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Nele Lemberg ist die Tochter von Hamburgs reichstem Privatbankier und gleichzeitig das Gesicht der Bewegung für Klimaschutz. Als sie vor Tausenden auf einer Demonstration spricht, fällt plötzlich ein Schuss. Niemand kommt zu Schaden, aber kurz darauf verschwindet Nele spurlos. Kommissar Bombach sind die Hände gebunden, denn es gibt keine Hinweise auf ein Verbrechen. Also bittet ihre Mutter Polizeireporter Mike Staller um Hilfe. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig. Doch dann taucht ein Bild von Nele auf, ganz im Stile der Entführung von Hanns Martin Schleyer durch die RAF. Damit ist der Weg frei für offizielle Ermittlungen. Doch auch Bombach kommt nicht recht weiter. Niemand hat etwas gesehen und es gibt keinerlei verwertbare Spuren. Geht es bei dieser Entführung nur um Geld? Oder spielen politische Motive eine Rolle? Nele Lemberg steht für einen radikalen Wandel in der Energie- und Wirtschaftspolitik. Sehr zum Leidwesen ihres Vaters. Denn Siegbert Lemberg, Disziplinfanatiker und Patriarch alter Prägung, ist überhaupt nicht einverstanden mit dem Engagement seiner Tochter. Er scheint nicht sehr besorgt um sie zu sein. Doch das ändert sich abrupt, als er selbst zur Zielscheibe der Entführer wird. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, bei dem die Polizei immer einen Schritt zurück zu sein scheint. Der oder die Täter bleiben ein Phantom. Welche Rolle spielt die rechtsradikale Gruppierung, der Siegbert Lemberg offenbar nahesteht? Haben die Klimaschützer, bei denen ein Streit um Neles Nachfolge entbrennt, etwas mit der Entführung zu tun? Aus winzigen Indizien schließt Staller auf den wirklichen Tathergang und deckt schließlich ein Komplott auf, mit dem so niemand gerechnet hätte.
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Seitenzahl: 592
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STALLER UND DAS VERSCHWUNDENE MÄDCHEN
Bisher in diesem Verlag erschienen:
Staller und der Schwarze Kreis
Staller und die Rache der Spieler
Staller und die toten Witwen
Staller und die Höllenhunde
Staller und der schnelle Tod
Staller und der unheimliche Fremde
Staller und die ehrbare Familie
Staller und der Mann für alle Fälle
Staller und der Pate von Hamburg
Staller und der Feuerteufel
Chris Krause
Staller und das verschwundene Mädchen
Mike Stallers elfter Fall
© 2022 Chris Krause
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-73364-0
Hardcover
978-3-347-73365-7
e-Book
978-3-347-73367-1
Großschrift
978-3-347-73368-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsere Zukunft klaut!“
Angefeuert von einem jungen Mann mit Megafon intonierte die beeindruckende Menge den Slogan mehrfach. Die Fassaden der Geschäftshäuser rund um die Binnenalster warfen den Schall zurück und verstärkten ihn. Dies war nicht die erste Demonstration zur Rettung der Welt vor einer Klimakatastrophe und es würde nicht die letzte sein, aber sie zu überhören, war schwer.
Auf der improvisierten Bühne – einem LKW-Anhänger, auf dem man die Plane auf drei Seiten entfernt hatte – stand Nele Lemberg und beobachtete das bunte Treiben vor ihr. Es bot sich ein Querschnitt der Hamburger Bevölkerung, auch wenn das Gros aus jüngeren Leuten bestand. Vorbeieilende Geschäftsleute und Büroangestellte in der Mittagspause blieben stehen und waren für einige Zeit Teil der Veranstaltung. Eine größere Gruppe grauhaariger Frauen in praktischer Funktionskleidung hatte sich unter einem Banner versammelt, auf dem “Omas for future“ stand. Der Begriff Oma schien dabei großzügig ausgelegt zu sein, denn einige Teilnehmerinnen schienen noch nicht einmal die Vierziger erreicht zu haben.
„Warte noch ein paar Minuten!“
Der junge Mann, der sich zu Nele beugte und direkt in ihr Ohr sprach, hielt ein Funkmikrofon in der einen Hand und sein Handy in der anderen.
„Es strömen immer noch Menschen nach, höre ich gerade. Das dürfte die größte Demo von allen bisher sein.“
„Das ist doch super!“, freute sich die junge Frau. Nele Lemberg war das Gesicht der Bewegung. Wenn sie sprach, dann hingen die Leute an ihren Lippen. Ihre Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte mit verständlichen Worten in knappen Sätzen auszudrücken, machte sie zur beliebten Gesprächspartnerin. Ob in der Stadtteilgruppe oder der Talkshow, Nele bemühte sich unermüdlich für die Sache. Wenn man in ihr offenes Gesicht mit den lebhaften Augen sah, dann wusste man sofort, dass es ihr ernst war und um die Sache ging. Für ihre gerade mal zwanzig Jahre brachte sie zudem ein erstaunliches Wissen mit und verfügte über die Gabe, dieses so zu vermitteln, dass es nie besserwisserisch klang.
„Das Fernsehen ist mit mindestens drei Teams vor Ort. Ich schätze, dass du in allen Nachrichtensendungen vorkommen wirst.“
„Jede Minute Sendezeit für unser Anliegen ist ein Gewinn“, stellte sie sachlich fest. „Aber willst du nicht auch etwas sagen, Lasse?“
„Nee, lass mal“, grinste er und legte ihr kurz den Arm um die Schultern. „Du bist und bleibst unsere Galionsfigur und außerdem siehst du um Klassen besser aus als ich.“
„Als ob es darauf ankäme!“, protestierte sie.
„Ist so, da kannst du nichts machen. Ein hübsches Gesicht weckt mehr Aufmerksamkeit. Bis sich das ändert, kannst du bei den Ladys da unten mitlaufen.“
Er deutete auf die “Omas for future“, die mitsamt ihrem Plakat jetzt rhythmisch auf und ab hüpften.
„Blödmann!“
Sie knuffte ihn auf den Oberarm, aber es war eine freundschaftliche Geste. Dann ließ sie ihren Blick weiter über die Menge schweifen. Da waren ganze Schulklassen, wie den hochgehaltenen Pappschildern zu entnehmen war. Es gab kreative Verkleidungen, zum Beispiel einen Pinguin mit Sonnenschirm und einer überdimensionalen Tube Sunblocker im Arm. Drei junge Mädchen steckten bis zur Hüfte gemeinsam in einem großen Karton, auf dem Wellen aufgemalt waren, die bis weit über die Knie reichten, Zeichen für den stetig steigenden Meeresspiegel. Andere Gruppen tanzten fröhlich und genossen die Gemeinschaft. Es war ein vielfältiges, aber friedliches Bild.
„Irgendwas von unseren leerdenkenden Klimaleugnern zu hören?“
Die Bewegung traf auf breite Unterstützung in der Bevölkerung, aber wie so oft gab es eine kleine, aber um so hartnäckigere Opposition, die den menschengemachten Klimawandel rundweg leugnete und die auftretenden Extremereignisse als Wetter abtat, das es so oder so ähnlich schon immer gegeben habe.
Der junge Mann sprach kurz in sein Headset und nickte dann.
„Ja, die Idiotenbrigade ist natürlich ebenfalls angetreten. Sie haben sich im Neuen Wall versammelt. Sind nur ein paar Dutzend, aber von der Hardcore-Fraktion. Die Polizei beobachtet sie.“
„Okay, dann rechne ich mal nicht mit Störungen.“
„Nee, vermutlich nicht. Hoffentlich!“
Die Menschenmenge hörte langsam auf ihre Schlachtrufe zu skandieren und für ein paar Augenblicke herrschte eine fast andächtige Stille. Nele schob ihre selbstgestrickte Wollmütze mit dem überdimensionalen Bommel ein wenig mehr aus der Stirn und zog den Reißverschluss ihres Anoraks etwas auf. Sie wusste, dass von ihr gleich eine fulminante Rede erwartet wurde. Wie eigentlich immer hatte sie sich nicht konkret darauf vorbereitet. Ihre Spezialität war Spontanität. Sie sog die Energie der Masse in sich auf und setzte sie in passende Worte um. Die Faktenlage war allen bekannt und hatte sich seit längerer Zeit wenig verändert. Trotzdem hatte die Kenntnis all dieser Zusammenhänge keine signifikante Verhaltensänderung seitens der Politik bewirkt. Außer den üblichen Worten natürlich. Man erkenne das Problem, man bemühe sich um eine Lösung, die Angelegenheit erfordere komplexe Gedankengänge – die Floskeln waren alle schon zu oft ausgesprochen worden. Was fehlte, waren Taten. Um das zu erreichen, musste der Druck von der Straße permanent hochgehalten werden. Es galt, die Macht der Bilder zu beschwören und mit Emotionen die Stimmung zu beeinflussen. Nele Lemberg hätte sich selbst sicher nicht so beschrieben, aber sie war eine begnadete Manipulatorin. Wenn sie zu den Menschen sprach, dann packte sie diese und bewegte sie. Zornige Kinder waren die einzige Antwort auf Politiker, die mit der Flexibilität einer Gummiwand Argumente so lange absorbierten, bis sie zu Staub zerfallen waren.
Während Lasse ihr das Mikrofon in die Hand drückte und mit einem aufmunternden Kopfnicken im hinteren Teil des Lastwagens verschwand, richteten die Menschen vor der Bühne ihre Augen auf Nele und warteten gespannt darauf, dass sie ihre Rede begann. Ein paar begeisterungsfähige Schülergruppen begannen lautstark zu klatschen und die Menge stieg begeistert mit ein. Man hätte denken können, dass gleich ein bekannter Popstar seine größten Hits vortragen würde.
„Hallo, ihr alle!“
Nele trat zwei Schritte nach vorn und winkte mit der freien Hand ins Publikum. Diese Geste war so natürlich und freundlich, dass aus dem Klatschen geradezu ein Sturm der Begeisterung wurde. Sie lächelte ein bisschen verlegen und versuchte mit einer Hand eine abwiegelnde Bewegung zu machen. Der Erfolg war überschaubar. Das Problem bei großen Menschenansammlungen ist, dass sich jede Reaktion mit entsprechender Verzögerung durch die Reihen arbeiten muss. Wenn ganz vorne schon wieder Ruhe eingekehrt ist, in der Mitte noch gejohlt wird, dann ist ganz am Ende noch gar nichts angekommen.
„Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Das ist großartig!“
Etwas holperig, weil sie immer noch in einer Hand das Mikrofon hielt, applaudierte sie nun ihrerseits dem Publikum, das sich daraufhin lautstark selber feierte. Aber irgendwann beruhigte sich das Pandämonium und auf den Gesichtern machte sich gespannte Erwartung breit.
„Wir haben wirklich Glück, dass wir heute weder Sturm noch Regen haben, sondern für Hamburger Verhältnisse geradezu einen Traumtag“, stellte Nele fest und ließ ihre Linke einen Bogen über den Himmel über der Binnenalster ausführen. Dort zogen einzelne weiße Wölkchen träge vom Neuen Jungfernstieg zum Ballindamm. Mit 14 Grad war es nicht zu kalt und für Oktober völlig angemessen.
„Es hätte auch ganz anders kommen können. Wir haben in diesem Jahr bereits anderthalbmal so viele Extremwetterlagen in Deutschland gehabt, wie im langjährigen Mittel. Und das in nur neun Monaten.“
Die Menge johlte. Weniger, weil sie Starkregen, Dürre oder Tornados liebte, sondern weil ihre Ikone ohne lange Vorrede mitten ins Herz der Problematik vorgestoßen war.
„Wir haben so viele Quadratkilometer an Wäldern durch Brände verloren, wie nie zuvor“, fuhr Nele Lemberg fort. „Gleichzeitig haben Tausende von Menschen unter furchtbaren Überschwemmungen gelitten, ihr Hab und Gut verloren, teilweise ihre Angehörigen und vor allem eins: das Vertrauen in ihre Heimat. Denn es kann jederzeit wieder passieren.“
Stille senkte sich über das Publikum. Alle begriffen, dass es an dieser Stelle nichts zu beklatschen gab.
„Und warum ist das so? Wir haben schließlich schon lange und nachdrücklich davor gewarnt! Warum müssen Menschen im Kampf gegen die Natur sterben? Weil unsere Politiker statt zu handeln in endlosen Gesprächsrunden sitzen und die Zeichen der Zeit nicht erkennen wollen! Weil sie Angst haben, sich mit der übermächtigen Wirtschaft anzulegen, weil sie Angst haben, nicht mehr auf ihren gut bezahlten Arbeitsplatz wiedergewählt zu werden, und weil sie Angst haben, die notwendigen Maßnahmen umzusetzen, weil diese nämlich ein paar Veränderungen in unserem Leben bedeuten würden.“
Johlen und Pfiffe, die sich allerdings eindeutig gegen die angesprochenen Politiker richteten.
„Das Schlimmste ist jedoch: Es gibt ein verbindliches Klimaziel! In Paris wurden 2015 klare Verabredungen getroffen. Darauf haben sich 195 Staaten geeinigt. Niemand kann sagen: Das habe ich nicht gewusst!“
An dieser Stelle brandete Applaus auf. Die “Omas for future“ bliesen heftig in mitgebrachte Trillerpfeifen, viele andere machten mit.
„Natürlich gibt es verschiedene Wege, dieses Ziel – Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad – zu erreichen. Es ist auch bestimmt angemessen, über die Wahl des besten Weges zu streiten. Nur darf man darüber nicht vergessen, auch einen dieser Wege zu beschreiten! Und im Moment muss man ganz klar sagen: Was die Politik macht, reicht nicht!“
Abermals gellende Pfiffe, in die sich lautstarke Buhrufe mischten. Sollten im Hamburger Rathaus gerade die Fenster offenstehen, konnten die Politikerinnen und Politiker diesen Lärm sicher nicht überhören.
„Wenn die Politik sich tot stellt, wenn sie für ergebnislose Arbeitskreise rund um die Welt fliegt, wenn sie auf dem Altar der Wirtschaft die Leben der Bürgerinnen und Bürger opfert, dann müssen wir aufstehen und laut sein und deshalb sind wir auch hier!“, hob Nele Lemberg zum ersten Mal merklich ihre Stimme.
Der Erfolg ließ keine Sekunde auf sich warten. Wer je ein Fußballspiel der englischen Nationalmannschaft im Wembley-Stadion erlebt hat, der weiß, was der “roar“ ist. Es gibt kein passendes deutsches Wort für diese brachiale Urgewalt aus menschlichen Kehlen, eine dezibelstrotzende Welle aus Lärm, die durch die Arena braust wie ein Wirbelsturm über das offene Meer. Das dabei erzeugte Getöse straft alle physikalischen Gesetze Lügen. Ein Mensch kann nur eine bestimmte Lautstärke durch Schreien hervorbringen. Die Addition der Stimmen aus tausenden Kehlen erreicht ebenfalls nur einen berechenbaren maximalen Wert. Durch bauliche Effekte lässt sich der Lärm um einen bestimmten Faktor noch steigern. Der “roar“ hingegen ist einfach noch mindestens viermal lauter. Ein solcher “roar“ fegte jetzt durch die Teilnehmer der Demonstration in der Hansestadt. Man sah es den leuchtenden Gesichtern der Menschen an, wie sehr sie sich als Teil eines größeren Ganzen empfanden. Die Volksseele kochte, aber auf eine gute Art. Hier waren keine Ausschreitungen zu befürchten, es wurden keine Fäuste drohend in die Luft gereckt und es gab keine Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstanden und nur auf diesen einen Auslöser warteten, um übereinander herzufallen. Hier waren ganz normale Bürger versammelt, die ein Anliegen hatten. Die sich von den Entscheidungsträgern übersehen fühlten. Die daraufhin nachdrücklich zeigten, dass sie wichtig waren und Gehör verdient hatten. Und die gleichzeitig bewiesen, dass sie friedlich für ihre Belange eintraten.
Nele Lemberg war einen letzten Schritt nach vorne getreten. Sie wollte ihren Mitstreitern ganz nah sein, als Teil dieser unfassbar mächtigen Menschenmenge, die eine Kraft zum Ausdruck brachte, die jeden Moment die Welt aus den Angeln hebeln könnte, wenn sie nur wollte. Es ging ihr um die Sache, um klare Maßnahmen, sofortige Maßnahmen, harte Maßnahmen, die sicherstellen sollten, dass diese Erde auch für die nächsten Generationen noch ein sicherer und angenehmer Ort sein würde. Sie würde ihre Forderungen stellen, wie sie es immer getan hatte. Sofortiger Kohleausstieg! Verkehrswende! Regenerative Energien fördern! Klimaziele vor Wirtschaftswachstum! Die Liste war bekannt, musste aber gebetsmühlenartig wiederholt werden. Der Widerstand der Phrasendrescher war weich und deshalb so schwer zu brechen. “Wir werden uns damit befassen, wir diskutieren das schon länger, wir brauchen Zeit für eine Umsetzung, ohne unsere Wirtschaft zu zerstören.“ Ja, ja, leck mich am Arsch.
Der “roar“ schien endlos anzuhalten, obwohl vielleicht erst eine halbe Minute vergangen war. Die Menschen spürten die unfassbare Energie, die von ihnen selbst ausging, und besoffen sich geradezu daran. Glückliche Gesichter, strahlende Augen und weit aufgerissene Münder zeugten davon. Die Sprecherin der Bewegung breitete die Arme aus, schloss die Augen und genoss das Gefühl auf der perfekten Welle zu reiten. Es war so wunderbar, wenn man mit allen Sinnen wahrnahm, dass Menschen nicht nur Kriege führen, Aggressionen ausleben, sondern auch mit gemeinsamer Anstrengung friedliche Ziele durchsetzen konnten. Und genau in diesem Moment glaubte Nele Lemberg, dass doch noch alles gut werden könnte. Dass die Menschen in letzter Sekunde klug werden würden. Dass die Verantwortlichen kurz vor dem tödlichen Aufprall doch noch die Reißleine ziehen und den Sturz abbremsen könnten. Das würde sie zum glücklichsten Menschen der Erde machen.
Genauso schnell, wie der Moment gekommen war, verging er auch wieder. Vielleicht hatte die Frau auf der Bühne, die mit ihren ausgebreiteten Armen völlig ungewollt an einen gekreuzigten Christus erinnerte, mit dieser Geste um Ruhe bitten wollen, vielleicht war diese brachiale Energieexplosion einfach zu viel gewesen und hatte die Demonstrationsteilnehmer schließlich erschöpft. Innerhalb von Sekunden trat jedenfalls totale Stille ein. Nele öffnete die Augen, ließ die Arme sinken, lächelte schüchtern und ein wenig überrascht und holte tief Luft.
Dann fiel ein Schuss.
* * *
Kriminalhauptkommissar Thomas Bombach war definitiv außer Dienst und sah auch so aus. Er lag mit seinen Zwillingen auf einer übergroßen Spieldecke und verhinderte unaufhörlich deren Mattenflucht. Max und Moritz hatten das Krabbeln für sich entdeckt und waren ihrem Vater darin eindeutig überlegen. Er bewegte sich zwar mit einer gewissen Reaktionsschnelligkeit, sah aber in Slip und Unterhemd dabei meist aus wie ein Orca kurz vor der Fütterung. Der sehr lockere Kleidungsstil war der Tatsache geschuldet, dass die Heizung wegen der Kleinen ziemlich hoch eingestellt war. Die Raumtemperatur, im Zusammenspiel mit einer unübersehbaren Isolierschicht um den Polizisten herum, hatte dafür gesorgt, dass er sich schon lange von Hemd und Hose getrennt hatte. Es guckte ja schließlich keiner. Außer Gaby, der angebeteten Ehefrau des Babydompteurs, deren Blicke abwechselnd interessiert auf dem Fernsehschirm ruhten oder liebevoll über das Ensemble der drei Männer strichen.
„Los Moritz, du schaffst es!“, feuerte sie ihren Zweitgeborenen an, der schon den Rand der Decke erreicht hatte.
„Hab ich dich!“, trompete Bombach triumphierend und hob den kleinen Ausreißer über sich, während er auf den Rücken rollte. Dann tat er so, als ob er das kleine Bündel fallen lassen wollte und stoppte den Sturz kurz vor seiner Nase, die er kitzelnd in das Ohr seines Sohnes drückte. Ein fröhliches Geheul war die Antwort.
Schmunzelnd wandte sich Gaby wieder dem Fernseher zu, auf dem das “Hamburg Journal“ lief. Gerade wurden Bilder einer gewaltigen Menschenmenge gezeigt, die an der Binnenalster versammelt war. Die Luftaufnahmen erinnerten an Woodstock, so bunt und dicht gedrängt war die Versammlung. Alles wirkte friedlich und fröhlich. Zwischenschnitte zeigten klatschende Jugendliche und Menschen, die Pappschilder mit Botschaften der Kamera entgegenstreckten. Der nächste Schnitt zeigte eine Bühne, auf der Nele Lemberg gerade ihre weit ausgestreckten Arme sinken ließ.
In die Stille und die Großaufnahme hinein war ein trockener Knall zu hören und der Gesichtsausdruck der jungen Frau wechselte von entspanntem Glück zu verwundertem Entsetzen.
„Um Himmels willen“, stöhnte Gaby vor dem Fernseher auf. „Was ist da denn los?“
Ihr Mann, beunruhigt von ihrem Tonfall, setzte seinen Sprössling behutsam auf die Decke und drehte sich ebenfalls zum Bildschirm.
„Was ist denn?“
Die Kamera zog auf, schwenkte wild nach rechts und links und fokussierte sich dann wieder auf die Bühne.
„War das ein Schuss?“, fragte Gaby bang.
„Schon möglich, könnte aber auch alles andere gewesen sein.“
Der Kameraausschnitt fing jetzt die gesamte Bühne ein. Aus dem Hintergrund sprintete ein junger Mann mit Headset heran und warf sich auf Nele, die daraufhin überrascht zu Boden ging. Sekunden später kamen weitere Menschen auf die Bühne gehetzt und zerrten die beiden nach hinten, wo sie hinter einem Lautsprecherturm verschwanden. Nach einem weiteren Umschnitt wurde die Menge vor der Bühne gezeigt. Von Panik war nichts zu sehen, alle schienen noch in einer Art Starre zu verweilen. Vermutlich wussten die meisten Teilnehmer an Hamburgs größter Klima-Demo gar nicht, was gerade passiert war. Dasselbe galt übrigens für die Fernsehzuschauer.
Gaby erhöhte die Lautstärke mit der Fernbedienung und der Kommentar aus dem Off sorgte für eine erste Entwarnung.
„Wir wissen nicht genau, was in diesem Moment vorgefallen ist. Aber uns hat die Nachricht erreicht, dass Nele Lemberg wohlauf und nur ziemlich schockiert ist. Die Polizei, die sich bis dahin über einen sehr ruhigen Verlauf der Veranstaltung freuen durfte, versucht den Geschehnissen auf den Grund zu gehen. Ein Sprecher wollte uns keine Einzelheiten mitteilen, konnte jedoch nicht ausschließen, dass der laute Knall von einer Schusswaffe hervorgerufen wurde. Berichte über Verletzte oder gar Tote liegen uns zur Stunde noch nicht vor. Wenn wir etwas Neues erfahren, werden wir sie sofort informieren.“
Gaby sah ihren Mann ratlos an.
„Und? Was heißt das?“
„Das heißt, dass vielleicht geschossen wurde oder vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist Frau Lemberg offenbar unverletzt und von anderen Geschädigten ist auch keine Rede. Wenn das so stimmt, dann muss man ja schon dankbar sein. Ich beneide die Kollegen kein bisschen, die sich damit befassen müssen. Zu viele Zeugen sind noch schlimmer als gar keine Zeugen. Wie willst du in einer solchen Menschenmasse vernünftig ermitteln?“
„Was kann man denn da tun?“
„Praktisch nichts. Wen von den Zehntausenden willst du denn vernehmen? Und was könnte er oder sie gesehen haben? Du kannst Videos auswerten, das ist alles. Aber überleg mal, wie viele Handyvideos da heute gemacht wurden. Das ist eine Sophokles-Arbeit.“
„Sisyphus“, korrigierte Gaby tonlos, weil sie eine kluge Frau war. „Klingt wirklich nicht toll“, fügte sie laut hinzu.
„Überhaupt nicht. Und ich bin heilfroh, dass ich frei habe und nur euch drei vernehmen muss. Zum Beispiel wüsste ich gerne, was es zum Abendbrot gibt.“ Er linste derart verschmitzt von unten herauf, dass seine Frau in helles Lachen ausbrach und die beängstigenden Bilder aus dem Fernsehen sofort vergaß.
„Du bekommst auf jeden Fall volle Punktzahl für eine sensationelle Überleitung.“
„Das war nicht meine Frage.“
„Ich weiß. Ich will dich ja nur ein bisschen auf die Folter spannen. Das magst du sonst doch auch sehr gerne.“
Er bemerkte ihr übertriebenes Zwinkern und schluckte hastig. Sie hatte eine unnachahmliche Art ihn selbst mit kleinsten Gesten oder Worten zu erregen. Das gehörte zu den vielen Dingen, die er so an ihr liebte. Neben ihrer Kochkunst natürlich.
„Findest du mich eigentlich zu dick?“
Ihr liebevoller Blick machte sich auf, seinen gesamten Körper abzuscannen. Arme und Beine waren noch einigermaßen nah am Mittelmaß, aber Bauch und Hüften zeigten inzwischen eine recht ordentliche Isolierschicht. Auch in Bezug auf die Oberweite hatte er einiges zu bieten.
„Dick ist nicht der richtige Ausdruck“, resümierte sie.
„Was dann?“
„Ich würde dich als stattlich bezeichnen.“ Jetzt blieben ihre Augen eindeutig an seiner Unterhose hängen. „Und zwar in jeder Beziehung.“
Bombach spürte seine Körpertemperatur steigen. Schnell lenkte er sich ab, indem er Max daran hinderte seinem Bruder einen Finger ins Auge zu stechen.
Gaby grinste vielsagend, stand auf und drückte die Schultern zurück. Der Effekt war unübersehbar. Ihre wohlgeformten und vom Stillen immer noch vergrößerten Brüste kämpften unter dem engen Shirt um seine Aufmerksamkeit.
Er ließ kein Auge von ihr und wollte etwas sagen. Aber er musste sich zunächst räuspern.
„Was hast du vor?“, brachte er schließlich krächzend heraus.
„Ich kümmere mich um das Abendbrot.“ Sie setzte eine wohlüberlegte Pause. Bombach hing erwartungsvoll an ihren Lippen. „Und danach um dich.“
Er schnappte nach Luft wie ein Teenager beim ersten Date. Ihr Abgang mit wiegenden Hüften versprach Dinge, von denen er wusste, dass sie sie halten konnte. Mit trockenen Lippen wandte er sich an seine Söhne.
„Jungs, ihr werdet nach dem Abendbrot sofort Ruhe geben und einschlafen. Nur dass ihr Bescheid wisst!“
* * *
Im Schneideraum von “KM – Das Kriminalmagazin“ herrschte ein Halbdunkel, in dem die beiden Monitore einen hellen Kontrast bildeten. Links war in Großaufnahme der Kopf eines Mannes zu sehen, rechts ein Schwenk über ein Gebäude.
„Das ist mein Informant“, stellte Michael Staller fest. „Ich habe ihm absolute Anonymität zugesichert und deshalb darf er zu keinem Zeitpunkt in dem ganzen Beitrag erkennbar sein.“
„Okay“, nickte die Cutterin. „Was ist mit der Stimme?“
„Wir legen wegen des Timings vorläufig die Originalstimme an. In der Vertonung werde ich dann den jeweiligen Text exakt nachsprechen und den O-Ton damit ersetzen.“
„Wirkt das nicht verwirrend, wenn du dazu auch den Sprechertext aufnimmst? Zweimal die gleiche Stimme?“
„Es soll keinen Sprechertext geben. Ich will versuchen, die Geschichte ausschließlich über O-Töne zu erzählen.“
Die Cutterin pfiff leise und anerkennend.
„Hui, das ist ambitioniert! Aber du wirst dir ja was dabei gedacht haben und beim Sichten des Materials schon mal geprüft haben, ob das funktioniert.“
„Natürlich. Es wird Herausforderungen geben, aber ich möchte es versuchen. Die Bilderarmut ist vermutlich schlimmer.“
Staller hatte monatelang an einem großen Finanzskandal recherchiert und es war ihm tatsächlich gelungen aus unzähligen Puzzlestückchen ein Bild zu formen, das es bundesweit in die Nachrichten schaffen würde. Sein größter Coup dabei war der Insider, der nicht nur die Einzelheiten des Ablaufs exakt schildern konnte, sondern auch noch die Namen der Verantwortlichen kannte und preisgab. Die Verflechtung von Wirtschaft und Politik wurde damit gnadenlos offengelegt und es war damit zu rechnen, dass Köpfe rollen würden. Solche Beiträge waren das Highlight einer Reporterkarriere. Mit ihnen war der Fortbestand der Sendung wieder einmal gesichert. Der erfahrene Polizeireporter schaffte es immer wieder einen solchen Knaller zu präsentieren.
Die Probleme mit Wirtschaftsthemen waren vielschichtig. Zunächst bewegten sie sich thematisch in einem Grenzbereich. Eigentlich gehörten sie eher in die Rubrik Politik oder Aktuelles. Um in ein Kriminalmagazin zu passen, musste der Fokus des Berichtes schon auf klipp und klar gesetzwidrigen Vorgängen liegen. Wirtschaftskriminalität bewegte sich jedoch gerne in einer juristischen Grauzone.
Außerdem waren diese Themen zumeist höchst komplex und ließen sich dem durchschnittlich interessierten Zuschauer nur schwer vermitteln. Bei Mord gab es eine Leiche, bei Einbruch fehlten Wertgegenstände und bei Erpressung gab es einen klar erkennbaren Geschädigten. So simpel funktionierte Wirtschaftskriminalität nie. Zusätzlich boten Tatorte oder Opfer in der Regel starke Bilder, verbunden mit ebensolchen Emotionen. Das verstand der Zuschauer, das packte ihn. Wirtschaftskriminalität bedeutete endlose Reihen von Aktenordnern, Kontoauszügen und Paragrafen. Definitiv nicht sexy.
„Und was für Bilder hast du? Noch mehr abgeschwenkte Fassaden, Firmenschilder oder gibt es auch mal eine spannende Fahrt an einem Regal mit Aktenordnern vorbei?“
Die Cutterin grinste, denn das waren die üblichen optischen Attribute bei derartigen Themen. Was sollte man auch zeigen?
„Eddy hat die Vorgänge, die mein Informant mir geschildert hat, als Szenen nachgestellt und dabei einen verdammt guten Job gemacht. Tolles Licht, mysteriöse Gestalten, die man nicht erkennt, alles ziemlich dicht am Spielfilm. Großartige Arbeit!“
Eddy war Stallers Lieblingskameramann. Ein wortkarger, aber hochprofessioneller und dabei bescheidener Mensch. Er beherrschte nicht nur das Handwerk der Reportage, sondern inszenierte, wenn es erforderlich war, geradezu hollywoodreife Aufnahmen.
„Hast du mal ein Beispiel?“, erkundigte sich die Cutterin interessiert.
Staller nannte ihr einen Timecode. Sie rief die entsprechende Stelle auf und betrachtete die Sequenz gespannt. Dann wandte sie sich in ihrem Drehstuhl zu ihm um.
„Bravo! Das habt ihr echt gut hinbekommen. Es könnte der erste Wirtschaftsbeitrag werden, bei dem nicht jeder eingeschlafen ist, bevor er vorbei ist.“
„Danke für die Blumen. Ich werde es Eddy sagen, denn es ist sein Verdienst. Das ist auch genau die Stelle, die zu dem O-Ton gehört. Kannst du einfach mal was basteln?“
„Aber sicher. Ich fange mit dem Informanten groß an, natürlich verfremdet, gehe dann da, wo es passt, in die Spielszene und wechsele dann immer mal wieder hin und her, damit es abwechslungsreich bleibt.“
In diesem Augenblick wurde die Tür zum Schneideraum geöffnet und eine junge Frau steckte ihren Kopf herein.
„Bist du gerade im Stress, Mike?“, erkundigte sie sich.
„Komm rein, Isa! In der nächsten Viertelstunde kann ich hier eh nur dekorativ rumsitzen und Tanja bei der Arbeit zuschauen. Was gibt’s denn?“
Die Volontärin schlüpfte in den Raum und zog sich einen Stuhl heran.
„Hast du schon mitbekommen, was heute auf der Demo los war?“
„Nein, ich habe die ganze Zeit mein Material gesichtet. Ist etwas passiert? Gab es Ausschreitungen?“
„Das nicht. Aber einen ziemlich merkwürdigen Vorfall.“
„Erzähl!“
„Am Anfang war alles eigentlich wie immer. Ist ja nun wirklich nicht die erste Klima-Demo in Hamburg. Die Leute sind aus allen Richtungen zum Jungfernstieg gekommen, haben ein bisschen gesungen, ein paar Forderungen gebrüllt und wie immer kreative Schilder mitgebracht.“
„Gab es Gegendemonstranten?“
„Rund um die Binnenalster nicht, so weit ich das sehen konnte.“
„Entschuldige, erzähl weiter.“
„Dann hat Nele auf der Bühne die Leute begrüßt und angefangen zu reden.“
„Irgendetwas Besonderes?“
„Nö, das Übliche halt. Die Politik tut nichts, die Situation ist ernst und wir müssen uns Gehör verschaffen. Die Zuhörer waren ziemlich begeistert.“
„Reden kann sie, das muss man ihr lassen.“
„Sie hat dann die Leute einen Moment toben lassen und dann wurde es ganz von alleine wieder still. Stiller als vorher, wenn ich mir das so überlege. Ungewöhnlich ruhig für eine solche Masse an Demonstranten.“
„Und dann?“, fragte Staller, weil Isa untypischerweise innehielt.
„Es war irgendwie ganz komisch. In dem Moment, als es wirklich unglaublich leise war, fiel von irgendwoher ein Schuss.“
„Bist du sicher, dass es ein Schuss war? Nicht vielleicht eine Fehlzündung oder etwas, das umgefallen ist?“
„Ganz sicher bin ich natürlich nicht. Aber mein erster Gedanke war halt: Mein Gott, da hat jemand geschossen!“
„Verstehe.“
„Dazu passte, dass dieser Typ, der im Umfeld von Nele rumgeistert, ihr Assistent oder was immer seine Aufgabe ist, nach vorne zum Bühnenrand gesprintet kam und sie runtergerissen hat. So als ob er von da oben gesehen hat, dass jemand geschossen hat.“
„Das wäre natürlich möglich. Von der Bühne aus hat man erstens den besseren Überblick und zweitens guckt man auch in die richtige Richtung, also dem Publikum entgegen. Vielleicht hat er ja wirklich was gesehen.“
„Möglich. Jedenfalls hat er sich auf sie geworfen. Als ob er sie mit seinem Körper schützen wollte.“
„Ziemlich mutig, oder? Ich meine, wenn da wirklich jemand mit einer Waffe war, dann hatte er ja vermutlich nicht nur den einen Schuss.“
„Wahrscheinlich hast du recht. Aber denkt man da in dem Moment drüber nach? Für mich sah es eher so aus, als ob er völlig instinktiv reagiert hätte. Etwas später kamen dann noch andere Typen und haben die beiden weggezerrt.“
„Und was hast du gemacht?“
„Ich stand ziemlich weit vorn. Deshalb habe ich mich umgedreht und Stück für Stück nach hinten durchgedrängt. Ich wollte sehen, ob sich irgendjemand auffällig verhält oder wegrennt oder so. War aber natürlich nichts.“
Die junge Frau seufzte frustriert.
„Bist du jetzt enttäuscht, dass es keine Geschichte ist?“, neckte Staller sie.
„Ach Quatsch, ich war auch gar nicht wegen einer Story da. Aber wenn man schon mal vor Ort ist und dann so etwas Merkwürdiges geschieht …“
„Hast du denn noch irgendetwas herausbekommen können?“
„Ich habe mit der Polizei vor Ort gesprochen. Viel hatten die nicht zu sagen. Zur Sache schon gar nicht. Ein paar Gegendemonstranten hatten sich im Neuen Wall versammelt. Aber von da kann der Schuss nicht gekommen sein. Es gab allerdings angeblich keine Opfer.“
„Du glaubst also fest an einen Schuss?“
„Doch, schon. Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher.“
„Hm.“
„Was denkst du, Mike?“
„Zwei Dinge gehen mir durch den Kopf. Erstens: Wenn jemand aus der Menge heraus einen Schuss abgibt, dann bekommen das die Leute, die in seiner Nähe stehen, natürlich mit. Also müsste irgendjemand, vermutlich nicht nur einer, ziemlich aufgeregt auf den Schützen reagiert haben. Das müsste dann eine noch größere Zahl an Menschen mitbekommen haben. Zweitens: Ein Gewehr ist bei einer Demo vielleicht ein bisschen zu auffällig. Wenn es also ein Schuss war, dann wird er aus einer Pistole oder einem Revolver abgegeben worden sein. Und da muss man schon ganz schön dicht dran sein, wenn man auch treffen will.“
„Das verstehe ich. Wie wäre es mit einem Gewehrschuss aus einem der Häuser heraus? Die Entfernung ist doch nicht zu groß dafür.“
Der Reporter nickte nachdenklich.
„Das wäre vorstellbar. Sowohl vom Dach als auch aus einem Fenster. Die Möglichkeit einer Entdeckung besteht zwar auch, aber sie ist lange nicht so groß, wie bei einem Standort im Freien. Das würde mich allerdings ziemlich beunruhigen.“
„Warum?“
„Wenn möglicherweise jemand mit einer Knarre zu einer Demo geht und sogar einen Schuss abfeuert, dann ist das zwar sehr unschön, aber es könnte sich immerhin einfach um einen Spinner handeln, der mal seine fünf Minuten Aufmerksamkeit wollte. Schlimm genug. Aber ein Kerl mit einem Gewehr an einem Fenster irgendeines Hauses am Ballindamm – das ist dann akribisch geplant. Und das würde mir Sorgen machen.“
„Du meinst, weil es sich dann eventuell um ein gezieltes Attentat auf Nele Lemberg handeln könnte?“
„Genau. Du hast ja normalerweise nicht ein Gewehr mit scharfer Munition im Schreibtisch deines Büros und stellst plötzlich fest, dass dir das Gebrüll einer Demo auf den Geist geht. Das ist dann eine klare Tötungsabsicht, also ein Mordversuch. Zumal du ein ziemlich guter Schütze sein musst.“
„Hui.“ Isa dachte über das Gehörte nach. „Übel!“
„Andererseits scheint ja niemand auch nur verletzt worden zu sein, wenn es keine Opfer gab. Das spricht nun wieder gegen einen Scharfschützen.“
Die Volontärin seufzte laut.
„Sehr merkwürdig, das alles. Ist es nun eine Geschichte oder nicht? Einerseits nein, weil niemand zu Schaden gekommen ist. Andererseits ist alles so mysteriös, dass ich mich wirklich frage, was dahinter steckt.“
„Das kann ich dir natürlich nicht beantworten. Du kannst ja ein bisschen recherchieren. Wenn du auf irgendwelche Fakten stößt, die Licht ins Dunkle bringen, dann könnte es noch zu einer Geschichte werden. Aber zu viel Energie würde ich nicht hineinstecken.“
„So werde ich es wohl machen. Danke, Mike! Ich brauchte einfach mal jemanden, der sich die Sache anhört und sagt, was er darüber denkt.“
„Und was wirst du jetzt tun?“
„Ich denke, wenn irgendjemand etwas gesehen hat, dann wird es irgendwo auf Twitter stehen. Falls es sogar ein Handyvideo gibt, dann auf Tiktok oder Instagram. Da werde ich mal ein Auge drauf halten. Wenn dort nichts kommt, dann war es vielleicht doch kein Schuss.“
„Das klingt wie ein Plan, Isa. Viel Erfolg!“
Staller wandte sich wieder den Monitoren auf dem Schneidetisch zu. Die Cutterin hatte mit fliegenden Fingern einen ersten Vorschlag zusammengestellt, den sie jetzt abspielte.
„Das sieht sehr gut aus“, lobte der Reporter. „Machen wir also weiter!“
„Glaubst du wirklich, dass jemand in Hamburg auf offener Straße auf Nele Lemberg schießt?“, wollte Tanja wissen.
„Schwer zu sagen“, überlegte Staller. „Sie polarisiert natürlich enorm. Als Tochter eines der größten Privatbankiers der Stadt wird ihr häufig vorgeworfen, dass sie mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde. Und ihre Forderungen zur Bekämpfung der Klimakrise sind schon radikal, das gefällt vielen so nicht. Insofern hat sie aus jedem Lager Feinde. Aber ein offensichtlicher Mordversuch? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“
„Es gibt eindeutig zu viele Verrückte dort draußen“, orakelte die Cutterin düster. „Ich weiß nicht, ob der Eindruck täuscht, aber irgendwie glaube ich, dass sich derartige Vorfälle häufen.“
„Kann schon sein. Aber vielleicht kommt es uns auch nur so vor, weil über Twitter und andere soziale Medien in irrem Tempo Meldungen erscheinen, die nicht immer zwingend auch stimmen müssen. Umso wichtiger, dass wir unseren Job gut machen.“
* * *
Das Glas mit Mineralwasser, das Nele Lemberg in der Hand hielt, zitterte unmerklich. Rein äußerlich schien sie sich nach den aufregenden Ereignissen am Jungfernstieg recht gut unter Kontrolle zu haben. Aber Lasse kannte sie gut genug, um zu erkennen, dass sie ziemlich erschüttert war. Kein Wunder, denn bisher kannte sie nur die Pöbeleien einiger lautstarker Andersdenkenden und natürlich die unausweichlichen Hasskommentare im Netz. Aber die waren im Laufe der Zeit zu einem unangenehmen, aber wenig bedrohlichen Hintergrundrauschen geworden. Ein Attentatsversuch auf offener Straße war eine ganz andere Hausnummer.
„Hast du irgendetwas gesehen?“, fragte sie bemüht beiläufig.
„Nein“, räumte ihr Assistent ein. „Überleg mal – da waren Tausende von Menschen. Selbst wenn du einigermaßen konzentriert Ausschau hältst, bleibt da einfach eine undefinierbare Menschenmasse. Es ging mir wie vermutlich allen: Ich hab’ den Knall gehört, an einen Schuss gedacht und instinktiv gehandelt.“
„Danke übrigens. Das habe ich noch gar nicht gesagt“, fügte Nele leise an.
„Da nicht für.“ Er lächelte schief, was sein ansonsten durchschnittliches Gesicht sofort liebenswert machte. „Hoffentlich habe ich dir keine Rippe gebrochen. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass ich dich zartes Wesen mit meiner Statur platt klopfe wie ein Schnitzel.“
Nele ließ ihren Blick über ihn schweifen. Er war zwar kaum größer als sie, aber wog vermutlich mindestens das Doppelte. Allerdings kam dieses Zusatzgewicht überwiegend in Form von nachgiebiger Polsterung daher. Insofern hatte sie die halbe Minute, die sie unter seiner Leibesfülle verbracht hatte, ganz gut überstanden.
„Alles in Ordnung. Der Schock war schlimmer. Ich kann einfach nicht begreifen, was da passiert ist.“
„Genau genommen wissen wir das ja auch nicht. Die Polizei hat jedenfalls bisher keinen Schützen gefunden. Aber das muss natürlich nichts heißen. Dafür waren einfach zu viele Menschen versammelt.“
Er stand etwas mühsam auf. Mühsam, weil der durchgesessene Sessel niedrig war und der Kampf gegen die Schwerkraft anstrengend. Aus dem Kühlschrank holte er sich eine Dose Energydrink und öffnete sie routiniert. Die kleine Wohnung war ihr inoffizielles Hauptquartier und bot in keiner Weise einen üblichen Komfort. Das Mobiliar war alt und zusammengesucht, die Tapeten verwohnt und der Teppich hatte eine undefinierbare Farbe. Lediglich die technische Ausstattung war hochmodern und vollständig. Ein überaus leistungsfähiger Computer, zwei Laptops in High-End-Qualität und selbstverständlich eine blitzschnelle Glasfaserverbindung zum Internet zeigten deutlich, dass Kommunikation vor Komfort ging. Offiziell handelte es sich hierbei um das Büro der Bewegung, aber Nele hatte den Verdacht, dass Lasse nicht nur gelegentlich in dem ungenutzten Kabuff am Ende des Flurs übernachtete.
Nach einem großen Schluck stellte er die Dose auf den flachen Holztisch, auf dem Papiere und Pizzapappen um die Vorherrschaft kämpften.
„Ich habe nachgedacht, wie wir reagieren sollten“, begann er vorsichtig.
„Nichts anderes hatte ich erwartet. Du bist schließlich nicht umsonst Lasse, the brain.“ Ihr Lächeln war ermutigend. Es bedeutete, dass sie nicht länger ihre Wunden lecken, sondern weitermachen wollte. Das war wichtig.
„Es wird Spekulationen geben. Online ist die Diskussion bereits in vollem Gange. Eine Aktion der Klimaleugner, rechte Spinner, denen du ein Dorn im Auge bist, ein Versuch des Establishments, um das Sprachrohr der Bewegung zum Verstummen zu bringen. Kein Szenario ist abwegig genug, um nicht gründlich diskutiert zu werden. Die Sache wird so oder so Schlagzeilen machen.“
„Meine Eltern werden begeistert sein“, seufzte Nele.
„Du kannst ja nun wirklich nichts dafür!“
„Hast du eine Ahnung! Natürlich bin ich schuld. Ich sollte dringend mit den grünen Spinnereien aufhören und mich lieber darauf vorbereiten, irgendwann in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.“
„Die Geschicke des altehrwürdigen Bankhauses Lemberg sollen tatsächlich in die Hände einer Frau gelegt werden?“, ätzte Lasse.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Nachdem es meine Mutter nicht zustande gebracht hat, einen Stammhalter zu gebären, was ihre alleinige Schuld ist, wie sich von selbst versteht, bleibt meinem Vater wohl nichts anderes übrig.“
„Das ist wirklich unglaublich. Also nicht deine vorhandene oder nicht vorhandene Qualifikation für den Job, sondern diese unfassbar chauvinistischen Anschauungen deines Vaters.“
„Die Duldungsfähigkeit meiner Mutter ist auch nicht viel besser“, ergänzte Nele. „Sie hätte sich ihm einfach mal entgegenstellen müssen. Aber ich fürchte, dass das in ihrer DNA nicht vorgesehen ist.“
„Zum Glück bist du anders.“
„Ach, na ja. Ich werde meine eigenen Macken haben. Aber genug davon: Was hast du dir überlegt? Du, als unser Chef stratege?“
„Zwei Dinge. Es sind bereits eine ganze Menge Interviewanfragen eingegangen. Alle wollen natürlich wissen, wie du dich fühlst, ob du einen Verdacht hast und ob du dich aus der Öffentlichkeit zurückziehen wirst. Wenn wir die einzeln bedienen wollen, dann hast du einen echt vollen Terminkalender in den nächsten Stunden und Tagen.“
Sie machte ein so unglückliches Gesicht, dass er losprusten musste.
„Keine Sorge, dazu wird es nicht kommen. Das ist mein Plan: Wir schicken dich in eine einzige Fernsehsendung. Bei DAS auf dem roten Sofa bekommst du relativ viel Gelegenheit, das anzusprechen, was dir wichtig ist, und die Moderatorin sympathisiert mit unseren Vorstellungen. Du wirst dort also nicht gegrillt werden. Für den ganzen Rest produzieren wir ein kurzes Statement, das wir in diversen Kanälen veröffentlichen. Jeder, der möchte, wird sich daraus etwas rauspicken können. Somit sind alle versorgt und wir haben keinen unüberschaubaren Stress.“
Sie nahm einen Schluck von ihrem Mineralwasser und entspannte sich sichtlich.
„Was würde ich nur ohne dich machen?“
„Dann wäre das also okay für dich?“
„Absolut.“
„Dann lass mich eben in der Redaktion von DAS zusagen. Und danach überlegen wir uns, was wir in dem kleinen Statement für das Internet sagen wollen. Eine Sekunde.“
Er griff sich anstelle seines Handys ein Tablet und tippte mit der irrsinnigen Geschwindigkeit des geübten Digital Natives eine Nachricht, die er nach kurzem Überfliegen auch versendete. Dann legte er das iPad zur Seite und wandte sich wieder ganz Nele zu.
„Bist du übrigens hungrig?“
„Nee, lass mal. Mir ist für heute der Appetit vergangen, fürchte ich. Ich würde keinen Bissen runterkriegen.“
„Kein Problem. Ich habe immer eine kleine Notration hier.“ Er wuchtete sich abermals aus seinem Sessel hoch und öffnete die Schublade eines alten Küchenschranks mit abblätternder Farbe. Mit einer Handvoll Schokoriegel kehrte er zurück.
„Du kannst jetzt essen?“
Er senkte schuldbewusst den Kopf.
„Tatsächlich kann ich eigentlich immer essen. Deswegen bin ich ja auch so fett. Ich rede mir gern ein, dass ich ohne Nahrung nicht anständig denken kann. Blöd, ich weiß.“
„Du bist nicht fett, sondern kräftig, würde meine Mutter sagen. Und wenn du weiter so gute Ideen hast, dann hau rein. Der Zucker nützt offensichtlich was.“
Lasse stopfte sich einen ganzen Riegel auf einmal in den Mund und kaute die klebrige Masse in Rekordzeit durch. Mit etwas Mühe schluckte er den Brei so ziemlich in einem Rutsch hinunter und riss sich vorsichtshalber den nächsten Riegel auf.
„Ich schlage vor, dass wir ein paar Stichworte zusammentragen und du daraus dann frei eine kleine Rede machst. Nicht mehr als zweieinhalb Minuten, damit die Aufmerksamkeitsspanne der Zuhörer nicht abreißt. Aber doch mit der Möglichkeit, drei oder vier kleine Sätze für Zitate zu nutzen.“
„Okay, das klingt vernünftig.“
„Was ist der wichtigste Punkt, den du vermitteln willst?“
Nele schaute einen Moment zur Zimmerdecke, an der ein andersfarbiger Fleck von einem vergangenen Wasserschaden kündete.
„Die zentrale Aussage muss sein: Wir lassen uns nicht aufhalten! Was immer da heute passiert ist – der Kampf gegen die untätigen Politiker geht weiter und wird sogar noch intensiviert.“
Er machte eine kleine Notiz auf einem Zettel und nickte zustimmend.
„Sehr gut. Das ist das erste von den möglichen Zitaten. Ich schreibe mal auf: Unser Kampf geht weiter und niemand wird uns aufhalten!“
„Perfekt. Wir müssen außerdem klarstellen, dass es hier nicht um einzelne Personen wie mich geht, sondern um viel mehr, letztlich den Fortbestand der Menschheit. Denn wenn die Klimaerwärmung wirklich über den Kipppunkt hinausgeht, dann werden weite Teile der Erde für Menschen nicht mehr bewohnbar sein.“
„Ausgezeichnet. Ich notiere das mal so: Eine Kugel kann einen Menschen töten. Die Erderwärmung löscht ganze Völker aus. Ein weiteres sehr brauchbares Zitat.“
„Dann sollten wir irgendwie noch unterbringen, dass die Zahl der Vernünftigen, derer, die Sorge um unsere Zukunft haben, ständig wächst und weiter wachsen wird. Das ist unsere einzige Hoffnung im Kampf gegen die Zauderer in der Politik, die sich nicht trauen wirksame Maßnahmen zu ergreifen.“
Er kaute kurz auf dem Ende seines Kugelschreibers, dann nickte er wie zur Bestätigung.
„Jepp. Ich bringe das mal mit den aktuellen Geschehnissen in Verbindung: Man kann uns auslachen, verhöhnen und sogar mit Gewalt bekämpfen. Aber ignorieren kann man uns nicht. Wir sind viele, wir werden mehr, keiner kann es sich erlauben, uns zu überhören.“
Nele klatschte vor Freude in die Hände.
„Genau so! Die da draußen sollen wissen, dass sie sich ihre Mühe, uns zum Schweigen zu bringen, einfach schenken können. Es kostet sie nur unnötige Kraft. Die könnten sie sehr viel sinnvoller einsetzen, wenn sie auf unserer Seite kämpfen. Schließlich haben auch die Leugner des Klimawandels Kinder.“
„Richtig. Bau das irgendwo mit ein. Für ein Zitat ist das vielleicht zu komplex und zu lang, aber wer weiß. Und als letzten Punkt solltest du noch etwas Persönliches sagen. Wie du dich gefühlt hast, als es passierte. Aber das wirkt besser, wenn du es ganz spontan ausführst. Authentischer. Das ist deine Stärke.“
„Ich werde es versuchen. Wie machen wir es? Und wann?“
Er sah auf die Uhrzeitanzeige auf seinem Handy.
„Warum nicht jetzt gleich? Die Gedanken sind noch ganz frisch und die Reaktion muss ja auch schnell erfolgen. Ich nehme es mit dem Handy auf. Die Qualität ist gut genug und es steigert die Glaubwürdigkeit, wenn wir ein schnelles, ungeschnittenes Statement abgeben. Du kannst das ja hervorragend.“
„Na ja, ich weiß nicht.“
Zum dritten Mal quälte er sich aus dem niedrigen Sessel.
„Doch, doch! Komm, wir gehen nach nebenan. Du stellst dich vor die Fototapete mit dem Regenwald. Dann weiß jeder gleich, worum es geht.“
„Bist du dir auch ganz sicher?“
„Aber ja. Vertrau mir! Und ich verspreche dir, dass das Ding viral gehen wird. Was auch immer heute los war – falls jemand versuchten wollte, uns zu schaden, dann wird er sehen, dass er das Gegenteil erreicht hat.“
Es bedurfte tatsächlich nur zweier Anläufe, dann war das kurze Statement im Kasten. Nele wirkte auf den Bildern eindringlich, ein bisschen schockiert, aber durchaus kämpferisch. Es war genau der Eindruck, den Lasse sich vorgestellt hatte. Und genau wie erwartet, stellte ihr ganz persönlicher Schlusssatz das Sahnehäubchen dar.
„Ich gebe zu, ich habe heute Nachmittag kurz Angst gehabt. Aber für einen viel längeren Zeitraum habe ich gespürt, wie viel Kraft und Energie von euch da draußen ausgeht, die ihr zusammen mit uns für den Erhalt unserer Erde kämpft. Und das hat mir Mut gemacht. Dafür möchte ich euch danken! Ihr seid großartig!“
Lasse drückte die Stopp-Taste auf seinem Mobiltelefon und hob den Daumen. Dann brauchte er weniger als zwei Minuten, um das kleine Video in die Welt zu schicken. Innerhalb von Sekunden würde es von Grönland bis Patagonien und – mit regionalen Einschränkungen – von Jakutsk bis Adelaide zu empfangen sein. Das Internet war schon eine irre Sache.
* * *
Auf den ersten Blick erinnerte der Raum an einen Partykeller aus den Siebzigern. Eine kleine Theke mit Barhockern davor, eine voluminöse Sitzgarnitur und eine Dartscheibe an der Wand.
Auf den zweiten Blick fühlte man sich noch deutlich weiter in die Vergangenheit zurückversetzt. Hauptanteil daran hatten die Männer, die sich hier aufhielten. Gebügelte Hemden in Kaki und Feldgrau, militärisch kurze Haarschnitte mit strengen Scheiteln, schwere Stiefel – wenn der erste Eindruck nicht täuschte, dann waren hier Vertreter der äußersten Rechten versammelt. Dazu passte die Musik. Aus den Boxen dröhnte “Blut geleckt“ von Frontalkraft und brachte die Bierkrüge zum Zittern.
Lautes Getrampel auf der Treppe, die in diese Idylle hinabführte, kündigte die Ankunft eines weiteren Besuchers an. Sein Outfit entsprach absolut dem der übrigen Kerle, nur dass er zusätzlich mit einem schweren Ledermantel bekleidet war, der ihn noch wuchtiger aussehen ließ, als er sowieso schon war. Der kahl rasierte Schädel setzte sich übergangslos in einem wahren Stiernacken fort. Der Mann zog seinen Mantel aus und hängte ihn an eines von mehreren Geweihen, die als Garderobe dienten. Dann drehte er sich zum Raum, knallte die Hacken zusammen und riss den rechten Arm hoch.
„Deutscher Gruß, Männer!“
Sein sonorer Bass übertönte die Musik mühelos.
„Deutscher Gruß, Frank!“, tönte es zurück.
„Bier fertig, Thekenschlampe?“
„Jawoll!“
Die zackige Antwort kam aus dem Mund eines schmalbrüstigen Jünglings, der vielleicht gerade zwanzig Jahre alt war. Er schob einen Glaskrug mit Zinndeckel über den Tresen und senkte ehrfürchtig den Blick. Ganz offensichtlich stand er in der Hierarchie der Gruppe nur eine Handbreit über dem Mülleimer. Wie so oft bei Männerbünden mussten Neulinge erst einmal längere Zeit die Drecksarbeiten verrichten.
„Ah!“
Frank wischte sich mit der Hand von der Größe einer mittleren Bratpfanne den Schaum vom Mund und stellte den halb geleerten Krug wieder ab. Die hochgerollten Ärmel seines Hemdes zeigten Unterarme von beeindruckendem Umfang. Verschiedene Tätowierungen wie ein Reichsadler und eine 88 ließen keinen Raum für Spekulationen über die Gesinnung dieses Mensch gewordenen Kleiderschranks.
„Wollt ihr mal was sehen?“, wandte er sich an seine Kumpane und nahm die Entscheidung vorweg, indem er den Jüngling erneut ansprach. „Mach mal leiser!“
Der junge Mann gehorchte sofort und nahm dann erneut Habachtstellung ein. Offensichtlich hielt er sich jederzeit für weitere Aufträge bereit.
Frank zog ein Handy aus der Hosentasche, das in seinen Pranken geradezu winzig wirkte, trotz einer Bildschirmdiagonale von 6,5 Zoll.
„Heute Nachmittag auf der Demo von den Öko-Träumern.“
Er wischte und tippte einige Male und hielt dann das Telefon seinen aufgesprungenen Kumpanen entgegen.
„Hose voll in drei, zwei, eins …“
Das Video, das er aufgerufen hatte, zeigte die improvisierte Bühne, auf der eine junge Frau mit ausgebreiteten Armen stand. Die Aufnahme wackelte leicht, da Nele Lemberg ziemlich dicht herangezoomt worden war. Man konnte sogar ihre geschlossenen Augen sehen. Plötzlich war ein lauter Knall zu hören und im nächsten Augenblick schoss ein ziemlicher dicker Kerl heran und warf sich auf die Frau, deren Augen nun vor Schreck weit aufgerissen waren. Sekundenbruchteile später hatte er sie unter sich begraben und das Video endete.
„Ist das ein Bild für die Götter?“, fragte Frank und erwartete eigentlich keine Antwort.
„Das ist doch die Lemberg-Schlampe, oder?“, vermutete ein Mann mit derart semmelblondem Haar, dass es nur gefärbt sein konnte.
„Ganz genau und ich wette, dass sie anschließend den Schlüpfer wechseln musste.“
„War das ein Schuss, da eben?“
Frank zuckte die Schultern.
„Weiß nicht. Könnte sein. Oder jemand wollte sie nur erschrecken.“
„Wäre aber die gute Tat des Tages, wenn jemand die wegmachen würde, nech? Wirbelt mächtig Staub auf mit ihrem Klima-Scheiß. Das kostet am Ende natürlich unsere Arbeitsplätze. Also die, die sie nicht schon eh an die Kanaken verteilt hat.“
Beifälliges Gemurmel der übrigen Männer offenbarte einen Grad der Verrohung, der seinesgleichen suchte.
„Die verzogene Göre beschmutzt den Namen ihrer Familie und müsste mal ordentlich umerzogen werden“, hieb Frank in dieselbe Kerbe. „Ihr Großvater würde sich im Grabe herumdrehen.“
„Wer war denn das?“
„Eberhard Lemberg war selbstverständlich Parteimitglied und hat sich bereits in ganz jungen Jahren um das Reich verdient gemacht. Mit seinem Bankhaus hat er alles getan, damit unsere ruhmreiche Armee bestmöglich ausgerüstet in den Kampf ziehen konnte. Sein Sohn führt heute noch die Bank und zwar durchaus im besten deutschen Sinne, auch wenn er sich nie offen zu unserer Sache bekannt hat.“
„Dann hat man ihm das Balg wohl untergeschoben“, vermutete ein Mann mit einem Zahnbürstenschnurrbart. Alles lachte.
„Möglich. Seine Frau ist eine Polackin. Denen ist bekanntlich alles zuzutrauen.“
„Dann reicht umerziehen aber nicht“, stellte der Semmelblonde fest. „Mit ihren Aktivitäten beweist sie, dass sie eine Volksfeindin ist und solcher Abschaum gehört weggemacht. Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, ob wir zu Ende führen, was da heute jemand begonnen hat.“
„Sährrr gut!“ Der Sprecher hatte offensichtlich entweder zu viele Reden des Führers gehört und die entsprechenden Auffälligkeiten und Manierismen in einer Art Mimikry übernommen oder er befleißigte sich bewusst dieser Eigenarten. Das rollende “r“ und die besondere Aussprache der Vokale war jedenfalls nicht zu verkennen. „Es wird Zeit, dass das deutsche Volk aufsteht und die Stellung in der Welt übernimmt, die ihm zusteht! Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und solche Schädlinge werden wir zu entfernen wissen!“
„Heil!“
Der einstimmige Ruf aus acht Männerkehlen füllte den Raum, acht Männerarme schnellten in die Höhe und sieben Bierkrüge wurden anschließend geleert. Der Jüngling hinter der Theke durfte offensichtlich nicht am Getränk partizipieren. Aber er hatte genauso begeistert mitgebrüllt wie seine Kumpane.
„Lass mal die Luft raus!“, befahl Frank mit einer Geste zu den leeren Krügen und setzte sich auf ein Sofa, ohne abzuwarten, ob sein Auftrag angekommen war. Sollte das nicht der Fall sein, würde es dem Jungen hinter der Theke schnell leidtun.
„Was steht heute an?“, erkundigte sich der Zahnbürstenschnurrbart. Offensichtlich handelte es sich nicht um ein ausschließlich geselliges Beisammensein.
„Die Bimbos vom Asylantenheim verticken ja im ziemlich großen Stil Drogen“, wusste der Semmelblonde zu berichten. „Ich bin der Sache mal unauffällig nachgegangen und weiß jetzt, wo sie ihre Erddepots haben.“
Frank pfiff leise durch die Zähne.
„Das klingt interessant!“
„Was sollen wir machen? Lassen wir sie von der Polizei hochnehmen?“
„Nein, das bringt doch nix.“ Frank winkte ab und schielte gleichzeitig zum Tresen, um zu sehen, wo der Nachschub blieb. Der Jüngling, der eifrig zapfte, verdoppelte daraufhin seine Bemühungen. „Die schicken doch nur Jugendliche dahin. Wenn die erwischt werden, gibt es eine Ermahnung und gut is‘.“
„Verpassen wir ihnen eine Abreibung?“
„Das macht natürlich immer Spaß“, grinste Frank und ließ seine Fingerknöchel knacken. Es klang wie Pistolenschüsse. „Aber es geht noch besser!“
„Wie denn?“
„Wir nehmen die Eier aus dem Nest.“
„Hä?“
Der Semmelblonde konnte offenbar nicht folgen.
„Wenn du weißt, wo die Depots sind, dann räumen wir sie einfach aus. Diejenigen, die den Bimbos die Drogen liefern, werden nicht sehr amüsiert sein, weil ihr Geld nämlich weg ist. Was glaubst du, werden sie dann tun?“
Langsames Verstehen zog über das Gesicht des Blonden und seine Mundwinkel suchten Kontakt mit den Ohrläppchen.
„Genial, Frank! Sie werden denken, dass sie von den Bimbos beschissen worden sind. Und dann mischen sie sie ordentlich auf. Mindestens!“
„Ich würde sagen, dass wenigstens einer über die Klinge springen wird. Dieser Abschaum muss lernen, dass er besser ganz genau tut, was man ihm sagt und sonst nix. In dem Fall sind die Drogenbosse genau wie wir: Die werden ein Exempel statuieren, damit so etwas nie wieder vorkommt.“
„Geile Idee, Frank!“
„So machen wir das!“
„Ich hätte nix dagegen gehabt, selber einen wegzumachen!“
Die Zustimmung war groß und einstimmig. Bei der Vorstellung dieses Schachzugs geriet die Gruppe derart ins Schwärmen, dass Frank schließlich gebieterisch die Hand hob, was die Ruhe augenblicklich wieder herstellte.
„Das ist noch nicht alles.“
„Was denn noch?“
Der Semmelblonde betätigte sich abermals als Wortführer.
Frank wartete mit der Antwort, bis die neuen Biere verteilt waren und grinste dann verschlagen.
„Ich kenne da ein paar Leute, die uns für den Stoff einen guten Preis geben werden. Natürlich nicht den Straßenverkaufswert, aber immerhin eine ganze Menge Kohle. Ohne dass wir ein Risiko eingehen, wenn wir es zum Beispiel selbst verkaufen wollten.“
„Von wie viel Kohle reden wir da?“
„Je nach Menge der Ware dürfte es schon fünfstellig werden.“
Ein fröhliches Gebrüll brandete durch den Keller. Man umarmte sich und hieb Frank reihum anerkennend auf die Schultern. Der Abend stand eindeutig unter einem guten Stern.
„Okay, okay“, wiegelte der Stiernacken ab. „Gefeiert wird erst, wenn wir das Zeug auch haben. Wann kannst du es holen, Blondie?“
Der Semmelblonde war um Lässigkeit bemüht.
„Wann immer du willst, Frank.“
„Sehr gut. Kümmere dich gleich morgen darum. Was wir ha’m, das ha’m wir. Prost!“
„Prost!“
Der Ruf schallte weitgehend einstimmig durch den Raum, worauf eine zehnsekündige Stille folgte. In dieser Zeit schütteten die Männer konzentriert Bier in ihre Körper.
„Ah!“
Genussvoll wurden Schaumreste aus Schnurrbärten und Mundwinkeln gewischt und Bierkrüge wieder abgestellt.
„So, was gibt es noch?“, erkundigte sich der Stiernacken.
„Es gibt wieder jede Menge Beschwerden, dass deutsche Frauen am Bahnhof dumm angemacht werden. Viele haben Angst und trauen sich dort nicht mehr entlang. Aber irgendwie müssen sie ja in die Stadt fahren. Besonders schlimm ist es natürlich abends und nachts.“
„Hm, das ist scheiße.“
Frank strich sich mit der Hand über den blanken Schädel und dachte nach. Seine Augen verengten sich erst und dann weiteten sie sich wieder. Man konnte direkt sehen, wie die Synapsen arbeiteten.
„Ich habe eine Idee“, stellte er fest.
„Raus damit!“
„Hab ich es mir doch gedacht!“
„Was denn?“
Das Prinzip, nach dem diese Gruppe funktionierte, war relativ schnell durchschaubar. Der Rest brachte Fragen oder Meldungen ein und Frank befand schließlich darüber. Kein anderer Mann erdreistete sich, einen Vorschlag zu machen. Ob das an mangelnder Fantasie, fehlender Intelligenz oder einer strengen Hierarchie lag, blieb einstweilen offen.
„Wir werden eine regelmäßige Schutzstreife bilden. Vier Mann, ab Einbruch der Dunkelheit und bis zur letzten Bahn. Deutsche Frauen werden auf Wunsch begleitet und ansonsten sorgen wir dafür, dass das Gesocks sich verzieht.“
„Schutzstreife, das gefällt mir, hä, hä, hä!“ Der Zahnbürstenschnurrbart lachte meckernd.
„Vier Mann?“, überlegte ein anderer laut. „Das Dreckspack am Bahnhof ist oft bewaffnet. Ein Messer hat fast jeder dabei. Vielleicht müssen wir den einen oder anderen Meinungsverstärker nutzen.“
Zum letzten Satz machte er eine Geste, als ob er mit einem Baseballschläger in die eigene Hand schlagen wollte.
Frank schüttelte vehement den Kopf.
„Das geht nicht. Es soll ja nicht aussehen wie im Krieg. Wir haben in absehbarer Zeit Wahlen und wollen auch politisch an Boden gewinnen.“
„An Boden gewinnen ist immer gut“, grinste Blondie.
„Das können wir aber nicht, wenn wir vom Volk als Schlägertruppe wahrgenommen werden“, dozierte Frank, ohne auf die Unterbrechung einzugehen.
„Aber sollen wir uns denn einfach abmessern lassen?“, fragte jemand dazwischen.
„Natürlich nicht. Unsere Schutzstreifen sollten richtig bewaffnet sein. Natürlich unauffällig.“
„Wie stellst du dir das vor?“
„Glocks. Im Schulterhalfter getragen. Bei Bedarf sollte es ausreichen, mal kurz die Jacke zur Seite zu schieben.“
„Echte Knarren? Wow!“
„Was für eine geile Idee!“
„Nu kriegt mal nicht gleich ’n Ständer“, wiegelte Frank ab. „Das bedeutet natürlich auch ein hohes Risiko. Wenn die Bullen euch filzen, dann ist die Kacke aber am Dampfen. Das darf auf keinen Fall passieren.“
„Es dürfte sich ziemlich schnell rumsprechen bei den Messerjungs, wenn wir echte Pistolen am Mann haben. Dann brauchen wir sie vielleicht gar nicht mehr.“
„Sehr gut, Blondie. Außerdem sollten ein paar echte deutsche Männer es ja wohl auch mit ein paar Balkanpissern aufnehmen, selbst wenn die ihre Pikser dabeihaben.“
„Und was ist mit den ganzen Kopftuchmädchen?“, fragte jemand.
„Was soll mit denen sein?“
„Begleiten wir die auch?“
„Sag mal, hast du ’ne Macke?“ Der Ton von Frank wurde schärfer. „Was gehen die uns denn an?“
„Hast recht“, räumte der Sprecher reumütig ein. „Ihre eigenen Weiber können sie ruhig vergewaltigen, das ist ja nicht unser Problem.“
„Gut, dann wäre das geklärt. Blondie, du teilst die Gruppen ein. Wir fangen morgen gleich an. Ich werde mich darum kümmern, dass die Leute informiert werden, dass wir zu ihrem Schutz da sind. Sonst noch was?“
Allgemeines Kopfschütteln.
„Thekenschlampe? Schläfst du schon? Wir gehen jetzt zum gemütlichen Teil des Abends über. Schenk nach und mach auch mal ein paar Kurze klar. Ist ja verdammt trockene Luft hier unten!“
Diese Anweisung zog dröhnendes Gelächter und zustimmendes Gegröle nach sich. Der Jüngling hinter dem Tresen beeilte sich, den Anweisungen Folge zu leisten.
* * *
Das Laufband war auf eine Geschwindigkeit von exakt 6:15 min/km eingestellt. Die Pulsanzeige meldete konstant zwischen 137 und 138 Schläge pro Minute. Der Mann, der darauf trainierte, trug teure Funktionskleidung und spezielle Laufschuhe, die das Einknicken seiner Fußknöchel nach innen verhinderten. Sein Gesicht glänzte von Schweiß, war jedoch nicht übermäßig gerötet. Das bedeutete entweder, dass er ganz gut in Form war oder dass er einen Trainingsbereich gewählt hatte, der ihn nicht überforderte. Die Kilometeranzeige stand bei knapp 7 Kilometern.
Der gesamte Raum diente offensichtlich der körperlichen Ertüchtigung. Ein ziemlich kompliziert aussehendes Gerät bot offenbar die unterschiedlichsten Möglichkeiten mit Gewichten zu arbeiten. Eine große Matte mochte für Gymnastikübungen vorgesehen sein. Ein kleiner Tresen barg einen Kühlschrank und etliche Gläser und Flaschen. Hier konnten Flüssigkeitsverluste direkt wieder ausgeglichen werden.
Der einzige Gegenstand, der etwas aus dem Rahmen fiel, war ein großer Flachbildschirm an der Stirnseite. Er war auf einen Wirtschaftssender eingestellt und lief mit leisem Ton. Vermutlich kam es mehr auf die eingeblendeten Laufbänder mit Wirtschaftsdaten an.
Ein bodentiefes Fenster gestattete einen Blick in den großzügigen Garten, in dem die Gehölze in herbstlichem Bunt leuchteten.
Siegbert Lemberg kontrollierte permanent die Daten auf dem vor ihm befindlichen Display. Er schien jedoch zufrieden mit ihnen zu sein, denn seine Bewegungen veränderten sich nicht. Beim Training überließ er nichts dem Zufall. Der angesehenste Sportmediziner der Stadt hatte ihn auf Herz und Nieren überprüft und getestet und kontrollierte seine Fortschritte regelmäßig. Ergebnis dieser Überwachung war ein Trainingsplan, der dem eines Leistungssportlers ebenbürtig war, nur auf deutlich niedrigerem Niveau. Exakte Angaben zu Geschwindigkeit, Puls und Dauer der Trainingseinheit bildeten den Rahmen, dem Lemberg genau viermal in der Woche folgte. Er war sechzig Jahre alt, leitete eine alteingesessene Privatbank und verkehrte in den besten Kreisen der Hansestadt. Ein solcher Erfolg entstand nicht zufällig, sondern war das Resultat konsequenter und harter Arbeit. Dazu gehörte ganz selbstverständlich eine entsprechende körperliche Konstitution. Ganz zu schweigen vom Äußeren, das logischerweise mit zunehmendem Alter ebenfalls einer besonderen Aufmerksamkeit bedurfte. Adipöse Manager mit Bluthochdruck hatten in Lembergs Universum keine Daseinsberechtigung. Sie legten Zeugnis von Schwäche ab, einer Schwäche, die nicht akzeptabel war. Ihm würden solche Fehler nicht unterlaufen.
„Siegbert?“
Die Stimme seiner Frau war das Letzte, was er jetzt hören wollte. Sie wusste, dass sein Training noch nicht beendet war. Schließlich hatte er ihr seinen Plan, wie immer, zugemailt. Wenn sie trotzdem jetzt hier erschien, bedeutete dies etwas Unvorhergesehenes und vermutlich eine Komplikation. Beides hasste er.
„Ich habe noch 500 Meter“, teilte er ihr mit Blick auf das Display mit. „Du wirst noch etwa drei Minuten warten müssen.“
Offenbar war sie es gewohnt, seinen Anweisungen Folge zu leisten, denn sie ging stumm ein paar Schritte zu einem Stuhl, auf dem ordentlich gefaltet sein Handtuch lag und setzte sich auf die Kante. Daniela Lemberg war gute zehn Jahre jünger als ihr Mann und entweder von Natur aus blond oder sehr gut gefärbt. Ihre Figur ließ wahlweise auf sehr gute Gene oder große Selbstdisziplin schließen. Eventuell auch auf einen erstklassigen Chirurgen. Ihre Kleidung war modisch, aber elegant und ihre Hände mit den sorgfältig manikürten Nägeln kamen nachweislich nicht mit Scheuermitteln oder schmutzigen Putzlappen in Berührung. Selbst hier im Haus trug sie Pumps mit einem ziemlich hohen Absatz. Ihm gefiel das so.
Nachdem seine Trainingsroutine nun sowieso schon durchbrochen war, leistete er sich eine kleine Extravaganz. Für die letzten 150 Meter erhöhte er die Geschwindigkeit und simulierte so einen kurzen Endspurt. Ein erfahrener Laufcoach hatte ihm diese Alternative aufgezeigt, mit der er einen minimal anderen Trainingsreiz setzen konnte als üblicherweise.
Nachdem er das Laufband ausgeschaltet hatte, ging er an dem Stuhl vorbei, auf dem seine Frau saß, nahm das entgegengestreckte Handtuch kommentarlos an und wischte sich über Gesicht und Nacken. Dann holte er hinter dem Tresen eine Trinkflasche hervor, die er zügig zur Hälfte leerte. Es handelte sich dabei um eine spezielle Zubereitung, die ihn exakt mit den Mineralien und Spurenelementen versorgen sollte, die er beim Training verloren hatte. Er selbst hatte den errechneten Bedarf grammgenau abgewogen und mit exakt 500 Millilitern Wasser angemischt. Größtmögliche Effizienz, so könnte sein Lebensmotto lauten. Es gab nie einen Grund für die zweitbeste Lösung.
„So! Was ist so dringend, dass du mitten in mein Training hineinplatzen musst?“
Er wischte sich abermals über das Gesicht und trank weiter aus der Flasche. Der Flüssigkeitsverlust musste schnellstmöglich ausgeglichen werden, weil das die Regenerationszeit verkürzte.
„Nele ist doch heute wieder auf dieser Demo gewesen“, begann Daniela zögernd und wurde sofort unterbrochen.
„Wie kommt das Kind nur auf die bescheuerte Idee, mit diesen Öko-Träumern rumzulaufen und unseren Wirtschaftsstandort zu schwächen? Was wollen sie diesmal verbieten? Nur das Fliegen oder auch das Atmen? Schließlich wird dabei auch eine Menge CO2 ausgestoßen!“
Erbost sog er wieder an seiner Flasche und ermöglichte es dadurch seiner Frau weiterzusprechen.
„Sie hat von der Bühne aus eine Rede an viele tausend Demonstranten gehalten. Das muss man erst einmal können, finde ich.“
„Vor einem Haufen von Schulschwänzern irgendwelchen Unfug rauszutrompeten verdient nun wirklich keine Anerkennung. Es gibt genug Aufgaben, die ihrem Lebenslauf erheblich förderlicher wären.“
„Jedenfalls ist etwas Schreckliches passiert.“
„Was denn?“ Jetzt wischte er methodisch auch seine Arme trocken. „Hat jemand mit Restverstand sie mit einer Tomate beworfen? Oder ist der Mann auf dem Fahrrad, der den Strom für den Verstärker liefern soll, eingeschlafen?“
Daniela ging auch auf diese Unterbrechung nicht ein. Sie kannte ihren Mann lange genug. Mit ihm zu diskutieren ergab überhaupt keinen Sinn.
„Es hörte sich so an, als ob jemand geschossen hätte.“