Staller und der Mann für alle Fälle - Chris Krause - E-Book

Staller und der Mann für alle Fälle E-Book

Chris Krause

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Beschreibung

Ein Dutzend Messerstiche in die Brust machen aus der attraktiven und gut situierten Britta Piel einen Fall für Kommissar Bombach. Ihr letzter Besucher war Steve, ein männlicher Escort. Problem gelöst? Eher nicht, glaubt Polizeireporter Mike Staller. Man bringt doch nicht seine beste Kundin um! Nur: Wer war es dann? Der Ehemann hat zumindest kein Alibi. Allerdings lebte das Paar in einer offenen Beziehung und Seitensprünge waren akzeptiert. Wo ist also das Motiv? Auch Steve ist verheiratet und seine Frau hasst seinen Job. Zu viele Möglichkeiten und zu wenig Beweise, findet Staller. Es stellt sich heraus, dass der verdächtige Escort schon einmal vom Tod einer Kundin profitiert hat. Sie hinterließ ihm eine teure Wohnung in Alsternähe und eine beachtliche Summe Geld. Für Kommissar Bombach steht damit fest: Steve muss der Mörder sein. Das Problem ist nur, dass es keinerlei stichhaltige Beweise gibt. Und dieses Mal ist auch keine Erbschaft im Spiel. Bei der Recherche nach Hintergründen findet Staller zwei Dinge heraus: Britta Piel und ihr Mann hatten kürzlich Streit. Die Ehe war wohl doch nicht so problemlos, wie sie nach außen wirken sollte. Außerdem zeigt die Frau von Steve etliche Auffälligkeiten, die auf eine gestörte Psyche hindeuten können. Für den Reporter stellt sich die Frage: Ist die Frau Opfer oder Täter? Dann passiert ein zweiter Mord und wieder findet die Tat unmittelbar nach einem Besuch von Steve statt. Kommissar Bombach und Polizeireporter Staller sind uneins wie selten. Jeder versucht auf seine Weise den Fall zu lösen. Am Ende hat, wie so oft, der Reporter die Nase vorn, aber auch er kann nicht verhindern, dass es zu einem turbulenten Showdown kommt.

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STALLER UND DER MANN FÜR ALLE FÄLLE

Bisher in diesem Verlag erschienen:

Staller und der Schwarze Kreis

Staller und die Rache der Spieler

Staller und die toten Witwen

Staller und die Höllenhunde

Staller und der schnelle Tod

Staller und der unheimliche Fremde

Staller und die ehrbare Familie

Mike Staller schreibt bei Facebook unter:

Michael „Mike“ Staller

Chris Krause

Staller und der Mann für alle Fälle

Mike Stallers achter Fall

© 2019 Chris Krause

Autor: Chris Krause

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

978-3-7497-7156-1 (Paperback)

978-3-7497-7157-8 (Hardcover)

978-3-7497-7158-5 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der Anblick, den die Tote bot, war außerordentlich unerfreulich.

Nicht dass Kommissar Bombach normalerweise Freude empfand, wenn er eine Leiche betrachtete. Aber in diesem Fall war sein Widerwillen noch deutlich ausgeprägter als üblich.

„Da wollte aber jemand auf Nummer sicher gehen“, erklang die halblaute Stimme von Polizeireporter Michael Staller hinter dem Kommissar.

„Oder dieser Jemand war richtig sauer.“ Der Polizist verzichtete darauf sich zu erkundigen, warum der Journalist wieder einmal unglaublich schnell an einem Tatort auftauchte. Eine vernünftige Antwort würde er sowieso nicht bekommen. Und im Moment stand er angesichts des Zustands des Leichnams noch halb unter Schock.

„ … zehn, elf, zwölf“, zählte Staller, während er mit dem Finger auf die Einstiche im Oberkörper der Frau wies. „Und vermutlich jeder für sich allein tödlich.“

„Ein Beispiel für Übertötung wie aus dem Lehrbuch.“ Der Kommissar trat einen Schritt zur Seite und bückte sich zum Kopf der Frau herunter. Ihr Gesicht war zur Seite gedreht und nahezu vollständig von dichtem, dunkelbraunem Haar bedeckt. Sie trug nur einen dünnen, blauen Seidenkimono, der von einem Gürtel in der Taille zusammengehalten wurde. Bombach fuhr mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand, die in einem Einmalhandschuh steckte, von der Stirnmitte zur Seite und schob die Strähnen fort.

Deutlich hörbar saugte der Polizeireporter Luft durch die Zähne ein, als er sah, was unter den Haaren verborgen war.

„Meine Güte, so etwas habe ich ja noch nie gesehen!“ Bombach schüttelte angewidert den Kopf und wandte den Blick ab. „Lass uns rausgehen, ja?“

„Unbedingt. Ich bin keinesfalls scharf darauf, mir das noch länger anzusehen“, stimmte Staller eilig zu und drehte sich bereitwillig um. Gemeinsam verließen sie das Wohnzimmer und zogen sich in den Flur der geräumigen Altbauwohnung zurück.

Dort war gerade der Mediziner eingetroffen und wirkte gewohnt mürrisch. Warum konnte es eigentlich fast nie einen gut gelaunten und fröhlichen Arzt an einem Tatort geben, fragte sich Bombach, der stumm auf die Tür zum Wohnzimmer deutete. Das hing vermutlich damit zusammen, dass die Patienten dieser Berufsgruppe auch nicht gerade Stimmungskanonen waren.

„Solltest du vielleicht mal einen Blick in diese Handtasche wagen?“ Staller deutete auf eine Kommode unter einem ovalen Garderobenspiegel. Dort stand das eindeutig weibliche Accessoire und sah teuer und gleichzeitig ein wenig verloren aus.

„Möchtest du mir mal wieder meine Arbeit erklären? Aber halt – ich muss wohl dankbar sein, dass du nicht gleich selber nachgeschaut hast.“ Der Kommissar öffnete den Reißverschluss und warf einen skeptischen Blick in das Innere der Tasche, die etwa das Format eines Schuhkartons besaß. Überrascht stellte er fest, dass er kein unübersichtliches Chaos vorfand, sondern nur einige wenige Gegenstände, darunter eine Art Brieftasche aus weichem Nappaleder. Geschickt blätterte er die Fächer durch und fand nach kurzer Suche einen Personalausweis.

„Britta Piel, 43 Jahre alt und gemeldet in der Martinistraße. Also ist das hier nicht ihre Wohnung“, schlussfolgerte er.

„Das stimmt so zwar nicht unbedingt, aber belassen wir es mal dabei.“ Der Reporter sah sich um. „Fällt dir etwas auf bei dieser Bude?“

Bombach zog fragend die Augenbrauen hoch. „In welcher Hinsicht?“ „Na, so generell. Ein erster Eindruck sozusagen.“

„Keine Ahnung, was du meinst. Großzügige Räume, gehobene Einrichtung, sauber und ordentlich. Nichts Auffälliges.“

„Lass uns mal einen kleinen Rundblick wagen“, schlug Staller vor und ging auch gleich los, ohne auf eine Zustimmung zu warten. „Hier, die Küche. Was siehst du?“

Der Kommissar ließ seine Blicke schweifen. „Zwei Rotweingläser und eine halbleere Flasche. Bordeaux, daher vermutlich teuer. Sie hatte also Besuch. Und schon notieren wir einen ersten Verdächtigen. Das war ausnahmsweise mal ein guter Gedanke von dir, Mike!“

Staller nahm das ungewohnte Kompliment überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern öffnete mit einem Taschentuch den Kühlschrank. Seine Anwesenheit an einem Tatort wurde nur geduldet, weil er so professionell agierte, dass durch ihn keine Spuren zerstört wurden.

„Suchst du einen Snack?“

„Das wäre ja nun eindeutig deine Kernkompetenz, Bommel.“ Staller spielte auf den legendären Appetit des Kommissars an. „Nein, ich wollte auf etwas anderes hinaus. Wie beurteilst du den Inhalt dieses Kühlschranks?“

Bombach trat einen Schritt zur Seite und schaute an seinem Freund vorbei. Die vier Hauptfächer wirkten ausgesprochen übersichtlich, was die Bestückung mit Lebensmitteln anging.

„Hm. Satt wird man davon nicht.“

„Genau! Der Inhalt erinnert mich an das Ferienhaus eines Freundes in Österreich, wo ich manchmal zum Skilaufen hinfahre. Das wird nicht offiziell vermietet, aber es kommen immer wieder Familienangehörige oder Freunde dorthin. Deshalb finden sich da im Kühlschrank auch immer solche Lebensmittel, die nicht unmittelbar verderben und die die Nachfolger nutzen könnten. Senf, Ketchup, Margarine, Gewürzgurken – all so ein Zeug. Aber kein Aufschnitt, Salat, Käse, Milch oder was man sonst in Kühlschränken findet.“

„Und was sagt dir das, Sherlock?“

„Ich vermute, dass die Bude nicht dauerhaft bewohnt ist. Hast du dir das Wohnzimmer angesehen?“

„Da lag eine Leiche – das hat mich ein bisschen abgelenkt.“

Der Reporter überging den sarkastischen Einwurf. „Egal wie ordentlich du bist – in einem Raum, der regelmäßig genutzt wird, findest du bestimmte Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs. In diesem Fall wären das ein Buch, eine Zeitung, eine Flasche Wasser – irgendwas. Aber da steht nichts.“

„Jetzt wo du es sagst …“, brummelte der Kommissar und schloss nachdenklich die Augen.

„Wenn du fertig bist mit deinem Nickerchen, dann können wir uns ja weiter umsehen“, schlug Staller munter vor und ging voraus. Er überquerte den Flur und wählte eine Tür rechts vom Wohnzimmer, das inzwischen hell erleuchtet war. „Hab’ ich‘s mir doch gedacht!“

„Du denkst? Das macht mir Angst“, stellte Bombach fest und sah sich in dem Raum um. Es handelte sich ganz offensichtlich um das Schlafzimmer und hier gab es deutliche Anzeichen von Benutzung. Das Bettzeug, elegant silbrig glänzender Satin, auf dem komfortablen Doppelbett war zerwühlt und hing teilweise über die Bettkante hinaus.

„Bekommst du es hin, die Ereignisse des gestrigen Abends grob zu rekonstruieren oder soll ich das für dich machen?“, fragte der Reporter süffisant.

„Die gute Frau Piel hatte Besuch, mit dem sie Rotwein trank und ein Schäferstündchen hielt. Und es war vermutlich nicht ihr Mann, falls sie denn einen hat. Der unbekannte Mann – oder auch die Frau, ich bin da unvoreingenommen – glänzt durch Abwesenheit und Frau Piel ist tot“, fasste der Kommissar zusammen. „Und damit du keinen Höhenflug bekommst, ergänze ich noch um meine eigenen Beobachtungen: Es gibt keinerlei Einbruchsspuren, was bedeutet, dass sie ihren Mörder oder ihre Mörderin freiwillig in die Wohnung gelassen hat.“

„Ausgezeichnet, Watson, du besitzt ja lichte Momente! Ich würde sagen, dass es Gesprächsbedarf mit dem Herrn gibt, der hier zu Besuch war“, meinte Staller leichthin, nachdem er eine Runde durch den Raum gedreht und in jede Ecke einen Blick geworfen hatte.

„Woher weißt du, dass es ein Mann war?“

„Sicher kann ich natürlich nicht sein. Aber wenn ich mir diesen Papierkorb so ansehe, dann sprechen einige Indizien dafür.“

Bombach warf einen Blick in das Corpus Delicti und nickte zustimmend. „Ein benutztes Kondom ist ein Argument. Kein zwingendes, aber ein sehr gutes. Was machst du da?“

„Meinen Überblick vervollständigen“, bemerkte der Reporter ganz ungezwungen und öffnete weiter die Türen des großen, mattweißen Kleiderschrankes, der gegenüber dem Bett seinen Plate hatte. „Etwas Bettwäsche, Handtücher und praktisch keine Kleidung. Gleiches Prinzip wie beim Kühlschrank.“

„Es wird ja kein Problem sein festeustellen, wem die Wohnung gehört. Dann finde ich auch heraus, warum es hier so steril wirkt.“

„Freu dich, Bommel! Die vielen Hausaufgaben, die du bis jetzt schon hast, bedeuten vor allem, dass du einen Haufen Spuren und Hinweise besitzt! Solltest du dir nicht langsam ein paar Dinge aufschreiben?“

„Bisher kann ich mir noch alles ganz gut merken“, antwortete der Kommissar säuerlich. „Hast du heute eigentlich keinerlei Geier dabei, die die grausigen Einzelheiten der Toten in Großaufnahme filmen wollen?“

„Eddy und sein Assi warten unten vor dem Haus. Es reicht, wenn sie den Abtransport drehen. Die Bilder sind ein bisschen zu verstörend für unser Publikum.“ Immer mittwochs und sonntags wurde “KM – Das Kriminalmagazin“ für eine Stunde am Abend gesendet. Neben aktuellen Fällen gab es Sicherheitstipps, Fahndungen der Polizei und Reportagen aus der Welt der Kriminalität. Die Sendung hatte generell einen guten Ruf, was zum großen Teil Staller zu verdanken war, der als Chefreporter großen Einfluss auf die Inhalte nahm. Früher hatte er das Magazin auch moderiert, aber mit der Zeit fehlte ihm die Arbeit vor Ort an den Fällen. Jetzt war seine Kollegin Sonja Delft das Gesicht der Sendung und der Reporter tat wieder das, was er am meisten liebte: Er war auf der Straße, recherchierte Fakten und Ereignisse und sprach mit den Menschen, die in einen Fall involviert waren. Sein großes Talent bestand darin, dass er blitzschnell Vertrauen zu den unterschiedlichsten Typen aufbauen konnte und deshalb oft Dinge in Erfahrung brachte, die der Polizei verborgen blieben. Diese Eigenschaft führte gelegentlich zu Konflikten mit seinem Freund Bombach, der dem Reporter Eigenmächtigkeit und unzulässige Methoden unterstellte. Dabei war Michael Staller ein durchaus gesetzestreuer Bürger, der nur dann etwas großzügiger in der Auslegung von Vorschriften wurde, wenn dies zulasten eines Kriminellen ging.

„Nanu? Seit wann bist du so rücksichtsvoll? Blut ist doch dein Treibstoff?“

„Jetzt verwechselst du mich aber mit Zenzi, das ist nicht fair!“

Helmut Zenz war der Chef vom Dienst bei “KM“ und der Prototyp des Boulevardjournalisten. Seine Aufgabe war es, abwechslungsreiche und bildstarke Sendungen zusammenzustellen, damit das Interesse der Zuschauer nie erlahmte. Zenzi, wie er hinter seinem Rücken von den Kollegen genannt wurde, war zwar ein Fachmann erster Güte, aber menschlich eher zweifelhaft. Sein Satz: „Ich brauche noch ’ne geile Leiche“ - ausgesprochen in einer eher ereignisarmen Woche – fasste seinen Stil ganz gut zusammen und sorgte je nach Gemütslage der angesprochenen Kollegen entweder für Abscheu oder verhaltene Heiterkeit.

Der Mediziner trat aus dem Wohnzimmer und zog mit geübten Bewegungen seine Gummihandschuhe aus. „Das wär‘s. Von mir aus kann sie weggebracht werden.“

Bombach öffnete den Mund und wollte eine Frage stellen, wurde aber abgewürgt, denn der Doc redete gleich weiter.

„Todeszeitpunkt gestern Abend zwischen 22 und 24 Uhr, ursächlich für ihr frühes Ableben waren die Stichverletzungen und ihr Gesicht ist vermutlich postmortal so zugerichtet worden. Alles Weitere, wenn ich sie auf dem Tisch hatte.“ Er wandte sich ab zum Gehen.

„Die Tatwaffe?“, traute sich Bombach noch zu fragen.

„War ein Messer“, grunzte der Arzt unwillig und verließ eilig die Wohnung.

„Ach was“, murmelte der Kommissar halblaut. „Da wäre ich jetzt von alleine nicht drauf gekommen. Mann, der hat aber wieder eine Laune heute …“

„So, wie es aussieht, hat der Täter das Messer aber mitgenommen oder habt ihr was gefunden?“

„Nein, nichts. Das wäre mir wohl aufgefallen.“

„Na, sicher kann man da nicht sein“, grinste Staller und zog seinen Freund aus der Wohnung. „Du kannst dich jetzt für meine großartige Unterstützung bei der Tatortbegehung bedanken, indem du unten ein kleines Interview zur Sache gibst. Das machst du doch sicher gern.“

„Großartige Unterstützung?“ Der Kommissar schüttelte entsetzt den Kopf. „Du und deine Wahrnehmung.“

„Ja, ja, wenn du meinst. Los, komm, wir drehen unten auf der Straße!“

* * *

„Wenn unser Chefreporter es nicht für nötig hält pünktlich zu unserer Themenkonferenz zu erscheinen, dann ist mir das scheißegal. Wir fangen jetzt an!“

Das grobschlächtige Gesicht von Helmut Zenz war tiefdunkelrot angelaufen, wie immer, wenn er sich echauffierte, was oft vorkam. Auf seiner Stirn pulsierte dann eine Ader und die Schweißflecken unter seinen Armen wurden größer und dunkler. Seine schon im Normalfall nicht sonderlich sympathisch wirkende Erscheinung litt darunter natürlich.

„Er hat sich bei mir gemeldet. Eddy und er sind in der Schenkendorfstraße. Dort wurde eine Leiche entdeckt. Erstochen“, meldete sich Sonja Delft zu Wort. Sie saß neben dem freien Stuhl von Staller am Konferenztisch und machte mit ihrem freundlichen Gesicht und dem bezaubernden Lächeln einen ganz anderen Eindruck als der cholerische Chef vom Dienst. „Ich soll ihn entschuldigen. Er kommt, so schnell er kann.“

„So, so, hm, na gut.“ Zenz war hin- und hergerissen. Einerseits hasste er Unpünktlichkeit wie die Pest, andererseits war ein Mordfall immer ein kleines Geschenk für ihn. Auch wenn die Mehrheit der Zuschauer mehr an Betrügereien und Einbrüchen interessiert war – einfach, weil es sie eher betraf – für den CvD waren Mordfälle die Kirsche auf dem Sahnehäubchen.

„Wir können ja trotzdem anfangen. Ich informiere ihn über alles, sobald er wieder im Büro ist“, schlug Sonja mit unschuldigem Augenaufschlag vor.

„Meinetwegen“, knurrte Zenz, dem das gute Verhältnis zwischen der Moderatorin und dem Reporter schon immer suspekt war. Stets witterte er Verrat, Intrige oder Heimtücke. Und wenn es dann um exponierte Personen ging, wie im Fall von Mike und Sonja, dann war er gleich doppelt auf der Hut. Dabei entging ihm völlig, dass bei “KM“, im Gegensatz zu vielen anderen Redaktionen, nicht Neid und Konkurrenzdenken, sondern Kollegialität und Hilfsbereitschaft vorherrschten. Dies widersprach aber seiner Auffassung von Arbeit im Medienbereich.

„Wie sieht es also aus mit langfristigen Themen? Hat sich irgendwer die Mühe gemacht, mal einen Gedanken an einen echten Aufreger zu verschwenden?“

Ein unhörbares Seufzen füllte den Raum. Zenz besaß eine große Begabung darin, positives menschliches Miteinander zu sabotieren. Stets unterstellte er das Schlechteste und es grenzte an ein Wunder, dass die Redaktion nicht längst offen meuterte. Möglicherweise lag dies nur daran, dass er es auf der anderen Seite schaffte, die Quoten von “KM“ durch seine Sendeplanung konstant auf hohem Niveau zu halten.

„Ich hätte da eine Idee!“ Die Sprecherin war eine sehr junge Frau mit einem ausdrucksstarken Gesicht und selbstbewusster Körperhaltung. Sie hatte ein Praktikum in der Redaktion absolviert und dabei so zu überzeugen gewusst, dass sie nunmehr eine Art feste freie Mitarbeiterin war. Ziemlich sicher würde ihr bei der nächsten Gelegenheit ein Volontariat angeboten werden.

„Dann lass mal hören, Mäuschen!“ Zenz klang immer noch verärgert. Die nonverbale Reaktion auf seine sexistische Wortwahl bekam er entweder nicht mit oder ignorierte sie mühelos. Bezeichnend war, dass er sich Namen von Kolleginnen und Kollegen hervorragend merken konnte, wenn er den Eindruck hatte, dass diese im Rang gleichwertig oder höher als er angesiedelt waren. Alle anderen blieben “der Volontär“ oder “die Dings aus dem Schnitt“.

„Ich heiße Isa. Ein relativ einfacher Name, der sich ziemlich gut merken lässt“, erklärte die Sprecherin mit eisiger Beherrschung. Zustimmendes Gemurmel bewies, dass diese Abgrenzung Gefallen in der Runde fand. Sonja nickte Isa anerkennend zu.

„Ja, ja, schon gut. Was ist nun mit dem Themenvorschlag?“ Zenz ließ sich nicht anmerken, dass er diese Zurechtweisung als solche erkannt hatte.

„In den letzten Monaten hat Gewalt gegen Flüchtlinge eine große Rolle gespielt und ist entsprechend medial begleitet worden.“

„Oh, bitte nicht!“ Zenz verdrehte theatralisch die Augen.

„Darüber ist völlig in den Hintergrund gerückt, dass es ebenfalls eine deutliche Zunahme an Gewalttaten gegenüber Homosexuellen gab. Dabei handelt es sich zwar selten um Tötungsdelikte, aber die Bandbreite geht von einfacher Schikane bis zur schweren Körperverleteung. Fakt ist: Schwule und auch Lesben sind in Hamburg nicht mehr sicher.“ Isa hatte gelernt Themenvorschläge prägnant und auf den Punkt zu präsentieren. Kurze, zustimmende Bemerkungen aus dem Kollegenkreis bewiesen dies.

„Echt jetzt? Du willst einen Beitrag über Tuntenklatschen machen?“ Der CvD beherrschte seine Bild-Schlagzeilen wie kein Zweiter. „Und wen soll das interessieren?“

„Unabhängig davon, wie man persönlich zum Thema Homophobie steht, sprechen die Zahlen eine klare Sprache“, antwortete Isa, ohne auf seinen erneuten Ausfall näher einzugehen. „Verbrechen mit einem homophoben Hintergrund verbuchen im letzten Jahr die höchsten prozentualen Steigerungsraten überhaupt. Wenn das die Angelegenheit nicht zum Top-Thema macht, dann weiß ich auch nicht.“

„Gibt es zu dieser nebulösen Aussage auch eine Quelle? Und damit meine ich eine richtige Quelle und nicht das Landesamt der Leckschwestern.“ Zenz war dabei, sich selbst zu übertreffen.

„Polizeiliche Kriminalstatistik“, entgegnete Isa knapp. „Ich halte die für seriös.“

„Die ist doch noch gar nicht veröffentlicht“, konterte der CvD.

„Ich weiß. Das heißt aber nicht, dass nicht einzelne Statistiken fertig erstellt sind.“

„Und da hat dir ein Vögelchen etwas zugezwitschert.“

„Ganz genau.“

„Was macht dieses Vögelchen denn? War es vielleicht der schwule Bote für interne Post, der mal eine naive Jungjournalistin für seine Zwecke einspannt?“

„Nein, es handelt sich um einen Kriminaldirektor aus dem Landeskriminalamt.“

„LKA? Wie kommst du an so eine Quelle?“

„Das bleibt mein Geheimnis als naive Jungjournalistin“, konterte Isa völlig ruhig. „Ich kann die Zahlen beibringen, wenn es erforderlich ist.“

Sonja hatte, wie alle Mitarbeiter in der Runde, den Schlagabtausch fasziniert verfolgt und war stolz auf die junge Frau. Gemeinsam mit Staller hatte sie Isa vor einigen Monaten die Chance gegeben bei “KM“ hineinzuschnuppern. Beide waren sich des Risikos bewusst gewesen, denn Isa war alles andere als einfach. Sie hatte sich in der Vergangenheit immer wieder in Themen und Ansichten verbissen und dann kompromisslos daran festgehalten, auch wenn dieser Einsatz völlig sinnfrei war. Aber seit einiger Zeit schien sich ihr Übereifer in eine sanfte Beharrlichkeit zu verwandeln, die den Umgang mit Isa einfacher machte. Außerdem hatte sich gezeigt, dass ihr blitzschneller Verstand und ihre offene Art auf Menschen zuzugehen sie zu einer wirklich guten Reporterin machen würden, wenn sie weiterhin bereit war sich das Handwerkszeug anzueignen.

„Also ich finde das erschreckend“, befand die Moderatorin. „Hast du denn schon eine Idee, wie man die Geschichte aufziehen könnte?“

Helmut Zenz warf ihr einen bitterbösen Blick zu, hielt aber überraschenderweise den Mund.

„Als roten Faden stelle ich mir einen Protagonisten vor, der solche Gewalt schon erfahren hat. Wir begleiten ihn mit der Kamera an den Ort, wo es geschehen ist und arbeiten so das Vergangene auf. Darüber hinaus gehen wir mit ihm los und besuchen vergleichbare Orte – Klubs, öffentliche Plätze, Bars – aber diesmal mit versteckter Kamera. Dann dokumentieren wir, was er so erlebt.“

Beifälliges Raunen in der Runde zeigte an, dass dieser Vorschlag viel Zustimmung fand. Sonja nickte abermals anerkennend. „Das klingt vielversprechend, finde ich. Was meinst du, Helmut?“

Die Situation war nicht einfach für den Chef vom Dienst. Einerseits war das positive Votum der Kollegen klar erkennbar. Außerdem hatte die Idee Hand und Fuß. Dem gegenüber stand seine persönliche Einstellung, dass Homophobie und die daraus eventuell entstehende Gewalt für ihn kein Thema war.

„Wir machen das so: Du arbeitest ein Treatment aus und suchst nach Protagonisten. Danach entscheiden wir, ob die Story trägt. Aber bitte mit Zug zum Tor! Ich möchte nicht wochenlang auf ein Ergebnis warten.“ Damit war das Thema erledigt und Isa gönnte sich ein kleines, fast unsichtbares Lächeln. Sonja blinzelte ihr verschwörerisch zu und zeigte unauffällig ihren erhobenen Daumen.

„Und wie schaut es bei den übrigen Gestalten hier aus? Hat vielleicht noch jemand ein richtiges Thema in der Pipeline?“

Eine gute halbe Stunde und einige verbale Ausfälle des CvD später saßen Sonja und Isa im Büro der Moderatorin und atmeten erst einmal tief durch.

„Große Klasse, wie du Zenzi ausgebremst hast, Isa. Ruhig, sachlich und trotzdem klar und deutlich. Respekt!“

„Ach weißt du, an dem arbeite ich mich doch nicht ab. Das führt zu nichts, der ist einfach unbelehrbar. Er soll merken, dass mir manches nicht passt und das war es dann auch. Mir geht es mehr um meine Themen.“

„Hast du wirklich schon Daten aus der neuesten Kriminalstatistik?“

„Ja, habe ich. So viel habe ich inzwischen begriffen, dass ich Zenzi belastbare Fakten entgegenhalten muss, wenn ich etwas erreichen will. Dass er sich nicht für Gewalt gegen Homosexuelle begeistert, war ja zu erwarten.“

„Also ich finde auch, dass das ein Thema ist. Die Zahlen scheinen ja wirklich erschreckend zu sein.“

Es klopfte leise an der Tür.

„Ja?“ Sonja schaute überrascht hoch. Anklopfen war nicht der Regelfall bei “KM“.

„Ich dachte, dass ihr vielleicht Lust auf einen leckeren Kaffee hättet, nach eurer Themenkonferenz!“ Jutta Brehm, die Sekretärin und gute Seele der Redaktion, stand mit einem Tablett in der Hand in der Tür und lächelte schüchtern.

„Du kannst offenbar Gedanken lesen“, entgegnete Sonja und winkte einladend. „Unsere Nerven wurden ein kleines bisschen strapaziert. Da kommst du genau richtig!“

Die junge Sekretärin trat an den Schreibtisch und stellte drei dampfende Becher und eine Schale Kekse ab.

„Drei Becher? Ah, du willst dich ein bisschen zu uns setzen! Warte, ich hole noch einen Stuhl“, bot Isa an.

Bevor Jutta antworten konnte, trat Staller mit seinen großen, federnden Schritten in den Raum und grüßte gut gelaunt in die Runde.

„Ah, meine drei Lieblingskolleginnen an einem Ort zusammen. Ich bin ein sehr glücklicher Mann!“

„Ja, vor allem, weil du eine neue Folge von “Zenzi, der Ewiggestrige“ verpasst hast“, schmunzelte Sonja.

„Jutta, du bist ein Schate, wie immer“, flirtete Staller unverhohlen.

Die Sekretärin errötete heftig und richtete sich ganz auf. Das brachte ihre beachtliche Oberweite voll zur Geltung und half ihr den Bauch einzuziehen. Sie war das, was man im besten Sinne ein Vollweib nennen würde, haderte selbst aber ständig mit ihrer Figur. Neben unzähligen Diäten, die sie immer wieder abbrach, weil sie einfach zu genussvoll aß, versuchte sie alle optischen Tricks, die ihre Figur strecken sollten. Dazu gehörten entsprechende Garderobe, geschickte Haltung und, was niemand wusste, spezielle figurformende Unterwäsche.

„Ach Mike, das mache ich doch gerne für euch!“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, wandte aber sofort den Blick wieder ab. Bestimmt hatte sie noch Schokoladenreste in den Zähnen! Denn auf dem Weg über den Flur hatte sie unbedingt einen der Kekse probieren müssen …

„Hmm, köstlich!“ Der Reporter hatte einen Schluck des nachtschwarzen Gebräus probiert und schnalzte genießerisch mit der Zunge. „Kein Vergleich mit dem Flüssigteer aus der Redaktionsküche. Dein Kaffee ist immer eine Wucht, Jutta!“

Solcherart mit Komplimenten überschüttet, schwebte die Sekretärin entrückt zur Tür. Erst als sie allen Anwesenden den Rücken zuwandte, atmete sie erleichtert aus.

Als die Tür ins Schloss gefallen war, mahnte Isa halblaut und verschmitzt grinsend: „Noch drei Sätze und sie hätte dich hier und gleich auf dem Schreibtisch genommen! Ich hoffe, du spielst nicht mit ihren Gefühlen!“

Sonja unterdrückte ein Prusten, während Staller den Blick irritiert zwischen den beiden Frauen hin- und herwandern ließ. „Was habt ihr denn nun schon wieder? Ich war nur ein bisschen nett. Jutta hat das verdient, sie ist nämlich eine ganz Liebe!“

„Du merkst es wirklich nicht, oder?“ Isa schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf.

„Hab’ ich irgendwas verpasst?“, wandte sich Staller Hilfe suchend an Sonja.

„Höchstens, dass Jutta jetzt ihr Höschen wechseln gehen muss“, antwortete stattdessen Isa trocken. Der Reporter starrte sie verständnislos an.

„Was Isa in ihrer bekannt direkten Art zu vermitteln versucht, ist die allen außer dir bekannte Tatsache, dass unsere herzensgute Jutta einarmig den Atlantik durchschwimmen würde, wenn du nur auf der anderen Seite lächelst“, erklärte die Moderatorin. „Da wir dir das bisher etwa hundertmal erklärt haben, hast du entweder ein sehr schlechtes Gedächtnis oder bist extrem begriffsstuteig.“

„Letzteres“, entschied Isa.

„Also bitte!“, protestierte der Reporter. „Kann man nicht einmal mehr einfach nett und freundlich zu einem lieben Wesen sein, ohne dass ihr irgendeine Romanze dort hineindichten müsst? Jutta kann das ganz sicher alles richtig einordnen!“

„Sie hat den lebensgroßen Promo-Aufsteller von dir zu Hause in ihrem Wohnzimmer stehen. Und ich wette, dass sie ihn abends mit ins Schlafzimmer nimmt“, behauptete Isa frech.

„Woher weißt du das denn?“ Sonja war jetzt ebenfalls verblüfft.

„Ich war mal bei ihr. Sie wollte, dass ich ihr ein Fitness-Programm zusammenstelle. Hab‘ ich natürlich gemacht.“ Isa hatte in einer ihrer “Phasen“ exzessives Kampfsporttraining betrieben und seitdem, auch wenn sie das ungesunde Maß ihres Einsatzes gebremst hatte, permanent ihren Körper hervorragend in Form gehalten.

„Sie hat …?“ Staller fehlten die Worte. „Im Ernst?“

„Jepp.“

„Das glaube ich nicht.“

„Geh hin, schau es dir selber an.“

„Was soll man dazu sagen?“

„Na ja, du siehst ja auch ganz schnuckelig darauf aus“, mischte sich Sonja ein.

„Kein Wunder“, flachste Isa. „Photoshop macht´s möglich.“

„Jetzt werd hier mal nicht frech, Frollein“, empörte sich Staller mit gespieltem Ernst. „Sonst hat dein Poppes aber Kirmes!“

„Vielleicht steh’ ich da ja drauf?“ So leicht ließ Isa sich nicht unterkriegen.

„Okay, okay!“ Sonja hob den beiden Wortakrobaten beschwichtigend die Handflächen entgegen. „Darf ich kurz daran erinnern, dass wir nicht ausschließlich zum Vergnügen hier sind. Was hat es mit der Leiche auf sich, Mike?“

„Sie ist tot.“

Auf der Stirn der Moderatorin bildete sich eine steile Falte. Allerdings verzichtete sie auf eine Entgegnung und beschränkte sich darauf, den Reporter ärgerlich anzublitzen.

„Entschuldigung. Ich habe halt einen gewissen Bremsweg. Es handelt sich um eine Frau Anfang vierzig. Regelrecht abgestochen mit einem Dutzend Löcher in der Brust. Zusätzlich hat ihr der Mörder das Gesicht hergerichtet wie einen Krustenbraten. Da waren offensichtlich eine Menge Emotionen im Spiel. Am Abend hatte sie noch Besuch. Ein Mann, mit dem sie auch geschlafen hat. Wenn er nicht der Mörder war, dann zumindest ziemlich sicher derjenige, der sie zuletzt gesehen hat.“

„Und was haben wir?“

„Bilder vom Abtransport der Leiche. Der Tatort war ein bisschen zu blutig für Aufnahmen. Das möchte niemand sehen. Und Bommel hat das, was ich euch jetzt auch berichtet habe, in bewährter Qualität in die Kamera gestammelt.“

Alle drei wussten, dass der Kommissar ein hervorragender Interviewpartner war, der mit prägnanten, klaren Sätzen auch komplizierte Sachverhalte verständlich wiedergeben konnte.

„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte Sonja wissen.

„Die Autopsie dürfte wohl keine Überraschungen ergeben. Vielleicht liefert die Spurensicherung irgendetwas, das hilfreich ist. Aber in erster Linie brauchen wir den ominösen Besucher. Und dann kommt es darauf an, was der zu erzählen hat.“

„Können wir etwas tun?“, erkundigte sich Isa.

„Nein, das glaube ich nicht. Ich gebe es nur ungern zu, aber momentan liegt der Ball bei Bommel im Feld. Ich werde mal nachdenken, aber viele Möglichkeiten für uns sehe ich nicht.“

Es war allseits bekannt, dass Staller sich keinesfalls darauf beschränkte, den Verlauf von Ermittlungen zu dokumentieren. Wo immer es möglich war, setzte er eigene Nachforschungen in Gang. Oft führte das zu erstaunlichen Ergebnissen, wenn zum Beispiel Zeugen eine Aversion gegen die Polizei hatten, dem sympathischen Reporter jedoch gewollt oder ungewollt Details preisgaben. Da Bombach und er somit auf ganz unterschiedliche Quellen und Verfahrensweisen zurückgriffen, ergänzte sich ihre Arbeit hervorragend. Allerdings entstand auch häufig eine Art Wettkampf, wer denn schneller die besseren Informationen beschaffen konnte.

„Muss ich sonst noch etwas wissen? Gab es Neuigkeiten bei der Konferenz?“

„Zenzi hat mich Mäuschen genannt“, grinste Isa.

„Autsch! Konnte er den Raum ohne fremde Hilfe auf seinen eigenen Beinen verlassen?“

„Natürlich. Ich schlage keine Schwächeren.“ Das meinte sie ganz ernst.

„Helmut hatte selbst für seine Verhältnisse einen sportlichen Auftritt heute“, brachte Sonja etwas Ernst in das Gespräch. „Irgendwann rastet noch mal einer von uns aus. Eigentlich sollte man ihm das nicht durchgehen lassen.“

„Man kann ihm in der Tat nur eines zugutehalten: Er ist kein Sexist.“ Sonja und Isa holten gleichzeitig tief Luft, um zu widersprechen.

„Moment, lasst mich ausreden! Es ist doch offensichtlich, dass ihm das Geschlecht völlig wurscht ist. Er pampt alle an, egal ob Männlein, Weiblein oder Meerschweinchen.“

„Auch wieder wahr“, räumte Sonja ein. „Allerdings macht das die Sache nicht besser. Gehen wir an die Arbeit?“

* * *

„Dreiviertel, halb, halb, dreiviertel, voll, eins, zwei, drei …“

Fast unhörbar murmelte der Mann auf der Rudermaschine die Anweisungen für die Startschläge vor sich hin, während seine Muskeln sich abwechselnd anspannten und entspannten. Der Rollsite flog über die chromglänzenden Streben und das Zugseil verursachte ein pfeifendes Geräusch.

Obwohl es drei Rudergeräte gab, war um diese frühe Tageszeit nur eines besetzt. Während des Workouts glitt der Blick der Trainierenden über die Tennisplätze vor den großzügigen Fensterfronten eines der exklusivsten Fitnesscenters der Hansestadt. Auf dem Gelände des historischen Klipper Tennis- und Hockey-Clubs war ein Tempel für Körperkultur entstanden, der nahezu alle vorstellbaren Wünsche erfüllte. Natürlich hatte dies seinen Preis, aber dafür blieben die Besucher vor prolligen Posern und Verkäufern zweifelhafter Substanzen bewahrt.

Stefan Weidemann ruderte gleichmäßig wie ein Uhrwerk. Mittlerweile war er zu einem ambitionierten Streckenschlag übergegangen und die ersten Schweißperlen auf dem gut bemuskelten Körper sorgten für einen dezenten Glanz. Als Jugendlicher war er einige Jahre in einem Ruderverein aktiv gewesen und wusste daher, wie gut dieser Sport fast alle Muskelgruppen des Körpers ansprach. Zum Aufwärmen vor dem Gerätetraining nutete er daher immer die Rudermaschine.

Nach 15 Minuten schaltete sich das Gerät selbstständig ab. Weidemann zog das Handtuch, das er über den Rollsite gelegt hatte, hervor und wischte sich Gesicht und Arme ab. Sein Atem ging noch einigermaßen gleichmäßig, was auf einen guten Trainingszustand schließen ließ. Seine ganze Erscheinung bestätigte diesen Eindruck. Der Körper wirkte definiert, aber keinesfalls aufgepumpt. Breite Schultern und ein V-förmiger Rücken verschlankten sich zu einer schmalen Taille mit einem Bauch, an dem kein Fett zu erkennen war. Die Beine unter der Radlerhose waren muskulös, aber schlank. Blondes Haar umrahmte ein Gesicht, das gleichzeitig markant und freundlich wirkte. Die blauen Augen blitzten und verrieten eine Spur Humor, aber gleichzeitig eine gewisse Tiefe der menschlichen Empfindungen. Kurz – Stefan Weidemann war ein Typ, bei dem Frauen schwach wurden und mit dem Männer jederzeit ein Bier trinken würden. Wenn man einbezog, dass der sportliche Eindruck ihn sicher jünger machte, mochte er etwa Mitte vierzig sein.

„Dein Fitness-Drink, Stefan!“

Die Angestellte des Klubs brachte ihm eine Trinkflasche und himmelte ihn dabei so offensichtlich an, dass es schon fast komisch wirkte.

„Danke, Dani!“ Er schenkte ihr ein Lächeln, das ihn sofort mindestens fünf Jahre jünger machte. „Du bist meine gute Fee hier!“

Die Angesprochene schien auf der Stelle dahinzuschmelzen und suchte nach Gründen den Kontakt zu verlängern. „Kann ich vielleicht sonst noch etwas für dich tun?“ Der Augenaufschlag versprach mehr als nur ein Wässerchen oder ein frisches Handtuch. Dabei war sie bestimmt zwanzig Jahre jünger als er.

„Im Moment bin ich wunschlos glücklich!“ Er zwinkerte ihr schelmisch zu und nahm einen Schluck aus der Flasche.

„Wenn etwas ist, ich bin dahinten am Tresen. Du kannst dich jederzeit an mich wenden“, säuselte Dani noch und konnte ihre Augen kaum von seinem straff über der Brust gespannten T-Shirt wenden.

„Weiß ich doch, danke dir!“

Nachdem sie sich widerwillig entfernt hatte, schmunzelte Weidemann still in sich hinein und schlang das Handtuch um seine Schultern. Es tat gut, die Reaktion eines so jungen Mädels zu registrieren. Auch wenn er das unausgesprochene Angebot niemals wahrnehmen würde.

Eine Treppe tiefer wandte er sich den Gewichten zu. Sein Körper war sein Kapital, deswegen investierte er viel Zeit, um ihn in perfektem Zustand zu erhalten. Dabei legte er Wert auf große Ausgewogenheit. Das Ergebnis sollte sportlich, aber nicht übertrieben muskulös aussehen. Daher bevorzugte er maßvolle Gewichte mit eher vielen Wiederholungen. Außerdem machte er regelmäßig Übungen nur mit dem eigenen Körpergewicht, wie Arm- und Seitstütee. Gelegentlich belegte er auch Kurse, mit denen er seine Beweglichkeit trainierte und je nach Wetter drehte er auch regelmäßig seine Laufrunden.

Nach etwa 75 Minuten beendete er seine Übungseinheit und machte sich auf den Weg zum Umkleideraum. Zwischendurch winkte er verabschiedend nach hinten zum Tresen, wo Dani gerade mit einem Tuch nicht vorhandene Flecken wegpolierte. Sie warf ihm eine Kusshand zu.

Der Vorteil des Klubs bestand darin, dass neben den immer aktuellsten Geräten ein Wellnessbereich zur Verfügung stand, der keine Wünsche offenließ. Großzügige Pools, sowohl innen als auch außen, verschiedene Saunen und Ruheräume standen den Mitgliedern zur Verfügung. Weidemann verbrachte meistens mindestens drei Stunden auf der Anlage.

Eine gute Stunde später verließ er den Spa-Bereich und zog sich an. Sein Freizeitlook bestand aus einem modischen T-Shirt, Chinos und Sneakern. Die Sporttasche und eine dünne Jacke warf er sich lässig über die Schulter und sprang entspannt die Treppe hoch in den ersten Stock. Eine breite Doppeltür führte aus dem Fitnessbereich in ein angeschlossenes Restaurant, das sich auf die Bedürfnisse der Sportler eingestellt hatte. Nach kurzem Überlegen entschied er sich für einen Platz auf der Terrasse. Die Frühsommersonne schien gerade so warm, dass es angenehm war. Und natürliche Bräune war deutlich attraktiver als die vom Besuch im Sonnenstudio. Wie gesagt: Sein Körper war sein Kapital. Gesunde Gesichtsfarbe gehörte dazu. In einer immer oberflächlicher werdenden Gesellschaft musste man sich den Zwängen der Trends beugen.

Er bestellte den angebotenen Business-Lunch, bestehend aus gegrilltem Fisch und Salat, Nachtisch und einem Kaffee. Dazu eine große Flasche stilles Wasser. Auch hier wurde er von der Bedienung, einer weiteren aus der schier unerschöpflichen Riege gut aussehender junger Frauen, mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht.

Während er auf das Essen wartete, warf er einen Blick in seinen Terminplaner. Für den Abend war ein Besuch im Schauspielhaus vermerkt. Ansonsten stand der Tag zu seiner freien Verfügung. Stefan Weidemann lehnte sich in den bequemen Lounge-Sessel zurück und wandte sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zu. Er fühlte sich frisch und entspannt. Sein neues Leben gefiel ihm.

* * *

Thomas Bombach stand vor dem Haus in der Martinistraße und holte tief Luft. Im Laufe seiner Jahre bei der Polizei hatte er oft genug den Boten schlechter Nachrichten geben müssen. Eine gewisse Routine hätte man also unterstellen können. trotzdem fiel es ihm immer wieder schwer, die entscheidenden Sätze auszusprechen: “Es tut mir sehr leid, aber Ihr Mann oder Ihre Frau ist tot. Wir müssen leider von einem Verbrechen ausgehen.“ Wie unterschiedlich doch die Reaktionen auf diese stets gleiche Eröffnung ausfielen! Manche Menschen erstarrten förmlich und brauchten Minuten, bis sie wieder zu einem normalen Satz fähig waren. Andere brachen spontan in Tränen aus und waren überhaupt nicht zu beruhigen in ihrem Leid. Das war aus den verschiedensten Gründen der schlimmste Fall. Zum einen besaß der Kommissar durchaus ein ausgeprägtes Empathievermögen. Auf der anderen Seite waren die ersten Stunden einer Mordermittlung oft die wichtigsten. Nahe Angehörige konnten in vielen Fällen wichtige, ja sogar entscheidende Hinweise zur Aufklärung des Verbrechens geben. Waren sie hingegen vernehmungsunfähig, dann verschaffte das dem Täter unter Umständen den Vorsprung, den er brauchte, um wichtige Spuren zu verwischen.

Mit einiger Anstrengung riss sich Bombach aus diesen Überlegungen und drückte auf das Klingelschild mit dem Namen Piel. Vielleicht war ja überhaupt niemand zu Hause.

Der Türöffner summte nachdrücklich und der Kommissar drückte die schwere Holztür energisch auf. Beim Treppensteigen in den zweiten Stock konnte er sich für das Kommende wappnen.

Oben angekommen fand er die Wohnungstür halb offen vor, aber niemanden, der ihn erwartete. Das kam ihm seltsam vor.

„Hallo?“, machte er sich vorsichtig bemerkbar.

„Komm rein, Thomas, ich bin gleich so weit“, klang es munter aus der Wohnung, zusammen mit einigen undefinierbaren Geräuschen. „Willst du noch was trinken? Dann bedien dich in der Küche! Ich komme sofort.“

Bombach schüttelte seine Überraschung ab, als ihm klar wurde, dass der Wohnungsinhaber nicht hellsehen konnte, sondern schlicht einen Namensvetter erwartete.

„Herr Piel?“, versuchte er es daraufhin erneut und trat nur einen Schritt in die Wohnung, um die Tür zu schließen. Es mussten ja nicht alle Nachbarn das folgende Gespräch mitbekommen. „Mein Name ist Bombach von der Kriminalpolizei. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.“

Die seltsamen Geräusche stoppten kurz und setzten dann intensiver wieder ein. Der Kommissar blickte in einen langen Flur, von dem mindestens fünf Türen abgingen. Der Boden bestand aus gediegenem Parkett, die Möblierung war dezent, aber edel und an den hohen Decken prangte blütenweißer Stuck.

Aus der letzten Tür auf der linken Seite erschien ein Mann um die fünfzig mit heller Hose, ebensolchem Poloshirt und einem dunkelblauen Pullunder. Sein Gesicht war tief gebräunt wie bei einem Segler oder jemandem, der sich viel im Freien aufhielt. Hinter sich zog er einen Wagen mit Golfschlägern.

„Wer sind Sie denn und was wollen Sie?“ Der Mann wirkte verunsichert.

Der Kommissar hielt seinen Dienstausweis hoch.

„Mein Name ist Thomas Bombach, Kripo Hamburg. Ich hätte Sie gerne einen Augenblick gesprochen, Herr Piel!“

„Thomas …?“ Piel brach in brüllendes Gelächter aus, wobei sich sein wettergegerbtes Gesicht in unzählige Runzeln legte. Er stellte seine Schläger ab und hatte ganz offensichtliche Mühe sich wieder zu beruhigen.

„Entschuldigen Sie, aber das ist zu komisch“, erklärte er schließlich und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. „Thomas Bombach! Ich habe meinen Golfkumpel Thomas Kasch erwartet; Wir wollten eine Runde spielen. Kommen Sie, kommen Sie rein! Was kann ich denn für Sie tun?“ Bombach folgte dem aufgedrehten Mann in ein modern eingerichtetes Wohnzimmer, das von einem riesigen Flachbildschirm dominiert wurde. Der überraschend große Raum beinhaltete außerdem eine bequeme Wohnlandschaft und einen massiven Esstisch mit acht Stühlen. Farblich dominierten Grautöne, die mit verschiedenen bunten Akzenten etwas aufgelockert wurden. Bombach meinte darin die Handschrift einer Frau zu erkennen.

„Es geht um Britta Piel …“, begann er lahm, denn die emotionale Fallhöhe war durch den fröhlichen Beginn des Gesprächs natürlich angewachsen.

„Was Sie nicht sagen! Hat sie wieder einen Unfall gebaut?“ Piel verzog sein Gesicht in komischer Verzweiflung. „Brittsch ist der lebende Beweis für die Theorie, dass Frauen nicht Auto fahren können …“

„Was hat Bridge denn mit Auto fahren zu tun?“, unterbrach der Kommissar, nunmehr völlig aus dem Konzept geraten.

„So nenne ich meine Frau, Brittsch, das ist ihr Spitename. Von Britta!“ Dann stockte der Mann. Seine joviale Miene verschwand und er runzelte die Stirn, als ob er einen komplizierten Gedanken verfolgte. „Moment mal, Kripo? Sie kommen doch nicht wegen eines blöden Blechschadens? Ist etwas passiert? Hat sie jemanden verletzt?“

„Herr Piel, es tut mir sehr leid …“. Weiter kam er nicht.

„Um Gottes willen! Hat sie etwa jemanden totgefahren?“ Jetzt wirkte Piel erstmals ernsthaft beunruhigt. „Hatte sie getrunken? Nun reden Sie schon!“

Boombach sah keine andere Möglichkeit mehr, als die Sache möglichst geradeheraus hinter sich zu bringen. „Herr Piel, wir haben Ihre Frau heute Morgen tot in einer Wohnung in der Schenkendorfstraße aufgefunden. Alle Indizien weisen darauf hin, dass sie Opfer eines Gewaltverbrechens wurde.“

„Brittsch ist tot?“ Piel klang plötzlich ganz ruhig und beherrscht. „Was ist passiert?“

„Sie wurde vermutlich erstochen.“ Zu vermuten gab es bei rund einem Dutzend Stichverleteungen zwar nichts, aber es hatte sich in der Vergangenheit bewährt, in den ersten Gesprächen mit den Hinterbliebenen eher vage zu bleiben. So ließ man den Menschen Raum, sich stückweise an die brutale Wahrheit zu gewöhnen.

„Erstochen“, wiederholte Piel automatisch. „Warum?“

„Das ist die Frage, die wir uns auch in erster Linie stellen. Allerdings hatte ich die Hoffnung, dass Sie mir bei der Beantwortung helfen könnten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, fügte Bombach rücksichtsvoll hinzu. Offensichtlich war der Mann der Toten jemand, bei dem die Nachricht nur sehr langsam einsickerte. Bisher hatte er nämlich praktisch noch keinerlei Reaktion auf den unerwarteten Tod gezeigt. Oder war er für ihn etwa nicht unerwartet?

„Ich habe keine Ahnung. Und es ist sicher, dass es kein Unfall war? Ich meine … manchmal hat sie eine ganze Menge getrunken und dann hatte sie sich nicht immer ganz unter Kontrolle, wenn Sie verstehen.“

Mit dem Bild der blutüberströmten Toten vor Augen versicherte der Kommissar im Brustton der Überzeugung: „Einen Unfall oder auch einen Suizid können wir definitiv ausschließen. Es gab mit Sicherheit eine Fremdeinwirkung.“

„Aha.“ Piel nahm das zur Kenntnis wie die Diagnose einer Bronchitis. Es schien ihn nicht weiter zu bewegen. „Dann wird es vielleicht einer ihrer Begleiter gewesen sein. Vielleicht gab es Streit oder es ging um Geld – irgendetwas in der Art.“

„Was meinen Sie mit: Begleiter?“

„Wir sind seit 19 Jahren verheiratet. Die erste Zeit war toll und aufregend, dann gewann die Routine die Oberhand. Brittsch konnte keine Kinder bekommen und ich hatte einen Haufen Arbeit mit meiner Agentur. So entwickelten sich unsere Leben auseinander. Sie langweilte sich zu Hause und ich war für ein bisschen Abwechslung auch durchaus aufgeschlossen.“

„Heißt das, dass Sie gewissermaßen eine offene Beziehung führten?“ Bombach musste sich bemühen nicht entsetzt zu klingen. Auch er war schon sehr lange verheiratet, aber er betete immer noch jeden Meter Boden an, den seine Gaby betrat. Und das erst recht, seit er ziemlich spät noch Vater von Zwillingen geworden war. Verhältnisse wie bei den Piels waren ihm schlicht und ergreifend ein Rätsel.

„Wir haben uns arrangiert. In aller Freundschaft, ja sogar Liebe. Uns war klar, dass wir zusammenbleiben wollten. Aber ebenso sehr wünschten wir uns gewisse Freiheiten – beide. Wenn man jemanden hat, mit dem man sich wirklich gut versteht, dann sollte man daran festhalten. Über den Rest kann man reden.“

„Und in Ihrem Fall bedeutet das …?“

„ … dass jeder von uns tun und lassen kann, was er will. Einzige Bedingung: Es findet nicht in unserer gemeinsamen Wohnung hier statt. Die ist nur für uns.“

„Hat das denn funktioniert?“

Piel lächelte. „Ja, spätestens seitdem wir die Wohnung in der Schenkendorfstraße gekauft haben. Hotels sind auf die Dauer keine Lösung.“

„Sie haben gemeinsam eine Wohnung angeschafft, damit Sie bequemer Ihren außerehelichen Vergnügungen nachgehen konnten?“, fragte der Kommissar ungläubig.

„Na klar, das ist doch die ideale Lösung!“

„Gab es denn keine … hm … Überschneidungen?“

Die unzähligen Fältchen erschienen erneut auf Piels Gesicht, als sich seine Mundwinkel verzogen. „Einmal, ganz am Anfang“, lachte er. „Ich kam mit einer Golfbekanntschaft von einem Turnier und genau in dem Moment, als ich die Wohnungstür aufschließe, kommt ein Mann aus der Dusche. Ein äußerst gut gebauter Mann übrigens. Am nächsten Tag haben wir einen Planer eingerichtet, damit das nicht wieder passiert. Einfaches Prinzip: Wer zuerst kommt, kommt zuerst!“

Bombach bemühte sich nach Kräften, nichts von seinem Entsetzen nach außen dringen zu lassen. Er versuchte einen Moment sich vorzustellen, dass er den Kerl, der mit Gaby ins Bett wollte oder das bereits hinter sich hatte, in der Dusche erwischte. Keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde, aber eins konnte er sicher sagen: Einen Monatsplan würde er nicht einrichten. Trotzdem konnte ihm die Information eventuell nützen.

„Für den gestrigen Abend hat also Ihre Frau die Wohnung beansprucht?“

„Ja.“

„War das schon länger geplant oder ist ihr der Gedanke ganz spontan gekommen?“

Piel überlegte eine Sekunde.

„Gestern war Donnerstag, nicht wahr?“

Der Kommissar nickte nur.

„Dann war das ein Standard-Termin.“

„Bitte?“

„Donnerstags ist Escort-Abend.“

Bombachs Gesicht war ein menschgewordenes Fragezeichen.

„Brittsch hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Donnerstag eine Verabredung mit einem jungen Mann vom Escortservice zu treffen. Sehen Sie, wir wollten ja keine Nebenbeziehungen führen, sondern nur unseren Spaß haben. Nun finden Sie mal immer genau dann, wenn Sie Lust haben, einen passenden Partner für eine Nacht. Das klappt mit zunehmendem Alter nicht gerade besser, erst recht als Frau. In solchen Fällen wendet man sich dann an Profis.“

„Klar.“ Der Abgrund, in den er blicken musste, wurde für den altmodischen Ehemann und Zwillingsvater immer tiefer. Die Welt, die sich ihm in Form dieses Paares präsentierte, überstieg seinen Verstand und seine Vorstellungskraft. Das war ja so, als würde er jeden Freitag ins Bordell gehen. Unmöglich! Einmal in seinem Leben – im zarten Alter von 19 Jahren – war er mit zwei Freunden im Puff gewesen. Im Nachhinein war er heilfroh, dass diese Erfahrung bei ihm nicht zu lebenslanger Impotenz geführt hatte. Die Dame, die sich seiner angenommen hatte, war über dreißig und damit nach seinen damaligen Maßstäben steinalt gewesen. Außerdem hatte sie währenddessen Kaugummi gekaut und an ihren Fingernägeln gepult. Und zum krönenden Abschluss hatte sie ihm, als er viel zu schnell gekommen war, auf die Schulter geklopft und was von “braver Junge, so schön abgespritet“ gemurmelt.

Bombach erschauerte bei dem Gedanken. Hastig versuchte er sich wieder in die Realität zurückzukämpfen.

„Gab es da vielleicht eine bestimmte Person oder eine Agentur? Ich würde sehr gerne mit ihrem gestrigen … äh … Besuch sprechen.“

„Warten Sie, ich schau‘ schnell mal nach!“ Piel tippte und wischte zwei Sekunden auf seinem Handy herum, dann glätteten sich seine konzentrierten Gesichtszüge. „Da ist es ja! Gestern war Steve bei ihr. Wollen Sie seine Mobilnummer?“

Jetzt tat sich zur Abwechslung etwas in der Mimik des Kommissars. Die entsprechende Muskulatur schien in spontanen Streik zu treten und entsprechend sackten Mund und Wangen sichtbar herunter. Bombach bekam dadurch einen betäubten und zusätzlich leicht dümmlichen Ausdruck.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Piel klang besorgt.

„Doch, natürlich.“ Der Profi ärgerte sich über seinen Totalausfall. „Entschuldigen Sie bitte! Ich bin es nicht gewohnt, dass mir Kontakte zu potenziellen Verdächtigen einfach so zufallen. Normalerweise ist es sehr viel schwieriger, die entsprechenden Personen ausfindig zu machen.“ Er zückte einen Kugelschreiber und ein Stückchen Papier und notierte die Nummer, die Piel ihm diktierte. „Darf ich fragen, wieso Sie Zugriff auf diese Nummer haben? Ich hätte vermutet, dass Ihre Frau solche Daten etwas diskreter behandelt.“

„Warum denn? Wir haben ja kein Problem mit Eifersucht. Es ist sogar schon vorgekommen, dass wir bestimmte Dinge, die ihre Begleiter mit ihr angestellt haben, selber ausprobiert haben. Das ist doch eine Bereicherung! Und die Nummer steht einfach hier im Belegungsplan der Wohnung.“

„Ich gebe zu: Für mich ist das sehr praktisch. Vielen Dank! Ach, eins noch. Ist reine Routine, ich muss Sie das fragen: Was haben Sie denn gestern Abend gemacht?“

„Warten Sie – erst habe ich im Klub gegessen und bin dann so gegen 20 Uhr in meine Agentur gefahren. Es gab noch einigen Papierkram aufzuarbeiten. Zum Glück kann ich mir die Zeit ja ziemlich frei einteilen. Kurz vor Mitternacht war ich zu Hause und bin auch gleich ins Bett gegangen.“

„Allein, nehme ich an?“

„Natürlich, so lautet doch unsere Abmachung!“

„Und in der Agentur? Waren da noch Angestellte, die Sie gesehen haben?“

„Nein, meine Mitarbeiter haben das Privileg einigermaßen planbarer Arbeitszeiten. So ist es mit der Selbstständigkeit: Man arbeitet selbst und ständig!“

Piel schien in keiner Weise beunruhigt über die Fragen nach seinem Alibi. Entweder war er unschuldig oder er hatte sich gut auf diesen Besuch vorbereitet.

„Was für eine Agentur betreiben Sie denn?“

„Sehr unspektakulär: Versicherungen! Bei der geradezu sprichwörtlichen Angst der Deutschen vor allen Dingen, die theoretisch irgendwann einmal passieren könnten, ist das zum Glück ein ziemlich krisensicheres Geschäft. Vermutlich gibt es einen Haufen Leute, denen es deutlich schlechter geht als mir.“

Der Mann der Ermordeten plauderte ungezwungen und geradezu zwanghaft fröhlich vor sich hin, fand Bombach. War das in den Genen eines Versicherungsheinis so tief verankert, dass es die Trauer über den plötzlichen Verlust total überdeckte, oder war es mit seiner Trauer gar nicht so weit her? Lag das daran, dass er bereits wusste, dass seine Frau tot war? Weil er nämlich etwas damit zu tun hatte?

„Hatten Sie beide oder Ihre Frau vielleicht Feinde? Menschen, denen zuzutrauen wäre eine so drastische Tat zu begehen?“

„Ja und nein.“ Piel sah die verwirrte Miene seines Gegenübers und erklärte sich genauer. „Feinde hat wohl jeder Mensch. Ich bin sicher, es gibt sogar Typen, die auf den Dalai Lama schlecht zu sprechen sind. In meinem Fall wären das unzufriedene Kunden, andere Agenturen, denen ich die Leute abgeworben habe oder Konkurrenten beim Golf, die nicht verlieren können. Bestimmt habe ich noch etliche vergessen. Aber würde so jemand einen Mord begehen? Ich glaube nicht. Und Brittsch war ein herzensguter Mensch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie jemanden so gegen sich aufbringen könnte, dass er zu derart drastischen Mitteln greifen würde.“ Wieder so eine sachliche Analyse! Bombach wurde aus dem Mann und seiner Beziehung zu der Toten nicht schlau. Wenn ihm jemand den Tod von Gaby verkünden würde, dann sähe seine Reaktion aber diametral entgegengesetzt aus! Unvorstellbar! Das durfte nie passieren! Wie sollte er allein die beiden Kleinen großziehen? Bei seinem Beruf war das doch völlig unmöglich!

„ …, Herr Kommissar?“

„Bitte? Entschuldigen Sie, ich war wohl ein bisschen in Gedanken, Herr Piel. Was haben Sie gerade gesagt?“

„Ich wollte wissen, ob das erst einmal alles war. Wenn ich heute noch 18 Löcher spielen will, dann muss ich langsam mal meine Bickbeeren zusammenpacken. Mein Freund müsste auch jeden Moment eintreffen.“ „Natürlich.“ Bombach fand mit viel Mühe zurück in die Spur. „Hier, meine Karte. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Ich habe bestimmt noch mehr Fragen an Sie, aber das hat noch Zeit. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Offenheit und Mithilfe! Und noch einmal mein Beileid zum Tod Ihrer Frau. Ich bewundere die Haltung, mit der Sie die Nachricht aufgenommen haben.“

„Danke. Durchdrehen nützt ja nichts, oder? Das Leben geht weiter, so oder so. Seinem Schicksal kann niemand entkommen. Das ist der Lauf der Dinge, ob wir es wollen oder nicht. Hat mich gefreut, Herr Kommissar!“

Bombach winkte zum Abschied und stürmte zurück ins Treppenhaus. Wenn er sich noch eine weitere dieser Plattitüden hätte anhören müssen, dann wäre ihm die Currywurst wieder hochgekommen. Was war dieser Piel nur für ein seltsamer Mensch?

Als er die Haustür öffnete, sah er, wie ein schneeweißes BMW-Cabrio mit Schwung auf den Bürgersteig einbog und dort parkte. Selbstverständlich ordnungswidrig. Ein Mann, der fast wie ein Klon von Piel wirkte – helles Poloshirt mit passender Hose, Pullunder, dieses Mal in dunkelgrau statt blau, und sonnengebräuntes Gesicht – stieg schwungvoll aus und kam mit federnden Schritten zum Eingang. Wenn er sich über den Mann wunderte, der ihm entgegenging und ihn dabei anstarrte, so ließ es sich der Freund von Piel nicht anmerken. Er nickte kurz und freundlich im Vorbeigehen und verschwand im Haus.

„Ich bin mal gespannt, wohin dieser Fall noch führt“, murmelte Bombach kopfschüttelnd und suchte in der Hosentasche nach seinem Autoschlüssel. Als Nächstes würde er an einem Blumenladen anhalten. Und heute würde es nicht der fertige Frühlingsstrauß werden, sondern rote Rosen. Das fand er angemessen.

* * *

Die Küche war klein, aber gemütlich. Am Herd hantierte eine Frau mit geübten Bewegungen und füllte aus zwei Töpfen und einer Pfanne Essen auf die Teller.

„Leon! Essen ist fertig!“ Sie rief über ihre Schulter, ohne auf eine Reaktion zu warten. Die dampfenden Teller stellte sie auf einen kleinen Esstisch, der gerade noch Plate zwischen Küchenzeile und Tür hatte. Aus der Besteckschublade fischte sie zweimal Messer und Gabel und aus dem Hängeschrank darüber holte sie zwei schlichte Gläser, in die sie Mineralwasser füllte.

„Was gibt es denn, Mama?“, klang eine helle Kinderstimme aus dem Flur.

„Mach noch fünf Schritte und guck es dir selber an! Es steht schon auf dem Tisch.“ Sie verschob die Töpfe auf dem Ceranfeld so, dass sie nicht mehr vollständig auf den heißen Platten standen. So würde mit der Restwärme nichts anbrennen.

„Mmh, Bratwurst!“ Ein etwa zwölfjähriger Junge mit auffallend blondem Haar lümmelte sich auf einen Stuhl und schob die Unterarme auf den Tisch. „Aber warum so viel Brokkoli?“

„Damit du auch ein bisschen gesundes Gemüse zu dir nimmst. Man kann den essen, auch wenn er grün ist!“

„Wenn’s sein muss …“

„Und nimm die Arme vom Tisch!“

„Ja, ja.“ Widerwillig bewegte er sich um wenige Zentimeter.

„Los, anständig!“ Sie piekte ihn leicht mit der Gabel in den störrischen Unterarm.

„Menno!“ Immerhin brachte die Aktion einige wenige weitere Zentimeter an Raumgewinn. „Gibt es keinen Ketchup?“

„Im Kühlschrank. Wenn du welchen willst, dann hol ihn dir.“

„Schon gut. Ich will gar keinen.“

Es war immer wieder faszinierend, wie unvorstellbar schwer und unzumutbar es für ein präpubertäres Kind war drei Schritte zurückzulegen. Sollte es hingegen nach zwei Stunden intensiven Fußballspiels nach Hause gehen, gab es zwanzig Minuten lang Widerworte – man habe doch gerade erst angefangen, das Spiel müsse unbedingt noch beendet werden und er wäre noch überhaupt nicht müde.

„Hast du viele Hausaufgaben auf?“

„Nö.“

„Was denn?“

„Alles schon erledigt.“

„Aber du bist ja erst eine Viertelstunde zu Hause!“

„Trotzdem.“

„Und wie war es in der Schule?“

„Gut.“

Leon schnitt seine Bratwurst in handliche Stücke und stopfte das erste gleich mit den Fingern in den Mund. Die Mutter seufzte innerlich. Ihr Sohn war ein lieber Kerl, der den Umständen entsprechend echt wenig Probleme machte, aber zwei Dinge konnten sie jeden Tag wieder in den Wahnsinn treiben. Zum Thema Schule war er verschlossen wie eine Auster und mit den ganz normalen menschlichen Umgangsformen stand ihr Sohn ausgesprochen auf Kriegsfuß.

„Kannst du bitte die Gabel benutzen?“

„Mit den Fingern schmeckt es besser.“

„Aber mit der Gabel sieht es schöner aus und außerdem bekommt man dann keine fettigen Finger.“

„Ach so.“ Gedankenverloren wischte er seine Finger an der Hose ab.

„Leon!“

„Was ist?“

„Man wischt seine Finger nicht an der Hose ab!“

„Warum nicht?“

„Erstens geht Fett ganz schlecht wieder raus und zweitens nimmt man dafür eine Serviette oder wenigstens ein Küchentuch. Hol dir ein Zewa!“

„Brauch’ ich nicht. Jetzt sind die Finger ja sauber.“

Die Mutter atmete dreimal tief ein und aus und dachte an einen Sonnenuntergang über dem Meer. Manchmal half das. Das Problem war nicht, dass ihr Sohn schlecht erzogen war. Er wusste ganz genau, wie man sich zu benehmen hatte. Das bestätigten ihr immer wieder die Mütter seiner Freunde, bei denen er regelmäßig zu Besuch war. Dann beteiligte er sich sogar unaufgefordert daran den Tisch abzuräumen! Was würde sie dafür geben, auch einmal in den Genuss einer derartigen Serviceleistung zu kommen. In der heimischen Wohnung schien dieses Wissen um Höflichkeiten und Gepflogenheiten aus ihrem Sohn herauszufließen wie Wasser aus einem Sieb. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass ein Donnerwetter auch nicht wirklich half, dafür aber nachhaltig die Stimmung verdarb. Manchmal wünschte sie sich, dass er wieder ein Jahr alt wäre.

„Papa kommt gleich und unternimmt etwas mit dir. Trödel also nicht so rum!“

„Echt? Cool!“

Jetzt schaufelte er mit Feuereifer Kartoffelbrei und sogar Gemüse in seinen Mund, wobei nicht zu erkennen war, dass er auch mal kaute oder gar etwas herunterschluckte. Folglich blähten sich lediglich seine Backen bis kurz vor dem Plateen auf.

„Leon!“, begann sie, stellte ihre pädagogischen Bemühungen aber umgehend wieder ein, als sie bemerkte, worauf sie hinausliefen.

„Was?“, versuchte der Sohn an dem Speisebrei in seinem Mund vorbeizuquetschen, was technisch nicht möglich war. Folglich geschah, was passiert, wenn man die Öffnung eines laufenden Betonmischers nach unten dreht. Eine Masse, in diesem Fall grün-gelb, lief das Kinn des Jungen hinab und tropfte auf den Tisch. Aber er hatte die Situation im Griff und wischte sich den Mund mit dem Handrücken sauber. Dann schob er den Teller beiseite, schlang herunter, was noch im Mund war, und streckte dann eine gut belegte Zunge heraus, um den Tisch abzulecken.

„Mensch, Leon!“, schrie die Mutter nun doch, weil ein Punkt einfach überschritten war. Es kam jedoch zu keinem echten Familiendrama, denn in diesem Moment klingelte es an der Tür. Dankbar verließ sie die Küche.

„Hallo Anja!“

„Hallo Stefan.“

„Ist irgendetwas? Du siehst so angespannt aus!“

Sie seufzte und schüttelte abweisend den Kopf. „Nichts, es ist nichts. Nur der ganz normale Erziehungswahnsinn. Komm rein, wir sind gerade mit Essen fertig.“

Sie ging vor in die Küche.

„Leon, dein Vater ist da. Bist du fertig?“

„Hallo Papa!“ Voller Begeisterung sprang der Junge in Stefans Arme und wurde von ihm im Kreis gewirbelt, wobei Geschirr und Möbelstücke in erhebliche Gefahr gerieten.

„Moin, mein Großer! Alles klar bei dir?“ Vorsichtig stellte er das Kind wieder auf die eigenen Füße.

„Logo. Was machen wir denn heute?“

„Das Wetter ist so schön. Ich dachte, dass wir in den Stadtpark gehen und ein bisschen kicken könnten. Und danach gönnen wir uns ein Stück Kuchen und ’ne Limo. Was hältst du davon?“

„Klasse! Soll ich meinen Ball holen?“

„Aber unbedingt! Und zieh dir Sportzeug an, damit du dir nicht die gute Hose einsaust.“

„Mach‘ ich, Papa. Ich beeile mich!“ Leon sauste aus dem Zimmer. Sein Geschirr blieb natürlich auf dem Tisch stehen.

„Wann seid ihr zurück?“, erkundigte sich die Mutter.

„Spätestens um sechs. Ich muss noch arbeiten heute Abend.“

„Arbeiten, aha.“ Sie kniff die Lippen zusammen und begann den Tisch abzuräumen.

„Worüber habt ihr gestritten?“, fragte er.

„Tischmanieren. Heute war wieder Steinzeit-Tag. Wenn ich nicht wüsste, dass er sich bei anderen tatsächlich benehmen kann, würde ich glatt verzweifeln. Wie kann es sein, dass er bei mir alles, aber auch alles vergisst?“

„Du musst es andersherum sehen, Anja. Statt dich zu ärgern, dass er sich bei dir gehen lässt, solltest du dich freuen, dass er anderswo als wohlerzogen durchgeht.“

Sie holte tief Luft. „Wahrscheinlich hast du recht. Aber wenn du jeden Tag mit ihm verbringst, dann schaffst du das nicht immer.“

„Das verstehe ich. Du solltest dir vielleicht nur öfter sagen, dass wir einen tollen Jungen haben. Oder besser: Sag es ihm! Er leidet doch auch unter der Situation. Bestimmt hätte er seinen Vater gern ständig um sich.“ „Tja, Stefan, das hättest du dir früher überlegen sollen, oder?“

„Ich will nicht mit dir streiten, aber ich war und bin jederzeit bereit, ganz für meine Familie da zu sein.“

Bevor sie etwas sagen konnte – und sie wollte etwas entgegnen! – stürmte Leon wieder in die Küche. Er trug das braun-weiße Fußballtrikot von seinem Lieblingsverein St. Pauli und eine graue Trainingshose. Auf dem Kopf prangte ein – natürlich braun-weißes – Käppi und unter den Arm hatte er sich einen Fußball geklemmt.

„Ich bin fertig, wir können los!“, pustete er völlig außer Atem. Er hatte sich in Rekordzeit umgezogen. Vermutlich lagen die Sachen, die er ausgezogen hatte, in seinem Zimmer auf dem Boden verstreut.

„Alles klar, dann los! Gib deiner Mama zum Abschied einen Kuss!“

Etwas widerwillig, aber gehorsam erledigte Leon diesen Auftrag und rannte dann zur Wohnungstür.

„Bis nachher“ verabschiedete sich Stefan und berührte sie zart an der Schulter. Seine Geste deutete an, dass er ebenfalls einen Abschiedskuss plante, aber sie wich zurück und schüttelte den Kopf. „Ja, bis später.“ Sie drückte die Wohnungstür hinter ihm zu, lehnte sich dagegen und schloss die Augen. Die polternden Schritte der beiden auf den alten Stufen klangen durch das Holz. Es tat zuweilen weh, wenn sie sah, wie gut sich Vater und Sohn verstanden. Stefan besaß eine Ruhe und ein Verständnis im Umgang mit Leon, die sie bewunderte. Aber natürlich hatte er den gnadenlosen Vorteil des Teilzeitpapas. Das Leben war einfach ungerecht!

Von der Henry-Budge-Straße nördlich des Ring 2 waren es nur ein paar hundert Meter bis zum Stadtpark. Die grüne Lunge Hamburgs bot jedem etwas an Freizeitmöglichkeiten. Praktisch rund um die Uhr waren Jogger unterwegs. Familien bevölkerten die Wiesen und Spielplätze, Rentner sonnten sich auf den unzähligen Bänken – kurz, der Park war eine Oase für jedermann.

Vater und Sohn fanden schnell ein geeignetes Stück Wiese und markierten zwei Tore in etwa fünfzehn Metern Abstand.

„Du bist der HSV und ich bin St. Pauli“, bestimmte Leon und schnappte sich den Ball. Er überrumpelte damit seinen Vater und umkurvte den Verblüfften ohne Anstrengung. Nach wenigen Sekunden hatte das Spielgerät die Torlinie überschritten.

„Tooooor, 1: 0 für den FC St. Pauli!“, jubelte der Schütee und rutschte ziemlich professionell auf den Knien Richtung imaginärer Fankurve. „Torschütee: Leon … WEIDEMANN!“ Dafür, dass er allein zu hören war, schaffte er ziemlich gut die Simulation eines ganzen euphorisierten Stadions, das seinen Helden feierte.

„Na warte!“ Sein Vater legte sich den Ball zurecht und versuchte sich optimistisch an einem Übersteiger. Dann umdribbelte er Leon erfolgreich, rannte zum Tor – und schoss knapp vorbei. Mit hängenden Schultern wandte er sich zu seinem Sohn.

„Der nächste sitet aber!“

„Ich hab’ Abstoß!“, verkündete Leon und zog gleich einen Spurt an, der nach einigen Haken zum 2: 0 führte. Dieses Mal führte er den Torjubel als komplizierte Tanzeinlage aus und schloss damit, dass er mit beiden Daumen auf seine Rückennummer deutete.

Stefan applaudierte fair und machte sich für den nächsten Angriff bereit.

Anderthalb Stunden später saßen sie im Café Sommerterrassen und Leon verdrückte bereits sein zweites Stück Torte.

„Hamburg ist braun-weiß!“, verkündete er mit vollem Mund. „Der HSV ist vernichtend geschlagen.“

„13: 11 finde ich jetzt nicht unbedingt vernichtend“, schmunzelte Stefan, der nur einen Latte Macchiato und ein Glas Wasser vor sich stehen hatte. „Aber trotzdem Glückwunsch zum verdienten Sieg!“

„Danke!“ Geräuschvoll sog Leon an seinem Strohhalm. Als er die hochgezogenen Brauen seines Vaters sah, machte er ein schuldbewusstes Gesicht. „’tschuldigung!“

„Immerhin fällt es dir auf. Ein gutes Zeichen.“ Stefan zwinkerte ihm zu. Der Junge verputzte sein zweites Tortenstück in Rekordzeit und wischte sich anschließend sogar die Finger an der Serviette ab. Dann starrte er eine Weile auf seinen Teller.

„Bist du etwa immer noch hungrig?“

„Nein.“ Pause. „Papa? Kann ich dich mal was fragen?“

„Klar, Sohnemann. Alles!“

„Du und Mama – warum wohnt ihr eigentlich nicht zusammen?“

„Das ist eine schwierige Frage.“ Die er allerdings früher oder später erwartet hatte.

„Ihr seid aber doch nicht geschieden oder so?“

„Nein, wir sind noch verheiratet. Aber wir leben getrennt. Und du bist unser wichtigster gemeinsamer Berührungspunkt, weil wir beide möchten, dass dir nichts fehlt.“

„Warum seid ihr dann getrennt?“

Stefan erkämpfte sich einen Moment zum Überlegen, indem er seinen Latte sorgfältig auslöffelte.