frau trauerten.
»Anna und er hatten das gemeinsame Sorgerecht, aber mit zwölf Jahren bewarb sich Nick bei Squire’s Rest. Dem vorbereitenden Internat des Ordens, wohin man geht, bevor die Akademie einen zum Ritter ausbildet. Nick wurde aufgenommen, und sie sahen ihn nie wieder. Nach Annas Aussage hasste er sie und Greg. Als Greg ins Kreuzritter-Programm aufgenommen wurde, befahl man ihm, sämtliche Hinweise auf Nick, wie Fotografien und Dokumente, zu vernichten, aus Sorge um Nicks Sicherheit und die der Familie. Nick arbeitete schließlich über zwei Jahre lang im Geheimen für Hugh. Meine Mutter hatte also die Ehe seiner Eltern zerstört, und mein Vater war der Grund, warum er zwei Jahre lang widerwärtigen Mist erledigen musste. Ich bin bei ihm nicht sehr beliebt.«
»Ich verstehe, dass er böse auf seine Eltern und deine Mutter ist, aber du warst noch ein Baby.«
Ich seufzte. »Wenn ich die Tochter der anderen Frau gewesen wäre, die sein Vater liebte, oder das Kind, das sein Vater an seiner Stelle aufnahm, oder Rolands Tochter, könnte er vielleicht damit klarkommen. Aber alles gleichzeitig? Er wird darüber hinwegkommen oder auch nicht, Derek. Mir ist das eigentlich egal.«
Oder doch nicht ganz. Nick war Gregs älterer Sohn, Greg war mein Vormund und hatte wie ein Vater für mich gesorgt, was Nick in meiner Vorstellung gefährlich nahe an die Kategorie des »älteren Bruders« beförderte. Sollte ihm das irgendwann klar werden, würde er wahrscheinlich daran ersticken.
Die Bäume zogen sich von der Straße zurück wie zwei sich öffnende Hände, die den Blick auf eine grasbewachsene Ebene freigaben, durch die der alte Highway quer hindurch zu einem niedrigen blockartigen Turm führte. Er sah aus, als wäre er sehr viel höher geplant gewesen. Drum herum entstand langsam eine Festung, deren Mauern zu drei Vierteln fertig waren. Verdammt!
»Hast du nicht gesagt, er hätte zugestimmt, nicht mehr an unserer Grenze zu bauen?«, fragte Derek.
»Er hat zugestimmt, den Turm nicht weiterzubauen. Wir haben vereinbart, dass er ein Wohnhaus bauen darf.«
»Das ist kein Wohnhaus. Das ist eine Burgfestung.«
»Das sehe ich«, knurrte ich.
Und es war sehr schnell entstanden. Vor drei Monaten war es nur ein Fundament gewesen. Jetzt waren die Mauer, das Hauptgebäude und kleinere Nebengebäude innerhalb der Mauer fast fertig, und lange blutrote Wimpel wehten von der Brüstung. Er hatte es sich offenbar gemütlich gemacht?
Eine Reiterin schoss in vollem Galopp aus dem Wäldchen links von uns und führte eine lange himmelblaue Standarte an einem langen Fahnenmast mit sich. Das Pferd hätte ich überall wiedererkannt. Wie ein kleines Arbeitspferd gebaut, schwarz und hellgrau gescheckt, trommelte die Stute mit ihren weiß gefiederten Hufen die Straße entlang. Die lange, weiße, gewellte Mähne flatterte im Wind. Die schlanke Reiterin hatte das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und wirkte, als wäre sie auf dem Pferd geboren. Julie und Peanut, die auf Rolands Burg zuritten.
Ich hatte ihr erzählt, wohin ich heute früh gehen würde, und ihr gesagt, dass sie in Cutting Edge bleiben solle. Stattdessen war sie hergekommen und hatte auf mich gewartet, um dann vor mir dramatisch auf die Burg zuzustürmen. Warum immer ich?
»Ich werde sie umbringen.«
»Sie ist dein Herold«, sagte Derek. »Das ist deine Farbe. Blau für Menschlichkeit.«
Meine was?
Er machte eine große Sache daraus, etwa einen halben Meter zur Seite auszuweichen.
Ich sah ihn an.
»Für den Fall, dass du gleich explodierst«, erklärte er.
»Kein Wort mehr.«
Er gluckste leise vor sich hin, wie das Lachen eines amüsierten Wolfs. Dir wird das Lachen schon noch vergehen!
Mein Vater hatte im modernen Zeitalter zwei Kriegsherren gehabt. Der Erste hatte den Dienst aufgegeben, um mich zu retten, denn meine Mutter hatte ihn so verzaubert, dass er ihr hoffnungslos verfallen war. Hugh d’Ambray war der Zweite, der Roland während seiner Ausbildung unter Voron als Herold diente. Nach Vorons Aussage hatte mein Vater es schon vor Tausenden von Jahren so gehandhabt, bevor die Magie aus der Welt verschwunden und sein Zauberreich untergegangen war. Zuerst wurde man zum Herold, dann zum Kriegsherrn. Jetzt wollte Julie mein Herold sein. Ich hatte ihr nie davon erzählt. Anscheinend stand sie immer noch in Kontakt mit Roland. Ich wusste nicht, wie, und als ich sie vor ein paar Wochen danach fragte, hatte sie es abgestritten.
Offensichtlich hatte sie gelogen.
Ich knirschte mit den Zähnen.
Es konnte nichts Gutes daraus entstehen, wenn Julie mit Roland in Verbindung stand. Er war Gift. Ich hatte schon einmal eins ihrer Gespräche platzen lassen und tat mein Bestes, um weitere zu verhindern. Logische Erklärungen, ehrliche Forderungen, Drohungen, Hausarrest – nichts von alledem zeigte Wirkung. Nichts außer einem direkten Befehl, aber diese letzte Karte wollte ich noch nicht ausspielen. Nicht nur das, sondern auch, weil der direkte Befehl so formuliert sein müsste, dass es keine Schlupflöcher gab. Ich würde Barabas engagieren müssen, um es mir genau aufschreiben zu lassen.
Julie unterhielt sich mit meinem Vater, und ich war dagegen machtlos. Mein Vater kam immer wieder in mein Territorium und verspottete mich, und ich konnte ihn ebenso wenig daran hindern. Und jetzt ritt Julie in seine Burg ein, um mich anzukündigen.
Ich hob den Kopf und richtete mich auf. Knuddel nahm meine Stimmung auf und fiel in einen leichten Galopp. Derek lief los. Ich würde mit Julie ein ernstes Wörtchen reden müssen, wenn wir wieder zu Hause waren. Ich wollte keinen Herold, aber ich wollte sie auch nicht ohne Rückendeckung ziehen lassen. Ich würde in die verdammte Burg einreiten, als hätte ich einen Herold, der in jedem Moment meines Tages mit Fanfare und wehendem Banner voraneilte.
Am Eingang zur Burg standen vier Wachen in lederner Rüstung. Zwei Männer und zwei Frauen, die topfit und grimmig wie Mensch gewordene Wachhunde aussahen und zu Musterbeispielen militärischer Perfektion gedrillt worden waren. Sie verneigten sich gleichzeitig. Vier Stimmen riefen im Chor: »Sharrim.«
Toll. Das konnte nur ein wunderbarer Besuch werden. Ich wusste es einfach.
Ich ritt in den Hof, stieg neben Julie ab, die stolz mit dem dämlichen Banner dastand, neben ihr ein kleiner Ständer. Man hatte ihr einen Ständer für die Fahne gebracht.
Ein Mann kam näher und ließ sich auf ein Knie nieder. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Er war über fünfzig, hatte grau meliertes Haar und sah aus, als wäre er seit Jahren ständig in irgendwelche Kämpfe verwickelt gewesen. Leute, die vor mir hinknieten, rangierten auf meiner Liste verhasster Dinge irgendwo zwischen einer Wurzelbehandlung und der Reinigung einer Kloake.
»Du beehrst uns, Sharrim. Ich habe Sharrum über dein Eintreffen informiert. Er ist überglücklich.«
Darauf wette ich. »Danke für den herzlichen Empfang!«
»Hast du irgendwelche Wünsche an mich?«
»Im Moment nicht.«
Er stand mit immer noch geneigtem Kopf auf, entfernte sich rückwärts und blieb ein paar Meter links von mir stehen.
Die Soldaten, die um uns herum die Mauern bemannten, gaben sich Mühe, nicht zu gaffen. Eine Frau kam aus einem Seitengebäude, sah uns, drehte um und ging wieder hinein.
»Du bekommst Hausarrest«, sagte ich leise.
»Ich habe sowieso kein gesellschaftliches Leben«, murmelte Julie. »Barabas hat zu Hause angerufen, bevor ich losgeritten bin. Er sagte, wir sollen keine Brücken hinter uns abbrechen.«
Das war Barabas’ ständiger juristischer Rat, wenn es um meinen Vater ging. Wenn ich die Brücke abbrach, würde das Krieg bedeuten.
»Wo ist er?«
»Zu Hause«, sagte Julie. »Christopher hatte einen Nervenzusammenbruch und hat ein Buch verbrannt.«
Das ergab keinen Sinn. Christopher liebte Bücher. Sie waren seine Rettung und sein ganzer Schatz.
»Welches Buch war es?«
»Bulfinchs Mythologie.«
Was hatte ihn bloß an dem armen Bulfinch so aufgeregt?
Rechts kamen ein Mann und eine Frau aus einem kleinen Nebenturm auf die Mauer heraus. Trotz der Hitze trug der Mann einen Regenmantel. Er war genäht und mit allem Möglichen von Lederschnüren bis zu Pelzfetzen geflickt und machte den Eindruck, als wäre jeder Riss oder Schnitt mit dem repariert worden, was gerade verfügbar gewesen war. Auf der linken Seite sah ich einen Flicken, der mir gar nicht gefiel.
Sein Gesicht war zu ebenmäßig für einen Menschen, denn die Züge waren perfekt, und bei den dunklen Augen waren die inneren Winkel nach unten geneigt. Sein Haar war kurz geschnitten und zerzaust, als hätte er ein paar Tage darauf geschlafen, ohne sich zu kämmen, aber es glänzte schwarz und sah weich aus. Er war glatt rasiert, ohne auch nur den Schatten von Stoppeln am Unterkiefer, dennoch schaffte er es, ungepflegt auszusehen. Auch seine Gesichtsfarbe war ungewöhnlich mit ihrer gleichmäßigen olivfarbenen Tönung. Wenn man Haut als olivfarben bezeichnete, meinte man eine goldbraune Farbe mit einem leicht grünlichen Grundton. Bei ihm war der Oliventon nicht dunkler, aber irgendwie stärker und mit mehr Grün gesättigt. Über seiner Schulter lugte ein Schwertgriff hervor, der mit einem lilafarbenen Band umwickelt war. Das gleiche Lila war auch unter seinem Mantel zu sehen.
Die Frau ragte neben ihm empor, über einen Meter achtzig groß, dunkelhäutig und mit breiten Schultern. Über dem schwarzen Kampfanzug trug sie ein Kettenhemd und hatte einen großen Hammer bei sich. Der Körper im Kettenhemd war schlank: kleiner Busen, schlanke Taille, schmale Hüften. Sie hatte von Kopf bis Fuß Muskeln. Ihr Haar bestand aus kurzen Dreadlocks, ihre Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen. Das großflächige Gesicht war hübsch und menschlich, auch wenn sie wirkte, als könnte sie eine feste Mauer durchlöchern. Ein hauchdünnes lilafarbenes Tuch hing von ihrer Taille.
»Auf der Mauer, das Paar rechts«, sagte ich leise.
Derek und Julie blickten weiter geradeaus, aber ich wusste, dass sie sie sahen.
»Das ist Menschenhaut an der linken Seite seines Mantels.«
Wenn etwas schiefging, konnten die beiden zu einem Problem werden.
Zehn Meter über uns öffnete sich das Tor zum Turm, und mein Vater trat auf das steinerne Podest hinaus. Die Magie haftete an ihm wie ein zerrissener Umhang. Er zog sie so schnell wie möglich ein, aber ich spürte sie trotzdem. Wir hatten gerade etwas unterbrochen.
»Meine Blüte!«
»Vater.« Da. Ich hatte es gesagt, ohne daran zu ersticken.
»Wie schön, dich zu sehen.«
Er kam langsam die Treppe herunter. Mein Vater war der Traum jedes Waisenkindes. Er war mir zuliebe so gealtert, dass er wie ein Mann aussah, der durchaus eine achtundzwanzigjährige Tochter haben konnte. Er hatte grau meliertes Haar und ein paar Fältchen in den Augenwinkeln und um den Mund, die Erfahrung andeuteten, aber er bewegte sich wie ein junger Mann in der athletischen Blüte seiner Jahre. Sein Körper, der mit Jeans und einer grauen Tunika mit aufgerollten Ärmeln bekleidet war, hätte einem Söldner gehören können, der gut in Currans Team gepasst hätte.
Er hatte das Gesicht eines Propheten. Seine Augen strahlten Freundlichkeit und Weisheit aus. Sie versprachen Wissen und Macht und glühten förmlich vor väterlicher Freude. Jedes Kind, das ihn ansah, würde instinktiv wissen, dass er ein guter Vater wäre. Dass er fürsorglich, geduldig, aufmerksam und streng wäre, wenn die Situation es erforderte (denn er wollte für seine Kinder nur das Beste), und vor allem stolz auf jede Errungenschaft. Wäre ich ihm mit fünfzehn begegnet, als Voron starb und meine Welt zusammenbrach, hätte ich ihm trotz Vorons Konditionierung und Ausbildung, um Roland zu töten, nicht widerstehen können. Ich war damals so allein und sehnte mich so verzweifelt nach jedem Hauch von menschlicher Wärme.
Julie war ein Waisenkind. Sie hatte mich und Curran, aber wir waren ihre zweite Familie.
Ich starrte auf diese väterliche Fassade und hätte sie ihm am liebsten heruntergerissen. Hätte ich einen Wunsch frei gehabt, ich hätte diese Burg in Schutt und Asche gelegt.
»Habt ihr schon gegessen? Ich kann Mittagessen servieren lassen. Ich habe ein ganz tolles Rezept mit rotem Curry gefunden.«
Ja, kommt, esst von dem zauberhaft köstlichen Curry im Haus eines legendären Hexers, der nur darauf versessen ist, die Welt unter seinem Stiefel zu zerquetschen. Was konnte schon schiefgehen? »Nein, danke. Ich bin nicht hungrig.«
»Komm, geh ein bisschen mit mir spazieren. Ich will dir etwas zeigen.«
Ich blickte zu Derek und schüttelte leicht den Kopf. Bleib, wo du bist.
Er nickte.
Ich gab Julie ein Zeichen. Sie stellte ihre Fahne in den Ständer und folgte mir, immer einen Meter hinter mir. Ich wollte meinem Vater das Chaos unter die Nase reiben, das er angerichtet hatte. Er würde seine hässliche Seite zeigen. Ich hatte sie schon ein- oder zweimal zu sehen bekommen, und es war unvergesslich. Es war höchste Zeit, dass auch Julie sie zu sehen bekam.
Mein Vater und ich schlenderten quer über den Hof und nahmen dann die Treppe auf die Mauer. Auf der linken Seite durchzog ein komplexes Netz von Rinnen den Boden, das sich ausdehnte und die Burg sichelförmig umgab. An den Seiten erhoben sich Hügel aus Sand und glatten Kieselsteinen in den unterschiedlichsten Farben und Größen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie der Verlauf der Gräben von oben aussehen würde, ob es ein Muster gab. Wenn es die Skizze eines Fluchs sein sollte, wäre er höllisch kompliziert.
Welcher Fluch würde Sand und Stein benötigen? Baute er an einem steinernen Golem? Das wäre dann aber ein extrem großer Golem. Angesichts der Materialmenge müsste es ein wahrer Koloss werden. Aber warum verwendete er Kieselsteine, warum meißelte er ihn nicht aus dem Fels?
Vielleicht war es eine Beschwörung. Was beschwor er, das den Platz von zwanzig Fußballplätzen benötigte …
»Ich habe beschlossen, einen Wassergarten anzulegen.«
Oh!
»Ich habe dir von den Wassergärten im Palast meiner Kindheit erzählt. Ich möchte, dass auch meine Enkelkinder so etwas Schönes erleben dürfen.«
Die Erinnerung war wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube: Auf einem grünen Hügel nahm mein Vater mir meinen Sohn weg, und ich schrie. Ich hatte diese Vision in den Gedanken eines Dschinn gesehen. Dschinn waren zwar keine sehr verlässlichen Wesen, aber die Hexen hatten es so bestätigt. Falls … nein, wenn. Wenn Curran und ich einen Sohn bekamen, würde mein Vater versuchen, ihn uns wegzunehmen. Ich merkte mir den Gedanken und vertrieb ihn, bevor er sich auf meinem Gesicht zeigen konnte.
»Wir leiten den Fluss um. Das Wetter ist recht mild, und mit etwas magischer Nachhilfe werde ich diesen Ort in ein kleines Paradies verwandeln. Was hältst du davon?«
Mach den Mund auf und sag etwas. Sag etwas! »Das könnte sehr hübsch werden.«
»Das wird es.«
»Glaubst du, Großmutter würde es sich gern ansehen?« Ja, stich zu!
»Deine Großmutter sollte man nicht mehr stören.«
»Sie leidet. Allein, gefangen in einer steinernen Kiste.«
Er seufzte. »Manchmal geht es nicht anders.«
»Hast du keine Angst, dass jemand sie befreien wird?« Jemand wie ich.
»Wenn jemand versuchen würde, in Mishmar einzudringen, würde ich es erfahren und sie suchen. Sie würden nicht mehr hinauskommen.«
Danke für die Warnung, Dad.
»Sie lebt nicht mehr, meine Blüte. Sie ist eine ungestüme Kraft, ein Sturm ohne Ichbewusstsein. Nicht auszudenken, welchen Schaden sie anrichten würde, wenn man sie freilassen würde.«
Verstehe. Natürlich hast du sie fern von allem, was sie liebt, begraben, weil sie viel zu gefährlich ist.
Wir schlenderten die Mauern entlang weiter und gingen langsam um den Turm herum.
»Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?«
»Sehr gut. Wie läuft es mit der Weltherrschaft?«
»Ich kann nicht klagen.«
Wir spazierten weiter die Mauer entlang. Vermutlich war nun genug geplaudert. Würde ich ihm die Gesprächsführung überlassen, würde ich Saiman nie mehr zurückbekommen.
»Ein Bewohner Atlantas wurde hierher gebracht. Ich bin gekommen, um ihn zu holen.«
»Aha.« Roland nickte.
Wir gingen um die Ecke, und ich hatte einen kurzen Blick auf Julies Gesicht hinter uns. Sie sah sich das leere Feld jenseits der östlichen Mauer an. Plötzlich machte sie große Augen, das Gesicht spannte sich, und die Haut wurde um zwei Nuancen weißer. Ich blickte auf das Feld. Schönes smaragdgrünes Gras. Julie starrte nun mit erschrocken aufgerissenen Augen. Sie musste etwas gesehen haben.
Wir gingen weiter.
Brich die Brücken hinter dir nicht ab. Bleib höflich. »Du hast Saiman entführt.«
»Ich habe ihn eingeladen, mein Gast zu sein.«
Ich zog ein Foto von Saimans misshandeltem Körper aus der Tasche und reichte es ihm.
Roland warf einen Blick darauf. »Vielleicht war ›Gast‹ etwas übertrieben.«
»Du kannst dir nicht einfach Bürger Atlantas schnappen, wenn dir danach ist.«
»Eigentlich schon. Doch ich will es nicht tun, weil du und ich ein gewisses Abkommen haben, aber es steht auf jeden Fall in meiner Macht.«