Staller und der Pate von Hamburg - Chris Krause - E-Book

Staller und der Pate von Hamburg E-Book

Chris Krause

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Beschreibung

Mitten auf der Reeperbahn wird der Boss der Hounds of Hell mit drei Schüssen hingerichtet. Der Rockerklub beherrscht den Kiez, sein Geschäft sind Drogen, Waffen und Prostitution. Arbeitet der Mörder für die Konkurrenz? Gibt es klubinterne Querelen? Eisernes Schweigen der Outlaws behindert die Ermittlungen von Kommissar Bombach. Und auch Polizeireporter Mike Staller tappt lange im Dunkeln. Nach einem Überfall auf das Klubhaus überschlagen sich jedoch die Ereignisse. Staller, seine Tochter Kati und die junge Kollegin Isa geraten plötzlich zwischen alle Fronten. Der Killer war ein Profi, der keine verwertbaren Spuren hinterlassen hat. Die unzähligen Zeugen auf Hamburgs Amüsiermeile haben lediglich zwei Männer auf einem Motorrad gesehen, das später in einem Gebüsch gefunden wird. Mithilfe des ehemaligen Zuhälters Daddel-Gerd, einer Legende auf St. Pauli, deckt Staller Stück für Stück einen Plan auf, der weit über den Tod des Rockers hinausreicht. Volontärin Isa, die sich mit einem jungen Mann aus dem Klub angefreundet hat, wittert eine Topstory und lässt sich in die verbrecherischen Machenschaften hineinziehen. Plötzlich ist Kati, die Tochter von Staller, verschwunden und Mike muss um ihr Leben bangen. Eine Geschichte voller Spannung, die noch gesteigert wird, als Staller in eine psychische Ausnahmesituation gebracht wird. Der übliche launige Wettkampf zwischen dem Reporter und dem Kommissar um die besseren Ermittlungsergebnisse wandelt sich zu einer Angelegenheit auf Leben und Tod.

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STALLER UND DER PATE VON HAMBURG

Bisher in diesem Verlag erschienen:

Staller und der Schwarze Kreis

Staller und die Rache der Spieler

Staller und die toten Witwen

Staller und die Höllenhunde

Staller und der schnelle Tod

Staller und der unheimliche Fremde

Staller und die ehrbare Familie

Staller und der Mann für alle Fälle

Mike Staller schreibt bei Facebook unter:

Michael „Mike“ Staller

Chris Krause

Staller und der Pate von Hamburg

Mike Stallers neunter Fall

© 2020 Chris Krause

Autor: Chris Krause

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreihe 42, 22359 Hamburg

ISBN

978-3-347-16818-3 (Paperback)

978-3-347-16819-0 (Hardcover)

978-3-347-16820-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Ampel sprang auf Rot um.

Der Fahrer des auffälligen weißen Bentleys war mit der Regelung des Verkehrsflusses offenbar vertraut, denn er rollte gemächlich an die Haltelinie heran. Sein Fenster war herabgelassen und er hatte einen muskulösen Arm lässig auf die Tür gelehnt. Der Hamburger Sommer zeigte sich von seiner angenehmen Seite und warme, aber nicht heiße Luft drang durch die Öffnung. Gleichzeitig ließ sich so die Atmosphäre dieses pulsierenden Viertels erfahren. St. Pauli schlief selten und um 23 Uhr schon gar nicht. Hier an der Reeperbahn, Ecke Hein-Hoyer-Straße, waren so viele Menschen unterwegs wie zur Geschäftszeit in der Mönckebergstraße.

Irgendwo spielte ein Musiker alte Dylan-Songs auf der Gitarre und sang dazu mit einer rauen, aber seelenvollen Stimme. Neonreklamen blinkten aufdringlich und ein Koberer warb heiser für Genüsse, die sich kein Mann entgehen lassen dürfe. Ein alter Mann saß auf einer Pappe und hatte vor sich zwei Plastikbecher stehen. In dem einen befand sich ein dunkles Getränk, möglicherweise Kaffee oder auch Cola-Whisky. In dem anderen lagen einige Münzen. Mit unaufdringlicher Lautstärke bat der Mann Vorbeieilende um ein wenig Kleingeld, während er gedankenverloren den Kopf eines struppigen Mischlingshundes streichelte, den dieser vertrauensvoll in den Schoß des Alten gelegt hatte.

Es gab unendlich viel zu beobachten und zu bestaunen, aber die schiere Fülle des Angebots verhinderte, dass irgendjemand einen umfassenden Gesamteindruck bekommen konnte. Kaum hatte das Auge ein spannendes Ziel gefunden, so wurde es schon von einem neuen, ebenso interessanten Eindruck abgelenkt.

Neben den Bentley, der auf der rechten der beiden Fahrspuren stand und weiter auf Grün wartete, schob sich ein Motorrad. Es handelte sich um eine große Reisemaschine von BMW mit grobstolligen Reifen und einem Topcase aus Aluminium auf dem Gepäckträger. Zwei Gestalten saßen auf der Maschine und waren in schwarzes Leder mit bunten Werbeaufdrucken gekleidet. Integralhelme mit getöntem Visier vervollständigten das Bild. Der Fahrer stellte das rechte Bein auf den Boden, ließ den linken Fuß jedoch auf der Schaltwippe. Der Sozius hatte den Fahrer von beiden Seiten umfasst, lockerte seinen Griff jedoch, als das Motorrad stand.

Linker Hand trat ein Polizist aus der legendären Davidswache und ließ seinen Blick über den Spielbudenplatz schweifen. Ob er nur frische Luft schnappen wollte oder ob er einen Rundgang plante, um Präsenz zu zeigen, blieb noch unklar. Er stand einfach da, sah sich um und ließ die Eindrücke des lauen Abends auf dem Kiez einsickern. Eine alte Frau mit gebeugten Schultern und einem offenbar schweren Einkaufsnetz nickte grüßend in seine Richtung und er legte als Antwort die rechte Hand salutierend an den Mützenrand. Diese kleine, menschliche Szene hätte sich ebenso vor der Wache eines niederbayrischen Dorfes mit 500 Einwohnern abspielen können und nicht im Zentrum einer Millionenmetropole. Ein tiefer Frieden ging von dieser kurzen Sequenz aus. Man kannte sich, man respektierte sich und man gab aufeinander acht.

Der Sozius auf dem Motorrad lehnte sich nach hinten gegen das Topcase. Er warf einen beiläufigen Blick nach rechts durch das geöffnete Fenster des Bentleys. Der Fahrer des Wagens hatte den Blick auf die Ampel gerichtet. Offenbar erwartete er jeden Moment, dass er bei Grün seine Fahrt fortsetzen konnte.

Aus seiner Lederjacke zog der Sozius auf der BMW einen dunklen Gegenstand und richtete ihn auf das Autofenster. Dreimal ertönte ein dumpfes Geräusch, das wie ein unterdrücktes Husten klang. Niemand nahm davon Notiz. Zu intensiv war die Geräuschkulisse hier im Herzen von St. Pauli.

Die Ampel wechselte auf Grün.

Der Fahrer der schweren BMW trat den Schalthebel herunter und beschleunigte moderat. Nach wenigen hundert Metern betätigte er ordnungsgemäß den Blinker und bog links in eine Nebenstraße Richtung Fischmarkt ab.

Ein Mann am Steuer seines staubigen Kleinwagens trommelte verärgert auf das Lenkrad. Es war immer dasselbe! Wer eine genügend große – und teure – Karre fuhr, der glaubte, dass er damit auch die Verkehrsregeln bestimmen durfte. Abbiegen ohne Blinker? Natürlich! Grundloses Abbremsen? Klar doch! Einfach an der grünen Ampel stehen bleiben, weil man noch nicht fertig mit seinem Handy ist? Sicher, das macht der Kerl da in seinem Angeber-Auto, ohne auch nur einen Gedanken an die übrigen Verkehrsteilnehmer zu verschwenden!

Wütend drückte der Mann hinter dem Bentley auf die Hupe. Erwartungsgemäß beeindruckte es die Schlafmütze vor ihm nicht.

„Wenn du glaubst, du kannst dir alles erlauben, nur weil du Geld scheißen kannst, dann werde ich dir mal meine Sicht auf diese Dinge erläutern“, schäumte der Fahrer und löste seinen Gurt. Er würde diesem Penner jetzt eine Lektion erteilen! Hoffentlich war es so ein widerlicher, fetter Krawattenträger, die hatte er besonders gefressen.

Während er die paar Schritte nach vorne machte, registrierte der Mann, dass auch die klangvolle Hupe des Bentley ertönte.

„Ist der bescheuert?“, knurrte er. „Ganz vorne vor der grünen Ampel stehen und hupen-der merkt doch nix mehr!“

Kopfschüttelnd erreichte er die Fahrertür und hatte sich schon eine passende Bemerkung zur Eröffnung ihres Gesprächs bereitgelegt, als sein Blick durch das geöffnete Fenster ins Wageninnere fiel. In Sekundenbruchteilen war die Woge seiner Empörung verebbt und machte einer ausgeprägten Fassungslosigkeit Platz. Sein Gehirn schaffte es nicht, aus den Informationen, die das Auge ihm vermittelte, eine angemessene Einschätzung der Situation zu erarbeiten. Es bekam nur eine unzusammenhängende Reihe von einzelnen Bildern mit, die offenbar völlig willkürlich aneinandergereiht wurden.

Der Fahrer des Bentley war mit dem Kopf auf das Lenkrad gesackt. Sein Blick ging in Richtung der Tür.

Bei der Inneneinrichtung handelte es sich ganz offensichtlich um eine Sonderanfertigung nach einem sehr speziellen Kundenwunsch. Das Interieur war nahezu vollständig in einem so hellen Creme-Farbton gehalten, dass es fast weiß wirkte. Nur minimale Wurzelholz-Akzente durchbrachen die sterile Farbgebung.

Drei Löcher gehörten definitiv nicht in den Kopf des Fahrers. Eins über dem Auge, eins über dem Ohr und eins im Hals.

Der Kerl war ganz sicher kein fetter Geschäftsmann. Er trug zwar ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln, aber die Masse an Tattoos auf Armen vom Format Schwergewichtsboxer erzählte eine andere Geschichte.

Das dunkle Rot von ausgetretenem Blut hatte Teile der makellosen Ausstattung des Continental GT für immer versaut.

Irgendetwas stimmte nicht mit der Scheibe auf der Beifahrerseite.

An diesem Punkt seiner Beobachtungen drehte der Mann aus dem Kleinwagen sich zur Seite und kotzte zwei Hamburger, eine mittlere Pommes und eine kleine Cola auf die linke Fahrbahnhälfte der Reeperbahn.

***

„Das ist wundervoll!“

„Findest du, Helmut? Echt jetzt?“

Polizeireporter Mike Staller sah seinen Chef vom Dienst kopfschüttelnd an.

„Natürlich!“ Das normalerweise mürrische und überhebliche Gesicht von Helmut Zenz erstrahlte in euphorischem Glanz. „Eine Hinrichtung auf offener Straße! Einer-oder vielleicht der-Herrscher über St. Pauli einfach ausgelöscht. Das kann doch nur der Anfang sein! Entweder er hatte Ärger mit den eigenen Leuten oder die Konkurrenz will die Verhältnisse neu sortieren. In jedem Fall bedeutet das mit großer Wahrscheinlichkeit Krieg um den Kiez. Ich freu’ mich!“

Staller seufzte innerlich. Zenz mochte ein äußerst kompetenter Journalist sein, aber um seine menschlichen Qualitäten stand es schlecht. Ausgestattet mit dem Empathievermögen eines Backsteins gehörte der Chef vom Dienst eigentlich in sein Büro gesperrt und von allen Begegnungen mit echten Menschen abgeschirmt.

„Mal abgesehen davon, dass deine Schlussfolgerungen zum jetzigen Zeitpunkt rein spekulativ sind, bleibt die Tatsache, dass ein eiskalter Killer in Hamburg herumläuft, der sein Opfer skrupellos auf offener Straße niedergeschossen hat. Das macht den Menschen Angst und ich finde das nachvollziehbar. “

„Ja, ja“, wiegelte Zenz ab und spielte das Bildmaterial erneut ab. „Um ängstliche Omis soll sich Aktenzeichen XY kümmern. Für “KM -Das Kriminalmagazin“ zählen starke Geschichten mit eindrucksvollen Bildern! Schau nur hier – das auf dem Beifahrerfenster müssten Knochensplitter und Hirnmasse sein. Der Täter hat Spezialmunition benutzt. Die rechte Schädelseite des Toten ist praktisch nicht mehr existent. Da wollte jemand ganz sichergehen, dass der Anschlag auch wirklich gelingt.“

Mike Staller wandte seine Augen vom Monitor ab. Es hatte ihm gereicht, die Bilder einmal zu sehen, die das Kamerateam für “KM“ gedreht hatte. Sie waren ungewöhnlich vollständig, detailliert – und seiner Meinung nach zumindest teilweise unsendbar. Ein seriöses Kriminalmagazin musste keine Austrittswunden von Explosivmunition zeigen. Bestimmte Grenzen durften einfach nicht überschritten werden.

„Ich will dir deine Freude nicht nehmen, Helmut, aber die Hälfte der Aufnahmen können wir unseren Zuschauern nicht zumuten. Was machen wir also daraus? Heute Abend ist schließlich Sendung. Das Thema dürfte sogar in den Nachrichten aufgegriffen werden.“

„Eben, eben! Das zwingt uns förmlich dazu, unsere besten Bilder ins Rennen zu werfen. Wir müssen uns abheben!“

„Aber nicht, indem wir Zombie-TV machen. Ich werde sehen, dass ich noch möglichst viel Hintergrundinformationen bekomme, dann können wir vielleicht ein bisschen mehr liefern als die Tagesschau.“

„Und ich kümmere mich um weiteres Bewegtmaterial von Joschi. Der hat so viel Dreck am Stecken, da muss es einfach noch Bilder geben.“ Zenz versprühte Optimismus wie ein Parfümzerstäuber Wohlgeruch in der Drogeriefiliale.

Lajos „Joschi“ Saleh war ein Mann mit einer schillernden Vergangenheit. Der Sohn einer Ungarin und eines Afghanen war in Deutschland geboren worden und ging nach der Schule zur Bundeswehr. Dort ließ er sich zum Scharfschützen ausbilden und diente unter anderem in der Heimat seines Vaters.

Zurück in Deutschland beschritt er andere Wege. Offiziell betätigte er sich nach seiner Bundeswehrzeit im Im- und Export, faktisch schloss er sich einer Rockergruppe namens Hounds of Hell an, bei der er dank seiner vielseitigen Fähigkeiten schnell aufrückte. Wenig überraschend nahm er im Berliner Chapter des Klubs den Posten des Sergeant of Arms ein. Sein Name fiel häufig, wenn es um ungeklärte Todesfälle in den Reihen der Konkurrenz ging, beweisen konnte man ihm hingegen nichts. Ein paar geringfügige Vergehen bescherten ihm zwar einen kurzen Aufenthalt im Gefängnis, aber angesichts der Dinge, die ihm zugeschrieben wurden, waren das Peanuts.

„Wann ist Joschi nach Hamburg gekommen? Vor drei Jahren etwa, oder?“ Der Reporter kratzte sich nachdenklich am Kinn.

„Etwa zwei Monate nachdem du die Hamburger Spitze der Hounds in den Knast geschickt hast“, bestätigte Zenz. „Im Grunde bist du also schuld.“

Staller hatte sich damals undercover bei dem Rockerklub eingeschlichen und das Kunststück fertiggebracht, die gesamte Führungsspitze samt ausreichender Beweise für ihre Verbrechen in die Hände der Polizei zu liefern. Das Hamburger Chapter der Hounds of Hell stand kurz vor dem Aus, als Joschi aus Berlin zur Unterstützung kam, um die restlichen Mitglieder zusammenzuhalten. Das war ihm so ausgezeichnet gelungen, dass die Hamburger Hounds ihre Vormachtstellung nicht nur sichern, sondern sogar ausbauen konnten. Ein letzter Versuch der Night Devils im letzten Jahr, auf dem Kiez Fuß zu fassen, war nach kurzer, aber umso blutigerer Auseinandersetzung abgeschmettert worden. Seitdem gehörten die einzigen Kutten, die offen in St. Paulis Gassen getragen wurden, ausschließlich den Hounds of Hell.

„Zugegebenermaßen habe ich nicht damit gerechnet, dass die Kerle den Verlust der kompletten Führung so unbeeindruckt wegstecken. Aber wer konnte auch ahnen, dass ein einzelner Mann von außerhalb derart viel erreicht.“

In den Worten des Reporters schwang eine gewisse Anerkennung mit. Auch wenn er die Taten des Klubs an sich und die des Toten im Besonderen zutiefst verabscheute, musste er einräumen, dass Joschi bei der Restrukturierung des Hamburger Chapters Fähigkeiten an den Tag gelegt hatte, die unter anderen Vorzeichen bewundernswert gewesen wären.

„Es heißt, dass er den Präsi der Devils persönlich exekutiert haben soll. Aufgesetzter Schuss. Vor den Augen der übrigen Mitglieder. Ich hätte meine Oma dafür geopfert, wenn es davon Bilder gegeben hätte.“

„Das Schlimme ist, das glaube ich dir sogar“, murmelte Staller vor sich hin, aber der CvD hörte ihm gar nicht zu.

„Einmal ist er in seinem Lieblingslokal angegriffen worden und hat einen Stich direkt neben die Lunge abbekommen. Davon gibt es auf jeden Fall Bilder. Mit nacktem Oberkörper auf der Trage, blutüberströmt, aber mit breitem Grinsen und Victory-Zeichen in die Kamera“, erinnerte sich Zenz. „Und dann immer mal Bilder mit Promis auf irgendwelchen Veranstaltungen. Es galt ja geradezu als schick, sich mit ihm fotografieren zu lassen.“

„Ja, er hat seine wahren Absichten perfekt getarnt. Ein bisschen Charity hier, ein wenig roter Teppich da – der Bursche war clever“, räumte der Reporter ein. „Aber offenbar nicht clever genug, denn sonst wäre er jetzt nicht tot.“

„Was tippst du? Rache der Night Devils oder Aufstand im eigenen Klub?“

„Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung“, bekannte Staller. „Das – oder irgendetwas, das wir noch überhaupt nicht auf dem Zettel haben. In jedem Fall war das aber ein Profi. So viel ist sicher.“

„Ganz schön abgebrüht“, stimmte Zenz zu. „Drei Schüsse, jeder einzelne davon tödlich, abgefeuert auf offener Straße inmitten derart vieler Menschen – das musst du erst mal bringen!“

„Und deswegen glaube ich auch nicht daran, dass wir bis heute Abend nennenswert weiter sind. Aber ich werde mich reinhängen und sehen, was ich bis zur Sendung zusammenbekomme. Das wird mit heißer Nadel gestrickt werden!“

„Denk aber dran, dass du deine übergroße Nase in die Kamera halten musst! Unsere eigentliche Moderatorin habt ihr ja unüberlegterweise ein halbes Jahr in den Urlaub geschickt!“

„Den Job bei CNN als Urlaub zu bezeichnen kann auch nur der, der nie dort gearbeitet hat“, knurrte Staller. „Ich kriege das schon alles hin, keine Sorge. Sieh zu, dass die Kollegen Moderationsvorschläge zu ihren Beiträgen machen, dann klappt das auch.“

Sonja Delft, Hauptmoderatorin von “KM“, Nachfolgerin, Lieblingskollegin, Freundin und vielleicht auch noch mehr von Staller, befand sich seit drei Monaten in den USA und arbeitete dort für den großen Nachrichtensender. Dieses einmalige Angebot musste sie einfach wahrnehmen, zumal sie die Auszeit für wichtig hielt, damit der Reporter sich endlich darüber klar werden würde, wie er sich ihre zukünftige Beziehung vorstellte. Zu diesem Erkenntnisprozess war es allerdings noch nicht gekommen, denn Staller nahm die Doppelbelastung als Chefreporter und Moderator zum Anlass, seine eh schon üppigen Arbeitszeiten noch etwas auszudehnen.

„Wenn du Unterstützung brauchst, dann schnapp dir die Klugscheißerin, die ihr zur Volontärin gemacht habt. Wieder mal ohne Rücksprache mit mir. Aber das bedarf ja keiner besonderen Erwähnung in diesem Hause.“

Mit diesen Worten hatte der CvD einen in seinen Augen angemessenen Abgang vorbereitet, den er mit dem entsprechenden Türenknallen nun auch vollendete. Staller rollte mit den Augen, war aber nicht wirklich überrascht. Helmut Zenz war eben einfach speziell.

Wie konnten die nächsten Schritte aussehen? Den Aufnahmen vom Tatort war der übliche Infozettel beigelegt, der alle Einzelheiten enthielt, die nicht den Bildern zu entnehmen waren. Viel war das in diesem Fall nicht. Die Polizei hatte die Brisanz des Falles erkannt und sich gehütet, ihre Erkenntnisse mit der Presse zu teilen. Aber mittlerweile waren fast zwölf Stunden vergangen. Erste Ermittlungsergebnisse durften vorliegen. Diese würden sicherlich auch bald in Form einer Pressemitteilung an die Redaktionen herausgegeben werden. Da “KM“ natürlich im Verteiler für diese Meldungen vertreten war, würden diese Informationen automatisch und von selbst ihren Weg auf den Rechner von Zenz finden. Sie hatten keinen besonderen Wert, denn praktisch jeder Journalist hatte Zugriff darauf. Entscheidend waren jetzt die Erkenntnisse, die nicht öffentlich waren. Damit konnte ihre Sendung punkten.

Ansprechpartner dafür war wie immer Thomas Bombach, Kriminalhauptkommissar, Freund, Konkurrent, Zwillingsvater und Widerpart für endlose Auseinandersetzungen über die Frage, wie man denn den Kampf gegen das Verbrechen am besten führte. Staller griff zum Telefon.

„Bommel, du treue Beamtenseele! Wie geht es deinem Gummibaum?“

Die Stimme des Kommissars klang trotz der relativ frühen Tageszeit bereits erschöpft.

„Die Freude, dass ich dich gestern nicht am Tatort gesehen habe, war offensichtlich verfrüht. Oder möchtest du mich nur zum Mittagessen einladen?“

„Würde ich ja gerne, mein hungriger Freund, aber im Gegensatz zu dir muss ich meinem Brötchengeber regelmäßige Leistungsnachweise präsentieren.“

„Was willst du also?“

„Was wisst ihr bisher?“

„Nun, die Zahl der Parkvergehen ist bisher in diesem Jahr stark ansteigend, wohingegen die Verfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen leicht rückläufig sind, wobei das allerdings …“

„Sehr witzig“, unterbrach der Reporter. „Könnten wir dann zur Sache kommen?“

„Warum sollte ich dir Interna von unseren Ermittlungen mitteilen?“

„Weil ich sie sowieso rausbekomme, weil du auch Sachen von mir erfährst, weil wir das immer so machen – möchtest du noch mehr hören?“

„Was kannst du denn an Informationen beitragen?“, erkundigte sich Bombach.

„Bis jetzt nicht viel“, gab Staller zu. „Ich darf allerdings darauf hinweisen, dass Joschi in erster Linie ein Rocker ist. Das bedeutet, dass dir schon mal niemand aus seinem Umfeld auch nur die Uhrzeit verrät. Ich könnte da schon mehr in Erfahrung bringen.“

„Planst du einen neuen Undercover-Einsatz?“

„Eher nicht. Aber der letzte hat deinem Verein ziemliche Lorbeeren eingebracht, wenn ich mich recht entsinne. Oder ist schon mal ein Präsi eines Rockerklubs von einem Polizisten eines Schwerverbrechens überführt worden?“

„Ich gebe auf“, räumte der Kommissar ein. „Außerdem kann ich nicht den ganzen Tag mit dir am Telefon verbringen. Da wartet ein Mordfall auf mich.“

„Also?“

„Zu Todeszeitpunkt und -ursache muss ich ja nichts sagen.“

„Stimmt. Der Doc muss glücklich sein, weil du ihm keine diesbezüglichen Fragen stellst.“

„Ich glaube sogar, dass er kurz gelächelt hat. Auch wenn das kaum vorstellbar ist.“

„Irgendwelche Anhaltspunkte, den Täter betreffend?“

„Überschaubar. Der Zeuge, der hinter Joschi stand, erinnert sich an ein Motorrad, das neben dem Bentley hielt. Zwei Personen, großes Topcase. Von dort müssen die Schüsse gefallen sein.“

„Hat sich der Zeuge das Kennzeichen gemerkt?“, erkundigte sich Staller hoffnungsvoll.

„Natürlich nicht. Er kann sich nicht einmal erinnern, ob es aus Hamburg war.“

„Irgendwelche anderen Details, die weiterhelfen?“

„Leider nicht“, seufzte Bombach. „Die Männer – wenn es denn welche waren – trugen dunkle Lederkleidung und ebensolche Helme. Zum Motorrad wusste er nur, dass es keine Harley war. Vielleicht eine Reisemaschine, wenn man das Topcase berücksichtigt.“

„Mehr nicht?“

„Nö.“

„Das ist nicht viel“, konstatierte der Reporter.

„Allerdings nicht. Natürlich werten wir die umliegenden Überwachungskameras aus, aber ich bezweifele, dass dabei ein nützlicher Hinweis rausspringt.“

Staller dachte einen Moment nach.

„Keine Harley, sagst du. Das deutet darauf hin, dass es niemand aus der Rockerszene war. Damit würden Joschis eigene Crew und die Devils als Verdächtige ausscheiden.“

„Es sei denn, die Täter haben bewusst ein neutrales Motorrad gewählt, damit wir genau das denken sollen.“

„Da hast du leider recht, Bommel. Sonst noch irgendwas?“

„Nicht wirklich. Die Täter haben wohl einen Schalldämpfer benutzt, denn niemand hat einen Schuss gehört.“

„Wisst ihr, welche Waffe benutzt wurde?“

„Eine Glock 17.“

„Na super. Das ist ja ein ganz besonders seltenes Modell. Das macht die Suche nach der Tatwaffe ja einfacher.“

Die Glock wurde unter anderem vom österreichischen Bundesheer, vielen Polizeistationen Amerikas und Sicherheitsinstitutionen weltweit eingesetzt.

„Ich weiß, dass es Millionen Glocks auf der Welt geben muss. Das bringt uns aller Voraussicht nach nicht weiter.“ Der Kommissar klang resigniert.

„Hatte Joschi außer den Devils noch irgendwelche Feinde, die ihr auf dem Radar habt?“

Jetzt lachte Bombach humorlos.

„Feinde? Joschi doch nicht! Der Kopf einer Bande von Menschenhändlern, Drogendealern und Schutzgelderpressern wird doch von allen geliebt und vergöttert. Sowas weiß man doch!“

„Du weißt, wie ich das gemeint habe.“

„Natürlich. Aber wir haben niemanden, der sich gerade besonders verdächtig gemacht hat in dieser Hinsicht. Die Zahl der Leute, die gerade vor Freude in die Hände klatschen, dürfte trotzdem dreistellig sein.“

„Was werdet ihr also tun?“

„Na, was wir immer machen: Fleißig und geduldig jedes Steinchen umdrehen, das wir finden können. Wir arbeiten die Kameras ab, wir rekonstruieren seine letzten Tage und wir befragen sein Umfeld. Wobei du zurecht ja schon gesagt hast, dass Letzteres vermutlich wenig bringen wird.“

„Mit anderen Worten: Ihr habt nichts.“

„Bisher nicht wirklich. Außer dass er als letzte Mahlzeit Pasta hatte und Rotwein. Aber er war weder nennenswert alkoholisiert noch hatte er Drogen intus.“

„Das wird eine harte Nuss werden“, befürchtete der Reporter. „Zumal die Medien sich überschlagen werden. Zenzi würde am liebsten die Austrittswunde in Superzeitlupe und Dauerschleife senden.“

„Dann wäre euer Krawallmagazin wenigstens bald Geschichte.“

„Ich werde die schlimmsten Auswüchse zu verhindern wissen. Aber unser bekannt sensibler CvD freut sich gerade ein drittes Ei.“

„Was wird dein Ansatz sein?“

„Wir senden ja heute Abend schon. Von daher werden wir noch keine belastbaren Ergebnisse präsentieren können. Wir beschränken uns auf die Dokumentation des Geschehenen und zählen die Möglichkeiten auf, die zu dem Mord geführt haben könnten.“

„Also muss ich mich auf keine Überraschungen gefasst machen?“

„Vermutlich nicht.“ Der Reporter musste lachen. „Aber ein paar Stunden haben wir ja noch. Wer weiß?“

„Hast du eigentlich mal wieder was von Sonja gehört?“, wechselte Bombach das Thema.

„Äh, klar. Es geht ihr gut und die Arbeit macht Spaß. Schön grüßen soll ich dich auch. Hätte ich fast vergessen.“

„Wie lange ist sie noch weg?“

„Drei Monate, ziemlich genau.“

„Und – vermisst du sie schon?“

Staller runzelte die Stirn.

„Hast du nicht vorhin geklagt, dass du keine Zeit zum Plaudern hast?“

„Stimmt auch wieder. Bleib sauber, Mike!“

Der Reporter warf sein Telefon auf den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Polizei machte gewohnt akribisch ihren Job, stieß aber bei einer solchen Konstellation mit Sicherheit an ihre Grenzen. Natürlich würde jemand zu den Hounds of Hell gehen und Fragen stellen. Gleiches galt für die Night Devils. Allerdings dürfte der Wert der Antworten gegen null tendieren. Auch wenn sich das Rockermilieu in den letzten Jahren leicht verändert hatte, eines war garantiert geblieben: Mit der Polizei wurde nicht geredet und das würde immer so sein!

Was konnte er erreichen, was der Polizei nicht möglich war? Fairerweise gestand er sich ein, dass sein Spielraum nicht deutlich größer war. Auch die Medien wurden im Milieu nicht gerade innig geliebt und schon gar nicht in Geheimnisse eingeweiht. Die Tatsache, dass er vor ewigen Zeiten mal eine Reportage über die Liberty Wheels gemacht hatte, ein Rockerklub, der heute nicht einmal mehr existierte, war jetzt nicht direkt eine Eintrittskarte in die Szene. Und sein spektakulärer Coup gegen die Hounds of Hell war nur gelungen, weil sie ihn für einen der Ihren gehalten hatten. Da die Geschichte damals mit seinem fingierten Tod geendet hatte, konnte er diese Tarnung auch nicht wiederbeleben.

Was blieb also? Er konnte versuchen seine Quellen anzuzapfen. Das war ebenso eine Standardprozedur wie das Befragen von Zeugen durch die Polizei. Es konnte ein Glückstreffer dabei sein oder auch nicht. Trotzdem musste es erledigt werden. Aber es musste doch noch andere Wege geben!

„Mike?“

Er schreckte aus seinen Gedanken hoch. Wie war Isa überhaupt unbemerkt in sein Büro gekommen? Normalerweise machte sie einen Lärm wie ein Rollkommando.

„Was gibt’s?“

„Zenzi schickt mich.“ Die Volontärin machte einen durchaus zufriedenen Eindruck. „Ich soll dir bei dem gestrigen Rocker-Mord helfen.“

Das sah dem CvD wieder ähnlich. Im Rahmen von Isas Ausbildung war eigentlich vorgesehen, dass sie für mindestens zwei Wochen die Aufgaben eines Chefs vom Dienst genau kennenlernen sollte. Dafür musste sie natürlich die ganze Zeit mit Zenz verbringen und idealerweise auch von diesem mit entsprechenden Aufträgen betraut werden. Was dem Choleriker und bekennenden Menschenfeind natürlich nicht passte. So hatte er die erste Gelegenheit genutzt, um die ungeliebte Volontärin wegzuschicken.

„Du wirkst nicht unglücklich mit dieser Entwicklung“, stellte der Reporter fest.

„Alles ist besser, als bei Zenzi im Büro zu sitzen, nichts zu tun zu haben und die Klappe zu halten.“

„Da hast du wohl recht. Kannst du eigentlich schon Moderationstexte schreiben?“

Is a starrte ihn verwirrt an.

„Was hat das mit dem Mord zu tun?“

„Nichts“, räumte Staller ein. „Aber in dem Fall kannst du mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich helfen. Ich muss meine Kontakte abtelefonieren und die würden dir nichts sagen. Gleichzeitig müssen aber die Moderationstexte für heute Abend fertig werden.“

„Und das traust du mir zu?“

„Warum nicht? Du bist doch nun schon lange dabei und kennst den Tonfall unserer Sendung. Willst du es ausprobieren?“

„Supergern, Mike, danke!“ Spontan sprang sie um den Schreibtisch herum und warf ihm die Arme um den Hals. „Endlich wieder eine Aufgabe!“

Er ertrug diese Charmeoffensive dank des Wissens, dass Isa gerade mal ein Jahr älter als seine Tochter Kati war.

„Hast du eigentlich kürzlich mal wieder was von Sonja gehört?“, fragte die Volontärin, nachdem sie sich von ihm gelöst hatte.

„Habt ihr euch zur gemeinsamen Inquisition verabredet?“ Staller zog misstrauisch die Stirn kraus.

„Wieso?“

„Es ist keine fünf Minuten her, da hat Bommel die gleiche Frage gestellt.“

„Zufall. Und – antwortest du noch?“

Der Reporter hob resigniert die Hände.

„Ja, ich habe gestern mit ihr geschrieben. Möchtest du den Chat vielleicht lesen?“

„Aber ja, gerne!“, platzte Isa heraus und stutzte dann, als sie sein verzweifeltes Gesicht sah. „Das hast du nicht ernst gemeint – oder?“

„Allerdings nicht. Es geht ihr gut und außerdem bin ich sicher, dass sie euch mindestens so oft schreibt wie mir, vermutlich öfter. Du bist also nicht an ihrem Wohlergehen interessiert, sondern nur am Stand unserer Beziehung.“

„Ja, nun, ein so wichtiges Thema kann man dir ja nicht überlassen. Allein scheiterst du doch daran!“ Falls sie irgendwelche Gewissensbisse aufgrund ihrer Einmischung in seine Privatsphäre verspürte, war ihr jedenfalls nichts davon anzumerken.

„Ich hatte die vage Hoffnung, dass 6000 Kilometer Entfernung zwischen Sonja und mir eure Kuppelshow in die Sommerpause schicken würde, aber offensichtlich habe ich mich zu früh gefreut.“

„Uns liegt nur dein Glück am Herzen.“

„Prima. Dann mach mich mal glücklich, indem du flott ein paar Moderationen für heute Abend schreibst. Du findest die Infos auf dem Redaktionsserver. Und jetzt mach, dass sich die Luft vor dir teilt!“

Sie schaute ihn verständnislos an, als ob er die letzten Sätze in Suaheli gesprochen hätte.

„Das bedeutet: Hebe dich hinfort, mach dich vom Acker, kurz – raus hier, ich habe zu arbeiten!“ Er unterstrich seine Erklärung mit einer eindeutigen Armbewegung Richtung Tür. Sein jungenhaftes Grinsen nahm dem Satz jedoch jede Schärfe.

„Okay, okay!“ Sie hob beschwichtigend die Arme. „Ich fange sofort an. Aber glaub ja nicht, dass das Thema damit vom Tisch wäre!“

„Als wenn ich das nicht wüsste!“, rief er ihr hinterher und stand dann auf, um seine Tür zu schließen. Bei den folgenden Telefonaten konnte er keine Zuhörer gebrauchen.

***

Jahrelang hatte ein ganz einsam gelegenes Gehöft im Osten von Hamburg den Hounds of Hell als Klubhaus gedient. Der Präsident, der momentan seine Haftstrafe absaß, hatte es geerbt und den Bedürfnissen des Klubs entsprechend umgebaut. Es diente als Werkstatt, Schaltzentrale und darüber hinaus als repräsentativer Treffpunkt. Regelmäßige Partys stellten einen wichtigen Teil der Öffentlichkeitsarbeit dar. Suggeriert werden sollte damit, dass die Höllenhunde eine Gruppe fröhlicher Motorradfreunde waren, die zu feiern verstanden und gelegentlich ein bisschen über die Stränge schlugen. Das klappte recht ordentlich, denn die Veranstaltungen waren stets gut besucht und keiner der Gäste fühlte sich unsicher oder gar bedroht. Es gab Alkohol und Grillfleisch und maximal den einen oder anderen Joint. Harte Drogen waren tabu. Dafür erschienen sogar Familien mit Kindern, für die auf dem weitläufigen Gelände extra ein Spielplatz errichtet worden war.

Als Joschi Saleh aus Berlin kam, um dem auseinanderfallenden Klub Halt zu verleihen, gehörte zu seinen ersten Maßnahmen die Anmietung einer alten Scheune einige Kilometer vom Klubgelände entfernt. Zu groß war das Risiko, dass ein unbedarfter Gast versehentlich Einblicke in das kriminelle Kerngeschäft der Höllenhunde bekam. Wer sich hauptberuflich mit Drogenschmuggel, Menschenhandel und Schutzgelderpressung befasst, der benutzt nicht Tinte und Feder, sondern Pistolen und Sturmgewehre.

Von außen blieb die Scheune, wie sie war: ungepflegt, verwittert und teilweise sogar leicht baufällig. Nichts deutete auf eine andersartige Nutzung hin, als hier landwirtschaftliches Gerät unterzustellen.

Von innen sah das ganz anders aus. Die Hälfte der Scheune war abgetrennt und zu einem geschlossenen schalldichten Raum umgebaut worden. Er wurde aus unerklärlichen Gründen “Kapelle“ genannt und hier wurden die strategischen Entscheidungen über die jeweiligen kriminellen Aktivitäten getroffen.

Heute, am Tag nach Joschis Tod, waren die Hounds of Hell vollständig um den großen Konferenztisch versammelt. Die Stimmung schwankte zwischen Trauer und Wut. Auch hier beherrschte nur eine Frage die Tagesordnung: Wer hatte das getan?

„Das können doch nur die Devils gewesen sein“, knurrte ein Kuttenträger mit auffälligem Bierbauch. „Die wollten Rache wegen ihres Präsis!“

„Könnte auch was Persönliches gewesen sein. Vielleicht aus seiner Berliner Zeit“, mutmaßte ein anderer.

„Auf jeden Fall haben wir ein Problem. Caspar und Bandit sitzen noch im Knast und Joschi ist tot. Wir dürfen jetzt nicht verwundbar erscheinen.“

„Richtig!“, stellte ein breitschultriger Kerl fest, auf dessen Patch “Road Captain“ zu lesen war und der in der Hierarchie nun weit oben stand. „Zwei Dinge liegen an. Erstens: Die Geschäfte müssen reibungslos weiterlaufen. Zweitens: Irgendjemand muss für Joschis Tod bezahlen. Und die Reihenfolge ist bewusst gewählt.“

Beifälliges Gemurmel gab dem Sprecher recht. Das gute Dutzend Männer war es gewohnt, dass jemand die Zügel in die Hand nahm, auch wenn am Ende Entscheidungen meistens demokratisch durch Abstimmung gefällt wurden. Alleingänge der Führung waren nur innerhalb klar definierter Grenzen möglich.

„Also, was steht an in Sachen Business?“, fragte der Road Captain.

„Nächste Woche kommt eine neue Lieferung Koks. Muss an der gewohnten Stelle im Hafen abgeholt und ins Depot gebracht werden“, berichtete der Bierbauch.

„Okay. Das sollen wie immer die Prospects machen. Aber sicherheitshalber folgst du ihnen in einem zweiten Wagen. Nimm Hoss mit!“ Prospects waren praktisch Azubis. Sie wollten in den Klub aufgenommen werden und mussten dafür eine lange Probezeit ableisten, in der ihnen alle möglichen Aufgaben vom Putzen der Motorräder bis zu Kurierdiensten zugeteilt wurden.

„Alles klar.“ Der Bierbauch nickte.

„Und sonst?“, fragte der Road Captain in die Runde.

„Wir haben zwei neue Chicks im Trainingslager. Sind erst drei Tage da. Die brauchen noch jede Menge Übungseinheiten.“ Der Mann, der das sagte, trug seine langen Haare offen und grinste dreckig.

Das Trainingslager war eine Mietwohnung, in der eingeschmuggelte Mädchen, oft aus der Ukraine, auf ihre zukünftige Arbeit als Prostituierte vorbereitet wurden. Dabei wurden sie gefesselt, vergewaltigt und oft sogar unter Drogen gesetzt. Wenn sie genügend abgestumpft waren, wurden sie auf die Bordelle verteilt.

„Übungseinheiten, die du gerne und freiwillig leitest?“, erkundigte sich der Road Captain.

„Ich würde mich dazu bereiterklären. Zum Wohle des Klubs.“

Die Männer lachten dröhnend. Die unersättliche sexuelle Gier des Sprechers war allen wohlbekannt.

„Okay. Sieh zu, dass rund um die Uhr jemand dort ist. Sonst noch was?“

Allgemeines Kopfschütteln.

„Gut“, stellte der Road Captain fest. „Ich weiß, dass Joschi Pläne zur weiteren Expansion hatte. Aber die legen wir vorläufig auf Eis, denn wir brauchen unsere Kräfte, um seinen Mörder zu finden. Einverstanden?“ Er schaute in die Runde.

Nacheinander nickten alle Männer oder brummten ihre Zustimmung. Es tat gut, Beschlüsse zu fassen. Damit wurde klar, dass es weiterging. Diese moralische Krücke brauchten sie jetzt, denn der Tod ihres Anführers hatte sie schwerer getroffen, als sie zeigten.

„Also, wie gehen wir es an?“

Bevor einer der Männer antworten konnte, vibrierte das Mobiltelefon, das der Sprecher vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Es handelte sich um das “offizielle“ Klubhandy. Alle anderen Telefone mussten vor Betreten des Raums abgelegt werden. Eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung, die Joschi angeordnet hatte.

„Ja?“ Der Road Captain hörte eine längere Zeit stumm zu. „Okay. Ich gebe das so weiter. Danke.“

Die Augen der Männer ruhten voller Neugier auf ihrem derzeitigen Anführer.

„Das war Foxy von den Night Devils“, berichtete er. „Die Devils haben sich letzte Woche aufgelöst. Er schwört, dass niemand von ihnen etwas mit Joschis Tod zu tun hat.“

„Glaubst du ihm das?“, fragte der Bierbauch zögernd.

Der Road Captain überlegte einen Moment, bevor er antwortete.

„Ich denke schon. Warum sollten die Devils noch irgendwelche Risiken eingehen, wenn ihr Klub nicht mehr existiert?“

„Da ist was dran.“

„Sind wir uns einig, dass wir Foxy und seine Crew erst einmal von der Liste der Hauptverdächtigen streichen?“

Dieses Mal dauerte die Abstimmung etwas länger und fiel auch nicht einstimmig aus. Das konnte aber auch mit persönlichen Animositäten Zusammenhängen. In den vergangenen Jahren hatte es diverse Auseinandersetzungen zwischen den Hounds und den Devils gegeben. Manch einer am Tisch hatte vielleicht noch eine Rechnung offen.

„Damit ist das beschlossen.“ Der Road Captain schlug mit einem Hammer auf den Tisch. „Zum weiteren Vorgehen: Ich kümmere mich um Joschis Vergangenheit in Berlin. Rufe ein paar Leute an und versuche in Erfahrung zu bringen, ob jemand so einen Hals hatte, dass er nach Hamburg kommt. Und ihr geht raus zu euren Leuten. Macht Druck! Jeder Puffbesitzer, jeder Dealer und jeder geschützte Laden soll wissen, dass die Hounds im Krieg sind! Wir geben erst Ruhe, wenn Joschis Mörder schön langsam ausgeblutet ist. Sagt den Leuten das! Wer uns hilft, wird belohnt. Wenn jemand etwas vor uns verheimlicht, dann kann er schon mal seine letzte Kippe anzünden. Verstanden?“

Jetzt nickten wieder alle zügig und einvernehmlich.

„Dann los!“ Der Hammer fiel. Ein Todesurteil war gesprochen worden.

***

Die Schlange vor dem improvisierten Tresen war erschreckend lang. Die Menschen, die hier Schritt für Schritt geduldig vorrückten, waren völlig unterschiedlich, aber sie hatten eins gemeinsam: Ihr Gesichts aus druck war von Vorfreude geprägt. Gleich würden sie eine warme Mahlzeit bekommen, frisch gekocht und–das war für alle hier von großer Bedeutung – kostenlos. Wer diese Suppenküche auf St. Pauli aufsuchte, für den war regelmäßige Verpflegung keine Selbstverständlichkeit. Auch in einer reichen Stadt wie Hamburg lebten Einwohner, die selbst grundlegendste Bedürfnisse nicht aus eigenen Mitteln befriedigen konnten. Aus unterschiedlichsten Gründen waren sie die soziale Leiter herabgestiegen und oft sogar -gefallen. Etliche waren wohnungslos, praktisch alle ohne Arbeit, viele einsam, einige an Körper oder Seele krank. Es fehlte nicht nur die Basis für ein selbstbestimmtes Leben wie ein warmes Bett, Zugang zu sanitären Anlagen und ein Minimum an Privatsphäre, nein, oft war sogar die Würde abhandengekommen, die doch angeblich unantastbar sein sollte.

Umso wichtiger war dieser Ort. Vordergründig gab es einen ordentlichen, nahrhaften Eintopf, Duschkabinen und eine Kleiderkammer. Entscheidend war aber die Haltung der Menschen, die hier überwiegend ehrenamtlich den Bedürftigen dienten. Genau so wurde die Arbeit nämlich verstanden. Als Dienst am Menschen, der hier stets respektvoll Gast genannt wurde, egal wie er aussah oder roch.

„Hier, bitteschön! Guten Appetit – dort hinten steht noch ein Korb mit Brot, wenn Sie möchten. Lassen Sie es sich schmecken!“ Der Mann mit den Einmalhandschuhen und der weißen Schürze hielt den Suppenteller einer kleinen Frau entgegen, die ungeachtet der sommerlichen Temperaturen in mehrere Schals gewickelt war und Handschuhe ohne Finger trug. Ihr runzeliges Gesicht unter den strähnigen grauen Haaren strahlte und der zu einem scheuen Lächeln geöffnete Mund wies einige Zahnlücken auf.

„Danke, junger Mann, sehr freundlich von Ihnen!“

Mit etwas zittrigen Händen ergriff sie den Teller und schlurfte in Richtung des Speiseraums. Der Mann, eher fünfzig als vierzig Jahre alt, schmunzelte über die Ansprache und griff sich einen neuen Teller. Mit einer gewaltigen Kelle rührte er einmal durch den riesigen Suppentopf, bevor er eine sorgfältig bemessene Menge auf den Teller kippte. Niemand sollte nur Dünnes bekommen.

„Könnte ich noch ein kleines bisschen mehr bekommen? Ich hatte diese Woche noch nichts Warmes“, bat der nächste Gast leise und fast demütig. Die Augen hinter seiner dicken Brille waren das einzig Lebendige in seinem Gesicht. Der Rest war grau, eingefallen und wirkte ungesund.

„Aber sicher!“ Ohne zu zögern, füllte der Essenausteiler den Teller nun bis zum Rand. „Geht es Ihnen gut? Wenn nicht, dann sollten Sie vielleicht mal bei unserem Doc vorbeischauen. Er fragt auch nicht nach Krankenkassenkarten.“ Der Mann zwinkerte freundlich. „Sie sehen so aus, als ob Sie was ausbrüten. Überlegen Sie es sich!“

Der Gast murmelte einen Dank und trug seinen vollen Teller vorsichtig und schleppenden Schrittes davon.

Im Hintergrund erschien ein Mann, der sich von den übrigen Gästen signifikant unterschied. Mit dem schneidigen Käppi unter dem Arm und dem Sakko mit Goldknöpfen wirkte er definitiv fehl am Platze. Er sah nicht nur aus wie ein Chauffeur – er war es auch. Mit diskreten Handzeichen versuchte er den Mann an der Essenausgabe auf sich aufmerksam zu machen. Dies gelang jedoch nicht, denn dieser war in ein kurzes Gespräch mit seinem nächsten Gast, einem Kind von etwa zehn Jahren, vertieft.

„Herr Schrader!“ Der Chauffeur wusste sich nicht anders zu helfen. „Herr Schrader, wir müssen. Ihr Termin mit dem Wirtschaftssenator!“

Jetzt konnte der Mann nicht umhin und musste reagieren.

„Sie sehen doch, dass hier noch Gäste warten! Die Leute haben Hunger. Das ist wichtiger als ein Termin mit einem Mann, der vermutlich mindestens jeden zweiten Tag in einem Restaurant isst.“

„Sie sind aber für 14.30 Uhr verabredet!“

„Dann wird der Mann ein paar Minuten warten müssen. Das hier geht vor!“ Er hielt dem Kind den Teller hin und sagte: „Hier, mein Junge. Iss tüchtig. Dann bist du bald so groß wie ich!“

Das Kind lächelte schüchtern und nickte zustimmend. Mit konzentriert zusammengekniffenen Augen, damit ja nichts überschwappte, stolzierte der kleine Kerl davon. Der Mann sah ihm kurz nach und griff dann zum nächsten Teller. Routiniert teilte er weiter den Eintopf aus, bis die Schlange fast abgearbeitet war. Dann erschien eine resolut wirkende Frau und schob ihn beiseite.

„Sie sind ja schon wieder viel länger hier als geplant, Herr Schrader!“, tadelte sie mild. „Wen lassen Sie diesmal warten?“

„Och, nur den Wirtschaftssenator. Der wird sich schon nicht langweilen.“ Schrader streifte die Schürze ab und präsentierte darunter ein makelloses, offensichtlich maßgeschneidertes Oberhemd mit aufgekrempelten Ärmeln.

„Ich finde das so toll, dass Sie nicht nur einfach Geld spenden, sondern dass Sie auch persönlich mithelfen! Es gibt nicht viele Menschen in Ihrer Stellung, die das machen.“

„Was für eine Stellung? Ich bin ein Kaufmann, das ist doch nichts Besonderes.“

„Wie viele Kaufleute treffen sich denn so mit dem Wirtschaftssenator?“

„Bestimmt Dutzende!“ Schrader lächelte bescheiden und hängte seine Schürze an einen Haken. „Aber jetzt halte ich mich besser mal ran, sonst bin ich das letzte Mal mit dem Senator verabredet gewesen!“

Der unbemerkt herangetretene Chauffeur präsentierte wie von Zauberhand ein dunkelblaues Sakko, das die hochgewachsene Figur Schraders umschloss wie ein Handschuh die Finger.

„Danke, Herr Schrader! Bis zum nächsten Mal!“ Die Frau drückte ihm respektvoll die Hand.

„Nächste Woche! Gleiche Zeit, gleicher Ort – ist versprochen und wird nicht gebrochen!“ Er lächelte, klopfte einem Gast aufmunternd auf die Schulter und folgte seinem Chauffeur, der mehrfach verzweifelt auf seine Uhr deutete, zur Tür.

„So ein netter junger Mann“, befand die kleine, grauhaarige Dame, die ihren Teller zurückbrachte.

***

Mike Staller hatte mit Gott und der Welt telefoniert und letzten Endes nur Dinge erfahren, die er sowieso schon wusste. Joschi war ein neuer Typ Krimineller gewesen, kein dumpfer Schläger. Er verfügte über eine gewisse Bildung, Intelligenz und über die Fähigkeit größere Zusammenhänge zu erkennen. Wenn er nicht bei den Rockern gelandet wäre, hätte er womöglich auch als skrupelloser Geschäftsmann Karriere machen können.

Trotzdem besaß er eine kaltblütige Brutalität, die in höchstem Maße abschreckend wirkte. Wenn er es für erforderlich hielt, dann tötete er, ohne zu zögern. Niemals verlor er dabei die äußeren Umstände aus den Augen und stets sorgte er dafür, dass Spuren bestmöglich verwischt wurden. Nicht umsonst war er für keinen der Morde, die er begangen hatte, jemals juristisch belangt worden. Die Zahl der Tötungsdelikte, die ihm zugeschrieben wurden, ließ sich nicht klar eingrenzen, aber verlässliche Hinweise deuteten auf einen zweistelligen Bereich. Dabei war seine berufliche Vergangenheit als Scharfschütze der Bundeswehr im Auslandseinsatz selbstverständlich nicht einbezogen.

Sein Standing innerhalb der Hounds of Hell war ganz offensichtlich hervorragend. Er hatte sich bereits in Berlin einen ausgezeichneten Ruf als loyales Mitglied erarbeitet. Der Wechsel nach Hamburg hatte seine Position noch deutlich verbessert. In der labilen Situation nach der Verhaftung der alten Führungsspitze hatte er geräuschlos das Machtvakuum aufgefüllt und den in seinen Grundfesten erschütterten Klub binnen Wochen stabilisiert. Alte Geschäftsfelder waren zunächst gesichert und dann ausgedehnt worden. Dazu kamen Gebietserweiterungen und kluge Investitionen. In Rekordzeit hatte er die Hamburger Hounds in eine neue Ära überführt und als neue Nummer eins auf dem Kiez etabliert. Dafür war verhältnismäßig wenig Blutvergießen erforderlich gewesen. Sein kühnes, aber trotzdem überlegtes Auftreten in einigen wenigen Schlüsselmomenten hatte potenzielle Konkurrenten abgeschreckt. Der letzte Versuch, an den Machtverhältnissen zu rütteln, der von den Night Devils unternommen worden war, hatte bekanntermaßen zum unmittelbaren Tod der Spitze geführt – ein Zeichen, das weithin verstanden wurde.

Das Hamburger Chapter verehrte seinen neuen Anführer geradezu, erst recht, weil der darauf verzichtet hatte, sich zum Präsidenten wählen zu lassen. Als Sergeant of Arms besaß er formal genügend Autorität, um die Geschicke des Klubs zu lenken, rüttelte jedoch nicht an der gewachsenen Hierarchie. Präsident und Vize blieben – obwohl noch längere Zeit im Knast – in Amt und Würden. Was nach ihrer Rückkehr passieren würde, blieb abzuwarten. Diese Vorgehensweise wurde als äußerst fair betrachtet. Insofern hielten alle Quellen des Reporters eine interne Auseinandersetzung für nahezu ausgeschlossen.

Staller lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und registrierte, wie verspannt er war. Sein Rücken protestierte gegen die verkrampfte Haltung bei den endlosen Telefonaten. Zum Glück blieb jetzt nur noch eine Person übrig, an die er sich wenden konnte. Und die musste er persönlich aufsuchen. Das war eine Frage des Respekts.

Bevor er das Gebäude von “KM“ verließ, schaute der Reporter noch kurz bei Isa vorbei.

„Kommst du klar mit den Moderationen?“

Die Volontärin blickte von ihrem Bildschirm hoch. Zartrosa Flecken auf ihren Wangen verrieten, wie angestrengt sie arbeitete.

„Sieht ganz gut aus. Es fehlen nur noch zwei. Hoffentlich gefällt dir, was ich hier mache!“

„Ganz bestimmt. Ich schaue nachher kurz drüber. Jetzt muss ich noch mal weg.“

„In drei Stunden ist Sendung!“

„Ist mir bekannt“, grinste er. „Aber meinen Freund Daddel-Gerd ruft man nicht einfach an, wenn man etwas wissen will. Da muss man schon vorbeikommen. Es dauert sicher nicht lange.“

Sie winkte ihm kurz zum Abschied zu und vertiefte sich sofort wieder in ihre Aufgabe. Den Moderationstexten, so kurz sie auch sein mochten, kam eine besondere Bedeutung innerhalb der Sendung zu. Sie waren sozusagen die Titelseite der jeweiligen Beiträge und konnten darüber entscheiden, ob die Zuschauer dranblieben oder den Sender wechselten.

Staller brauchte nur zehn Minuten, dann stand er vor dem unscheinbaren Lokal. Gerd Kröger, den alle nur Daddel-Gerd nannten, war eine Hamburger Legende. Falls irgendjemand mal die Geschichte von St. Pauli schreiben wollte, dann würde er zumindest über die letzten 50 Jahre alles von Kröger erfahren können. Dieser hatte sich in seinen ersten Jahren noch mit anderen Zuhältern um die besten Pferde im Stall geprügelt. Später war er ins Automatengeschäft eingestiegen, was ihm – neben seiner Leidenschaft für Wetten – den Spitznamen eingebracht hatte. Aus den regelmäßigen Kiez-Kriegen hielt er sich klugerweise heraus und blieb als quasi unabhängige Institution parallel zu den ständig wechselnden Strukturen über die Jahrzehnte hinweg bestehen. Sicher auch ein Verdienst seiner geliebten Frau, die außerdem dafür sorgte, dass er sein Geld nicht sinnlos verpulverte, sondern zumindest einen Teil davon sinnvoll anlegte. Nach ihrem Tod verlor er jede Lust an dem Leben, das er kannte, und zog sich weitgehend aus den Geschäften zurück. Übrig geblieben war diese eine Kneipe in St. Georg, auch optisch ein Relikt aus lange vergangenen Tagen und Krögers Zuflucht. Hier floss das Bier noch in echte Halbe, hier standen mechanische Flipper und hier war der Treffpunkt für alle, deren Leben mindestens so viel in der Vergangenheit wie in der Gegenwart stattfand.

Als Staller den Laden betreten hatte, musste er zunächst einmal stehen bleiben und seine Augen an das herrschende Dämmerlicht gewöhnen. Die großen Fensterfronten waren mit vergilbten Stores verhangen, die seit Jahrzehnten keine Waschmaschine gesehen hatten und Tageslicht einfach zu absorbieren schienen.

Hinter der Theke herrschte Paul, Daddel-Gerds Faktotum, Fahrer, Bote, Bodyguard und Gesprächspartner in langen, einsamen Nächten.

„Tach Mike!“ Er nickte kurz und völlig unüberrascht, als ob der Reporter praktisch täglich vorbeischaute.

„Moin Paul, ist Gerd da?“

Paul gab einen letzten Schuss in ein Bierglas und schob es über den Tresen einem grauhaarigen Mann zu, der eifrig Münzen in einen vorsintflutlichen Geldautomaten steckte. „Oben“, antwortete er mit einem minimalen Schwenk seines Kopfes. Sein aus immer weniger und dünner werdenden Haaren bestehender Pferdeschwanz, den er als Ausgleich für eine flächenmäßig gewaltige Stirn trug, schwankte müde in die andere Richtung. Yin und Yang.

„Danke!“

Paul war nicht gerade gesprächig, aber das wusste jeder. Insofern nickte Staller freundlich und verschwand im düsteren hinteren Teil des Ladens, wo eine steile Eisentreppe nach oben führte. Ein winziger Flur führte in den Raum, der jetzt zu immer größeren Teilen die Heimat des Besitzers darstellte. Daddel-Gerd lag auf dem alten Sofa, der Fernseher lief, wie eigentlich immer, und der großgewachsene Mann hatte die Augen geschlossen.

„Gerd?“, fragte der Reporter halblaut, da er nicht wusste, ob der Angesprochene vielleicht schlief. Doch dieser öffnete umgehend die Augen, rieb sich das Gesicht, blinzelte zur Tür und setzte sich auf.

„Mike, mein Junge! Schön dich zu sehen. Ich dachte schon, du hast mich vergessen.“

„Wie könnte ich! Geht es dir gut?“

„Ach weißt du“, ächzte der frühere Schwarm aller Prostituierten, „wenn das Alter nicht wäre, dann ginge es mir sicher besser. Mein Leben ist eine endlose Reihe von salzarmen Mahlzeiten und Nickerchen geworden. Nicht besonders spannend.“

„Das klingt aber gar nicht nach dem Gerd Kröger, den ich kenne!“

„Das klingt auch nicht nach dem, der ich gerne wäre, aber es nützt ja nix. Wir kommen in Windeln und gehen wieder darin, so sieht es doch aus. Setz dich! Wie wäre es mit einem schönen Asbach-Cola?“

„Liebend gern, aber ich muss gleich noch eine Fernsehsendung moderieren. Da kommt das nicht so gut an. Ich nehme mir stattdessen einen Kaffee, okay?“

„Mach ruhig!“

Staller bediente sich aus der Thermoskanne, die in Krögers “Büro“ bereitstand, solange er denken konnte. „Soll ich dir einen Asbach mischen?“

Der alte Mann winkte ab.

„Lass mal! Für meine Gastritis ist das Gift. Hier, guck dir das an, so weit ist es mit mir gekommen!“ Er schenkte sich aus einer grünen Glasflasche eine klare Flüssigkeit ein. „Heilwasser mit wenig Kohlensäure, erzähl das bloß niemandem!“

„Das ist in der Tat etwas ungewohnt“, räumte der Reporter ein. „Aber wenn es gut für dich ist …“

„Der Arzt sagt das so. Das ist natürlich auch nur ein Quacksalber. Aber du bist bestimmt nicht gekommen, um mit mir über meine Gebrechen zu reden. Was kann ich denn für dich tun?“

Staller nippte an dem Kaffee, der ausgezeichnet schmeckte. Paul pflegte ihn von Hand aufzugießen.

„Du hast bestimmt von der Sache mit Joschi gehört, oder?“

„Natürlich!“ Kröger verzog kurz das Gesicht, veränderte seine Position und schob sich ein Kissen ins Kreuz. „Überrascht hat mich das nicht.“

„Warum nicht?“

„Wer immer hart am Wind segelt, der kentert auch mal. Der Junge hatte die Hand ziemlich schnell am Abzug. So macht man sich keine Freunde.“ „Du denkst, das war ein Racheakt?“

„Ich schätze, dass für jeden, den du umlegst, zwei nachkommen, die es dir heimzahlen wollen. Und irgendwann klappt das auch.“

„Du würdest seinen Mörder also im Umfeld seiner Opfer suchen?“

„Das ist zumindest das Gesetz der Straße. Allerdings kommen in seinem Fall sicher noch andere Möglichkeiten hinzu.“ Kröger griff nach seinem Mineralwasser. Angewidert nahm er einen Schluck.

„An was denkst du dabei?“

„Joschi hat ganz schön rumgehühnert. Da war mit Sicherheit der eine oder andere Stecher ziemlich angepisst.“

„Hast du einen bestimmten Namen im Kopf?“

„Um Himmels willen, nein! Wenn du da mehr wissen willst, dann musst du es mal beim Italiener in der Hein-Hoyer-Straße probieren. Das war praktisch Joschis Wohnzimmer. Er hatte sogar seinen eigenen Tisch dort.“

„Und was ist mit den Jungs aus seinem Klub?“

„Einer von den Hounds?“ Kröger schüttelte energisch den Kopf. „Das glaube ich nicht. Die würden ihn auf Händen zum Nordkap tragen. Es war ausschließlich sein Verdienst, dass es das Hamburger Chapter überhaupt noch gibt. Ohne ihn wäre der Klub auseinandergefallen wie die Devils jetzt.“

„Was soll das heißen?“

„Ich wollte nur ein bisschen angeben!“ Kröger lachte, aber es klang lange nicht so dröhnend wie früher. Es endete in einem bellenden Husten. „Das ist die letzte Neuigkeit: Die Night Devils sind Geschichte. Vorige Woche haben sie sich aufgelöst. Im Grunde hat Joschi das bewirkt.“

„Weil er den Präsi liquidiert hat?“

„Ganz genau. Davon hat sich der Klub nicht wieder erholt. Tja – und nun ist eben Schluss mit lustig.“

„Bedeutet das, dass sie den Mord nicht mehr rächen wollen?“

Kröger schürzte die Lippen und bewegte seinen imposanten Kopf langsam hin und her.

„Kann man nicht so genau sagen. Ohne die Organisation durch einen Klub im Hintergrund wird ein Vergeltungsschlag natürlich schwieriger. Da fehlt dann Infrastruktur. Aber wenn eine einzelne Person natürlich “all in“ geht, dann könnte da trotzdem was laufen.“

„Wenn du wetten müsstest, Gerd, auf wen würdest du dein Geld setzen?“ Staller triggerte bewusst die Leidenschaft des alten Zockers an. Aber Kröger durchschaute ihn.

„Du weißt schon, wie du mich kriegen kannst, was? Es nützt dir aber nichts. Ich wette nur, wenn es eine überschaubare Chance gibt, dass ich gewinne. Wie viele hat Joschi umgelegt, zehn, zwanzig? Rechne dazu nochmal doppelt so viele wütende Stecher, dann kommst du locker auf eine halbe Hundertschaft Verdächtige.“

„Du meinst also, es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen?“

„Ich würde eher sagen, es ist die Suche nach dem Grashalm im Heuhaufen. Vermutlich hilft die gute alte Bullentour am ehesten: Sucht nach dem Motorrad und den Fahrern. Dann bekommt ihr euren Mörder. Und dann müsst ihr nur noch den Auftraggeber herausfinden.“

„Du glaubst also, dass die Killer bezahlt wurden?“

„Du nicht? Alle Indizien deuten auf Profis. Schalldämpfer, Spezialmunition, perfektes Timing und eine offenbar sorgfältig geplante, kontrollierte Flucht – das war ein Job von Experten. Trotzdem könnte natürlich jeder der Auftraggeber sein. Wobei -Auftragskiller stehen nicht in den Gelben Seiten. Wer immer die engagiert hat, er musste erst einmal den Kontakt hersteilen können.“

„Danke Gerd, das war sehr aufschlussreich. Du hast mir sehr geholfen! Zumindest dein Hirn funktioniert noch wie in deinen besten Zeiten. Aber jetzt muss ich langsam los. In anderthalb Stunden muss ich im Studio stehen.“

„Wieso moderierst du das eigentlich wieder? Ihr hattet doch da so eine kluge Maus, die das ganz prima gemacht hat. Wie hieß sie noch, Sonja?“

„Sonja Delft, richtig. Sie arbeitet ein halbes Jahr in Amerika.“

„Kannst du sie denn so lange entbehren?“ Kröger beugte sich verschwörerisch vor. „Da lief doch was zwischen euch, das konnte ja ein Blinder sehen!“

„Wir sind Kollegen und gute Freunde, Gerd. Da hat dein Blinder sich wohl verguckt.“

„Meinst du? Na, wenn du das sagst, dann muss es wohl so sein.“ Der alte Mann wirkte nicht für fünf Cent überzeugt, aber er ließ das Thema ruhen. „Kommst du mich mal wieder besuchen? Wir könnten das Stadtderby zusammen gucken. Dann kannst du wieder gegen deinen Verein wetten.“

„Lass die Jungs von der Müllverbrennungsanlage ruhig das Derby gewinnen. Dann verlieren sie danach jedes Spiel. War bei Pauli doch auch so.“

„Wir werden es ja sehen. Es war schön, dass du da warst. Lass nicht wieder so viel Zeit vergehen, hörst du, mein Junge? Meine Uhr läuft langsam ab.“

„Ach Gerd, mit deiner Konstitution wirst du doch mindestens neunzig!“

„Schön wär’s, Mike. Aber ich höre Gevatter Hein schon die Sense schärfen!“

***

Der dunkelgrüne BMW von Thomas Bombach rollte auf den Hof, der mit einigen Harleys und ein paar Autos vollgestellt war. An der Rückwand der Scheune prangte riesengroß das Logo der Hounds of Hell, ein Wolfskopf mit aufgerissenem Maul vor einem flammenden Hintergrund.

„Das sieht ja schon mal einladend aus“, murmelte der Kommissar vor sich hin. „Bestimmt wird das ein ganz wunderbares Gespräch.“

Auf der Veranda, die offenbar nachträglich angebaut worden war, hielten sich einige Personen auf. Hier würden seine Recherchen beginnen. Ob sie ihn irgendwohin führen würden, durfte bezweifelt werden. Trotzdem war dieser Besuch erforderlich. Und wenn es nur der Vollständigkeit halber war.

„Moin. Mein Name ist Bombach, Kripo Hamburg“, stellte er sich vor, nachdem er die Veranda betreten hatte. Zumindest durfte er sich der Aufmerksamkeit aller Beteiligten sehr sicher sein. Allerdings betrachteten sie ihn eher wie etwas äußerst Unangenehmes. Er kam sich ein bisschen wie ein Hundehaufen auf einem Perserteppich vor.

„Wir haben nichts getan“, brummte ein vierschrötiger Kerl im aufgekrempelten Flanellhemd, also offensichtlich kein Klubmitglied.

„Das bezweifele ich“, entgegnete der Kommissar, der schlagfertig sein konnte und zudem keine Furcht zeigte. Er schaute sich um. Zwei Frauen, drei Männer ohne Kutte, also offensichtlich Hangarounds, denen es Spaß machte im Umfeld des Klubs abzuhängen. Ein Prospect, wie der Patch auf seiner Lederweste kundtat, und einer, der offenbar zur Führung gehörte, denn er trug einen zusätzlichen Aufnäher mit der Aufschrift Road Captain. An diesen wandte sich Bombach.

„Tut mir leid, das mit Ihrem Boss.“

„Das bezweifele ich“, entgegnete der Road Captain und zündete sich eine selbstgedrehte Zigarette an. Damit war die Tonlage für die Unterhaltung schon mal festgelegt.

„Wenn es nach mir ginge, wäre er nicht tot, sondern würde im Knast sitzen. Insofern meine ich das ganz ernst.“ Bombach zog unaufgefordert einen Stuhl heran und nahm gegenüber dem Rocker Platz.

„Was wollen Sie?“ Der Road Captain pustete eine beißende Qualmwolke über den Tisch genau in das Gesicht des Kommissars.

„Lässig und feindselig können Sie. Wie sieht es aus mit kooperativ?“

„Nicht so doll, schätze ich.“

„Probieren wir es doch einfach. Wer könnte Joschi erschossen haben?“

„Für Sie immer noch Herr Saleh!“

„Natürlich. Wer also könnte Herrn Saleh erschossen haben?“

„Weiß ich nicht.“

„Irgendjemand, mit dem er aktuell, äh, geschäftlich Probleme hatte?“

„Keine Ahnung.“

„Halten Sie es für möglich, dass das eine Vergeltung der Night Devils war?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Oder hatte er vielleicht privat mit jemandem Streit?“

„Mit Privatsachen kenne ich mich nicht aus.“

Die Unterhaltung nahm eindeutig den erwarteten Verlauf. Ein Gespräch mit dem Blumenkübel, in dem prächtige Geranien blühten, wäre vermutlich ergiebiger gewesen. Bombach zählte innerlich bis zehn, holte tief Luft und nahm einen letzten Anlauf.

„Hören Sie, ich weiß, dass Ihnen irgendein Kodex verbietet mit der Polizei zu reden. Und dass Sie beabsichtigen, die Angelegenheit intern zu regeln, was wir Selbstjustiz nennen, die übrigens verboten ist.“

„Dann wäre jetzt ja ein guter Zeitpunkt für ’n Abflug, meinen Sie nicht?“, unterbrach der Rocker und drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus, der aus einem alten Kolben bestand.

„Ich bin noch nicht fertig.“ Einschüchtern ließ der Kommissar sich nicht. „Ihr Boss wurde von einem Profi ermordet. Waffe mit Schalldämpfer, Explosivmunition, drei Treffer, alle tödlich. Da hatte auch ein ehemaliger Elitesoldat, Scharfschütze und mehrfacher Killer keine Chance. Das sollte Ihnen zu denken geben.“

„War’s das jetzt?“ Der Rocker hob nicht einmal die Stimme.

„Ich denke, schon.“ Bombach stand auf und griff in seine Hemdentasche. „Falls jemand anderer Meinung ist als Sie, kann er mich anrufen.“ Er schob seine Visitenkarte über den Tisch. Der Rocker nahm sie überraschenderweise in die Hand und bewies, dass er immerhin lesen konnte.

„Thomas Bombach, Mordkommission, na denn. Warten Sie lieber nicht auf einen Anruf.“

Der Road Captain nahm die Karte, riss sie in mehrere Stückchen und warf diese in den Aschenbecher.

„Jetzt musste Ihretwegen ein Baum völlig unnötig sterben“, klagte der Kommissar. „Haben Sie denn überhaupt kein Umweltgewissen? Schönen Tag noch!“

Die Blicke aller Anwesenden verfolgten ihn, als er erhobenen Hauptes die Veranda verließ. Aber niemand fühlte sich zu einer Verabschiedung oder sonstigen Bemerkung gemüßigt.

„Nein, kooperativ kannst du definitiv nicht“, stellte Bombach halblaut fest, als er in seinem Wagen saß. „Aber damit war ja auch nicht zu rechnen.“

***

Dass heute ein besonderer Tag war, erkannte man daran, dass Peter Benedikt, der Chefredakteur von “KM“, zur Sendung gekommen war. Der Tod von Joschi zog offensichtlich Kreise.

„Hallo Mike, schöne Sendung!“

„Danke, Peter. Was treibt dich zu später Stunde her, solltest du nicht bei deiner Familie sein?“

„Ein- oder zweimal pro Woche darf ich weg“, schmunzelte Benedikt, der wie stets makellos gekleidet war. „Ich wollte selber sehen, was ihr aus dem Mordfall Saleh gemacht habt.“

„Tja, es ist noch ein bisschen früh. Die Polizei hat bisher praktisch nichts und wir ja genau genommen auch nicht.“

„Deshalb war es eine gute Idee, zumindest die Möglichkeiten zu sammeln. Mein persönlicher Favorit ist übrigens jemand aus dem privaten Umfeld.“

„Wie kommst du darauf?“

„Joschi war unter anderem eine echte Rampensau. Hast du mal seine Instagram Seite angesehen? Neben den ganzen Fotos mit fetten Autos, abgedrehten Motorrädern und schweren Waffen, kommen da mindestens 50 Frauen vor. Einige davon sind vermutlich Prostituierte, aber die anderen – die haben womöglich Männer oder Freunde. Und die dürften wenig begeistert sein von den Aufnahmen.“

„Mit der Ansicht befindest du dich in bester Gesellschaft. Daddel-Gerd tippt auch eher auf einen wütenden Angehörigen. Allerdings glaubt Gerd, dass das ein Profi gemacht hat.“

„Auftragsmord? Gut möglich. Die Indizien könnten passen. Was wirst du als Nächstes tun?“

„Essen gehen“, grinste Staller.

„Du hast völlig recht, Mike. Ich vergesse immer, wann du morgens hier anfängst. Deinen Feierabend hast du dir redlich verdient. Genieße ihn!“

„Ganz so ist der Plan nicht. Ich dachte, ich esse beim Italiener in der Hein-Hoyer-Straße. Dort war Joschis zweites Zuhause. Auch gestern vor seinem Tod war er noch dort.“

„Das ist eine ganz wunderbare Idee! Ich würde dich sehr gern begleiten, aber…“, er schaute auf seine elegante Armbanduhr. „Marion erwartet mich um 22 Uhr zurück. Sie war beim Elternabend und ich werde vermutlich eine Stunde brauchen, um sie wieder zu beruhigen.“

„Ist dein Sohn so widerspenstig?“

„Nein, der nicht“, lachte Benedikt. „Aber die anderen Eltern. Du glaubst gar nicht, um welche Nebensächlichkeiten heutzutage Generaldebatten losgetreten werden. Momentan geht es um eine Klassenreise.“

„Ich erahne das Problem.“

„Die eine Hälfte möchte mit dem Fahrrad durch die Harburger Berge, die andere auf Skireise nach Ischgl. Der gemeinsame Nenner lässt sich nicht ganz so einfach finden.“

„Und die Kids?“

„Die werden nicht gefragt.“

„Oh je, Peter! Dann viel Glück. Ich schaue mal, ob ich noch etwas in Erfahrung bringen kann.“

„Glaubst du, dass du dort unerkannt bleibst?“

Staller warf einen Blick in den Garderobenspiegel. „Ich werde ein bisschen nachhelfen. Unsere Maskenbildnerin hat mir ein paar Tricks gezeigt.“

„Da bin ich aber gespannt.“

Der Reporter holte sich eine Kiste heran und wühlte darin herum. Dann benetzte er seine Oberlippe mit einer zähen Flüssigkeit. Dort hinein drückte er einen üppigen Schnurrbart mit herabhängenden Enden, der seinem Gesicht eine traurige Note verlieh. Das Make-up von der Sendung hatte er so gelassen. Nun drückte er noch eine Baskenmütze auf seine Haare, sodass sie keck und etwas schief saß.

„Was sagst du, Peter?“

„Verblüffend, dafür, dass du nicht viel gemacht hast. Auf den ersten Blick hätte ich dich nicht erkannt.“

„Es geht darum, mit einfachen Mitteln eine Ablenkung zu starten, die in eine bestimmte Richtung lenkt. Der dunkle Teint war die Grundidee. Zusammen mit der Mütze denkt jeder nach einem flüchtigen Blick: aha, ein Südeuropäer. Der Bart verändert die Gesichtsform, deutet aber in dieselbe Richtung.“

„Genau das war mein erster Gedanke: ein Franzose.“ Der Chefredakteur war beeindruckt.

„Voilà! Noch eine kleine Accent – parfait!“

„Jetzt bin ich sicher, dass dich niemand erkennen wird. Viel Glück!“

„Das wünsche ich dir auch, Peter! Wie es sich anhört, wirst du es mehr brauchen als ich“, grinste der Reporter.

Staller parkte seinen Wagen sicherheitshalber einige hundert Meter von dem Lokal entfernt. Mit leicht gebeugtem Rücken schritt er langsam aus. Er wirkte kleiner als die 1,90 Meter, die er aufgerichtet maß, und etliche Jahre älter. In Bewegung hätte ihn vermutlich seine eigene Tochter nicht erkannt.

Von Weitem waren bereits die Tische draußen auf der Straße zu sehen. Unter den roten Schirmen hatten sich viele hungrige Mäuler eingefunden. Die schlichten Bänke waren gut besetzt. Der Reporter zögerte nicht, sondern betrat zielstrebig das Lokal. Draußen bestimmten Touristen das Bild. Das Stammpublikum saß, ungeachtet der sommerlichen Temperaturen, innen. Niemand kümmerte sich um den Mann mit dem Schnurrbart, der sich suchend umblickte. Der Raum war mit kleinen und großen Tischen vollgestellt und ließ nur schmale Gänge frei. Karierte Tischdecken in Rot und Weiß erweckten einen rustikalen Eindruck. Die Holzstühle mit dunkelroter Lederpolsterung wirkten allerdings deutlich bequemer als die Bierzeltgarnituren im Freien. An den Wänden hingen Schwarzweiß-Bilder aus alten Filmen und jede der breiten Fensterbänke war mit unterschiedlichen Dekostücken vollgestellt. Mit Erstaunen nahm Staller dabei eine Tischlampe zur Kenntnis, die auf die Replika einer Maschinenpistole geschraubt war, womöglich eine AK 47. Zumindest hoffte er, dass es sich um eine Replika handelte.