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Beschreibung

Über die Restitution von geraubten Kulturgütern bis hin zu postkolonialen Identitätsdebatten hat die Kolonialgeschichte in den vergangenen Jahren intensive gesellschaftliche Debatten befeuert. Auslöser sind häufig lokale Konflikte über Straßennamen, Denkmäler und Museumsausstellungen. Dies gilt auch für Bremen, einstiger Wegbereiter des offiziellen deutschen Kolonialreichs und Zentrum der Kolonialrevisionisten. Seit den 1970er Jahren ist die Stadt führend in der Aufarbeitung ihrer kolonialen Vergangenheit. Dieses anregende Lesebuch stellt Schlüsselakteure, Orte und Institutionen dieser Entwicklung vor und wirft ein Schlaglicht auf die deutsche (post-) koloniale Geschichte.

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Titelseite

Norman Aselmeyer und Virginie Kamche (Hrsg.)

»Stadt der Kolonien«

Wie Bremen den deutschenKolonialismus prägte

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Umschlaggestaltung: Burkhard Finken, StuttgartUmschlagmotiv: Fritz Behn, Reichskolonialehrendenkmal im StadtteilSchwachhausen in Bremen, Deutschland 1930er Jahre, heute: Antikolonialdenkmal© akg / mauritius images / Karl Heinrich Lämmel

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print: 978-3-451-39923-7ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83389-2ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83391-5

Inhalt

Norman Aselmeyer und Virginie KamcheVorwort
1. ORTE
Tristan OestermannEine Bremer Kolonie: Bremer Kaufleute in Westafrika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Norman Aselmeyer und Katharina HoffmannWarum scheiterte die Umbenennung der Lüderitzstraße?
Sarah Maria Noske»Von Bremen für Ruapuke«: Was macht eine Glocke aus Bremen in Neuseeland?
Ingo HeidbrinkDer vergessene bremische Kolonialismus: Die Fernfischerei
Mariko FukuokaHanseatische Kaufleute im Indischen Ozean: Kolonialhandel im 19. Jahrhundert
Jan C. ObergSeeleute, Schenkmädchen und Hanseaten: Bremerhaven als Hafenkolonie
Lilli Hasche und Janne JensenDie Überseestadt: Spiegel kolonialer Verhältnisse
Appolinaire Akpene Apetor-KoffiKoloniale Spuren im Bunker »Valentin«: Nordafrikanische Zwangsarbeiter in Bremen-Farge
Henning MelberGier, Genozid und grüner Wasserstoff: 140 Jahre deutsche Präsenz in Namibia
2. PERSONEN
Catrina de RiveraAdolf Lüderitz: Der Beginn des deutschen Kolonialreichs
Wulf D. HundDomingokaffee und Havannazucker: Friedrich Engels als Lehrling im Bremer Kolonialhandel
Aïssatou Bouba Friedrich Gerhard Rohlfs: Afrikaforscher und enthusiastischer Kolonialist
Heiner FechnerJohann Karl Vietor: Kolonialwirtschaft und indigene Arbeitskraft in den deutschen Kolonien
Christa SpreizerHedwig Heyl, koloniale Ambitionen und die deutsche Frauenbewegung
Dag HenrichsenKoloniale Kapitalisierung von afrikanischem Kulturgut: Jan und Fritz Gaerdes
Lisa Hellriegel und Veronika SetteleSophie »Sonny« von Engelbrechten: Bürgerliche Wohltätigkeit und koloniales Engagement
Robbie AitkenJohannes Kohl: Kampf um Anerkennung
Eva König-WernerInternationaler Tabakhandel und die »Tabak-Ehe«: Der indonesische Tabakhändler Tan Keng Djan in Bremen
Anna Valeska StrugallaHerbert Ganslmayr und die Restitutionsfrage
3. VERFLECHTUNGEN UND KONTINUITÄTEN
Cordelia HeßDie Wurzeln des Kolonialismus? Hamburg-Bremen im Mittelalter
Jasper Henning Hagedorn und Sarah Lentz»Domestiken«, Versklavte und Bedienstete: Schwarze Menschen in Bremen um 1800
Jasper Henning HagedornBremen und der transatlantische Sklavenhandel
Jan WaßmannBremer Kaufleute und der »Kulihandel«
Alexandre BischofbergerEine koloniale Bühne? Konzerte in Bremen
Werner HillebrechtWem gehört die Namib? Meilenschwindel in Namibia
Aka Adjo BebewouDie Rolle der Kirche: Die Bremer Mission im Südwesten Togos
Ralph Erbar»Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht«: Die »Hunnenrede« in Bremerhaven und ihre Folgen
Anda Nicolae-Vladu und Eva Schöck-QuinterosSchwarze Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus: Die »Deutsche Afrika-Schau« in Bremen 1937
Berklee Baum und Joachim ZellerDer »Bremer Elefant«: Vom kolonialrevisionistischen Heldengedenkmal zum postkolonialen Mahnmal
Stephanie Walda-MandelVon Sammelwut zur Zusammenarbeit: Wie geht das Übersee-Museum Bremen mit dem kolonialen Erbe aus Ozeanien um?
Anna GreveKoloniale Kontexte in der Sammlung des Bremer Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte
Schirin Al-Madani, Margrit E. Kaufmann, Juliana Lux, Klara Pechtel und Monique RosenbergerKontinuitäten des Kolonialismus: Was erleben Menschen, die als »fremd« markiert werden, heute in der Bremer Öffentlichkeit?
Berceste KayisVerpasste Chancen: Rassismus und Kolonialismus in Bremer Schulbüchern
4. INSTITUTIONEN
Tobias Christopher GoebelDer Norddeutsche Lloyd und die koloniale Schifffahrt im westlichen Pazifik
Hans H. BassDie Nordwolle und ihr koloniales Fundament1
Laura HaendelDie erste deutsche Tropenhelmfabrik: Ludwig Bortfeldt Bremen
Martin KalbBremer Walfang an der Küste Deutsch-Südwestafrikas: Deutsche Walfanggesellschaft »Sturmvogel« m. b. H.
Lea WesemannDie Deutsche Südseephosphat-Aktiengesellschaft und die wirtschaftliche Ausbeutung der deutschen Pazifikkolonien
Weiman YuanDer Bremer Buchhändler Max Nössler in China: Kultureinrichtung und Instrument des Kolonialismus
Bettina von Briskorn»Wir brauchen Kolonien«: Das Bremer Lüderitz-Museum
Sabine Horn und Norman AselmeyerNachwuchs für die Kolonien: Kolonialpropaganda an Bremer Schulen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus
Caroline SchäferDas Bremer Afrika Archiv und die Aufarbeitung des Kolonialismus seit den 1970er Jahren
Helga RathjenWas bekamen die Menschen zu sehen, wenn sie sonntags ins Übersee-Museum gingen?
Virginie Kamche und Hartmut KoehlerÜberwindung kolonialer Abhängigkeiten in der Bildungs- und Forschungszusammenarbeit an der Universität Bremen
5. GÜTER UND GEBEINE
David X. NoackBremen als Kaffeehauptstadt Deutschlands
Jan Christoph Greim»Baumwollnot«: Bremen und die koloniale Baumwolle
Ellen Ndeshi NamhilaChancen der Aussöhnung: Die Rückgabe von Dokumenten Hendrik Witboois
Bettina Brockmeyer und Holger StoeckerDer Schädel des Chief Mkwawa
Norman Aselmeyer, Laibor Kalanga Moko und Silke SeyboldWie kamen Objekte der Maasai ins Übersee-Museum?
F. Thomas Gatter und Manfred O. HinzDas Mahnmal für die Opfer der Schlacht von Ohamakari und des Völkermords in Namibia im Bremer Nelson-Mandela-Park
Die Herausgeber
Die Autorinnen und Autoren
Bildnachweis

Norman Aselmeyer und Virginie Kamche

Vorwort

Direkt hinter dem Bremer Bahnhof steht ein zehn Meter hoher, aus rotem Backstein gemauerter Elefant. Bei Touristen und Neuzugezogenen ruft das riesige Monument regelmäßig Erstaunen hervor. Anwohner begegnen dem Steinkoloss, den sie schlicht nur »der Elefant« nennen, dagegen mit betonter Unbekümmertheit. An der gegenüberliegenden Schule wissen die wenigsten Schülerinnen und Schüler etwas über den Ursprung des Backsteinelefanten. In einer Befragung glaubten die meisten, dass hier ein echter Elefant beerdigt worden sei. Einige Schüler und Schülerinnen vermuteten immerhin, dass der Elefant etwas mit den ehemaligen Kolonien zu tun haben könnte.1

Mit ihrer mangelnden Kenntnis der bremischen Kolonialgeschichte sind die Schüler nicht allein. In einer 2021 durchgeführten Umfrage unter rund 1700 Bremerinnen und Bremern gaben nur 13 Prozent an, dass sie gut bis sehr gut über die koloniale Vergangenheit der Hansestadt Bescheid wüssten. Nahezu 60 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass die Folgen der Kolonialherrschaft in der deutschen Gesellschaft zu wenig Beachtung fänden. Dieses Ergebnis ist keine Besonderheit Bremens, sondern steht stellvertretend für die Aufarbeitung und Erforschung der deutschen Kolonialgeschichte insgesamt.2

Wer unsere Gegenwart verstehen will, muss sich mit der Kolonialgeschichte auseinandersetzen. Die Folgen der deutschen Kolonialherrschaft – die Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen, die Vernichtungskriege, die Zivilisierungsmission und die Zerstörung indigener Kulturen – haben bis heute nicht zuletzt in Form von Rassismus und globaler Ungleichheit überdauert. Wie wichtig und notwendig eine sachkundige Beschäftigung mit dem kolonialen Erbe ist, zeigen die öffentlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. Von der Restitution von geraubten Kulturgütern über die Umbenennung von kolonialen Straßennamen bis hin zu postkolonialen Identitätsdebatten hat die Kolonialgeschichte intensive gesellschaftliche Debatten befeuert. Obgleich die koloniale Vergangenheit Deutschlands derzeit in aller Munde ist, ist das Wissen mit der gestiegenen Aufmerksamkeit nicht gewachsen.

Dieses Buch zeichnet die (post-)kolonialen Verflechtungen Deutschlands am Beispiel Bremens nach. Die Forschung hat in den letzten Jahren wiederholt betont, dass es insbesondere hanseatische Kaufleute waren, die den deutschen Kolonialismus geprägt und gefördert haben.3Bremen war als Handelsstadt eine der treibenden Kräfte der kolonialen Bestrebungen in Deutschland und hat nachhaltig davon profitiert. Das koloniale Engagement der städtischen Bewohner und Unternehmen hat sich auch im Stadtbild Bremens und Bremerhavens niedergeschlagen. Seit Mitte der 1970er Jahre bemühen sich zivilgesellschaftliche Gruppen im Stadtstaat um eine Aufarbeitung dieses Erbes.

Der Bremer Fall wirft ein Schlaglicht auf die koloniale und postkoloniale Geschichte Deutschlands. Angelegt ist dieses Buch als Lesebuch mit kurzen und allgemein verständlichen Texten über zentrale Orte, Personen, Institutionen, Entwicklungen und Objekte, die sich an alle richten, aber vor allem für Leserinnen und Leser geschrieben wurden, die mit dem Thema noch kaum vertraut sind. Sie bieten dabei kein vollständiges Spektrum – dafür ist das Thema zu umfangreich und zudem unzulänglich erforscht –, sondern ein breit angelegtes und vielstimmiges Panorama.4Die Texte zeigen, wie sehr sich Bremen in die Geschichte des europäischen Kolonialismus und dieser sich in die städtische Geschichte Bremens eingeschrieben hat.

Zurück zum steinernen Elefanten: Kein Ort in Bremen bündelt das koloniale Gedächtnis der Stadt in ähnlicher Weise wie der Elefant. Als er 1932 eingeweiht wurde, war es das größte in Deutschland gebaute Kolonialdenkmal. Errichtet wurde das offiziell als »Reichskolonialehrenmal« bezeichnete Monument zu Ehren gefallener Kolonialkrieger. Die große Inschrift auf dem Sockel – »Unseren Kolonien« – signalisierte das eigentliche Anliegen: Der Elefant stand für die Forderung nach der Rückgabe der nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen deutschen Kolonien. In dieser Funktion wurde der Elefant zum wichtigsten kolonialen Wallfahrtsort im Deutschen Reich und spiegelte Bremens selbstgewählten Anspruch als »Stadt der Kolonien« während der Zeit des Nationalsozialismus wider. Bremen sah sich selbst als Wiege des deutschen Kolonialreichs und als Zentrum der Kolonialbewegung. Um diese Sonderstellung in kolonialen Fragen herauszustellen, kreierte die Stadt neben dem Elefanten in den 1930er Jahren weitere koloniale Einrichtungen. Bürgermeister Heinrich Böhmcker (NSDAP) verkündete 1938 entsprechend: »Bremen hat seine koloniale Tradition, in Bremen ist jeder Mensch kolonial orientiert.«5

Obwohl manche Historiker argumentiert haben, dass Bremens kolonialpolitische Ambitionen mehr völkisch-nationalen als handelspolitischen Ursprungs waren, hat die Kaufmannschaft der Stadt aus dem kolonialen Handel und der von Versklavten betriebenen Plantagenwirtschaft enormen Profit gezogen.6Hanseaten waren von Anfang an am Kolonialhandel beteiligt. Seit dem 17. Jahrhundert setzte in Bremen der Handel mit Gütern aus Kolonialbesitzungen anderer europäischer Länder ein. Im 19. Jahrhundert etablierten Bremer Kaufleute ein globales Handelsnetz und fuhren regelmäßig Ziele in Afrika, Asien, Ozeanien und den Amerikas an. Mit Baumwolle, Kaffee, Tabak und Palmöl – den wichtigsten Kolonialwaren – verdienten sie ein Vermögen. Bremer Kaufleute, Missionare und »Forschungsreisende«, allen voran Adolf Lüderitz, Friedrich Oloff, Johann Karl Vietor, Otto Finsch und Friedrich Gerhard Rohlfs, bereiteten seit Mitte des 19. Jahrhunderts den Boden für das deutsche Kolonialreich, das 1884 offiziell seinen Anfang nahm.

Seine Rolle als Kultstätte der neokolonialen Bewegungen verlor der Elefant nach 1945, als die Stadt auf Geheiß der amerikanischen Militärregierung die Inschrift am Elefanten entfernen ließ. Dies war jedoch nur eine äußerliche Wandlung, denn die kolonialen Sehnsüchte blieben bis in die 1960er Jahre lebendig. Ein Umdenken setzte erst in den 1970er Jahren ein, als zivilgesellschaftliche Bewegungen begannen, die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Wie andernorts auch waren es Initiativen von unten, die eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit suchten. Bremen nahm dabei schnell eine Pionierrolle ein, wovon die Stadt heute noch zehrt. 1990 widmete sie auf Beschluss der Bremischen Bürgerschaft den Elefanten offiziell in ein Antikolonialdenkmal um. Seither steht es für die Dekolonisierungsbemühungen Bremens.

140 Jahre liegt der formale Beginn des deutschen Kolonialreichs zurück. Heute wird Bremens koloniale Vergangenheit kritisch hinterfragt. Es geht darum, die historische Verantwortung der Stadt anzuerkennen, die Folgen des Kolonialismus aufzuarbeiten und einen Beitrag zu einem versöhnlichen und gerechten Umgang mit dieser Geschichte zu leisten. Dieses Buch bietet einen Anstoß zu dieser Debatte und eine Einladung zum Dialog. Es will dazu anregen, sich mit der kolonialen Vergangenheit Bremens auseinanderzusetzen, die vielfältigen Perspektiven zu verstehen und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln.7

Anmerkungen

Hinweis zur Sprache: In den vergangenen Jahren ist zurecht betont worden, dass Sprache einen entscheidenden Einfluss auf unser Weltbild hat. Wie die Beiträge in diesem Band zeigen, ist Sprache auch dazu genutzt worden, um koloniales Wissen und rassistische Vorstellungen zu propagieren. Es war uns deshalb wichtig, diese gewaltvolle Sprache nicht zu reproduzieren. Da dieser Band für alle zugänglich sein soll, haben wir aber auch Wert darauf gelegt, wo möglich auf akademische Feinheiten zu verzichten. Bei der Benennung der Geschlechter sind wir den Vorgaben des Verlags gefolgt.

1Frank Eckardt u. Johanna Hoerning, Postkoloniale Städte, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden 2012, S. 263–287.

2Radio Bremen, Meinungsmelder fordern mehr Beachtung für Bremens koloniales Erbe, 11.8.2021.

3So Dietmar Pieper, Zucker, Schnaps und Nilpferdpeitsche. Wie hanseatische Kaufleute Deutschland zur Kolonialherrschaft trieben, München 2023; Kim Sebastian Todzi, Unternehmen Weltaneignung. Der Woermann-Konzern und der deutsche Kolonialismus 1937–1916, Göttingen 2023.

4Die Forschungen zur Kolonialgeschichte Bremens sind überschaubar, eine Gesamtschau existiert nicht. Die wichtigsten Arbeiten der letzten Jahre: Jasper Henning Hagedorn, Bremen und die atlantische Sklaverei. Waren, Wissen und Personen, 1780–1860, Baden-Baden 2023; Anna Mamzer, Eva Schöck-Quinteros u. Mareike Witkowski (Hrsg.), Bremen – eine Stadt der Kolonien?, Bremen 2016; Bernhard Olpen, Johann Karl Vietor (1861–1934). Ein deutscher Unternehmer zwischen Kolonialismus, sozialer Frage und Christentum, Stuttgart 2014.

5Staatsarchiv Bremen, 3-R.1.g, 92, Protokoll der Besprechung zwischen Bremer Bürgermeister Böhmcker mit dem Bundesführer des Reichskolonialbundes, 10.9.1938.

6Siehe Hartmut Müller, Lüderitz und der koloniale Mythos. Kolonialbewegungen in Bremen, in: Diskurs. Bremer Beiträge zu Wissenschaft und Gesellschaft 6 (1982), S. 125–149.

7Die Herausgeber danken herzlich für die Unterstützung: Robbie Aitken, Yeliz Elze, Marcel Fernandez Bücker, Paul Göttle, Rickmer Janßen, Marcus Meyer, Avner Ofrath, Eva Schöck-Quinteros, Cornelius Torp, Cordula Weißköppel, Lea Wesemann und Sara Weydner. Unser Dank gilt ebenso dem Staatsarchiv Bremen, Denkort Bunker Valentin, Übersee-Museum, Archiv Böttcherstraße und Focke-Museum für die Abdruckgenehmigungen. Das Land Bremen ermöglichte das Projekt mithilfe von Zuwendungen aus dem Sonderprogramm bremischer Kolonialismus.

Karte

1. ORTE

Tristan Oestermann

Eine Bremer Kolonie: Bremer Kaufleute in Westafrika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Im November 1884 erreichte ein heiß ersehntes Schreiben die Niederlassung der Bremer Firma Friedrich M. Vietor in Little Popo an der Küste des heutigen Togo in Westafrika: »Ihr Brief als Antwort auf den meinigen vom selben Tage«, erklärte darin in geschliffenem Kanzleienglisch King George Akwete Lawson III. von Little Popo, »hat mich sicher erreicht und ich habe den Inhalt zur Kenntnis genommen. In Antwort darauf erlaube ich mir anzumerken, dass Ihre Aussage über das Stück Land, das Ihnen gehört und das Ihnen angeblich von Mr. Pedro weggenommen und Mr. Wood gegeben wurde, meine Aufmerksamkeit haben wird, da Sie meine Unterstützung in selbiger Sache erbaten.«1Offensichtlich hatte die Firma Vietor King Lawson um Hilfe in einem Streitfall gebeten. Weitere Briefe aus dem Familienarchiv der Lawsons zeigen, dass die Firma aus Bremen dem König hohe Summen an Miete und Zöllen zahlte. Die Beziehungen zwischen der Familie Lawson und der Bremer Firma Vietor bestanden schon mindestens seit 1874 – und stets hatten die Lawsons die Oberhand gehabt. Von 1885 an aber sollte sich die Dynamik verändern: Little Popo wurde in diesem Jahr Teil der deutschen Kolonie Togo – einer Region, die so eng mit der Hansestadt Bremen verbunden war, dass der Reichstagsabgeordnete Johannes Semler, als er 1905 nach Westafrika reiste, staunte: »Togo ist eigentlich eine Bremer Kolonie.«2

Bremens Handel mit Westafrika begann nicht erst mit der deutschen Kolonialherrschaft. Als die deutsche Flagge gehisst wurde, blickten die Bremer auf Jahrzehnte der Beziehungen mit der Region zurück. Seit den 1840er Jahren machten sie Geschäfte an den Küsten zwischen Senegal und Kamerun. Soweit bekannt, beteiligten sie sich nicht direkt an dem bis weit ins 19. Jahrhundert wichtigsten Geschäft der Region: dem transatlantischen Sklavenhandel. Bremens Anteil an diesem war indirekt: Ihren Reichtum verdankte die Stadt auch dem Handel mit Zucker, Tabak und Baumwolle, die in der Neuen Welt von Sklavinnen und Sklaven produziert wurden. Statt menschlicher Ware lockte die Bremer Kaufleute in den 1840er Jahren das Palmöl nach Westafrika. Palmöl war im 19. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung für die Industrialisierung in Europa und Nordamerika: als Schmiermittel der Maschinen, als Rohstoff für Seife und Kerzen. Palmöl entwickelte sich zum wichtigsten Produkt Westafrikas. Entsprechend machte Palmöl fast 90 Prozent aller Importe aus, die Bremen im 19. Jahrhundert aus der Region erreichten.

Bremer Firmen waren an der gesamten westafrikanischen Küste aktiv. So betrieb etwa Adolf Lüderitz in den 1870er Jahren ein Geschäft in Lagos, bevor er sich nach Südwestafrika orientierte. Andere handelten in Sierra Leone oder Dahomey, dem heutigen Benin. Jedoch konzentrierte sich der bremische Handel auf Togo und benachbarte Regionen, weil die Hansestadt über den Palmölhandel hinaus mit der Region verbunden war. 1847 begann die in Bremen ansässige Norddeutsche Mission, unter dem in der britischen Goldküste (heute Ghana) und Togo lebenden Volk der Ewe das Christentum zu verbreiten. Religiös und verwandtschaftlich mit der Mission verbunden war die bereits erwähnte Bremer Firma Friedrich M. Vietor. Diese versorgte seit 1856 die Missionare in Westafrika mit Gütern – und kaufte Palmöl für Bremen. In den kommenden Jahrzehnten, besonders nach Beginn der deutschen Kolonialherrschaft, entwickelte sie sich unter dem Namen J. K. Vietor zur bedeutendsten Bremer Westafrikafirma mit Tochterunternehmen in der gesamten Region. Dass besonders Küstenplätze in Togo in den Blick gerieten, hatte mit der britischen Kolonialpolitik in der benachbarten Goldküste zu tun. Die nicht unter Kolonialherrschaft stehenden Handelsplätze in Togo dienten vor allem dazu, die britischen Zölle zu umgehen und Waren in die Goldküste zu schmuggeln.

Neben Bremer Firmen waren in der Region auch solche aus Hamburg, Großbritannien, Frankreich und Portugal aktiv. Hinzu kamen Handelsunternehmen von Afrobrasilianern, die nach Westafrika ausgewandert waren, und afrikanische Kaufleute aus Sierra Leone. Friedrich C. Oloff, gebürtig aus Bremen-Vegesack und seit 1881 als Kaufmann für Vietor an der Küste, beklagte sich noch fast 30 Jahre später in seinen Erinnerungen bitter über die Konkurrenten aus Sierra Leone, die »über große eigene Mittel verfügten«, eigene Segelschiffe besaßen und »oft ein größeres Geschäft als die europäischen Firmen« machten.3

In den ersten Jahrzehnten betrieben die Bremer Firmen eine Handelsform, die als coasting bekannt war: Ihre Segelschiffe fuhren die Küste hinab und machten Geschäfte mit afrikanischen Händlern, wo es sich gerade anbot. Spätestens 1874 begann Vietor, Handelsposten auf dem Festland anzulegen: sogenannte Faktoreien. Aus Holz und Wellblech legten sie Häuser an, deren Erdgeschoss Laden, Kontor und Vorratsräume für wertvolle Waren enthielt, während das erste Stockwerk den Europäern als Wohnung diente. Hinzu kamen Magazine für Palmöl und andere Waren. Diese Faktoreien konnten die Firmen in vorkolonialer Zeit ausschließlich an der Küste anlegen. Der Weg ins Landesinnere blieb ihnen versperrt.

Wo die Firmen Faktoreien gründeten, waren sie abhängig von afrikanischen Autoritäten wie King Lawson III. in Little Popo, die ihnen den Handel gestatteten, sie beschützten und oftmals selbst wichtige Handelspartner waren. Die Regeln bestimmten hier nicht die Europäer, sondern Afrikanerinnen und Afrikaner. Bei diesen handelte es sich um weltgewandte Eliten. Dies zeigt die Beschreibung des Journalisten Hugo Zöller, der King Lawson 1884 seine Aufwartung machte. Lawson empfing ihn, so Zöller, »gekleidet in einen grauen Cylinderhut, eine himmelblaue Toga, europäische Zugstiefel und weiße, bis zur Hälfte des Oberschenkels reichende, von Strumpfbändern festgehaltene Frauenstrümpfe«.4Auch wenn Zöller versuchte, über die wahren Machtverhältnisse hinwegzutäuschen, indem er Lawson lächerlich machte, wird zwischen den Zeilen deutlich, dass Lawson selbstbewusst Macht, Reichtum und Kenntnis europäischer Kultur inszenierte. Denn seit Generationen machte die Familie Lawson Geschäfte mit Bremer Handelspartnern und anderen Europäern.

Viele Mitglieder dieser lokalen Elite hatten Zeit in Europa verbracht, europäische Schulen besucht und verstanden es, sich europäisch zu kleiden und auszudrücken. Auch ein Vorgänger von King Lawson, Lawson I., hatte eine englische Erziehung genossen und dafür gesorgt, dass seine Nachkommen europäische Bildung erhielten. Europäische Reisende waren deshalb oft verblüfft, wie genau die afrikanischen Händler an der Küste über Ereignisse auf dem fernen Kontinent informiert waren. Aus dieser alten Verbindung resultiert auch der geschliffene Kanzleistil Lawsons in seinem Schreiben an die Firma Vietor.

Die Verbindungen zwischen afrikanischen Eliten und Europa waren also alt und eng. Behauptungen zeitgenössischer Missionare, die von der älteren Forschungsliteratur wiederholt wurden und noch heute in der Öffentlichkeit nachwirken, europäische Firmen hätten in Afrika die Menschen mit Alkohol abhängig gemacht und wertvolle Rohstoffe gegen billigen Plunder eingetauscht, sind deshalb ein Mythos. Die Handelsstrukturen an der Küste waren über Jahrhunderte gewachsen. Die beteiligten Afrikanerinnen und Afrikaner waren hauptberufliche Händler. Sie ließen sich nicht betrügen oder gefügig machen.

Bremer Handelspartner in Togo: King Lawson III. und King Mensah II.

In der Tat zahlten auch Bremer Firmen für Palmöl mit Glasperlen, Spiegeln, Textilien, Glas- und Eisenwaren, Salz, Zucker, Tabak und Alkohol. Aber diese Waren wurden zu einem großen Teil nicht konsumiert. Alkohol besaß eine rituelle Bedeutung und die scheinbar wertlosen Industrieartikel dienten vor Ort als Währungen mit großer Kaufkraft. Zugang zu ihnen machte die afrikanischen Händler reich und mächtig.

Der Beginn der deutschen Herrschaft in Togo seit 1884/85 änderte die Verhältnisse. Die Bremer Firmen hatten nun eine Kolonialmacht im Rücken, auf deren Hilfe sie sich in Konflikten mit afrikanischen Handelspartnern verlassen konnten. Sie wurden deshalb unabhängig von Autoritäten wie King Lawson. Darüber hinaus erlaubte die Kolonialherrschaft den Firmen, für ihre Geschäfte tief ins Hinterland einzudringen und so die Stellung ihrer afrikanischen Handelspartner an der Küste zu unterminieren. Gleichfalls erzwang die deutsche Regierung oftmals mit Gewalt Zugang zu Land und Arbeitskräften. Trotzdem ist zu betonen, dass sich nicht alles änderte. Bremer Firmen blieben noch immer eng verbunden mit afrikanischen Handelspartnern. Zudem bedeutete für diese der Zugang zu europäischen Waren auch während der Kolonialherrschaft weiterhin großen Reichtum.

Anmerkungen

1Adam Jones u. Peter Sebald (Hrsg.), An African Family Archive. The Lawsons of Little Popo/Aneho (Togo) 1841–1938, Oxford/New York 2005, S. 381.

2Johannes Semler, Togo und Kamerun. Eindrücke und Momentaufnahmen, Leipzig 1905, S. 9.

3Friedrich Oloff, In Togo vor der deutschen Flaggenhissung. Erinnerungen eines alten Kolonialpraktikers, in: Süsserott’s illustrierter Kolonial-Kalender 1 (1909), S. 47–59, hier S. 55.

4Hugo Zöller, Das Togoland und die Sklavenküste, Berlin/Stuttgart 1885, S. 172.

Norman Aselmeyer und Katharina Hoffmann

Warum scheiterte die Umbenennung der Lüderitzstraße?

Straßennamen werden in erster Linie als Orientierungshilfen wahrgenommen und gelten daher vielen Menschen als unbedenklich. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist die Benennung von Straßen jedoch ein zunehmend politischer Akt. Obwohl sich die gewählten Namen an die Vergangenheit anlehnen, indem sie an historische Ereignisse, Orte oder Personen erinnern, ist ihre Wirkung auf die Gegenwart und Zukunft gerichtet, deren politisches Bewusstsein sie prägen sollen. Die Botschaften ihrer Namensgeber tragen Straßennamen immer auch in die jeweilige Gegenwart.1

Die symbolische Bedeutung von Straßennamen wollten sich auch Kolonialenthusiasten zu eigen machen. So sollten koloniale Straßennamen nicht nur Akteure des Kolonialreichs ehren, sondern auch dessen Legitimität in der Gesellschaft festigen. So schrieb die Kölnische Zeitung im Januar 1913 beispielsweise: »Für die koloniale Sache wäre es doch ein Gewinn, wenn unsere heranwachsende Jugend zwischen einer Togo-, Duala-, Windhuk-, Lüderitz-, Wissmannstraße sich bewegte und so von früh auf lernte, daß diese Namen nicht fremde, uns nicht interessierende Länder, Städte und Menschen in die Erinnerung rufen, sondern Plätze des überseeischen Deutschlands und der Helden, die an seinem Aufbau mitgewirkt haben.« Entsprechend lamentierte die Zeitung, dass selbst »Bremen […] noch keine Lüderitzstraße« besitze.2

Wenige Monate später, am 12. August 1913, entschied sich der Bremer Senat, eine neu angelegte Straße im Stadtteil Schwachhausen mit dem Namen Lüderitzstraße zu versehen.3Geehrt wurde damit der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz (1834–1886). Sein erschwindelter Landbesitz im südlichen Afrika wurde 1884 vom Reichskanzler Otto von Bismarck »unter Schutz« gestellt, womit das deutsche Kolonialreich offiziell von Bremen aus seinen Anfang nahm. Es ist nicht erstaunlich, dass die Straße in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus ihren Namen behielt. In Bremen waren die kolonialrevisionistischen Bestrebungen besonders ausgeprägt. Das 1932 eingeweihte Kolonialehrendenkmal, der Bremer »Elefant«, zierte ein Porträt von Lüderitz auf seinem Sockel. 1938 wurde die Oberrealschule an der Dechanatstraße nach Lüderitz benannt und 1939 die Große Weserbrücke. Zudem wurde 1940 im »Lüderitzhaus« in der Martinistraße ein Lüderitz-Museum eröffnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Schule im Zuge der Entnazifizierung des öffentlichen Raums ihre vorherige Bezeichnung zurück. Die zerstörte Lüderitz-Brücke hieß nach dem Wiederaufbau erneut Große Weserbrücke, heute Wilhelm-Kaisen-Brücke. Bei den Umbenennungen unberücksichtigt blieben die kolonialen Straßennamen, die heute noch in Bremen vorhanden sind.4

Die Bremer Bevölkerung nahm die kolonialen Überreste im Stadtbild lange hin. Der erste öffentliche Protest gegen die Lüderitzstraße formierte sich Ende der 1970er Jahre. Im Rahmen der Bremischen Südafrika-Wochen, die im Oktober 1979 von der Anti-Apartheid-Bewegung, Gruppen der evangelischen Kirche und studentischen Initiativen organisiert wurden, fand die »Aktion Lüderitzstraße« statt. Am 27. Oktober versammelten sich Aktivisten und Aktivistinnen in der Lüderitzstraße, darunter auch offizielle Vertreter der SWAPO, der namibischen Unabhängigkeitsbewegung, verteilten Flugblätter, sprachen mit Anwohnern und Anwohnerinnen und widmeten die Straße schließlich in Nelson-Mandela-Straße um. Gestört wurde die Protestaktion durch eine Gruppe von Neofaschisten der Nationalrevolutionären Arbeiterfront, die den Zugang zu den Informationsständen blockierte, Transparente beschädigte und rassistische Flugblätter verbreitete. Die Polizei griff nicht ein. Auch die Staatsanwaltschaft wollte später keine strafbare Handlung erkennen.5

Die symbolische Straßenaktion war der Auftakt für den nachfolgenden offiziellen Antrag im Stadtteilbeirat Schwachhausen. Die Antragsteller, die Anti-Apartheid-Bewegung und die Vereinigung Christen für den Sozialismus, trugen vor, dass »es für Bremen untragbar und für alle nach dem Selbstbestimmungsrecht ringenden Völker ein Affront ist, einen Straßennamen zur Ehrung eines Kolonisators zu führen«.6Der Antrag wurde am 28. April 1980 öffentlich im Beirat Schwachhausen beraten. Zuvor hatten sich 26 der 27 Anwohner und Anwohnerinnen in einer Eingabe gegen eine Umbenennung ausgesprochen. Sie argumentierten, dass Lüderitz »lediglich Kaufmann gewesen« sei und nicht persönlich für die Untaten verantwortlich gemacht werden könne. Lediglich ein Anwohner, Diether Koch, befürwortete die Umbenennung.

Tongebend für die Aussprache der Parteien war eine Stellungnahme des Staatsarchivs, das in der Umbenennung einen Präzedenzfall sah, der unabsehbare Folgen und hohe Kosten mit sich bringen und dem deshalb nicht stattgegeben werden könne. Die CDU, mit zehn von 19 Sitzen die größte Beiratsfraktion, erklärte ihre Solidarität mit den Anwohnern und beharrte darauf, dass Straßennamen etwas Beständiges haben sollten. Die FDP, ebenfalls aufseiten der Anwohner, gab zu bedenken, dass eine Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit nicht durch die Tilgung von Personennamen erfolgen könne. Während Christine Bernbacher als Beirätin der Bremer Grünen Liste der Umbenennung als Einzige zustimmte, enthielt sich die SPD-Fraktion der Stimme, da sie eine Abstimmung als verfrüht erachtete. Am Ende der Aussprache lehnte die Mehrheit die Umbenennung ab.

Nach der Beiratssitzung richtete sich der Unmut der Antragsteller vor allem auf die befremdliche Haltung der SPD. Wahrscheinlich waren es deshalb auch die Sozialdemokraten, die den nächsten Verstoß zur Umbenennung unternahmen. Im November 1985 brachte die SPD im Beirat Schwachhausen zur Abstimmung, die Lüderitzstraße in Heinrich-Böll-Straße umzuwidmen. Sie argumentierten, dass Lüderitz eine »seit langem umstrittene Symbolfigur des deutschen Kolonialismus« sei und sein Name »an Unterdrückung und Ausbeutung« erinnere. Eine ausführliche Debatte wurde durch die CDU-Mehrheit beendet. Schon ein Jahr später, im September 1986, nannte die Evangelische Studentengemeinde Bremens die Lüderitzstraße durch eine symbolische Aktion in Nelson-Mandela-Straße um.7

Erst 2018 wurde auf Beschluss des Beirats eine Legende zur historischen Einordnung an den Schildern der Lüderitzstraße angebracht. Der Protest ebbte jedoch nicht ab. Zuletzt hielt das Bündnis »Kolonialismus nicht mit uns« im September 2019 eine Mahnwache in der Lüderitzstraße ab und forderte deren Benennung nach Samuel Maharero, der im heutigen Namibia den Aufstand gegen die deutsche Kolonialarmee angeführt hatte.8

Die »Aktion Lüderitzstraße« zählte 1979 zu den frühesten Protesten gegen koloniale Straßennamen in der Bundesrepublik. Ungeachtet der anhaltenden zivilgesellschaftlichen Diskussionen existiert die Lüderitzstraße bis heute. Sie steht aber nicht alleine. Zu ihr gesellen sich mehrere Dutzende weitere koloniale Straßennamen. Alle von der Kölnischen Zeitung geforderten Straßen wurden auch in Bremen eingeführt: die Togostraße (1924 angelegt), der Dualaweg (1936) und die Windhukstraße (1923) in Gröpelingen/Häfen und die bereits 1928 wieder aufgehobene Wissmannstraße (1906) in Walle. Die Hürden für eine Umbenennung sind hoch. Laut Senatsbeschluss vom 9. November 1965 dürfen Straßen nur in Ausnahmefällen umbenannt werden und bei Einverständnis aller betroffenen Anwohner. Für Umbenennungen von Straßen fehlen nach wie vor der politische Wille und eine breite Unterstützung der Bevölkerung. Gleichwohl gibt es weiterhin zivilgesellschaftliche Bewegungen, wie die Stadtteilinitiative Walle entkolonialisieren, die sich gegen den Status quo richten und für eine aktive Aufklärungsarbeit eintreten.

Anmerkungen

1Verena Ebert, Koloniale Straßennamen. Benennungspraktiken im Kontext kolonialer Raumaneignung in der deutschen Metropole von 1884 bis 1945, Berlin 2021; Anna Wolter, Stadt der Kolonien. Street Names in Colonial Contexts with Particular Consideration of the Hanseatic City of Bremen, in: Nataliya Levkovych (Hrsg.), Advances in Comparative Colonial Toponomastics, Berlin 2020, S. 245–298.

2Koloniale Straßenbezeichnungen, in: Kölnische Zeitung, 19.1.1913 (Erste Morgenausgabe/Erstes Blatt), S. 2.

3Staatsarchiv Bremen, 3-S.8.b. Lüderitzstraße.

4Hartmut Müller, Lüderitz und der koloniale Mythos. Kolonialbewegungen in Bremen, in: Diskurs. Bremer Beiträge zu Wissenschaft und Gesellschaft 6 (1982), S. 125–149.

5Dorothea Litzba, Die Aktion Lüderitzstraße. Erfahrungen einer Initiativbewegung, in: ebd., S. 192–223; dies., Aktion Lüderitzstraße. Bericht über die Aktion, in: Hella Ulferts, Manfred O. Hinz u. Dorothea Litzba (Hrsg.), Apartheid tötet – boykottiert Südafrika!, Bremen 1980, S. 30–38.

6Für das Folgende siehe Staatsarchiv Bremen, 7.1086, 178, Antrag zur Umbenennung der Lüderitzstraße, 14.12.1979; 4.64/15, 14, Protokoll der Sitzung des Beirats Schwachhausen, 28.4.1980; »Vergangenheit nicht tilgen«, in: Weser-Kurier, 30.4.1980, S. 11.

7Staatsarchiv Bremen, 4.64/15, 20, Protokoll der Sitzung des Beirats Schwachhausen, 21.11.1985.

8Adolf Lüderitz wird im Straßennamen weiterleben, in: Weser-Kurier, 23.11.1985, S. 15; Vorschlag: Nelson-Mandela-Straße, in: Weser-Kurier, 23.9.1986, S. 11; Schüler fordern Umbenennung, in: Weser-Kurier, 29.9.2019, S. 12.

Sarah Maria Noske

»Von Bremen für Ruapuke«:Was macht eine Glocke aus Bremen in Neuseeland?

Eingebettet in die Meerenge der Foveaux Strait im Süden der Südinsel Neuseelands liegt die Insel Rakiura. Das Zentrum Rakiuras ist ein kleiner Ort namens Oban, in dem es zwei protestantische Kirchen und eine Handvoll Läden gibt. Auf Rakiura leben heute etwa 400 Menschen; der Großteil der Insel gehört zum Nationalpark. Die Insel ist bedeckt von Bergen, dichtem Wald und isolierten Buchten mit glasklarem Wasser. Das Wetter ist windig, nass und unbeständig. Wer den kleinen Ort Oban erkundet, entdeckt im Hinterhof einer kleinen anglikanischen Gemeinde zwei Glocken. Eine der etwas in die Jahre gekommenen Glocken trägt die Gravur »Von Bremen für Ruapuke«.

Diese Glocke und ihre umstrittene Herkunft gerieten Anfang des 20. Jahrhunderts in die Schlagzeilen der neuseeländischen Lokalpresse. Am 28. Juni 1905 schrieb der Journalist Robert Carrick, dass diese als »Ruapuke Bell« bekannte Glocke von dem Schiff »Elizabeth Henrietta« gestohlen worden sei. Das Schiff war im Jahr 1823 vor der Küste der benachbarten Insel Ruapuke auf einer Sandbank festgefahren. Um das Schiff wieder ins Wasser zu transportieren, wurde unter anderem die Glocke an die Küste gebracht. Carrick zufolge habe das die Möglichkeit geboten, die Glocke und andere Gegenstände zu stehlen.1Carricks Behauptung sorgte damals für Empörung. So erklärte der Lehrer und Journalist A. W. Traill in einem Leserbrief vom 26. Juli 1905, dass die Glocke nicht gestohlen, sondern als Geschenk der Norddeutschen Missionsgesellschaft aus Bremen an ihren Missionar Johann Wohlers gesendet worden sei. Dies werde vor allem anhand ihrer Gravur deutlich.2

Traill wies damit auf eine doppelte Verflechtung zwischen Bremen und den beiden Inseln in der Foveaux Strait hin: Er spielte erstens auf die Glocke an, die im 19. Jahrhundert von Bremen nach Ruapuke gesendet worden war, und zweitens auf den norddeutschen Missionar Johann Wohlers, der 40 Jahre seines Lebens auf den Inseln in der Foveaux Strait, insbesondere auf Ruapuke, verbracht hatte.

Wohlers hatte sich am 25. Dezember 1843 auf dem Schiff »St. Pauli« von Hamburg aus auf den Weg nach Neuseeland gemacht und kam ein halbes Jahr später im Juni 1844 in Nelson an der Nordspitze der Südinsel Neuseelands an, wo die Missionsgesellschaft in den Jahren zuvor das erste Stück Land für die Missionsarbeit erworben hatte.3

»Ruapuke Bell« im Hinterhof der St. Andrews Anglican Church auf Rakiura

Somit trug sie aktiv zu den Siedlungsplänen der neuseeländischen Handelskompanie und der Inbesitznahme indigenen Landes in Nelson bei. Die Norddeutsche Missionsgesellschaft war im Jahr 1836 durch den Zusammenschluss mehrerer Missionsgesellschaften in Hamburg gegründet worden. 1851 verlegte sie ihren Sitz nach Bremen. Die Gesellschaft entsendete anfänglich nur nach Neuseeland und Ostindien, seit 1847 auch in das Gebiet des heutigen Ghanas und Togos, wo sie bis heute in der Entwicklungsarbeit tätig ist.4Die Arbeit der Gesellschaft in Neuseeland beschränkte sich auf fünf weitere Missionare, wobei Wohlers am längsten für die Missionsgesellschaft tätig war.5An der Seite Wohlers arbeiteten J. F. Riemenschneider, J. C. W. Heine sowie C. Völkner in Neuseeland für die Missionsgesellschaft.

Wohlers, der sich über die »unzugänglichen Einöden Neuseelands« beschwerte, kam selbst aus einem ländlichen Gebiet.6Er wurde am 1. Oktober 1811 in Mahlenstorf in der Nähe von Hannover als Sohn eines Bauernehepaars geboren. Die Kindheit verbrachte er bei seiner Großmutter in Hoyerhagen südöstlich von Bremen. In den Jahren von 1837 bis 1842 besuchte er die Schule der Norddeutschen Missionsgesellschaft in Hamburg.

Nach seiner Ankunft in Neuseeland verbrachte Wohlers ein knappes Jahr mit seinem Missionskollegen Riemenschneider in der Nähe von Nelson, bevor er auf Einladung von Frederick Tuckett die Südinsel bereiste. Tuckett, ein junger Quäker, war von der neuseeländischen Handelsgesellschaft beauftragt worden, Land für neue Siedlungen zu erschließen. Wohlers traf während seiner Reise in den Süden Hone Tūhawaiki, einen Māori-Anführer, der ihm erlaubte, sich auf Ruapuke niederzulassen. Tūhawaiki war besonders bekannt für seine guten Beziehungen zu den europäischen Wal- und Seelöwenfängern, die sich im beginnenden 19. Jahrhundert an den Küsten der Südinsel niedergelassen hatten, sowie zu Akteuren der britischen Kolonialverwaltung. Tūhawaiki selbst gründete ebenfalls eine Walfangstation in Bluff, von wo aus bis heute die Fahrten zu den Inseln in der Foveaux Strait ausgehen.7

Wohlers landete im Mai 1844 auf Ruapuke. Seiner Autobiographie zufolge war sein Alltag dort nicht immer einfach. Gerade die isolierte Lage der Insel erschwerte die Korrespondenz mit der Bremer Missionsgesellschaft. Wenn die Korrespondenz erfolgreich bei Wohlers ankam, war sie mitunter bereits seit zwei Jahren unterwegs, was dazu führte, dass Wohlers oft ohne offizielle Anweisungen arbeitete. Zudem befand er sich vor allem in den ersten Jahren in finanziellen Notlagen, weil ihn das Geld der Missionsgesellschaft nicht erreichte. In diesen Zeiten kam Wohlers die enge Zusammenarbeit mit dem Agenten der neuseeländischen Handelskompanie Tuckett zugute. Tuckett entsandte immer wieder Geschenke und warb in London für die Missionsarbeit, wo er bei Freunden Spenden für Ruapuke sammelte. Im Jahr 1846 wurde die Kirche errichtet und im selben Jahr mit einer Glocke – der »Ruapuke Bell« – ausgestattet.8Auf Ruapuke lernte Wohlers Māori, führte umfangreich Korrespondenz, hielt Gottesdienste und vollzog Taufen, Eheschließungen und Beerdigungen. Seit 1849 arbeitete er gemeinsam mit seiner Frau Eliza, die er durch ein befreundetes Missionarspaar, die Creeds, kennengelernt und am 21. September 1849 geheiratet hatte. Seine schriftlichen Hinterlassenschaften zeichnen ein detailliertes Bild der in der Foveaux Strait lebenden Gemeinschaften, wohingegen die Darstellungen von rassistischen Stereotypen durchzogen sind.9

Wohlers war nicht der erste Missionar oder gar der erste Europäer, der Ruapuke erreichte, aber Eliza, seine Tochter Gretchen und er waren zweifelsohne die europäischen Bewohner, die dort am längsten blieben. Sie verließen Ruapuke, als sich Wohlers’ Gesundheitszustand im Jahr 1884 verschlechterte, und zogen nach Raikura zu ihrer Tochter Gretchen und deren bereits erwähntem Mann Arthur W. Traill. Wohlers verstarb im darauffolgenden Jahr am 7. Mai 1885 auf Rakiura, wo er und seine Familie bis heute begraben liegen. Die Mission fand durch das Ableben Wohlers ein Ende, wobei schon in den Jahren zuvor immer mehr Familien auf das Festland gezogen waren, um dort zu arbeiten. Die Glocke befand sich nach dem Tod Wohlers bei dem Māori-Anführer Teone Tōpi Pātuki, der sie im Jahr 1900 an die anglikanische Kirche in Rakiura verkaufte.10Durch Wohlers und die von der Missionsgesellschaft zugesendete Glocke, die bis heute auf Rakiura hängt, befindet sich ein kleines Stückchen Geschichte Bremens am anderen Ende der Welt in Neuseeland und verbindet damit die Geschichte zweier kleiner Inseln mit der Stadt Bremen.

Anmerkungen

1Robert Carrick, New Zealand South Historical Romance. The Ruapuke Bell, in: Otago Witness, 28.6.1905.

2A. W. Traill, The Ruapuke Bell, in: Otago Witness, 26.7.1905, S. 30.

3J. F. H. Wohlers, Erinnerungen aus meinem Leben [1883]. Hrsg. v. Sheila Natusch, Wellington 2007, S. 46; Peter H. Oettli, God’s Messenger. J. F. Riemenschneider and Racial Conflict in the 19th Century, Wellington 2008, S. 19 f.

4Konrad Elmshäuser, Archiv der Norddeutschen Missionsgesellschaft an das Staatsarchiv Bremen übergeben, in: Der Archivar 59/2 (2006), S. 192–194, hier S. 192 f.

5Wohlers, Erinnerungen, S. 118; Hocken Library, MS-0967/025, Quarterly reports (unnumbered) and letters, 1854–1857, Brief von Wohlers an Pastor Treviranus, 5.1.1855, S. 1 (Übersetzung aus dem Englischen).

6Wohlers, Erinnerungen, S. 46.

7Edward Shortland, The Southern Districts of New Zealand, London 1851, S. 80 f.; Tony Ballantyne, Strategic Intimacies. Knowledge and Colonization in Southern New Zealand, in: Journal of New Zealand Studies 14 (2013), S. 4–18; Atholl Anderson, Tūhawaiki, Hone, in: Dictionary of New Zealand Biography (1990), https://teara.govt.nz/en/biographies/1t110/tuhawaiki-hone (abgerufen am 19.2.2024).

8Hocken Library (Dunedin, Neuseeland), MS-0967/018, Ruapuke Report, 1.7.– 30.9.1848, S. 33; Sheila Natusch, Brother Wohlers. A Biography of J. F. H. Wohlers of Ruapuke, Christchurch 1969, S. 97.

9Hocken Library, MS-0967; Staatsarchiv Bremen, 7.1025 2/6 und 2/7, Briefe und Berichte des Missionars Wohlers.

10Atholl Anderson, Pātuki, Tōpi, in: Dictionary of New Zealand Biography (1990), https://teara.govt.nz/en/biographies/1p11/patuki-topi (abgerufen am 19.2.2024).

Ingo Heidbrink

Der vergessene bremische Kolonialismus: Die Fernfischerei

Das Stichwort Kolonialismus wird nur selten mit dem Meer in Verbindung gebracht. Vielmehr hält sich der Gedanke der Freiheit der Meere als ein Raum, der niemandem gehört und frei genutzt werden kann. Dieses auf den frühneuzeitlichen Rechtsgelehrten Hugo Grotius zurückgehende Konzept ist dabei selbst ein Konstrukt, das nur im Kontext des europäischen Kolonialismus zu verstehen ist: Grotius’ Ausführungen entstanden als Auftragsarbeit einer niederländischen kolonialen Handelsgesellschaft. Die Niederländische Ostindien-Kompanie definierte die Freiheit der Meere als ihren Weg, um ihre eigenen kolonialen Interessen gegenüber den Kolonialmächten Spanien und Portugal etablieren zu können.

Als die deutsche und insbesondere die bremische Hochseefischerei am Ende des 19. Jahrhunderts damit begann, erste Fischdampfer in den Gewässern vor Island einzusetzen, fischten diese Schiffe unmittelbar vor der Küste der zu dieser Zeit noch in kolonialer Abhängigkeit von Dänemark befindlichen Insel. Die isländische Fischerei verfügte noch nicht über die Technologien, die eine Nutzung derselben Fangplätze erlaubt hätte, und die Kolonialregierung in Kopenhagen hatte nur wenig Interesse daran, was sich in den isländischen Gewässern ereignete. So wurden die Fangplätze bei Island innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem Hauptarbeitsgebiet britischer, deutscher und vor allem bremischer Fischdampfer. An dieser Situation änderte sich nur wenig bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 1944 wurde Island jedoch zu einem souveränen Staat, der sich nicht länger in Abhängigkeit von einer europäischen Kolonialmacht befand. Damit kam zwangsläufig innerhalb weniger Jahrzehnte auch die Praxis zum Ende, in der die europäischen Fischereinationen auf der Grundlage der Freiheit der Meere vor Island fischten.

In einer anderen Lesart ließe sich sagen, dass ein Gentlemen’s Agreement auslief, in dem die europäischen Fischereinationen die Gewässer um Island als gemeinsame quasikoloniale Ressource nutzten. Ausgehend von der Definition des Kolonialismus als »der Ausdehnung der Herrschaftsmacht europäischer Länder auf außereuropäische Gebiete mit dem vorrangigen Ziel der wirtschaftlichen Ausbeutung«, kann die Fischerei in den Gewässern um Island als Kolonialismus bezeichnet werden.1Es ist unstrittig, dass es sich – unter dem Deckmantel der Freiheit der Meere – um eine wirtschaftliche Ausbeutung und eine De-facto-Ausdehnung der Herrschaftsmacht, das heißt der Kontrolle der Ressource Fisch, auf die Gewässer um Island handelte. Auch wenn die Gewässer de jure nicht beansprucht wurden, wurde Island zumindest die faktische Kontrolle über diese Gewässer verweigert.

Die wichtigste Ressource Islands waren auch zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit die Fischbestände in den Gewässern um die Insel. Damit neben die politische auch eine ökonomische Souveränität treten konnte, musste die Kontrolle über die Fangplätze durch die europäischen Fischereinationen zu einem Ende kommen. Island nicht den Zugriff auf diese Ressource zu geben, war nichts anderes, als einer Kolonie politische Souveränität zuzugestehen, ohne dabei die Kontrolle über deren Bodenschätze abzutreten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die De-facto-Kontrolle über diese Ressource unmittelbar durch die ehemalige Kolonialmacht ausgeübt wurde oder durch eine Gruppe von Unternehmen fremder Mächte.

1948 erließ Island ein erstes Gesetz, das seinen Anspruch auf die Fischbestände auf dem Schelf um die Insel beschrieb. In den folgenden Jahrzehnten kam es zu den als Kabeljaukriege in die Geschichtsbücher eingegangenen Konflikten zwischen Island und den Fernfischereinationen, an deren Ende Island die Kontrolle über eine 200 Seemeilen breite Fischereizone erlangte. Zu den beteiligten deutschen Schiffen gehörten vor allem Fischereifahrzeuge aus Bremerhaven. 1976 verließen die letzten fremden Fischereifahrzeuge die umstrittenen Gewässer, und Island erlangte neben der politischen Souveränität auch die Hoheit über seine wichtigste Ressource.