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Ein schriller Schrei unterbricht das Klassentreffen. Polizeireporter Mike Staller reagiert am schnellsten und stößt am Fuße der Treppe zu den Toiletten auf einen Toten. Es ist Fernsehproduzent Frank Hartig, ein rücksichtsloser, frauenverachtender Egomane, der sich im Leben viele Feinde gemacht hat. Dazu zählt auch die Frau, die ihn gefunden hat. Hat sie ihn getötet? Kommissar Bombach und Staller treffen auf zu viele Verdächtige, stolpern über einen Mädchenhändlerring und klären in einem furiosen Finale gleich mehrere Verbrechen auf. Im fünften Fall des erfolgreichen Ermittlerduos stellt Staller einen neuen Rekord auf: Er ist nicht nur schneller als der Kommissar, sondern sogar schon vor dem Mord am Tatort! Allein am Abend des Klassentreffens gerät Hartig mit mindestens drei Personen in heftigen Streit. Eine betrogene Ehefrau, ausgebootete Kollegen und ominöse Investoren hinter seiner Firma hätten ebenfalls gute Gründe den Produzenten beseitigen zu wollen. Wer von diesen Verdächtigen ist es gewesen? Eine harte Nuss für den Reporter, der außerdem aufpassen muss, dass sich die neue Praktikantin Isa bei ihren ersten Schritten als Journalistin nicht in Teufels Küche bringt. Sie will unbedingt eine Topstory präsentieren und recherchiert in Kreisen, die sich mit geraubten Kindersklavinnen beschäftigen. Staller verhindert, dass sie sich eigensinnig in Lebensgefahr begibt und ist zwischen zwei Fällen hin- und hergerissen. Kommissar Bombach leidet doppelt. Anstelle vieler Tatverdächtiger hätte er lieber ein paar stichhaltige Beweise. Aber die sind Mangelware. Und zusätzlich plagen ihn große Sorgen um die Zukunft. Private Entwicklungen stellen sein bisheriges Leben auf den Kopf. In ihrer unnachahmlichen, mal heiteren, mal ernsthaften Interaktion nähern sich die beiden Freunde der Lösung des Falles an. Hochspannung bis zum Finale in einer Lagerhalle in Hamburg-Wilhelmsburg! Dort muss Staller dieses Mal auch körperlich alles geben, um das Verbrechen aufzuklären.
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Seitenzahl: 561
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STALLER UND DER SCHNELLE TOD
Bisher in diesem Verlag erschienen:
Staller und der Schwarze Kreis
Staller und die Rache der Spieler
Staller und die toten Witwen
Staller und die Höllenhunde
Mike Staller schreibt bei Facebook unter:
Michael „Mike“ Staller
Chris Krause
……........................................................................
Mike Stallers fünfter Fall
Impressum:
© 2016 Chris Krause
Autor: Chris Krause
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-6308-9
Hardcover:
978-3-7345-6309-6
e-Book:
978-3-7345-6310-2
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar:
„Mike Staller, alte Hütte! Du hast ja allerhand erreicht im trüben Haifischbecken Fernsehgeschäft. Respekt, mein Lieber!“
Der Sprecher dieser Worte trat an den Tisch heran, der deutlich sichtbar alle Anzeichen eines langen Abends trug. Auf dem ehemals blütenweißen Leinentuch wetteiferten Krümel mit undefinierbaren Flecken um die Vorherrschaft und zeugten von einer ausführlichen Mahlzeit.
„Hallo Frank! Lang, lang ist's her ...“
Michael Staller vollführte eine vage Geste mit seiner linken Hand, die sein Gegenüber aber eindeutig als Einladung verstand. Er zog sich einen Stuhl zurecht und stellte den Cognacschwenker ab, bevor er sich niederließ. Einen Moment lang wankte er über der Sitzfläche und drohte aus dem Gleichgewicht zu geraten, dann hatte er erfolgreich Platz genommen.
„Wie lange läuft “KM – Das Kriminalmagazin“ schon, vier, fünf Jahre?“
„Knapp fünf.“
„Unglaublich!“ Eine eigensinnige Haarsträhne fiel ins Gesicht des Sprechers. Mit einer unwilligen Handbewegung schob er sie zurück, wobei er allerdings den Rest der Frisur erfolgreich ruinierte. Frank Hartig war mehr als nur ein bisschen betrunken. Aber man trifft sich auch nicht jeden Tag mit seinen Schulkameraden, um fünfundzwanzig Jahre Abitur zu feiern.
„Warum moderierst du die Sendung nicht mehr selber? Ich meine – nicht, dass die Blonde nicht extrem heiß wäre, aber du hast das doch auch gut gemacht. Zu alt?“
Staller grinste breit, was seinem Gesicht einen jungenhaften Charme verlieh.
„Nee, du weißt doch: Männer werden mit zunehmendem Alter glaubwürdiger. Jedenfalls im Fernsehen. Ich wollte einfach wieder mehr auf die Straße, echte Fälle recherchieren und mit ganz normalen Leuten reden. Reporterarbeit halt."
Hartig kämpfte kurzzeitig mit einem Schluckauf, dann antwortete er nuschelnd.
„Das wäre mir zu nervig. Ich bin froh, dass ich als Produzent tun und lassen kann, was ich will.“
„Wolltest du nicht eigentlich Jura studieren?“
„Hab' ich auch. Jedenfalls kurz.“ Hartig lachte meckernd. „Das wurde mir aber auch schnell zu stressig. In den späten Neunzigern habe ich dann meine eigene Produktionsgesellschaft gegründet und hatte damit genau den richtigen Riecher. Nach zwei Jahren hatte ich meine erste Million zusammen. Die nächsten waren dann leichter.“
Das selbstzufriedene Grinsen seines ehemaligen Klassenkameraden stieß Staller ab.
„Klingt nach einer tollen Erfolgsstory“, meinte er reserviert.
„Worauf du einen lassen kannst!“ Der Angetrunkene wedelte mit seinem Glas in Richtung Kellnerin. „Schätzelein, mach noch mal voll, ja? Aber ein bisschen hurtig für deinen Lieblingsgast Hartig, hä, hä.“
Beifall heischend sah er sich um. Die etwa zwanzig Personen des Treffens waren in dem großzügigen Raum verteilt, aber die Lautstärke des Sprechers sorgte dafür, dass sich mindestens die Hälfte von ihnen indigniert umdrehte.
„Vielleicht solltest du lieber nichts mehr trinken, Frank.“
Eine braunhaarige Frau mit unscheinbarem Äußeren drehte sich missbilligend zu den beiden um. Sie trug eine dunkle Hose mit einem beigefarbenen Pullover und war sehr sparsam geschminkt. Als Schmuck trug sie lediglich einen Ehering und eine schlichte Armbanduhr. Ihre Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln zupften zwanghaft Fusseln aus ihrem Pullover.
„Beate? Immer noch die gleiche Spaßbremse wie früher, was?“ Sein Ton war höhnisch, fast herablassend. „Hör auf mir Vorschriften zu machen, hast du mich verstanden?“
Hartig versuchte ihr einen bitterbösen Blick zuzuwerfen, aber der reichlich genossene Alkohol ließ seine Augen in den Höhlen schwimmen.
„Ich wollte dir keine Vorschriften machen, sondern nur einen guten Rat geben.“ Beate zuckte die Schultern und wandte sich wieder ab. Ihre Finger intensivierten gleichzeitig die Suche nach Fusseln und bewiesen, dass seine Erwiderung ihr nicht so gleichgültig war, wie es schien.
„Na, Frank, bist du wieder mal maßlos?“
Eine weitere Frau hatte sich genähert und legte Hartig eine Hand auf die Schulter. Sorgfältig manikürte Fingernägel erstrahlten in tiefdunklem Rot. Überhaupt stand die ganze Erscheinung in krassem Gegensatz zu Beate. Unter dem teuren Blazer erlaubte eine raffiniert geschnittene weiße Bluse tiefe Einblicke in ein sehenswertes Dekolleté. Die hautenge Designer- jeans unterstrich ihre schlanke Figur, die von schwindelerregenden Stilettos noch zusätzlich gestreckt wurde. Üppiger Einsatz von Mascara, Puder und Lippenstift versuchte recht erfolgreich die Tatsache zu kaschieren, dass auch diese Frau – wie alle Teilnehmer des Klassentreffens – die Mitte der Vierziger erreicht hatte.
„Wer maßhält, verpasst einfach zu viel, das weißt du doch.“ Hartig unterstrich diesen Satz mit einer großen Handbewegung und hätte dabei um ein Haar die kleine Blumenvase mit einer schlichten gelben Rose darin vom Tisch gefegt. Staller fing sie geistesgegenwärtig auf, bevor sie ganz umkippen konnte.
„Immer noch der rettende Engel in der Not, Mike?“ Die Frau schob eine ebenholzfarbene Haarsträhne hinters Ohr und befeuchtete ihre vollen Lippen. Der Blick, den sie Staller dabei zuwarf, war eindeutig einladend. Auch bei ihr hatte offenbar der zügig genossene Alkohol die Hemmschwelle gesenkt.
„Wieso, habe ich dir mal aus der Patsche geholfen, Heike?“
„Als ich damals bei Kunze in der Sportstunde vom Reck gefallen bin, da hast du mich aufgefangen.“ Ihr Blick wirkte verträumt. „Manchmal ist mir fast so, als ob ich deine Hände noch spüren würde.“ Sie fasste sich demonstrativ an die Brust.
„Vermutlich wollte er dir nur an die Hupen“, mischte Hartig sich wieder ein. „Und wie ich dich kenne, war es dir sehr recht!“
Heike ignorierte den aufdringlichen Fernsehproduzenten und dachte nach. „Du hast die Situation damals kein bisschen ausgenutzt. Obwohl ich in der Tat nichts dagegen gehabt hätte.“ Ihr Lächeln ließ sie gleich einige Jahre jünger wirken. „Aber du warst zu der Zeit ja mit … wie hieß sie doch gleich? … Andrea zusammen, richtig? Die kleine Alternative! Hat das eigentlich gehalten mit euch?“
„Eine Zeit lang noch, ja. Vielleicht ein Jahr.“
„Sie ist nicht hier, oder? Weißt du, was sie so macht?“
„Nicht genau“, log Staller. „Ich glaube, sie wollte ins Ausland gehen.“
In Wirklichkeit wusste er das ganz genau, denn sie war bei seinem letzten großen Fall, dem Kampf gegen die Rockergruppe Hounds of Hell, als Kronzeugin aufgetreten und danach ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden.
„Aha. Und was ist mit dir? Bist du verheiratet?“, fragte sie ziemlich direkt.
„Ich war es. Meine Frau ist vor fast sieben Jahren gestorben.“
„Auf geht’s, meine Liebe! Hier ist ein geeignetes Opfer für deinen unersättlichen Drang nach sexuellen Abenteuern!“ Hartig verband diesen Satz tatsächlich mit einem Klaps auf den Popo von Heike. Erstaunlicherweise fing er sich dafür keine Ohrfeige, sondern lediglich ein mitleidiges Kopfschütteln ein. Die Schwarzhaarige ignorierte seinen Einwurf ansonsten völlig und sah Staller direkt in die Augen.
„Das tut mir leid, wirklich.“
Bevor der Reporter antworten konnte, meldete sich Hartig erneut zu Wort.
„Mitgefühl, ernsthaft? Das ist mir bei dir ja noch nie aufgefallen.“
Diesmal ignorierte sie ihn nicht.
„Frank, du bist nüchtern schon schwer zu ertragen. Aber voll geht dir das letzte bisschen Menschlichkeit auch noch flöten. Also halt entweder die Klappe oder geh!“
Überraschenderweise grinste er nur breit und rappelte sich nicht ohne Mühe von seinem Stuhl auf. Dann legte er besitzergreifend einen Arm um ihre Schulter und raunte ihr mit einem Bühnenflüstern ins Ohr: „Ich weiß aber, zu wem du kommst, wenn du es wieder mal richtig brauchst.“
Mit diesen Worten griff er nach seinem Glas und wandte sich ab. Sie machte eine entschuldigende Geste mit den Händen und deutete dann auf den frei gewordenen Stuhl.
„Darf ich?“
„Bitte, nur zu!“
Sie nahm Platz, lehnte sich vor und stützte sich mit beiden Unterarmen auf das Tischtuch. Dabei wurden – gewollt oder ungewollt? - ihre Brüste aufreizend nach oben gedrückt. Staller bemerkte dies natürlich, versuchte es jedoch zu ignorieren.
„Was machst du so, Heike?“
So ein Klassentreffen lief überall nach den gleichen Mustern ab. Am Anfang kristallisierten sich zwei Gruppen heraus: die, die man erkennen konnte und die, die sich total verändert hatten. Dann kam der Schock, dass offenbar alle anderen furchtbar gealtert waren, gefolgt von der Erkenntnis, dass man selbst vermutlich auf die Übrigen genauso wirkte. Die anfängli- che Unsicherheit drückte sich in den klassischen Gesprächsthemen aus. Favorit bei den Männern war die Frage nach der beruflichen Entwicklung, während von den Frauen gern zuerst der Familienstand abgefragt wurde. Staller war es nicht gelungen das Klischee zu durchbrechen.
„Ich bin ganz altdeutsch in den chemischen Betrieb meines Vaters eingestiegen. Inzwischen habe ich einiges verändert und wir stellen verschiedene Kosmetikprodukte her. Wir sind recht erfolgreich und deshalb bin ich eigentlich ständig unterwegs. Reiner Zufall, dass das mit dem Termin heute geklappt hat.“
Bildete er es sich nur ein oder roch auch sie neben dem blumigen Parfum nach hochprozentigem Alkohol? Gut, verwunderlich wäre es nicht gewesen, denn die meisten Teilnehmer hatten zur Begrüßung Cocktails und zum Essen Wein getrunken. Staller selbst hatte sich auf Wasser und Kaffee beschränkt.
„Kosmetik? Ach so – und ich dachte schon, dass du dich einfach nur gut gehalten hättest!“
„Du bist also immer noch ein Charmeur. Ich weiß schon, dass das Leben nicht spurlos an mir vorbeigegangen ist. Noch komme ich mit Creme und Puder aus. Aber bald hilft nur noch das Messer.“
„In Modelkreisen heißt es doch, dass viel Schlaf und jede Menge Wasser für ein endloses jugendliches Äußeres sorgen.“
Heike lachte hart.
„Klar, Kate Moss schläft viel und trinkt nur Wasser!“ Sie beugte sich ihm noch weiter entgegen. „Ich verrate dir was: Sei froh, dass du ein Mann bist! Da wirst du mit Mitte vierzig nur interessant. Wir Frauen werden einfach alt. Winkfleisch an den Armen, Falten im Gesicht und die Schwerkraft nimmt offenbar mit den Jahren zu.“
„Das sind aber doch nur Äußerlichkeiten ...“
„ … die aber nun mal eine große Rolle spielen. Jedenfalls bei Frauen.“ Sie lehnte sich wieder etwas zurück und wirkte plötzlich erschöpft. „Ich wette, du kannst praktisch jede Frau ab dreißig kriegen, selbst wenn sie nicht weiß, dass du beim Fernsehen arbeitest. Ich hingegen ...“
Der Satz verklang unvollendet im Raum. Staller, der sie nun etwas intensiver musterte, bemerkte die feinen Linien um die Augen, die sich auch mit viel Make-up nicht verstecken ließen.
„Du bist also nicht verheiratet?“
„Ich war es. Zweimal sogar. Deshalb bin ich heute froh, dass die Zeiten vorbei sind. Aber deswegen will ich ja nicht auf meinen Spaß verzichten. Nur halt ohne Verpflichtungen. Das hat soweit ja auch ganz gut funktioniert. Aber langsam merke ich, dass es schwieriger wird. Wie du ganz richtig gehört hast, bin ich sogar schon mit Frank Hartig ins Bett gegangen. Dazu gehört schon eine gewisse Verzweiflung.“
Das waren Informationen, auf die Staller ohne Probleme hätte verzichten können. Allein die Tatsache, dass sie mal neun Jahre gemeinsam die Schulbank gedrückt hatten, rechtfertigte in seinen Augen keinesfalls den Austausch derartiger Intimitäten.
„Tja, äh ...“
Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
„Das war zu direkt, oder? Vielleicht hatte ich auch einen Cocktail zu viel. Aber, verdammt, ich kann es mir einfach nicht mehr erlauben Zeit zu verplempern. Tut mir leid, wenn ich dich schockiert habe. Ich glaube, ich gehe mal eine rauchen.“
Sie erhob sich und fummelte eine Karte aus der Innentasche ihres Blazers, die sie ihm entgegenstreckte.
„Hier! Wenn du mal einen Kaffee trinken und reden möchtest. Abseits von diesem Gewusel.“ Mit der linken Hand fuhr sie im Kreis herum und meinte damit den ganzen Raum, der von den vielen kleinen Gesprächsgruppen summte. Ihre Augen drückten dabei ein Versprechen aus, von dem Staller wusste, dass er es nicht wahrnehmen würde. Trotzdem steckte er die Karte höflich ein, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte. Heike Bannasch, Direktrice, las er. Nachdenklich sah er ihr hinterher.
Es war erstaunlich, dass sich tatsächlich fast zwanzig Personen in dem Restaurant an der Elbe eingefunden hatten. Schließlich war in dem vergangenen Vierteljahrhundert seit dem Abitur eine Menge passiert. Bestimmt war es schon ein Riesenaufwand gewesen, überhaupt alle Ehemaligen zu recherchieren. Staller als Reporter wusste vielleicht am allerbesten, welche Schwierigkeiten die gezielte Personensuche aufwerfen konnte. Selbst in Zeiten von Social Media verfügte nicht jeder Mensch über einen eindeutigen Facebookaccount mit Klarnamen. Und wenn er von sich selber ausging: Er hatte tatsächlich überhaupt keinen Kontakt mehr zu irgendjeman- dem aus der Schulzeit gehabt, bis er kürzlich seine ehemalige Jugendliebe Andrea zufällig getroffen hatte.
Dann musste ein Termin gefunden werden, der möglichst vielen passte. Auch das fiel garantiert nicht leicht, zumal es einige ins Ausland gezogen hatte. Die beiden Organisatoren hatten sich jedenfalls einen Haufen Arbeit gemacht und bewundernswerterweise bis auf fünf alle Ehemaligen unter einen Hut gebracht. Das Büfett war großartig gewesen und er hatte viele angenehme Gespräche geführt, obwohl diese naturgemäß doch eher an der Oberfläche geblieben waren. Jetzt brach die Veranstaltung ganz langsam ein wenig auseinander und Staller überlegte bereits, ob er nach Hause fahren sollte. Das kurze Intermezzo mit Frank und Heike schien zu zeigen, dass das Beste an diesem Abend bereits geschehen war.
* * *
„Hallo Schatz, ich bin wieder zu Hause!“
Thomas Bombach warf den Autoschlüssel auf die Kommode im Flur und hängte seine Jacke an die Garderobe. Wieder einmal hatte ihn der Dienst lange im Polizeipräsidium festgehalten, aber wenigstens hatte er Gaby, seine Frau, angerufen und sich dann ungefähr an die angekündigte Uhrzeit gehalten. Prüfend sog er die Luft ein. Ja, es roch zweifellos nach Essen. Der Tag würde also vermutlich einen versöhnlichen Ausklang finden.
„Wonach riecht es denn hier so köstlich?“, fragte er und trat in die Küche.
„Roastbeef mit Bratkartoffeln. Eines deiner zahllosen Leibgerichte“, schmunzelte Gaby und wandte sich ihm zu.
Zärtlich ließ er seinen Blick über ihre Gestalt schweifen. Ihre großen Augen strahlten ihn an. Die weite Bluse mit dem tiefen Ausschnitt verbarg zwar ihre schlanke Figur ein wenig, wirkte aber trotzdem zusammen mit der engen Jeans sehr sexy. Das lag vermutlich auch daran, dass seine Frau sich sehr im Einklang mit ihrem Körper befand. Diäten oder Schönheitswahn lagen ihr fern und ihre selbstbewusste Ausstrahlung überwältigte ihn immer wieder. Wenn er dagegen an sich selbst herabsah …
„Willst du deine Lieblingsfrau nicht zur Begrüßung küssen?“, riss sie ihn aus seinen Überlegungen.
„Aber unbedingt!“
Er trat auf sie zu und umarmte sie. Ihr Körper schmiegte sich an seinen und er spürte ihre Wärme und Sinnlichkeit. Als er ihr einen schnellen Kuss auf den Mund drücken wollte, ergriff sie seinen Nacken und verlängerte das Vergnügen. Ihre weichen Lippen öffneten sich und eine vorwitzige Zungenspitze kitzelte ihn. Als sie ihn nach einiger Zeit wieder freigab, holte er tief Luft und lächelte sie verliebt an.
„Wenn du jetzt nicht aufgehört hättest, wäre der Braten vermutlich trocken geworden.“
Spielerisch pikste sie mit ihrem Zeigefinger in seinen Bauch.
„Typisch! Das Essen ist dir wieder wichtiger als deine Frau.“
Seine Gesichtszüge entgleisten förmlich.
„Aber nein, selbstverständlich nicht, es ist nur ...“
„War Spaß! Komm, mach dich nützlich und trag die Schüssel auf den Tisch!“
Leise lächelnd wandte sie sich dem Ofen zu und holte den von einer appetitlichen Kräuterkruste umgebenen Roastbeefbraten heraus.
Bombach, der inzwischen das Esszimmer betreten hatte, staunte über den festlich gedeckten Tisch. Der silberne, fünfarmige Kerzenleuchter stand neben einem hübschen Blumenstrauß, Stoffservietten waren zu einer beeindruckenden Figur gefaltet und die Teller stammten aus dem Wohnzimmerschrank, wo sie für besondere Anlässe aufbewahrt wurden.
„Warte mal!“ Er dachte angestrengt nach. „Geburtstag hast du nicht. Und ich übrigens auch nicht. Hochzeitstag …“, er stellte die Schüssel ab und zog unauffällig an seinem Ehering. „ … äh, also Hochzeitstag haben wir auch nicht. Hm, was bleibt noch übrig? Vielleicht Kennenlerntag?“
Gaby, die ihm gefolgt war, setzte eine wütende Miene auf.
„Du musst im Ring nachsehen, ob wir unseren Hochzeitstag haben, kann das wahr sein?“
„Natürlich nicht, das war doch nur ein Spaß.“ Trotzdem zog er automatisch den Kopf ein und schaute wie ein Welpe, der den Pantoffel zernagt hatte.
„Das will ich auch hoffen!“, schmunzelte sie und stellte die flache Schale mit dem Roastbeef auf den Tisch. „Los, tu, was ein Mann tun muss!“
Gehorsam nahm er das Fleischmesser und begann dünne Scheiben von dem Fleisch abzusäbeln, während sie Salat in die bereitstehenden Schälchen füllte. Bei ihm nur ein bisschen, bei sich selbst eine üppige Portion.
„Was ist denn nun der Grund für dieses feierliche Drumherum?“
Er fuhr mit der Hand im Kreis über den Tisch.
„Könntest du etwas weniger mit dem Messer herumfuchteln, bitte? Nicht, dass die Kollegen noch zu einem späten Einsatz ausrücken müssen.“
„Entschuldige“, meinte er zerknirscht und legte ihnen jeweils zwei Scheiben auf den Teller. Dann füllte er sich eine gewaltige Portion knuspriger Bratkartoffeln auf und sog den würzigen Duft begeistert ein.
„Ein Traum!“, befand er und wollte zum Besteck greifen.
„Lass uns erst anstoßen“, bat Gaby und hob ihr Glas, in dem sich ein raffiniert gemixter Cocktail aus Fruchtsaft befand.
„Klar“, beeilte er sich zu sagen und wollte ebenfalls zu seinem Glas greifen, als ihm auffiel, dass ein Briefumschlag daran lehnte.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte er überrascht.
„Finde es doch heraus“, riet sie geheimnisvoll.
Da ihr Gesicht ihm keinerlei Anhaltspunkte lieferte, nahm er den Umschlag in die Hand und drehte ihn zunächst hin und her. Er trug keine Aufschrift und war auch nicht richtig zugeklebt, sondern lediglich die obere Lasche war in den unteren Teil hineingeschoben. Mit der Post war er also nicht gekommen, schlussfolgerte er automatisch. Dann rief er sich zur Ordnung. Er war hier nicht an einem Tatort, sondern sollte sich eine Überraschung seiner Frau anschauen.
„Möchtest du den Brief erst auf Fingerabdrücke untersuchen?“
Er fühlte sich ertappt und schüttelte eilig den Kopf. Dann öffnete er die Lasche des Umschlags und blickte hinein. Der Inhalt bestand lediglich aus einem kleinen Foto, das er langsam herauszog. Dann legte er es vor sich auf den Tisch und betrachtete es gründlich. Zu sehen war ein diffuses Schwarzweißbild, das ihn entfernt an Luftaufnahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen erinnerte. Zwei dunklere Kerne, die dicht beieinander lagen, fielen auf, sagten ihm aber nichts. Etwas ratlos hob er den Kopf und blickte seine Frau hilfesuchend an.
„Was genau willst du mir damit sagen?“
Theatralisch schlug sie sich die Handfläche vor die Stirn und seufzte tief.
„Hier sitzt der Mann, vor dem kein Verbrecher in ganz Hamburg sicher ist, der mit nur einer Hautschuppe jeden Mörder überführt und der Motive für Kapitalverbrechen im Kaffeesatz erkennt. Und dann ist er nicht mal in der Lage ein gestochen scharfes Ultraschallbild seiner künftigen zwei Kinder zu deuten.“
Sein Unterkiefer fiel herab und er starrte sie verständnislos an. Sie fühlte sich schon berufen über den Tisch zu greifen und den Schaden manuell zu beheben, da zeigte er doch selber wieder erste Vitalfunktionen.
„Zwei ...“ Probehalber öffnete und schloss er seinen Mund einige Male, bevor er sich an einen ganzen Satz wagte. „Du bekommst Zwillinge? Verstehe ich das richtig?“
„Nein.“
Jetzt wirkte er vollends verwirrt. Sie lachte hell über seinen schockierten Gesichtsausdruck und stellte richtig: „WIR bekommen Zwillinge. Damit hier gleich klar ist, dass du dich nicht davonstehlen und im Büro verschanzen kannst, wenn es soweit ist.“
In seiner Mimik kämpften sichtlich Stolz und Panik. Er war es gewesen, der bereits früh in ihrer mittlerweile schon sehr langen Ehe immer wieder die Sprache auf Kinder gebracht hatte. Sie war sich lange Zeit unsicher, hauptsächlich wegen seines Jobs, der schließlich immer die Möglichkeit mit sich brachte, dass ihm etwas zustoßen konnte. Erst kürzlich hatte sie diese Angst überwunden und die Pille abgesetzt. Jetzt, da der Nachwuchs endlich auf dem Weg war, schien er nicht mehr vollständig überzeugt zu sein, dass diese Entscheidung richtig war.
„Ein Kollege aus dem Drogendezernat hat Zwillinge“, erklärte er langsam. „Er meinte etwas von “Höchststrafe“ und lebt seitdem praktisch im Büro ...“
„ …was du selbstverständlich nicht tun wirst!“, ergänzte Gaby resolut. „Was ist nun, freust du dich oder nicht?“
Bombach gab sich einen Ruck.
„Natürlich freue ich mich.“ Er war so mit dem neuen Thema beschäftigt, dass er immer noch seinen vollen Teller ignorierte, was für ihn nun wirklich ungewöhnlich war. „Aber ich habe vielleicht auch ein bisschen Angst. Das kommt so … plötzlich.“
„Du liegst mir seit zehn Jahren in den Ohren wegen Kindern und jetzt kommt das auf einmal plötzlich?“
„Ja, nein, so meine ich das nicht. Ich meine ...“ Er verstummte wieder.
„Was meinst du wie?“
„Na ja, das ist bestimmt eine gewaltige Umstellung. Zwei Babys bedeuten einen Haufen Arbeit und kosten bestimmt auch eine Menge. Außerdem bist du dann ganz sicher ständig müde und unausgeschlafen ...“
„Jetzt verstehe ich! Du hast Angst, dass du zu kurz kommst, was?“ Gaby wirkte eher amüsiert als verärgert.
„Nein, natürlich nicht. Obwohl – ob du mir dann immer noch regelmäßig so schöne Sachen kochst?“ Urplötzlich war das Essen wieder ins Zentrum seines Bewusstseins gerückt. Die Bratkartoffeln dufteten aber auch zu lecker.
„Du bist absolut berechenbar“, stellte sie fest. Und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: „Und das ist einer der Gründe, warum ich dich liebe. Ich habe selber ein bisschen Angst, weil ich doch auch nicht genau weiß, was da alles auf uns zu kommt. Aber ich bin sicher, dass wir die Sache gemeinsam geregelt bekommen.“
Sie griff über den Tisch und fasste seine Hand.
„Meinst du?“
Er klang etwas zaghaft.
„Unbedingt! Und jetzt lass uns essen, bevor alles kalt wird.“
Dankbar griff er nach Messer und Gabel. Gerade als er den ersten Bissen im Mund hatte, fiel ihm ein, dass seine Frau ihm eben eine wunderbare Liebeserklärung gemacht hatte, auf die er unbedingt etwas erwidern sollte. Nur mäßig verständlich verkündete er: „Du bist die beste Ehefrau, die ich mir vorstellen kann!“
„Ich bin nicht ganz sicher, ob das gerade ein Kompliment war, denn ich habe es kaum verstanden. Aber ich nehme es zu deinen Gunsten einfach mal an.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Und wenn wir mit dieser Mahlzeit fertig sind, möchte ich, dass du deinen ehelichen Pflichten nachkommst. Wir müssen es ausnutzen, dass nicht ein bis zwei Schreihälse dazwischen plärren.“
Er verschluckte sich fast an einem Speckstückchen. Als er wieder reden konnte, wirkte er erneut unsicher.
„Meinst du denn, das ist gut für die Kinder?“
Gaby rollte mit den Augen.
„In erster Linie ist das gut für dich und mich. Und den zwei Kurzen wird es ganz bestimmt nicht schaden.“
* * *
Beate, die Frau, die ein bisschen an eine graue Maus erinnerte, ergriff ihr Wasserglas und setzte sich auf den freien Platz gegenüber von Staller.
„Wahnsinn, wie jung du immer noch aussiehst, Michael. Im Fernsehen hast du irgendwie älter gewirkt.“
„Das ist ja lustig. Michael hat bestimmt seit Jahren niemand mehr zu mir gesagt. Das letzte Mal war es vermutlich meine Mutter und ich hatte irgendwas angestellt.“ Der Reporter schmunzelte. „Aber du hast recht. Die Kamera schenkt jedem fünf Jahre und zehn Pfund, sagt man bei uns.“
„Es war ein schöner Abend. Abgesehen von ein paar kleinen Ausnahmen, wie dem betrunkenen Frank. Er hat sich nicht in die beste Richtung entwickelt, scheint mir. Früher war er ein ganz normaler, netter Junge.“
„War er es nicht, der Herrn Bärmann diesen heftigen Streich mit der Tür gespielt hat?“
„Oh, das weiß ich nicht mehr genau. Du meinst, als jemand die Klassentür aus den Angeln gehoben und nur mit dem Schloss eingerastet hat?“
„Genau. Und Bärmann reißt sie wie immer total dynamisch auf und fällt mit ihr zusammen ins Klassenzimmer. Der Himmel weiß, was passiert wäre, wenn zufällig ein älterer Lehrer reingekommen wäre. Die Türen waren ja unfassbar schwer.“
„Und das soll Frank ausgeheckt haben? Wenn das so war, dann hat er vermutlich nicht überblickt, was passieren konnte. Heute hingegen weiß er, was er anrichtet und macht es trotzdem.“
„Was meinst du damit?“ Staller konnte sich so recht keinen Reim auf ihre Andeutungen machen.
„Mein Mann hat für ihn mal als Redakteur gearbeitet. Vor Jahren hat er einige Konzepte für Fernsehsendungen entwickelt. Die hat Frank dann mehr oder weniger geklaut und ihn dann rausgeschmissen. Diese Konzepte waren die Grundlage für Franks ersten großen Erfolg. Er hat über die Jahre Millionen damit verdient.“
„Es gibt aber doch so etwas wie Urheberrecht“, wandte Staller ein.
„Sicher. Aber es gibt auch Knebelverträge, die vorsehen, dass sämtliche Entwicklungen, weil sie ja pauschal bezahlt wurden, der Firma gehören, die sie in Auftrag gegeben hat. Frank hatte von Anfang an findige Anwälte an der Hand.“
„Das ist wirklich ärgerlich und auch schlechter Stil. Aber ich höre immer wieder, dass in der Branche die guten Sitten verfallen. Leider. Ich habe vermutlich einfach Glück gehabt, dass mir so etwas nicht passiert ist.“
„Du warst halt schon immer ein Glückskind! Ich weiß noch, dass du dich bei der Abiklausur in Deutsch nicht auf alle drei Bücher vorbereitet hast, sondern eigentlich nur auf eins. Und genau das ist dann auch dran gekommen.“ Beate lachte leise.
„Oh, das stimmt zwar, aber nur teilweise“, stellte Staller richtig. „Gelesen hatte ich schon alle drei! Allerdings nur eins richtig gründlich, da hast du recht. Das hätte in die Hose gehen können. Was hast du denn nach der Schule so gemacht?“
„Nach der Schule sollte vor der Schule sein für mich“, erklärte sie und begann wieder an ihrem Ärmel zu zupfen. Musste der nicht irgendwann mal fusselfrei sein? „Ich wollte ja Lehrerin werden und habe Biologie und Chemie studiert.“
„Und? Bist du jetzt tatsächlich Lehrerin?“
„Nein. Mitten im ersten Staatsexamen wurde ich schwanger. Dann habe ich mich erst mal um das Kind gekümmert. Tja, mittlerweile habe ich drei davon und könnte sozusagen eine eigene Zwergschule aufmachen. Der Zug in die Arbeitswelt ist jedenfalls abgefahren.“
Staller pfiff durch die Zähne.
„Hui, drei Kinder ist heute ja schon echt eine Hausnummer. Die halten dich ganz sicher mächtig auf Trab. Ich war mit einem ja schon ziemlich ausgelastet.“
Die ehemalige Klassenkameradin machte ein ernstes Gesicht.
„Ich habe ungewollt vorhin mitbekommen, was mit deiner Frau passiert ist. Abgesehen von dem Schock hast du da ja eine gewaltige Aufgabe schultern müssen. Wie hast du das nur geschafft, neben der anstrengenden Arbeit beim Fernsehen?“
Um etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, griff Staller nach einer der Mineralwasserflaschen, die auf dem Tisch standen, und schenkte sein Glas noch einmal voll. Fragend hob er die Flasche auch Beate entgegen, aber diese schüttelte verneinend den Kopf.
„Ich denke, ich hatte auch Glück. Kati – meine Tochter – hat es mir verhältnismäßig leicht gemacht. Na ja, von vielleicht zwei Jahren einmal abgesehen. Pubertät ist immer noch ein Albtraum.“ Er grinste bei dem Gedanken an die Auseinandersetzungen, die hinter ihm lagen. „Jetzt ist sie erwachsen und ich muss mich wohl langsam mit der Idee anfreunden, dass sie bald auf eigenen Füßen stehen wird. Wer weiß, vielleicht werde ich ja auch bald Opa. Furchtbare Vorstellung!“ Er schüttelte sich.
„Wenn sie so früh anfängt wie du, ist alles möglich.“
Wenn Beate lächelte, dann wirkte sie etliche Jahre jünger und deutlich attraktiver.
„Bitte nicht!“ Er streckte ihr die Hände in einer abwehrenden Kreuzgeste entgegen. „Dafür fühle ich mich doch noch etwas zu jung.“
Währenddessen hatte Heike draußen vor dem Restaurant ihre Zigarette zu Ende geraucht und ausgedrückt. Von der frischen Luft und dem Nikotin fühlte sie sich leicht benebelt. Vermutlich wurde die Wirkung des von ihr genossenen Alkohols verstärkt. Deshalb hielt sie sich kurz an der Tür fest, nachdem sie das Gebäude wieder betreten hatte. Als sie das Gefühl hatte oben und unten wieder eindeutig unterscheiden zu können, drehte sie sich um und lief fast in Frank Hartig hinein, der die Treppe hinaufkam, die zu den Toiletten im Untergeschoss führte. Seine Augen glänzten, sein Schritt war beschwingt und er wirkte für den Moment nicht mehr so betrunken.
„Du hast dir wohl die Nase gepudert, was?“, fragte sie und machte eine Bewegung auf ihn zu. Mit dem Finger nahm sie ein paar Krümel eines weißen Pulvers auf, die oberhalb seiner Lippe klebten.
„Und wenn schon, was interessiert es dich?“, entgegnete er leichthin und wollte seinen Gang zurück in den Hauptraum fortsetzen.
Sie trat ihm in den Weg und leckte demonstrativ ihren Finger ab. Sofort breitete sich ein Gefühl der Taubheit an ihrem Zahnfleisch aus.
„Oh, das gute Zeug, wie mir scheint!“
Ein nahezu unwiderstehliches Verlangen überfiel sie von einem Augenblick zum nächsten. Ohne zu überlegen, packte sie ihn am Arm und zog ihn zur Seite, wo ein winziger Gang ähnlich wie ein begehbarer Kleiderschrank die Garderobe beherbergte. Hier, nur allzu notdürftig vor zufälligen Blicken geschützt, drückte sie ihn an die Wand und presste ihre Hand auf seine Hose.
„Es heißt doch, dass Männer unter Koks ewig können. Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Los, nimm mich!“
Mit einer Hand öffnete sie zwei weitere Knöpfe ihrer Bluse, während die andere blieb, wo sie war. Er beobachtete interessiert, wie sie den Kopf zurücklehnte und die Augen schloss.
„Wie lange ist es jetzt her, als ich sagte, dass du zu mir kommst, wenn du es mal wieder richtig brauchst, zehn Minuten?“
„Ist doch egal“, murmelte sie und umfasste mit der Linken ihre Brust, während ihre andere Hand ihn knetete. „Mach schon! Du stehst doch auf Sex an ungewöhnlichen Orten und in der Öffentlichkeit.“
„Das stimmt schon“, stellte er fest und musterte sie weiter eingehend. „Aber mit jungen Frauen, die feste Körper haben und nicht mit Push-ups ihre Hängetitten kaschieren müssen.“
„Mag sein, dass ich nicht mehr den Körper eines Teenagers habe“, murmelte sie. „Dafür kenne ich all die schmutzigen Dinge, die ihr Kerls so liebt.“
„Möglich. Aber weißt du, was das Problem ist? Ich muss die ganze Zeit auf deinen Truthahnhals starren und das törnt mich einfach tierisch ab.“
Seine Stimme klang hart wie Glas, aber sie gab nicht auf.
„Dann wollen wir doch mal sehen, ob dich das nicht scharf macht“, flüsterte sie heiser und sank langsam auf die Knie. Doch bevor sie ihre Aktivität starten konnte, ergriff er ihre Oberarme und zog sie unsanft wieder hoch.
„Ich sage nein!“
„Komm schon! Du weißt, wie gut ich bin. Gib mir eine Chance, ja?“ Sie versuchte wieder nach ihm zu greifen, aber er hielt ihre Arme unerbittlich fest.
„Schau dich an, welch erbärmliches Bild du abgibst! Nach außen die erfolgreiche Geschäftsfrau, tough, international unterwegs und nach innen? Du stehst hier und bettelst bei einem Typen um Sex, den du eigentlich verabscheust.“
Die Haare waren ihr ins Gesicht gefallen, deshalb war ihre Mimik schwer zu erkennen. Ihre Worte waren dafür eindeutig.
„Bitte! Ich mache auch alles, was du willst!“
„Ach ja?“ Er lachte höhnisch. „Dann verrate ich dir mal ein Geheimnis: Das machen andere auch! Nur, dass die halb so alt sind wie du und doppelt so große Titten haben. Erfolg macht nämlich sexy!“
Sie hörte seinen vernichtenden Sätzen regungslos zu.
„Weißt du was, Heike? Du ekelst mich an. Ich habe vor jeder Nutte mehr Respekt als vor dir. Die steht nämlich wenigstens zu ihrem Job. Und sie weiß, wann es Zeit ist aufzuhören. Ein guter Rat: Wenn du Sex brauchst – kauf ihn dir!“
Er zog die Nase hoch und spürte dieses wunderbare Hochgefühl der Überlegenheit. Es tat so unfassbar gut, die Klassenkameradin, die ihn im Abiturjahr nicht rangelassen hatte, nach allen Regeln der Kunst zu erniedrigen. Ein Glück übrigens, dass sie ihre Hand von seiner Hose gelöst hatte: Jetzt spürte er an dieser Stelle pulsierendes Leben.
„Und jetzt ganz langsam für dich zum Mitschreiben: Was auch immer zwischen uns war – es ist vorbei. Ruf mich nicht an, schreib mir keine Nachricht und vor allem: Steh nicht vor meiner Tür, okay? Such dir einfach einen anderen Stecher!“
Mit diesen Worten stieß er sie von sich, drehte sich um und trat zurück in den Vorraum des Restaurants, der immer noch verwaist dalag. Offenbar hatte niemand von diesem Intermezzo Notiz genommen.
Er fühlte sich euphorisiert. In der Vergangenheit hatte er gelegentlich Sex mit Heike gehabt und sie bemühte sich zugegebenermaßen redlich. Aber seine Interessen waren größtenteils doch anders gelagert und er hatte sowieso ziemlich die Lust an ihr verloren. Der herrliche Auftritt in der Garderobe hatte ihn allerdings wirklich geil gemacht und er verspürte den Wunsch nach einer Frau. Sie durfte nur nicht so verzweifelt sein wie Heike.
Im Saal hatte sich Staller gerade entschlossen, doch noch einen kleinen Nachtisch vom Buffet zu holen. Ein bisschen von dem sehr appetitlich wirkenden Obstsalat konnte sicherlich nicht schaden. Während er noch überlegte, ob er sich zwei oder drei Löffel auffüllen sollte, öffnete sich die Tür und Frank Hartig betrat erneut den Raum. Überraschenderweise wirkte er weniger betrunken als noch vor zehn Minuten. Seine Wangen strahlten rosig und seine Augen glänzten. Vielleicht hatte er sich ja mit kaltem Wasser frisch gemacht. Außerdem gab es tatsächlich den Fall, dass sich geübte Zecher mit der Zeit wieder nüchtern tranken, bevor es endgültig in Richtung Koma ging. Staller konnte es egal sein. Er würde am nächsten Tag schließlich nicht unter einem Kater leiden.
Hartig blieb kurz hinter der Tür stehen, um sich zu orientieren. Der Kreis der ehemaligen Klassenkameradinnen bot keine anregende Alternative zu Heike. Alles alte Schachteln, dachte er abschätzig. Aber das Mädchen, das ihn den ganzen Abend über so zuverlässig und freundlich mit Getränken versorgt hatte, das wäre gerade richtig. Und wie auf Kommando erschien sie genau in diesem Moment, um zu schauen, ob es noch weitere Bestellungen gab. Im Laufe des Abends war der Konsum langsam zurückgegangen, aber da es sich um einen erstklassigen Restaurationsbetrieb handelte, erschien das Personal regelmäßig, aber unaufdringlich, um eventuelle Wünsche jederzeit erfüllen zu können.
„Darf es noch etwas sein?“, fragte sie Hartig prompt, als sie seinen Blick bemerkte.
„Aber ja doch“, antwortete er aufgeräumt. „Zunächst mal noch einen Cognac und danach hätte ich eine kleine Frage.“
„Kommt sofort!“ Sie drehte sich um und durchquerte den Raum in Richtung auf die Bar. Hartig folgte ihr mit Blicken und leckte sich unbewusst die Lippen. Groß war sie und schlank, vielleicht Mitte zwanzig. Die langen blonden Haare waren lässig hochgesteckt, bis auf zwei Strähnen, die ihr locker um die Ohren fielen. Ihre makellose Figur kam in dem kurzen schwarzen Rock und der schlichten weißen Bluse perfekt zur Geltung. Was er aber vor allem mochte, war ihre sehr verbindliche und entgegenkommende Art. Natürlich war sie als Kellnerin darauf geeicht, ihren Gästen möglichst jeden Wunsch zu erfüllen. Er hatte jedoch vor, dieses Angebot bis weit über die Grenzen der gastronomischen Angebotspalette auszunutzen. Sein Kopfkino lieferte ihm allerhand Bilder, die ihn zunehmend unruhig werden ließen.
Kaum war die blonde Kellnerin mit dem frisch gefüllten Glas zurück, legte er vertraulich einen Arm um ihre Schulter, während er mit der anderen Hand den Cognacschwenker ergriff.
Staller, der inzwischen mit seiner Schale Obstsalat auf dem Weg zurück an seinen Platz war, runzelte die Stirn. Diese plumpe Vertraulichkeit war eindeutig unangemessen. Aber vermutlich war das Personal im Umgang mit derart aufdringlichen Gästen gut geschult. Er zuckte mit den Schultern und setzte seinen Weg fort.
„Hör mal, wenn diese lahme Nummer hier vorbei ist, hättest du Lust mich noch in einen wirklich tollen Club zu begleiten? Du siehst aus, als ob du ein bisschen Ablenkung vertragen kannst.“
„Kann ich Ihnen außer dem Cognac noch etwas bringen?“, fragte sie höflich und gelangte mit einer eleganten Körperdrehung aus der Umklammerung seiner Rechten.
„Oh, Madame ziert sich ein wenig. Gut, ich mag es, wenn mir die Kirsche nicht in den Schoß fällt.“
Er lachte meckernd und stellte ihr geschickt den Weg zu, sodass sie zwischen einem leeren Tisch und zwei ebenfalls freien Stühlen und ihm praktisch eingeklemmt war. Insofern hatte ihr erster Befreiungsversuch sie sogar in eine ungünstigere Lage gebracht, denn nun musste sie entweder über den Tisch klettern oder ihn wegschubsen, wenn sie ihre Freiheit wiedergewinnen wollte. Beides gehörte nicht zu den Dingen, die in einem Lokal dieser Qualität üblich waren. Das Verhalten von Hartig allerdings auch nicht.
Staller genoss den süßen Geschmack frischer Ananas und ließ seinen Blick ziellos durch den Raum gleiten. Obwohl er schon länger den Eindruck hatte, dass der Abend ein baldiges Ende nehmen würde, hatten sich erst sehr wenige Personen verabschiedet. Die übrigen saßen, in immer neuen Zusammenstellungen, entweder verteilt an den Tischen oder standen an der Bar beziehungsweise vor dem Buffet. Immer wieder brandete Gelächter auf, wenn eine weitere Anekdote aus der Vergangenheit zum Besten gegeben wurde. Erstaunlich, wie viel den Ehemaligen nach fünfundzwanzig Jahren noch in Erinnerung geblieben war. Er selber sah seine Schulzeit hauptsächlich wie durch einen undurchdringlichen Nebel, aber das erklärte sich vermutlich damit, dass sein Leben ihn danach mit einer unglaublichen Zahl von Eindrücken und Erlebnissen förmlich bombardiert hatte.
Während seine Gedanken mehr oder weniger ziellos abschweiften, erkannte er im Augenwinkel, dass Frank Hartig offenbar die Bedienung unangenehm bedrängte. Er hatte sie zwischen sich und dem Mobiliar in eine beklemmende Lage manövriert und lehnte sich gerade vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Die junge Frau wirkte zwar nicht panisch, aber ihr war anzusehen, dass sie sich belästigt fühlte. Staller erhob sich und näherte sich dem Pärchen.
„Wir werden richtig viel Spaß haben, Kleines, glaub mir!“ Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Ohr. Der alte Sack hätte ihr Vater sein können! In der Öffentlichkeit würde sie ihm jetzt einfach in die Eier treten. An ihrem Arbeitsplatz bevorzugte man diskretere Lösungen. Wenigstens hatte er seine weiche, eklige Pfote nicht mehr um ihre Schulter gelegt.
„Wenn du einen Freund hast, dann macht das nichts. Es geht doch nur um eine Nacht!“ Widerwärtig, dieser Auftritt.
„Würden Sie mich jetzt bitte gehen lassen? Die übrigen Gäste möchten ebenfalls bedient werden.“ Sie bewahrte eisern Haltung und bemühte sich um einen neutralen Tonfall. Einen Skandal musste sie unbedingt vermeiden. Belästigen lassen wollte sie sich jedoch auch nicht.
Hartig trat, sofern das überhaupt möglich war, noch dichter an sie heran.
„Wann hast du Feierabend? Wenn die Kasper hier verschwunden sind? Ich könnte das ein bisschen beschleunigen. Du magst doch bestimmt Champagner, oder?“
Sein alkoholgeschwängerter Atem strich über ihr Gesicht. Angeekelt wandte sie den Kopf zur Seite. Jetzt spürte sie eine Hand auf ihrer Brust, die wie selbstverständlich zupackte und außerdem in ihre Brustwarze kniff. Das war zu viel. Sie öffnete den Mund und wollte gerade laut werden, da sah sie, wie eine dritte Hand ins Spiel kam. Diese packte den Arm des Grabschers knapp über dem Ellenbogen und drückte offenbar mächtig zu, denn der Griff um ihre Brust löste sich sofort.
„Das reicht, Frank!“ Die Stimme klang gleichzeitig sanft und bestimmt.
„He, was soll das?“ Hartig fuhr herum und machte ein bockiges Gesicht. „Misch dich da nicht ein!“
Staller zog den Protestierenden einen Meter weit in den Raum hinein, was der Kellnerin wieder Platz und eine angemessene Privatsphäre verschaffte.
„Ich denke, du solltest dich bei der Dame entschuldigen. Wenn du Glück hast, sieht sie dann von einer Anzeige ab.“
„Wir haben lediglich ein paar persönliche Dinge besprochen und wollten uns verabreden. Da gibt es nichts anzuzeigen“, maulte Hartig.
„Ist schon in Ordnung“, meldete sich jetzt die Kellnerin zu Wort, die blitzschnell aus der Ecke verschwand, in der sie so bedrängt worden war. „Der Herr hat womöglich einen Cognac zu viel erwischt, das kann ja vorkommen. Außerdem holt mich mein Freund nachher von der Arbeit ab, von daher gibt es sowieso keine Verabredung.“
„Das hättest du ja auch gleich sagen können“, beschwerte sich Hartig.
„Wieso, hätten Sie mir dann nicht an die Brust gefasst? Gehen Sie nach Hause und schlafen sich aus!“ Ihre Stimme klang kalt und abweisend. Dann wandte sie sich Staller zu und ihr Ausdruck veränderte sich vollständig. „Vielen Dank, dass Sie die Situation so unauffällig und trotzdem effektiv aufgelöst haben. Das war sehr freundlich und auch beeindruckend. Darf ich mich vielleicht mit einem Getränk revanchieren?“
Hartig verfolgte mit offenem Mund, wie die Kellnerin Staller anstrahlte und in ihrer ganzen Körpersprache blitzartig von eisiger Ablehnung zu positiver Zugewandtheit wechselte.
„Das wäre sehr nett. Ich nehme gern noch einen Espresso. Es ist ja offenbar ganz wichtig, dass wenigstens einer nüchtern bleibt.“ Das jungenhafte Grinsen des Reporters ließ die Bedienung weiter dahinschmelzen. Spontan trat sie näher und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange.
„Danke nochmal!“, murmelte sie in sein Ohr und trat dann einen Schritt zurück. „Der Espresso kommt dann sofort.“ Ihr Blick klebte noch einen Augenblick an seinem Gesicht, dann drehte sie sich um und eilte davon.
„Könntest du mich freundlicherweise jetzt endlich loslassen?“, fragte Hartig beleidigt und schüttelte seinen Arm.
„Wenn du versprichst, dass du keinen weiteren Unfug machst ...“
„Schon gut!“ Er riss sich los und kippte seinen Cognac, den er immer noch in der Hand hielt, mit einem Zug hinunter. Dann warf er Staller einen bitterbösen Blick zu und trollte sich. Sein Ziel war eine größere Gruppe an einem Tisch, die keinerlei Notiz von den Vorgängen genommen hatte. Er schloss sich ihr an und führte bald dröhnend das Wort.
„Na, du spielst deine Rolle als rettender Ritter aber immer noch sehr gut!“ Heike Bannasch war hinter Staller getreten und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er spürte, wie sie sich an ihn presste und ihre Brüste leicht an seinem Rücken rieb.
„Im Grunde habe ich gar nichts getan. Frank hat sich ein bisschen danebenbenommen und ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht.“ Er drehte sich um, damit er der unangenehmen Berührung entging
„Frank ist ein Arschloch, das Frauen für allzeit verfügbares Spielzeug hält.“ Aus ihrer Stimme klangen unterdrückte Wut und blanker Hass. Staller fragte sich, was in der letzten halben Stunde passiert war, denn vorher hatte sie sich anders angehört. Außerdem sah sie jetzt zehn Jahre älter aus. War es das Licht? Oder hatte der Alkohol seine unheilvolle Wirkung jetzt ganz entfaltet?
„Zugegeben, sein Frauenbild scheint auch mir etwas unzeitgemäß. Speziell unter Cognac-Einfluss.“
„Wenn es nur der Sprit wäre ...“ Sie beließ es bei der Andeutung.
Staller spulte im Geiste die Szene zurück. Ja, wenn er es recht überlegte, dann schienen die starren Pupillen, die geröteten Augen und ziemlich starkes Schwitzen anzudeuten, dass mehr als Alkohol im Spiel war. Aber das konnte ihm eigentlich egal sein. Hauptsache, der ehemalige Schulkamerad behielt seine Hände bei sich.
„So, hier ist der Espresso“, flötete eine Stimme von der Seite. „Mein Chef lässt ebenfalls ausrichten, dass er Ihnen sehr dankbar ist für Ihr Eingreifen.“
Die Bedienung hielt ihm ein elegantes Silbertablett entgegen, auf dem eine Espressotasse aus dickem Porzellan, ein kleines Glas Wasser, sowie ein Zuckerstreuer drapiert waren. Der Reporter nahm es ihr aus der Hand und lächelte sie an.
„Vielen Dank! Ist alles okay, geht es Ihnen gut?“
„Dank Ihrer Hilfe – ja!“ Ihr strahlender Blick sprach Bände. Nur zögernd wandte sie sich ab und sammelte einige leere Gläser ein.
„Du kannst ja sogar Frauen unter dreißig kriegen!“, korrigierte Heike den Satz aus ihrem ersten Gespräch und klang dabei frustriert.
„Bitte?“ Staller war verwundert. „Wie kommst du jetzt darauf? Sie hat sich doch lediglich bei mir für eine kleine Hilfestellung bedankt. Außerdem hat sie einen Freund, der sie von der Arbeit abholt.“
„Sicher! Und die Telefonnummer da ist bestimmt von der Stiftung für streunende Straßenköter.“ Sie deutete auf einen kleinen Zettel, der unter der Espressotasse klemmte und die ersten Ziffern einer Handynummer offenbarte.
„Nanu? Äh, vermutlich ist das nur ein Versehen. Oder eine Verwechslung.“ Staller geriet ins Stocken und wirkte unsicher.
Heike zog den Zettel neugierig ganz hervor, wogegen er sich schlecht wehren konnte, da er das Tablett ja in der Hand hielt. „0172 … blabla … Laura – du hast was gut bei mir! Ja, das wird sicher ein Zufall sein.“
Staller schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Das könnte auf jeden passen. Warum sollte ausgerechnet ich gemeint sein?“
„Stellst du dich eigentlich absichtlich doof?“, fragte Heike trocken.
Bevor der Reporter antworten konnte, entstand ein kleiner Tumult an dem Tisch, den Frank Hartig mit seiner Anwesenheit beehrt hatte. Beate, die unscheinbare Frau, sprang mit zornesroter Miene auf, schüttete Hartig den Inhalt ihres Wasserglases ins Gesicht und eilte aus dem Raum.
„Wow, Franks Bewerbung zum Klassenkameraden des Monats ist außerordentlich beeindruckend“, stellte Staller fest. „Für einen Abend hat er jetzt aber wirklich genügend angestellt.“
„Verlass dich nicht drauf!“, orakelte Heike düster.
* * *
Die Stimmung in dem gemütlichen Wohnzimmer von Sonja Delft war ausgelassen. Die drei Frauen hatten gemeinsam gekocht, gegessen und lümmelten sich nun satt und zufrieden in die Sitzmöbel. Sonja als Hausherrin belegte das Sofa und hatte die Füße bequem unter sich gezogen. Kati, die Tochter von Michael Staller, saß in einen Sessel gekuschelt und kämpfte mit dem aufkeimenden Wunsch, abermals in die Schüssel mit Gummibärchen zu greifen, die sie gerade erst weit von sich geschoben hatte. Isa, Katis beste Freundin, saß tatsächlich noch am Esstisch und bestritt von dort aus wesentliche Teile der Unterhaltung.
„Ich bin ja so gespannt auf morgen! Eigentlich hätte ich ja noch eine Million Fragen, aber andererseits ist es ja journalistische Sorgfaltspflicht, sich möglichst einen unvoreingenommenen Eindruck zu verschaffen. Hach, ist das aufregend!“
Sie saß ganz aufrecht auf ihrem Stuhl und wirkte so, als ob sie jeden Moment aufspringen wollte. Die anderen beiden kannten Isas Begeisterungsfähigkeit schon durch verschiedene frühere Erfahrungen und wunderten sich daher nicht.
„Meines Erachtens beginnst du ja ein dreimonatiges Praktikum und übernimmst nicht die Chefredaktion von “KM“ oder täusche ich mich da?“, versuchte Kati erfolglos zu bremsen.
„Das ist doch völlig egal! Es reicht doch nicht, wenn nur der Chefredakteur seinen Beruf ernst nimmt. Im Gegenteil! Der Reporter auf der Straße ist es doch, der den Unterschied zwischen journalistischer Ethik und Lügenpresse ausmacht. Wenn die Frau auf der Straße schlampt oder einer zweifelhaften Quelle ungeprüft Glauben schenkt, dann entsteht dort der erste Fehler. Und den kann kein Chefredakteur mehr ausbügeln!“
Isa war jetzt tatsächlich aufgesprungen und tigerte in dem kleinen Raum auf und ab.
„Ich hoffe, dass es dich nicht zu sehr im Vorwege beeinflusst, wenn ich dir sage, dass dein Praktikum nicht gleich mit investigativer Recherche beginnen wird“, merkte Sonja schmunzelnd an, die sich als Moderatorin der Sendung maßgeblich dafür eingesetzt hatte, dass Isa überhaupt die Chance auf ein Hineinschnuppern in die Arbeit des Kriminalmagazins bekommen hatte.
„Das kann doch niemand wissen!“, behauptete Isa. „Was ist, wenn ich das Knallerthema schlechthin anschleppe?“
„Na ja, ein tolles Thema wird sicherlich aufgegriffen werden. Aber du als Neuling wirst, wenn überhaupt, dann nur sehr am Rande mit der Recherche betraut werden.“
„Aber du und Mike sagt doch immer wieder, dass derjenige die Geschichte bekommt, der sie gefunden hat.“
„Das ist grundsätzlich richtig. Aber es bezieht sich auf ausgebildete Journalisten.“
„Und was ist mit Hannes?“ Isa kannte den Volontär schon länger.
„Hannes ist zwar kein Redakteur, aber er hat mehrere Jahre Erfahrung als freier Mitarbeiter. Und außerdem ist seine Ausbildung schon bald beendet.“
„Und bei brisanten Themen hat Mike ihm meistens geholfen“, ergänzte Kati, die sich still amüsierte, wie ernst Isa ihre neue Aufgabe wieder einmal nahm.
„Ganz egal. Ich werde schon etwas finden. Drei Monate Kaffee kochen und Zeitungsartikel kopieren ist mir jedenfalls zu langweilig. Es geht doch darum Dinge zu bewegen und zu verändern. Das ist die Aufgabe der vierten Macht im Staate!“
„Du hast ja recht, Isa“, räumte Sonja ein. „Aber ebenso wenig, wie ein Abiturient nach zwölf oder dreizehn Jahren Schule automatisch ein guter Lehrer ist – auch wenn er viel Erfahrung hat – fallen begnadete Journalisten einfach so vom Himmel. Es gibt da sehr viel zu lernen.“
„Aber“, gab Isa keineswegs auf, „es existieren genügend Beispiele für sehr erfolgreiche Quereinsteiger. Also muss es doch auch so etwas wie Naturtalente geben.“
„Zu denen du natürlich gehörst“, stichelte Kati freundlich.
„Das wird sich dann ja herausstellen!“
„Ich will dich überhaupt nicht desillusionieren“, erklärte Sonja geduldig. „Es ist schön, dass du mit so viel Engagement an die Sache herangehst. Aber ich möchte vermeiden, dass du enttäuscht bist, wenn du nicht schon am zweiten Tag ein Interview mit dem Bürgermeister zum Thema öffentliche Sicherheit führst.“
„Ha, da hat der Bürgermeister dann aber Glück gehabt“, schnaubte Isa. „Genau zu dem Thema hätte ich nämlich allerhand Fragen, auf die er vermutlich keine befriedigende Antwort geben könnte!“
Kati hob flehend die Hände zur Zimmerdecke.
„Kannst du nicht einmal eine Sache ruhig und zurückhaltend angehen? Schau dir den Laden doch erst einmal in Ruhe an, bevor du überlegst, wie du den Pulitzerpreis bekommen kannst!“
Seit die beiden Mädels sich kannten, war Isa eine Art weiblicher Hans Dampf gewesen. Sie war unheimlich schnell für Neues zu begeistern und kniete sich sofort mit aller Macht hinein. Auf dem Fitness-Trip hatte sie praktisch Tag und Nacht trainiert, während ihrer letzten Phase als Bikerin hätte sie selbst einen Hells Angel in die Flucht geschlagen und als sie sich für Feminismus interessierte, zerpflückte sie jeden Satz, der in ihrer Gegenwart ausgesprochen wurde, nach allen Regeln der Kunst.
„Habt ihr euch das auch gut überlegt?“, wandte Kati sich gespielt verzweifelt an Sonja.
Die Moderatorin schmunzelte.
„Du weißt doch selber ganz genau, dass unsere Isa bei all ihrer Kompromisslosigkeit einen klugen Kopf besitzt. Im Grunde ist es ja auch toll, wenn sich jemand einem Projekt mit Haut und Haaren verschreibt. Und wenn sie es wirklich mal übertreibt, dann gibt es bei uns ein paar Leute, die sie schon wieder einfangen werden. Dein Vater gehört übrigens auch dazu!“
Isa, die sich überhaupt nicht daran störte, dass hier so über sie geredet wurde, verfolgte ihren Gedankengang einfach weiter.
„Was “KM“ braucht, ist ein so brisantes Thema, dass es einen überregionalen Nachrichtenwert besitzt. Wenn alle Sender abends um acht unser Magazin zitieren, dann haben wir die maximale Aufmerksamkeit erreicht. So eine Geschichte werde ich versuchen zu finden.“
„Viel Glück dabei, Isa! Bedenke bitte nur, dass in der Redaktion zwanzig Leute sitzen, die alle genau denselben Gedanken haben. Nur, dass sie zum Teil auch auf zwanzig Jahre Erfahrung zurückblicken. Vielleicht ist das ja doch ein kleiner Vorteil dir gegenüber“, gab Kati zu bedenken.
„Ach was“, wischte Isa den Einwand beiseite, „die kochen auch nur mit Wasser. Warte es mal ab!“
„Wann fängst du eigentlich an, Kati?“, wollte Sonja wissen.
Die Mädchen hatten beide ihr Abitur – mit sehr ordentlichen Noten – bestanden und planten jetzt vor einem eventuellen Studium erst einmal praktische Erfahrungen zu sammeln. Bestärkt hatte sie darin ein langes Gespräch mit Staller, der vehement dafür eingetreten war, nicht einfach von der Schule auf die Universität zu wechseln und dann mit Mitte zwanzig vollgestopft mit theoretischem Wissen, aber frei von jeder Erfahrung in der realen Arbeitswelt, ins Leben zu stolpern. Kati hatte sich entschieden, bei der Integration der vielen Flüchtlinge zu helfen. Drei Monate lang würde sie Deutschkurse geben, über Rechte und Pflichten im Lande referieren und den neuen Bürgern im Kampf gegen die Bürokratie beistehen.
„Ich hospitiere im Moment noch bei einer Kollegin und werde Stück für Stück alleine losgelassen. Nächste Woche starte ich meinen ersten Grundkurs in Deutsch. Langsam werde ich ein bisschen aufgeregt.“
„Ich ziehe übrigens meinen Hut vor dir“, meinte Isa ernst. „Die Aufgabe finde ich sehr schwierig, aber auch äußerst wichtig. Und du hältst natürlich für mich die Augen offen, ob nicht vielleicht eine Geschichte dabei ist!“
„Ich hoffe sehr, dass Kriminalität keine Rolle bei meinem Praktikum spielen wird. Ich finde alles andere schon kompliziert genug.“
„Meine Hochachtung besitzt du ebenfalls, Kati!“, meinte Sonja. „Mit deiner Arbeit steht und fällt die ganze Flüchtlingsfrage. Unterkünfte zu schaffen und die Menschen überhaupt zu erfassen, war schon schwer genug, aber letzten Endes Kinderkram. An der Integration wird sich entscheiden, ob wir mit der Situation klarkommen oder scheitern.“
„Jedenfalls bin ich ziemlich sicher, dass meine Aufgabe genauso spannend wird wie deine, Isa!“
„Bestimmt.“ Isa wechselte den Platz und setzte sich nun ebenfalls in einen Sessel. „Aber mal was ganz anderes: Wie geht es eigentlich mit dir und Mike voran? Ich muss ja wissen, woran ich bin, wenn ich ab morgen mit euch zusammenarbeite.“
Jetzt war es an Sonja, ihrer komischen Verzweiflung Ausdruck zu verleihen.
„Meine Güte, Isa! Und ich hatte schon Hoffnung geschöpft, dass du es aufgegeben hättest die Kupplerin zu spielen.“
„Wieso, habe ich doch auch“, tat die Angesprochene unschuldig. „Man wird doch wohl mal fragen dürfen?“
Die Beziehung zwischen Sonja und Mike war ein ständiges Thema in dieser Runde. Staller, da waren sich alle einig, mochte seine Kollegin klar über ein freundschaftliches Verhältnis hinaus, traute sich aber nicht dieses zuzugeben. Sonja hatte ihm mit unzähligen kleinen Winken angezeigt, dass sie durchaus an ihm auch als Mann interessiert war. Kati, deren Segen Sonja hatte, war ebenfalls schon manipulativ tätig geworden und Isa entwarf ständig Pläne, wie das Glück des Paares in spe herzustellen sei. Leider nicht mit dem gewünschten Erfolg. Staller zeigte sich freundlich, nett und aufgeschlossen – aber sobald er Farbe bekennen musste, zog er sich zurück. War er knapp sieben Jahre nach dem Tod seiner Chrissie noch nicht bereit für eine neue Beziehung? Hatte er Angst Gefühle zu zeigen, weil der Tod ihm damals das Liebste unwiederbringlich genommen hatte? Diese und andere Fragen hatte das Trio zur Genüge diskutiert, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Abwarten war alles, was nun noch übrig blieb. Dementsprechend fiel auch Sonjas Antwort aus.
„Was soll ich sagen? Der nächste Schritt muss eindeutig von ihm kommen und er ist offenbar nicht oder noch nicht bereit dazu. Und ich werde auch keinen weiteren Druck mehr aufbauen.“
„Na, ab morgen kann ich mir ja ein eigenes Bild vom Stand der Dinge machen. Und dann fällt mir bestimmt noch etwas ein ...“
„Keine Drohungen, Isa, sonst blase ich dein Praktikum in letzter Sekunde wieder ab!“, versprach Sonja.
„Eines Tages wirst du mir noch dankbar sein, denk an meine Worte“, entgegnete Isa im Brustton der Überzeugung.
* * *
Der Geräuschpegel im Raum war immer noch relativ hoch, obwohl inzwischen einige Personen der späten Stunde Tribut gezollt und die Veranstaltung verlassen hatten. Der Rest unterhielt sich dafür um so angeregter und auch lauter. Aus diesem Grund löste der durchdringende Schrei aus dem Vorraum zunächst kaum eine Reaktion aus. Nur Staller erkannte die Situation sofort und schoss nahezu ohne Verzögerung aus der Tür.
Im Vorraum entdeckte er Beate, die an der Treppe ins Untergeschoss stand, die Hand auf ihren Mund presste und offenbar zu keiner Bewegung fähig war. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen und sie zitterte am ganzen Körper.
„Was ist passiert?“, fragte er und trat neben sie. Er erhielt keine Antwort, aber das war auch nicht nötig. Der Anblick des verkrümmten Körpers am Fuße der Treppe sprach Bände. Der Reporter entschied sich, die verängstigte Klassenkameradin für den Moment zu ignorieren und herauszufinden, ob für die Person im Gang zu den Toiletten noch Hilfe möglich war. Hastig lief er die Treppe herab und versuchte sich im Geiste die entsprechenden Maßnahmen der Ersthilfe ins Gedächtnis zu rufen. Nach siebzehn Stufen hatte er den leblos daliegenden Körper erreicht. Es handelte sich um Frank Hartig, der mit unnatürlich verdrehten Beinen halb auf dem Bauch lag. Seine linke Gesichtshälfte zeigte nach oben und der starre Blick des Auges ließ Staller das Schlimmste fürchten. Mit zwei Fingern tastete er nach der Halsschlagader und betete, dass er ein schwaches Pulsieren fühlen konnte. Aber da pochte nichts. Hartig war definitiv tot.
Aber was war passiert? Natürlich gab es Abschürfungen im Gesicht und einige Blutspuren. Hartig war zumindest einen Teil der Treppe hinabgestürzt. War er gestolpert oder war er gestoßen worden? Und vor allem: Konnten die Verletzungen durch diesen Sturz den praktisch sofortigen Tod zur Folge haben? Staller war kein Arzt, aber er hatte seine berechtigten Zweifel. Alles in allem lag auf der Hand, dass dieser Todesfall behördlich untersucht werden musste.
„Soll ich den Rettungswagen rufen?“, ertönte eine schwache Stimme von oben.
„Das bringt leider nichts mehr, Beate. Hier kommt jede Hilfe zu spät. Ruf lieber die Polizei. Wir müssen feststellen, ob es sich hier vielleicht um einen Mordfall handelt.“
Ein erstickter Schrei bewog Staller, seinen Blick nach oben zu richten. Neben Beate, die weiterhin bewegungslos oberhalb der Treppe stand, war eine zweite Person aufgetaucht. Die Kellnerin, die Hartig noch vor kurzer Zeit belästigt hatte, starrte mit offenem Mund auf die Szenerie. Da von Beate keine großartige Hilfe zu erwarten war, wandte sich der Reporter direkt an das Mädchen. Wie hieß sie bloß noch? Sie hatte ihm doch ihren Namen und die Telefonnummer aufgeschrieben …
„Laura? Könnten Sie freundlicherweise die Polizei rufen, bitte?“
Er versuchte mit großer Ruhe und Professionalität ihre Schockstarre zu durchbrechen, was auch gelang. Sie nickte und zog ein Handy aus ihrer Kellnerschürze. Während sie aufgeregt in ihr Telefon sprach, überprüfte Staller rasch, ob sich noch jemand auf den Toiletten aufhielt. Als er von diesem Gang zurückkehrte, legte Laura gerade auf.
„Sehr gut, vielen Dank! Könnten Sie mir noch einen weiteren Gefallen tun?“
Sie nickte bloß.
„Sorgen Sie bitte dafür, dass niemand nach Hause geht, bevor die Polizei vor Ort ist. Am besten bleiben alle oben in dem Raum. Beate?“
Er versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, aber sie starrte weiterhin nur ausdruckslos auf den Toten. Entweder war das der Schock oder …
„Beate, hast du gesehen, wie das hier passiert ist?“
Keine Reaktion, außer dass die Frau anfing in bisher nicht gekannter Geschwindigkeit wieder Fusseln von ihrem Pulloverärmel zu zupfen. Staller seufzte und gab vorübergehend auf. Letztlich war das auch nicht seine Aufgabe. Sollte Bommel doch versuchen etwas aus den Leuten herauszubekommen.
Bei diesem Gedanken ergriff er sein Telefon und wählte die bekannte Nummer.
„Hast du überhaupt keinen Respekt vor dem Feierabend anständiger Leute?“, erklang die brummelige Stimme von Thomas Bombach.
„Ich wollte dir nur die Chance geben möglichst frühzeitig an deinem nächsten Tatort zu sein.“
„Hast du vor deinem erbärmlichen Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen? Und warum musst du mich dafür mitten in der Nacht hinzuziehen?“
„Mir ist nicht nach Späßen zumute. Ich stehe hier neben einem ehemaligen Klassenkameraden am Fuße einer Treppe. Er ist tot, ich nicht. Könnte ein Unfall gewesen sein, muss aber nicht.“
Sofort wurde Bombach geschäftsmäßig.
„Hast du die Kollegen schon informiert?“
„Eine Kellnerin sollte das inzwischen erledigt haben.“ Staller gab dem Kommissar die Adresse durch.
„Danke. In einer Viertelstunde bin ich da.“ Bombach legte auf.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr führte der Reporter ein zweites Telefonat. Bei “KM – Das Kriminalmagazin“ hatte rund um die Uhr ein Kamerateam Bereitschaft, um bei entsprechenden Ereignissen sofort einsatzbereit zu sein. Heute war dies sein Lieblingskameramann Eddy. Ein Vollprofi, der wenig Worte machte – und wenn, dann in unverfälschtem Fränkisch – und stets wusste, was zu tun war. Er würde in wenigen Minuten vor Ort sein. Auf jeden Fall noch vor Bombach, was diesen vermutlich mächtig ärgern würde. Trotz aller Anspannung konnte sich Staller ein kleines Grinsen nicht verkneifen.
In seinem Leben hatte er genügend Tatorte gesehen, um zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Deshalb verzichtete er darauf, Frank anzufassen oder gar zu bewegen. Trotzdem begutachtete er die Szenerie aus geringer Entfernung so gründlich wie möglich. Zentimeter um Zentimeter suchten seine Augen den glücklicherweise gut beleuchteten Treppenaufgang ab, aber es gab nichts, was ihm auffiel. Zum Schluss stieg er die siebzehn Stufen wieder hinauf und stellte fest, dass Beate offenbar die Herrschaft über ihren Körper zurückgewonnen hatte, zumindest hatte sie den Vorraum verlassen. Vielleicht hatte Laura sie ja zu den andern Teilnehmern des Klassentreffens geführt.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Restaurant und die Kellnerin steckte ihren Kopf durch den Spalt.
„Die Polizei ist informiert, aber die brauchen noch ein paar Minuten. Ist wohl viel los gerade. Wir sollen nichts anfassen.“
„Vielen Dank. Ich passe hier draußen auf, dass nichts verändert wird. Die Dame an der Treppe ...“
„Die habe ich zu den Übrigen geführt. Sie steht wohl ein bisschen unter Schock. Und sie hat immer wieder etwas gemurmelt, was ich sehr befremdlich fand.“
„Was war das denn?“
„Sie sagte: “Am Ende siegt doch immer die Gerechtigkeit“. Klingt seltsam nach so einem Unglücksfall, finden Sie nicht?“
Staller runzelte die Stirn.
„Das kann man wohl sagen. War das alles?“
„Ja, ich glaube schon.“
„Das haben Sie ganz großartig gemacht, Laura. Für Sie war das gewiss kein leichter Abend.“
Sie lächelte ihn dankbar an.
„Sie haben mich aber auch ganz prima unterstützt! Wenn das hier alles geklärt ist, dann würde ich Sie gerne zu einem kleinen Absacker einladen. Entweder hier oder ...“, sie machte eine vielsagende Pause, „ … anderswo.“
„Das ist sehr nett gemeint. Aber ich habe so eine Ahnung, als ob sich das alles noch ziemlich lange hinziehen könnte.“
Offensichtlich war sie nicht nur reaktionsschnell und zuverlässig, sondern auch noch blitzgescheit, denn sie zog sofort den richtigen Schluss.
„Sie meinen damit, dass das kein Unfall war? Wurde er möglicherweise gestoßen?“
Staller zuckte die Schultern und sie überlegte weiter.