Staller und die ehrbare Familie - Chris Krause - E-Book

Staller und die ehrbare Familie E-Book

Chris Krause

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Beschreibung

Im vornehmen Hamburger Stadtteil Blankenese wird Polizeireporter Mike Staller Zeuge, wie eine alte Dame auf ihrem Elektroscooter aus unerklärlichen Gründen eine Treppe hinunterstürzt. Die Frau, Chefin eines bekannten Unternehmens, ist sofort tot. Ein Unfall? Suizid? Nein - es war Mord. Bei der Suche nach dem Täter stoßen Staller und Kommissar Bombach auf eine Familie, in der nichts so ist, wie es scheint. Hinter der Kulisse eines ehrbaren hanseatischen Traditionshauses toben erbitterte Grabenkämpfe um die Leitung der Firma, bei denen jedes Mittel recht ist. Elisabeth Schuchardt regiert mit eiserner Hand. Die Söhne Matthias und Christian dürfen mitarbeiten, aber nichts entscheiden. Tochter Susanna hat lange im Ausland gelebt und ist jetzt mit ihrem Sohn zurück in Hamburg. Nach dem Tod der Seniorchefin stellt sich die Frage: Wird die Firma konservativ wie bisher weitergeführt? Das wünscht sich Matthias, der mit über fünfzig immer noch bei der Mutter wohnt. Oder expandiert man und eröffnet sich neue Märkte? Christian, der Lebemann, präferiert diese risikoreichere Variante. Er hat schon einen Partner gefunden - im Iran. Susanna und ihr erwachsener Sohn Noah könnten das Zünglein an der Waage sein. Mitten in die Verstrickungen hinein fällt ein zweiter Todesfall. Wieder trifft es ein Familienmitglied. Und wieder sind die Umstände mysteriös. Mike Staller und Thomas Bombach haben alle Mühe, das Geflecht von Beziehungen, Absichten und Motiven zu durchdringen. Und wie so oft ist es der Reporter, der das entscheidende Puzzlestückchen findet und in einem dramatischen Finale im Schwimmbad der Familienvilla den Fall löst. Im siebten Band der Staller-Reihe reicht der Bogen von familiärer Rivalität bis zu Fragen der globalisierten Wirtschaft und am Ende hängt doch alles zusammen. Atemlos folgt der Leser den beiden Freunden bei der Suche nach dem Täter, freut sich an ihren humorvollen Auseinandersetzungen und staunt über die menschlichen Abgründe in einer so ehrbaren Familie.

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STALLER UND DIE EHRBARE FAMILIE

Bisher in diesem Verlag erschienen:

Staller und der Schwarze Kreis

Staller und die Rache der Spieler

Staller und die toten Witwen

Staller und die Höllenhunde

Staller und der schnelle Tod

Staller und der unheimliche Fremde

Mike Staller schreibt bei Facebook unter:

Michael „Mike“ Staller

Chris Krause

Staller und die ehrbare Familie

Mike Stallers siebter Fall

© 2018 Chris Krause

Autor: Chris Krause

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

978-3-7469-8484-1 (Paperback)

978-3-7469-8485-8 (Hardcover)

978-3-7469-8486-5 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der Mann im dunklen Anzug erhob sich und klopfte einige Male mit dem Gabelstiel gegen die obere Hälfte seines Weinglases. Der Klang des edlen Kristalls durchdrang das allgemeine Gemurmel und die Stimmen der Gäste verebbten langsam. Als nahezu vollständige Ruhe eingekehrt war, begann er mit einer wohlklingenden und tragenden Stimme zu sprechen.

„Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Familie und liebe Gäste – ihr werdet mir die kleine Rede verzeihen, denn es liegen ja bereits zwei exzellente Gänge hinter uns und ich werde mich wirklich bemühen mich kurz zu fassen.“ Ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihm allgemeines beifälliges Nicken. Der erste Hunger war gestillt, in den Gläsern warteten kostbare Weine und der Anlass verlangte zwingend nach einigen Worten.

Er wandte sich nach links und betrachtete die kerzengerade sitzende Frau mit den tiefschwarzen Haaren, die aussahen, als ob ein Star-Coiffeur erst vor Sekunden letzte Hand an die Frisur gelegt hätte, mit einem herzlichen Lächeln.

„Liebe Mutter! Ich weiß, du hörst es nicht gerne und man sieht es dir auch keinesfalls an, aber wir haben uns hier im wunderbaren Hotel Jacob getroffen, um deinen achtzigsten Geburtstag zu feiern!“

Ausgehend vom Nachbartisch brandete Applaus auf. Über das Gesicht der Frau zuckte für Sekundenbruchteile ein Schatten, als ob ihr das unangenehm sei oder sie vielleicht Schmerzen habe. Dann fasste sie sich und verzog ihre Mundwinkel zu einem minimalen Lächeln. Ihre ganze Erscheinung konnte nur hanseatisch genannt werden. Das begann bei ihrem dezenten Make-up, setzte sich bei dem schlichten, aber wertvollen Schmuck fort und endete mit schwarzen Lackpumps unterhalb des langen Designerkleids. Vor allem aber spiegelte sich in ihren Gesichtszügen die traditionelle Contenance und zurückgenommene Emotionalität der ehrbaren Hamburger Kaufleute.

Ihr Sohn hob die Hände und stellte so die Ruhe wieder her.

„Umso erstaunlicher ist es, dass du immer noch die Geschicke unserer Firma mitlenkst, obwohl du dir deinen Ruhestand mehr als verdient hättest. Das hinterlässt Spuren, auch wenn du das nicht wahrhaben möchtest. Du hast dich nie geschont und ignorierst von der Grippe bis zur Arthritis alles, was in den Bereich Krankheit fallen könnte, hartnäckig. Aber da dir jetzt selbst das Gassigehen mit deinen geliebten Hunden immer schwerer fällt, habe ich mir ein Geschenk überlegt, das dir das Leben wieder ein bisschen einfacher machen soll. Bitteschön!“

Auf sein Zeichen hin öffneten sich die Flügeltüren und ein Kellner fuhr einen dunkelblauen Elektroscooter herein, dessen dezentes Summen kaum hörbar war. Der bequeme Ledersitz verfügte über klappbare Armlehnen und war zum einfacheren Ein- und Aussteigen drehbar. Da die runden Tische im Raum sehr großzügig angeordnet waren, konnte das schmale Gefährt ohne große Mühe bis an den Tisch der Jubilarin gelangen. Der Redner drehte sich um und musterte interessiert das Gesicht seiner Mutter. Erwartungsgemäß gab es dort relativ wenig zu bemerken. Die Frau erfasste das Fahrzeug mit einem schnellen Blick und wandte sich dann wieder ihrem Wasserglas zu, aus dem sie einen winzigen Schluck nahm. Dabei fielen neben ihren wohlmanikürten Nägeln die etwas knotig wirkenden Finger auf, die möglicherweise Anzeichen einer entzündlichen Erkrankung waren.

„Herzlichen Glückwunsch, liebe Mutter, und mögest du viel Freude an diesem kleinen Helfer haben, wenn du deine täglichen Wege durch Blankenese machst!“

Erneuter und lauterer Applaus ertönte. Einer nach dem anderen erhoben sich die Gäste, wandten sich der Jubilarin zu und klatschten begeistert in die Hände. Nur sie selbst blieb sitzen und verzog kaum eine Miene. Nach etwa dreißig Sekunden griff sie zum Löffel und klopfte energisch gegen ihr Wasserglas. Sofort verebbte der Lärm, ihre natürliche Autorität trug vermutlich mehr dazu bei als der kaum vernehmliche Klingelton.

„Danke, ist gut jetzt!“ Ihre Stimme war ein kräftiger Alt und sie sprach ein sehr klar artikuliertes Hochdeutsch. „Es ist ja nicht so, dass ich einen Preis gewonnen hätte. Älter werden ist kein Verdienst. Ihr seid alle in den letzten 12 Monaten ein Jahr gealtert. Ihr merkt es nur vielleicht nicht so wie ich.“

Beifälliges Gemurmel zog durch den Raum.

„Insofern danke ich für das Geschenk, aber mehr noch euch allen für euer Kommen. Und schlage dringend vor, dass wir uns dem nächsten Gang widmen. Glaubt ja nicht, dass ihr mich jetzt zu einer Probefahrt mit dem Ding da überreden könnt! Und nun setzt euch wieder hin, sonst kann ja nicht weiter serviert werden.“

Abrupt stieg der Geräuschpegel wieder an, als die Gäste ihrer Aufforderung Folge leisteten.

„Ich hoffe, das war es mit den heutigen Überraschungen“, zischte die alte Dame nach rechts, ohne die Lippen nennenswert zu bewegen. „Noch komme ich mit dem Leben ganz gut zurecht, auch wenn das dem einen oder anderen von euch vielleicht nicht passt!“

„Aber Mutter, wir wissen doch alle, dass du dank deiner großartigen Disziplin noch lange nicht aufs Altenteil gehörst“, mischte sich von links ihr zweiter Sohn ein. „Aber wenn du es dir doch ein bisschen leichter machen kannst …“

„Ich bin sicher, dass du nach einer kleinen Eingewöhnung ganz glücklich mit dem Elektromobil sein wirst. Denk doch nur, wie gerne du immer mit den Hunden draußen warst!“, ergänzte der erste Sohn und hob sein Weinglas, um ihr demonstrativ zuzuprosten.

„Dieses Krankenfahrzeug ist doch nur der Anfang. Du willst nur, dass ich mich aus der Firma zurückziehe und dir und deinen neumodischen Ideen das Feld überlasse. Aber das wird nicht passieren. Solange ich atmen kann, werde ich dafür sorgen, dass Schuchardt-Metallbau so geführt wird, wie es sich dein Vater gewünscht hat. Das habe ich ihm schließlich an seinem Totenbett in die Hand versprochen und dabei bleibt's!“

„Vater ist seit 15 Jahren tot und seitdem hat sich in der Wirtschaft eine Menge verändert. Er würde heute selber bestimmte Dinge ganz sicher anders handhaben.“ Die Stimme des ersten Sohnes klang resigniert.

„Das glaube ich nicht. Und außerdem geht es der Firma so gut wie nie. Es kann also nicht ganz falsch sein, was ich mache.“

„Niemand sagt, dass du etwas falsch machst“, beeilte sich der zweite Sohn zu sagen.

„Dann frag mal deinen Bruder Christian. Der hat da eine ganz andere Ansicht, wie mir scheint.“

Das Gespräch blieb weitgehend unbeachtet, denn die Aufmerksamkeit der Gäste wurde von einem kleinen Bataillon Kellnerinnen und Kellner beansprucht, das tischweise den nächsten Gang herbeitrug.

„Filet vom Nordseesteinbutt unter Champagnerbutter mit überbackenem Lauch und Kartoffelschnee“, kündigte ein Oberkellner an, der nur für diese Ansage den Raum betreten hatte. Hauben wurden zeitgleich von Tellern gehoben und ein verführerischer Duft breitete sich aus. Die Servierkräfte verschwanden kurz und erschienen nur Augenblicke später mit neuen Tellern aus dem Flur, wo offensichtlich Servierwagen für reibungslosen Nachschub auf kurzen Wegen sorgten.

Der Elbsalon war mit zehn runden Tischen ausgestattet, an denen jeweils acht Personen Platz fanden. Blütenweiße Tischwäsche und edles Porzellan passten zu der prachtvollen Ausstattung des Raumes und dem grandiosen Blick über die Elbe. Hier feierten diejenigen, die es sich leisten konnten und wollten. Die prämierte Küche, der exzellente Weinkeller und der diskrete, aber professionelle Service kosteten ihren Preis. Dafür blieb in der Regel kein Wunsch unerfüllt.

Der Tisch für die engste Familie der Jubilarin lag zentral und war besonders mit Blumen geschmückt. Neben Elisabeth Schuchardt saßen ihre Söhne Christian und Matthias, gegenüber ihre Tochter Susanna mit ihrem Sohn Noah. Auffällig war, dass keines der Kinder mit Partner erschienen war. Komplettiert wurde die Runde von Elisabeths Bruder Martin mit Frau und Tochter.

„Guten Appetit!“ Das weibliche Familienoberhaupt gab den Startschuss für den nächsten Gang, nachdem alle am Tisch versorgt waren.

„Schwesterlein, was macht deine Yoga-Hütte? Immer noch glücklich mit deiner Auswanderung nach Teneriffa?“ Christian nahm einen Schluck Chablis und schnalzte anerkennend mit der Zunge.

Susanna war mit ihren 45 Jahren das Nesthäkchen der Schuchardts. Trotzdem – oder deswegen? - hatte sich ihr Leben ganz anders entwickelt als das ihrer Brüder, die beide früh in die Firma des Vaters eingestiegen waren und jetzt gemeinsam mit der Mutter den Betrieb führten. Die “Kleine“ hatte nach kurzer Zeit ihr Studium unterbrochen und war auf Reisen gegangen. Quer durch die Welt hatte es sie getrieben und manchmal war monatelang nichts von ihr zu hören gewesen. Eines schönen Tages stand sie vor der Familienvilla in Blankenese, den kleinen Noah in einem Tuch vor der Brust und im Gepäck die Pläne für ein Yoga-Hotel auf Teneriffa.

„Glücklich auf jeden Fall“, resümierte sie nachdenklich. „Auch wenn sich die Dinge ganz anders entwickelt haben, als ich ursprünglich dachte.“

„Was ist denn passiert? Wir haben ja mal wieder seit Ewigkeiten nichts von dir gehört“, fragte Matthias mit mildem Tadel in der Stimme. Dafür klang sein Interesse am Leben seiner Schwester deutlich glaubwürdiger als das seines Bruders, der wohl nur ein wenig Konversation machen wollte und sich jetzt anderen Gesprächspartnern zuwandte.

„Ich habe meinen Anteil am Hotel verkauft und mich in die Berge zurückgezogen. Dort lebe ich jetzt mit ein paar Viechern und gelegentlichen Gästen, die ihr Leben mal komplett überdenken wollen.“

„Wie ist es dazu gekommen? Ich dachte, dass dieses Konzept mit Yoga-Urlaub dein Traum gewesen ist?“

„Tja, aber wenn sich dieses Konzept mehr und mehr kommerzialisiert, dann ist der Grundgedanke irgendwann tot. Finanziell hat alles gepasst, aber ich hatte nicht mehr das Gefühl das Richtige zu tun.“

„Und – hast du nun viel Geld verloren?“

„Das würde ich so nicht sagen. Mein Einsatz hat sich ungefähr verzehnfacht. Einen kleinen Teil davon habe ich in das neue Haus gesteckt. Mir geht es ganz gut. Wie ist es mit dir? Mama sagt, die Firma läuft prächtig?“

„Eigentlich schon. Aber es ist natürlich nicht ganz leicht, wenn drei grundverschiedene Charaktere die Richtung vorgeben sollen. Den starken Willen unserer Mutter kennst du ja und Christian hat so viele neue Ideen – da kommt es schon mal zu Meinungsverschiedenheiten.“

„Und du sitzt zwischen den Stühlen und musst vermitteln, stimmt's? Hinterher sind dann beide auf dich sauer“, lachte Susanna. „Das kommt mir bekannt vor. Was möchtest du denn?“

„Ganz ehrlich? Ich würde den Laden am liebsten radikal verkleinern und eine reine Ideenschmiede daraus machen. Mutter möchte alles so lassen, wie es ist, und Krischi hat den Wunsch nach der Weltherrschaft noch nicht ganz aufgegeben. Er würde liebend gern kräftig expandieren, andere Firmen aufkaufen und als Global Player an den Start gehen.“

„Au weia, das klingt in der Tat kompliziert. Und was macht das brüderliche Liebesleben?“

Jetzt seufzte Matthias theatralisch. „Auf die Frage habe ich ja gewartet. Ich würde sagen: wie immer. Krischan lässt nix anbrennen, scheut aber eine feste Bindung wie der Teufel das Weihwasser und ich … tja, ich bin immer noch kein Womanizer.“

Susanna betrachtete ihren Bruder liebevoll. Sein von Haus aus schon etwas rundliches Gesicht wurde durch den zurückgewichenen Haaransatz noch mondartiger. Der Kranz dünner Fusseln auf des Hauptes Mitte bestand zudem aus einem fahlen Mausgrau. Rechnete man jetzt noch die untersetzte Figur mit den etwas hängenden Schultern dazu, so entstand das Bild eines etwas in die Jahre gekommenen Tanzbären. Da half auch der teure Anzug nicht wirklich weiter. Die Augen hinter der altmodischen Brille waren mit Tränensäcken unterlegt, blickten jedoch sowohl klug als auch freundlich in die Welt. Alles in allem musste sie seine Selbsteinschätzung teilen.

„Die Zeit spielt doch eigentlich für dich“, fand sie trotzdem Trost. „Männer dürfen im Alter Gebrauchsspuren zeigen. Frauen natürlich nicht!“ Sie war gut zehn Jahre jünger als er und fiel vor allem durch ihre natürliche Bräune auf. Das verlieh ihr einerseits ein gesundes Aussehen, wirkte sich andererseits aber auch auf die Hautbeschaffenheit aus. Lange Jahre auf der Sonneninsel ließen jeden Teint altern, egal wie sorgfältig man auf Sonnenschutz achtete.

„Du siehst doch nun wirklich blendend aus“, bewies Matthias durchaus Charme-Qualitäten.

„Du bist lieb!“ Spontan warf sie ihm eine Kusshand zu.

„Darf ich das Dessert servieren?“, erkundigte sich der Kellner, der seinen Oberkörper mit einer gewissen Eleganz um exakt 75 Grad nach vorne geneigt hatte, was seiner Frage eine diskrete Intimität verlieh.

* * *

„Herrschaften, uns erwarten zwei bis drei Großkampftage! Ich will, dass jeder verfügbare Reporter auf der Straße ist und Material für unsere Sondersendung sammelt. Und zwar rund um die Uhr!“

Helmut Zenz, der Chef vom Dienst der Sendung “KM – Das Kriminalmagazin“ war in seinem Element. Das ziemlich spontan anberaumte Treffen der Mächtigen der G7-Staaten in der Hansestadt würde Wellen schlagen, selbst wenn es überraschenderweise relativ friedlich ablaufen sollte, was er bezweifelte. Die erschütternden Erfahrungen des G20-Gipfels von 2017 waren, nicht zuletzt durch die immer noch laufenden Prozesse, noch lange nicht aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt gelöscht. Dass die Politik sich aus wenig nachvollziehbaren Gründen entschlossen hatte, erneut als Bühne für eine derart umstrittene Veranstaltung zu fungieren, war ein unerwartetes Geschenk.

„Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte unserer Sendung 90 Minuten zur besten Sendezeit und die werden wir nutzen. Die Welt schaut nach Hamburg – und wir liefern die Bilder!“

„Unter dem geht es nicht für Zenzi“, raunte Mike Staller seiner Lieblingskollegin Sonja zu und verbarg sein spitzbübisches Grinsen geschickt mit der Hand. Die Moderatorin kicherte verstohlen. Der CvD gehörte nicht zu den beliebtesten Kollegen im Team. Seine aufbrausende, hochnäsige und herrische Art kam nicht wirklich gut an. Da nützte es auch wenig, dass er fachlich großartige Arbeit leistete. Der Ton machte die Musik, auch unter Journalisten.

„Was immer ihr gerade in der Pipeline habt, legt es auf Eis. Omas geklauter Sparstrumpf und der böse Nachbarsjunge, der auf dem Schulweg die iPhones einsammelt – alles ab in die Rundablage P. Mit etwas Glück brennt Hamburg wieder richtig und nur das zählt.“

Was wie eine ungeschickte Formulierung klang, war in Wirklichkeit durchaus ernst gemeint: Zenz hoffte auf spektakuläre Bilder für die Sendung. Dass dabei Menschen zu Schaden kamen, egal ob Polizisten oder Demonstranten, war ihm herzlich egal. So tickte er nun mal und auch das war ein Grund, warum er niemals Mitarbeiter des Monats werden würde. Nirgendwo.

„Ich habe hier einen Einsatzplan ausgearbeitet, der die wahrscheinlichsten Orte für Auseinandersetzungen berücksichtigt. Ihr durchstreift euer Gebiet sorgfältig und haltet Kontakt mit mir. Ich koordiniere die Kamerateams und schicke sie dorthin, wo es am schönsten knallt.“

„War ja klar, dass Zenzi seine Butze nicht verlässt.“ Auch Sonja murmelte nur hinter der vorgehaltenen Hand. „Was glaubst du, wird es wirklich so schlimm wie im letzten Jahr?“

„Ich hoffe, nicht. Eine Wiederholung würde der ganzen Stadt schaden. Mir ist unbegreiflich, wie man die Veranstaltung nach Hamburg holen konnte.“

„Langweile ich euch?“, schnauzte Zenz, der nun doch auf das kleine Privatgespräch aufmerksam geworden war.

„Niemals, Helmut!“, log Staller ungerührt und ließ sich auch nicht aus der Fassung bringen, als Sonja offensichtlich einen Hustenanfall erlitt. „Bekommen wir wenigstens schusssichere Westen und Nachtsichtgeräte? Die machen sich ganz gut, wenn man einen Aufsager dreht.“ Aufsager waren Reportertexte vor der Kamera, gern mit einem dramatischen Hintergrund, der belegen sollte, dass die Journalisten sich mitten im Geschehen befanden.

„Das ist vielleicht gar keine so blöde Idee“, räumte Zenz ein und missverstand damit seinen Chefreporter gründlich. „Das hebt Hamburg auf eine Stufe mit Mossul, Bagdad oder Kabul. Krisengebiet, Milizen, Häuserkampf – und die “KM-Reporter“ immer mittendrin. Ja, wirklich, das ist gut! Notiere ich mir gleich.“

Stallers starrte ihn mit offenem Mund fassungslos an. Sein Versuch, den ungeliebten CvD mal wieder zu veräppeln, war grandios gescheitert. Unglaublich, dieser Mann!

* * *

Der Elbsalon hatte sich geleert und nur noch ein Tisch war besetzt. Elisabeth Schuchardt war mit der Limousine abgeholt worden, ihr Bruder und dessen Familie, die im Hotel Jacob untergebracht waren, hatten sich zurückgezogen und so blieben die drei Geschwister mit Noah allein am Tisch sitzen, um noch ein wenig zu plaudern. Der Nachmittag war angebrochen und einige frühlingshafte Sonnenstrahlen durchbrachen das Grau des Himmels über der Elbe und setzten gelegentliche Akzente auf vorbeifahrende Schiffe.

„Wie lange will Mutter denn noch arbeiten? Nötig hat sie es ja nun wirklich nicht. Und so wahnsinnig gut kann es um ihre Gesundheit auch nicht bestellt sein, wenn du ihr so ein E-Mobil schenkst“, wollte Susanna von Christian wissen.

„Das weiß der Himmel“, seufzte dieser. „Es macht die Sache nicht leichter, dass sie immer noch mitreden will. Es ist ja schon schwer genug sich mit deinem Bruder zu einigen.“

„Stehen denn so viele Entscheidungen an?“

„Im daily business sicherlich nicht. Aber gewisse strategische Fragen müssen über kurz oder lang geklärt werden.“

„Und das heißt im Klartext?“

„Warum interessiert dich das so? Du bist doch aus der Firma komplett raus. Vater hat dir damals deinen Anteil für das Hotel gegeben und dafür hast du auf alle Ansprüche verzichtet.“

„Es geht doch nicht um mich. Wenn ich schon mal im Lande bin, möchte ich einfach wissen, was meine Brüder beschäftigt. Wir haben schließlich nicht so viel Kontakt.“

Matthias, der ausdauernd mit dem kleinen Silberlöffel in seiner Espressotasse rührte, mischte sich jetzt ein.

„Traditionell fertigen wir ja sehr viel für die Autoindustrie. Das hat jahrzehntelang gut funktioniert und ist ein solides und stabiles Geschäft. Wenn wir keine gravierenden Fehler machen, wird uns das auch mittelfristig ein sehr ordentliches Auskommen sichern. Aber das ist Krischan nicht genug. Er möchte kräftig expandieren, Firmen aufkaufen und unser Angebot verbreitern.“

„Es ist doch so“, übernahm Christian wieder das Wort. „Die Autoindustrie ist zwar ein Riese, aber mit einer überaus verwundbaren Achillesferse. Der Dieselskandal hat es bewiesen, dass ein winziger Auslöser die ganze Branche ins Wanken bringen kann. Dieses Mal ist es vielleicht noch gut gegangen, aber schon das nächste kleine Problem kann andere Folgen zeigen. Abnehmende Rohstoffressourcen, mangelnder Fortschritt bei alternativen Antrieben und staatliche Repressalien wie Mautgebühren, Steuern und Umweltvorschriften – da kommt eine Menge auf die gesamte Industrie zu.“

„Und wie willst du diese Risiken umgehen?“ Susanna klang ernsthaft interessiert an der Thematik. Auch sie war schließlich im Hause ihres Vaters aufgewachsen, in dem Fragen rund um das Geschäft zum täglichen Gesprächsthema gehörten.

„Diversifikation und innovative Technologie. Das bedeutet: Neue Geschäftsfelder erschließen und dort Pionierarbeit leisten.“

„Welche Geschäftsfelder schweben dir denn vor?“

„Das ist leider das Problem. Krischan sieht das größte Potenzial im militärischen Bereich.“

„Tatsächlich?“ Susanna schien die Skepsis von Matthias zu teilen. „Du willst Waffen bauen?“

„Abgesehen davon, dass das rein ökonomisch eine glänzende Idee wäre, wenn ich mir den Zustand unserer Bundeswehr anschaue, finde ich diese Bezeichnung zu plakativ. Es geht dabei nicht in erster Linie um Gewehre oder Panzer. Obwohl unsere Erfahrungen im Fahrzeugbau uns sicherlich zumindest im zweiten Fall sehr helfen würden. Aber das wäre für mich keine innovative Technologie.“

„Sondern?“

„Im Grunde will Krischan Cyborgs bauen“, warf Matthias ein.

„Bitte?!“

„Das ist doch Quatsch, Matze, und das weißt du auch.“ Man merkte, dass die Brüder diese Diskussion nicht zum ersten Mal führten.

„Was willst du dann?“

„Der Grundgedanke ist folgender: Die fortschreitende Automatisierung und Computerisierung unserer Welt verlangt förmlich danach, den Menschen langweilige, unangenehme oder gefährliche Aufgaben abzunehmen. Was mit dem Saugroboter angefangen hat und bald mit dem autonomen Fahren weitergeht – das ist nur die erste Stufe. An der Stelle setze ich an.“

„Welche Aufgaben hast du dabei genau im Fokus?“

„Robotersoldaten“, murmelte Matthias vor sich hin.

„Unfug“, wischte Christian den Einwurf beiseite. „Aufklärung und Information sind die Themen der Moderne. Ein Teil davon funktioniert bereits erstklassig über Satellit. Darüber hinaus werden aber automatisierte Informationsquellen nah am Boden benötigt. Das ist die Zukunft. Übrigens durchaus auch im zivilen Bereich.“

„Drohnen also?“, fragte Susanna nach.

„Das ist nur eine Möglichkeit. Wenn man überlegt, was heutzutage bereits ein einziges Mobiltelefon zu leisten in der Lage ist, dann bekommt man eine vage Vorstellung von dem, was in Zukunft passieren wird. Und das verbindet den Bereich der technischen Innovation mit dem der praktischen Umsetzung. Für Matze, den alten Daniel Düsentrieb, sind also alle Optionen auf dem Tisch.“

„Wenn man mal davon absieht, dass ich Ingenieur bin und kein Computerfreak“, entgegnete der ältere Bruder.

„Was auch immer an künstlicher Intelligenz eingesetzt wird – es muss ja so verbaut werden, dass es den jeweiligen Erfordernissen angepasst ist. Diesen komischen Marsroboter hättest doch auch du bauen können – oder etwa nicht?“

„Theoretisch vielleicht, aber …“

„Nichts aber! Und genauso wird es mit allen Dingen sein, die wir nach meinen Ideen bauen würden. Jemand muss sich um die Programmierung kümmern, jemand muss die technischen Vorgaben erfüllen und dann muss das Gerät auch noch gebaut werden. Wir werden keinen Mitarbeiter entlassen müssen. Im Gegenteil.“

„Und wie steht Mama dazu?“, fragte Susanna, bevor die Begeisterung ihren Bruder zu einer noch ausführlicheren Erläuterung trug.

„Du kennst sie doch. Sie tut sich schon schwer damit, wenn wir den Stahllieferanten wechseln wollen. Nur weil wir mit dem alten schon seit 25 Jahren zusammenarbeiten. Da ist es völlig wurscht, dass ein anderer Zulieferer flexiblere Versorgung zu günstigeren Preisen anbietet. War so, ist so, bleibt so – das ist ihr Motto.“

„Klingt verfahren. Wie soll das alles weitergehen?“

„Der beste Weg wäre natürlich, wenn Mutter sich endlich aus dem operativen Geschäft zurückziehen würde. Dann gäbe es nur noch zwei Meinungen unter einen Hut zu bringen. Das ist schwer genug, aber wenigstens nicht unmöglich.“

„Am liebsten wäre es Krischan, wenn Mutter aufhören und ich mich anders orientieren würde. Woher allerdings das Geld stammen soll, mit dem er mich dann auszahlen müsste, das ist mir schleierhaft.“

„Du liebe Zeit! Ihr seid jetzt die dritte Generation Schuchardts in der Firma. Da muss es doch möglich sein eine Einigung zu erzielen, ohne dass einer den Laden verlassen muss!“ Susanna klang geradezu entsetzt.

„Da Mutter stur wie ein Panzer an ihrem Sessel klebt und trotz ihrer gesundheitlichen Probleme nicht kürzertritt, sind das eh alles nur akademische Fragen.“ Christian blickte enttäuscht auf seine leere Kaffeetasse.

Susannas Sohn Noah, der die ganze Zeit über schweigend dabeigesessen hatte und ausschließlich mit seinem Mobiltelefon beschäftigt war, nahm die Stöpsel aus den Ohren und ergriff zum ersten Mal seit einer halben Stunde das Wort.

„Wie geht es Oma denn eigentlich genau? Warum hast du ihr den Scooter geschenkt?“

„Du bist seit einem Jahr wieder hier in Hamburg und weißt nichts über den Gesundheitszustand deiner Großmutter? Ja, seht ihr euch denn nie?“, fragte seine Mutter verwundert.

„Nee, nicht so oft. Du weißt schon – das Studium und so.“

„Eigentlich ist sie gesund wie ein Pferd“, stellte Matthias fest. „Es ist nur die Arthritis, die ihr Beschwerden bereitet. Die Gelenke schmerzen – und das wohl ziemlich stark. Leider kann man dagegen so recht nichts unternehmen. Sie muss mehr oder weniger damit leben.“

„Sie ist immer noch verrückt nach ihren Hunden. Nur leider kann sie nicht mehr gut mit ihnen raus. An manchen Tagen ist selbst ein kurzer Gang über die Straße zu viel. Deshalb habe ich ihr den Flitzer besorgt. Damit muss sie nur Gas geben und bremsen. Und mit ihren Händen kann sie noch ganz gut umgehen. Hauptsächlich sind die Beine betroffen.“ Christian wirkte sehr fürsorglich.

„Begeistert sah sie vorhin nicht gerade aus, als das Ding reingefahren wurde.“

„Susi, du kennst sie doch! Kein Mensch darf mitbekommen, dass sie nicht mehr so kann, wie sie will. Und schon gar kein fremder. Da ist die Präsentation von so einem Rentnermobil natürlich ein Affront. Aber glaub mir – wenn sie das erste Mal mit den blöden Kötern unterwegs war, wird sie es lieben.“

„Wie lange bleibst du eigentlich, Schwesterchen?“, erkundigte sich Matthias.

„Eine Woche noch. Wir sehen uns ja so selten. Und womöglich gelingt es mir sogar, ein wenig Zeit mit meinem Sprössling zu verbringen. Seitdem er von der Insel geflüchtet ist, ist er für mich wie vom Erdboden verschluckt.“

„Das ist doch gar nicht wahr“, protestierte Noah. „Wir telefonieren doch ständig!“

„Ja, genau! Bestimmt alle drei Wochen“, grinste seine Mutter und wuschelte ihm zärtlich durch die halblangen Haare. „Schon gut. Ich weiß selber am besten, dass man als junger Mensch Abstand von seinen Eltern braucht. Was ich bisher nicht wusste, ist, wie schwer das für besagte Eltern sein kann. Aber man lernt ja auch im hohen Alter immer noch dazu!“

„Hohes Alter!“, schnaubte Matthias. „Du Küken! So jung wie du möchte ich nochmal sein. Aber es ist schön, dass du da bist. Ich habe dich vermisst!“

„Vielleicht kannst du ja ein bisschen Verstand in unsere Mutter bringen und ihr erklären, dass man mit 80 durchaus mal an Ruhestand denken darf.“

„Überschätzt du mich da nicht ein wenig?“

„Du bist ein seltener Gast und du steckst nicht im Alltagsgeschäft. Außerdem kann man dir kein persönliches Interesse unterstellen, da du aus der Firma ausgestiegen bist. Ich glaube, wenn einer etwas erreichen kann, dann du!“ Bei diesen Worten streichelte Christian ihr aufmunternd über den Oberarm. Susanna versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber sie empfand die Berührung als unangenehm.

* * *

„Dass Zenzi aus diesem Gipfeltreffen die Weltmeisterschaft der Voyeure machen will, kotzt mich an“, ranzte Isa und versetzte einem unschuldigen Sofakissen einen nahezu tödlichen Handkantenschlag. Zusammen mit Sonja war sie zu Mike nach Hause gefahren, damit sie sich noch ungestört über die Konferenz unterhalten konnten, die sie alle ein wenig fassungslos gemacht hatte.

„Man könnte das Thema etwas facettenreicher angehen“, räumte Staller ein. Er fläzte seine 190 Zentimeter Körpergröße gemütlich in den bequemen Sessel und hatte dabei ein Bein über die Armlehne gelegt. Sein ansonsten so jungenhaftes Gesicht wirkte ausnahmsweise ernst. „Zumal die Gefahr besteht, dass wir die Sendung gar nicht vollkriegen. Dann nämlich, wenn die Angelegenheit überwiegend friedlich verläuft.“

„Was vermutlich jeder hier im Raum hofft“, ergänzte Sonja, deren blonder Pferdeschwanz dekorativ über der Sofalehne hing. Überhaupt sah die Moderatorin wieder einmal aus wie ein Model in der Drehpause, obwohl sie lediglich Jeans und einen taillierten Hoodie trug. Aber ihre fröhliche Ausstrahlung machte sie attraktiv. Außerdem blitzten ihr blauen Augen lebenslustig in die Runde.

„Vor allem die Bewohner der Schanze. Viele haben bis heute kein Geld bekommen und sind auf ihren Schäden sitzen geblieben. Politiker sind Arschlöcher!“ Isa war bekannt dafür, mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg zu halten.

„Als angehende Journalistin solltest du mit solchen Pauschalurteilen vorsichtiger sein. Es betrifft ganz sicher nicht alle.“ Staller hatte die zwanzigjährige Freundin seiner Tochter Kati unter die Fittiche genommen und begleitete die Arbeit der freien Mitarbeiterin von “KM“ stets wohlwollend, aber kritisch.

„Schon gut. Aber das Recht auf eine private Meinung habe ich doch noch, oder? Ich meine, wir sind hier ja nicht auf Sendung!“

„Das stimmt natürlich. Aber wir kennen ja alle deine Neigung zu …“, Staller hüstelte diskret, „… sagen wir: entschlossener Positionierung.“

Immer wieder hatte Isa in der Vergangenheit Themen und Ansichten adoptiert, deren Belange sie dann mit Haut und Haaren verfocht. Ein bisschen lauwarme Begeisterung für eine Fragestellung gab es bei ihr nicht. Wenn, dann ging sie “all in“, wie man beim Poker sagte. Was nicht ausschloss, dass sie das Problem einen Monat später komplett ignorierte, weil sie ein neues Steckenpferd gefunden hatte.

„Wie wollen wir die Berichterstattung denn generell angehen?“ Sonja lenkte geschickt auf das Ausgangsthema zurück. Ihre klare, intelligente und logische Art Geschichten zu betrachten hatte sie erst zu Stallers Assistentin, dann zur gleichberechtigten Kollegin und schließlich auch noch zur Moderatorin der Sendung gemacht. Staller, das frühere Gesicht von “KM“, wollte zurück auf die Straße, an die Fälle und an die Menschen. Deshalb hatte er die Präsentation der Sendung gerne abgegeben. Das Verhältnis zu Sonja war von kollegial zu freundschaftlich gewechselt und nun … wurde es kompliziert. Da war mehr, aber es blieb – zumindest von Stallers Seite – eher unausgesprochen. Auch wenn seine Tochter Kati und Isa längst emsig und hartnäckig daran arbeiteten die beiden zu verkuppeln. Bisher allerdings zu ihrem Leidwesen nicht sonderlich erfolgreich.

„Wir werden auf jeden Fall Studiogäste brauchen“, sinnierte Staller. „Eine Sendung in Spielfilmlänge können wir nicht mit Bildern dieser zwei Tage bestreiten, selbst wenn der Mob ununterbrochen in den Straßen tobt. Das will nämlich irgendwann auch keiner mehr sehen. Zumal die Nachrichten ebenfalls voll davon sein dürften.“

„Was ich problematisch finde, ist die Tatsache, dass das Thema insgesamt einen politischen Hintergrund hat. Für uns als Kriminalmagazin sind diese Fragen eher irrelevant. Wenn es zu Straftaten kommt, dann betrifft das uns, ja. Aber das sind doch allenfalls Randerscheinungen dieses Wochenendes.“ Sonja suchte offensichtlich noch den passenden Ansatzpunkt für ihre Sondersendung.

„Ich persönlich hätte am Sonntagabend eine ganz normale Sendung gemacht und nur vom Gipfel berichtet, wenn es in unsere Kernkompetenz gefallen wäre. Aber ich verstehe Zenzi – oder besser noch Peter – dass sie eine solche Gelegenheit nicht verstreichen lassen wollen, bei der wir demonstrieren können, dass wir auch andere Ansprüche erfüllen können.“

Peter, das war Peter Benedikt, der Chefredakteur von “KM“. Der stets ruhige und überlegt handelnde Vollblutjournalist war einer der Garanten, dass ihre Sendung gegen den Trend über Jahre stabil im Programm blieb.

„Und was ist, wenn ausgerechnet an dem Wochenende ein spektakulärer Bankraub oder eine Entführung oder so etwas passiert? Lassen wir das sausen?“, wollte Isa wissen.

„Wenn das möglich ist, versuchen wir es bis zur nächsten regulären Sendung am Mittwoch rüberzuretten, schätze ich.“ Staller zuckte mit den Schultern. „Auf jeden Fall müssen wir uns von der übrigen Berichterstattung abheben. Personalisierung wäre ein Weg dafür. Wir begleiten Menschen, die Erfahrungen aus dem letzten Jahr haben, mit der Kamera. Den türkischen Gemüsehändler auf der Schanze, dessen Laden zerstört wurde, die Frau, die während der Demo krankenhausreif geprügelt wurde und den Bereitschaftspolizisten, der von einem Molli getroffen wurde. So könnten wir die Opferseite darstellen.“

„Gute Idee, Mike!“ Sonja schenkte ihm ein warmes Lächeln, das ihn sofort verunsicherte.

„Äh, hatte ich eigentlich schon Getränke angeboten?“ Eilig sprang er auf und hätte dabei beinahe den Zeitungsständer neben seinem Sessel umgestoßen.

„Man sagt ja, dass der Rotwein bei dir meist sehr lecker sein soll“, überlegte die Moderatorin und garnierte dies mit einem verführerischen Augenaufschlag, der den Reporter weiter neben die Spur brachte.

„Sobald du deinen Hormonhaushalt wieder unter Kontrolle hast, nehme ich ein schlichtes Wasser“, bemerkte Isa süffisant und schüttelte den Kopf, als Staller wie ein gehetztes Reh aus dem Zimmer eilte. „Wann wird dieser Mann endlich vernünftig?“

„Was er über die Sendung gesagt hat, klang sehr klug“, stellte Sonja richtig.

„Kein Mensch bestreitet, dass er jobmäßig eine Konifere ist“, spöttelte Isa. „Für den Rest bräuchte er einen dreimonatigen Crash-Kurs bei Tinder oder so was.“

„Jetzt sei doch nicht so streng mit ihm.“

„Deine Engelsgeduld möchte ich haben!“

Die Moderatorin musste lachen. „So ist er halt – auch wenn ich mich gar nicht für soo geduldig halte.“

Im Flur erklang das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss umgedreht wurde, und nach kurzer Zeit stand Kati im Wohnzimmer und sah sich erstaunt um.

„Nanu, Vollversammlung? Und wo ist mein Vater?“

„Den hat Sonja ins Schlafzimmer vorgeschickt“, behauptete Isa. „Wo hast du dich denn rumgetrieben in dem Aufzug?“

Kati sah an sich herab und strich unwillkürlich mit den Händen über den schwarzen Rock. Als Oberteil trug sie eine weiße, schlichte Bluse und die Haare hatte sie hochgesteckt.

„Ich war im Hotel Jacob. Große Geburtstagsfeier. Dort helfe ich manchmal im Service. Als arme Studentin braucht man gelegentlich ein paar Kröten extra. Kann ja nicht jede gleich als hoch bezahlte Journalistin einsteigen.“ Die Bemerkung war eine reine Frotzelei und von keinerlei Neid geprägt. Kati und Isa waren seit Jahren beste Freundinnen, auch wenn sie unterschiedlicher kaum sein konnten.

„Ach du lieber Himmel! Häppchen servieren für die Schönen und Reichen? Ist das nicht furchtbar öde?“ Ein kleiner Rückgriff auf die Phase, in der Isa den Kommunismus für die Lösung aller Probleme gehalten hatte.

„Au contraire, meine Liebe“, flötete Kati gewollt vornehm. „Am Tisch der Familie ging es ziemlich spannend zu.“

„Wer hatte denn Geburtstag?“, erkundigte sich Sonja.

„Eine Frau Schuchardt. 80 Jahre, Industriellenwitwe, macht irgendwas mit Metallbau. Klassische Hanseatin, hat vermutlich noch nie einen Tag krank gemacht oder jemanden um zehn Cent betrogen. Und dann bekommt sie so einen Elektro-Rollstuhl von ihren Kindern geschenkt. Sie war not amused, das konnte man sagen. Obwohl sie sich natürlich nichts hat anmerken lassen.“

„Vermutlich handelte es sich bei ihren Kindern um Söhne“, tippte Sonja und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Bingo. Überhaupt schwelten da wohl so einige Konflikte. Aber ansonsten eine Top-Veranstaltung. Ich kenne die ja nicht alle, aber Hamburgs High Snobiety war gut vertreten. Der Wirtschaftssenator hat eine Laudatio gehalten. Den hab ich immerhin erkannt.“

Staller, der in diesem Moment das Wohnzimmer mit einer Flasche und Rotweingläsern betrat, pfiff anerkennend. „Gut schaust du aus, Töchterchen!“

„Danke! Ich geh' mich trotzdem mal umziehen.“

„Du hast mein Wasser vergessen“, stellte Isa sachlich fest und stand gleich auf, um es sich selber zu holen. Staller füllte derweil Rotwein in zwei Gläser und reichte eins davon Sonja, die sich mit einem Lächeln bedankte.

„Was, glaubst du, wird am Wochenende passieren?“, fragte sie, nachdem sie einen kleinen Schluck probiert und anerkennend genickt hatte.

„Das kommt ein bisschen darauf an, ob die Behörden aus dem letzten Jahr gelernt haben. Die große Demo am Samstag könnte weitgehend friedlich bleiben, wenn die Polizei flexibler und zurückhaltender agiert. Ich rechne auch mit deutlich weniger Teilnehmern. Trotzdem wird es natürlich auch ein paar bescheuerte Chaoten geben, die unbedingt Bambule haben wollen. Aber das wird sich abseits abspielen, vermute ich.“

„Ein Protestcamp ist dieses Mal ja nicht angemeldet. Denkst du, dass sie versuchen werden es illegal zu errichten?“

„Glaube ich nicht. Überhaupt wird es weniger Krawall-Tourismus geben. Es ist halt alles eine Nummer kleiner als G 20.“

Isa, die mit einem Glas Wasser aus der Küche erschienen war, hatte den letzten Satz mitbekommen.

„Das größte Problem sehe ich darin, dass ein paar gut organisierte rechte Gruppen auftreten könnten. Die könnten, wie im letzten Jahr, versuchen irgendeinen Scheiß zu veranstalten und den dann den Leuten von der Flora oder der Antifa in die Schuhe zu schieben.“

Der Reporter wedelte skeptisch mit seiner Linken, da er mit rechts sein Weinglas hielt.

„Nachgewiesen ist da aber noch nichts aus dem letzten Jahr!“

„Daran haben die Behörden ja auch kein Interesse“, konterte Isa hitzig.

„Das lass mal nicht Bommel hören!“ Bommel war Thomas Bombach, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar und – je nach Anlass – Freund oder Gegenspieler von Michael Staller. Gemeinsam war ihnen der Kampf gegen das Verbrechen; sie unterschieden sich aber oft in der Art und Weise, wie sie ihn führten. Der Polizist ging streng nach Dienstanweisung und Gesetz vor, während der Reporter keine Skrupel hatte die Bürgerrechte eines Verbrechers kurzzeitig auszusetzen, indem er sich beispielsweise Zutritt zu dessen Wohnung verschaffte. Über diese Verfahrensfragen gerieten die beiden immer wieder in Streit, was ihrer Freundschaft letztlich aber keinen Abbruch tat.

„Wenn er ehrlich ist, müsste er es zugeben“, beharrte die Nachwuchsjournalistin.

„Jetzt hack mal nicht auf ihm rum. Er hat es schwer genug zurzeit. Relativ später Papa von Zwillingen ist ein hartes Brot.“

„Ach Quatsch! Jede Wette, dass Gaby die ganze Arbeit macht und er sich im Büro verkriecht.“

„Jetzt tust du ihm wirklich Unrecht! Seine Berichte vom Windelwechsel waren absolut glaubwürdig.“

„Und das kann mein Paps beurteilen“, stellte Kati fest, die inzwischen umgezogen war und wieder im Wohnzimmer erschien. Die verwaschene Jeans und ein Holzfällerhemd ließen sie ein bisschen wie ein Familienmitglied der Waltons aussehen. „Gut informierten Quellen zufolge hat er mir eine vierstellige Anzahl von Windeln angelegt. Er kennt sich also bestens aus!“

„Wo wir gerade von Babys reden“, grinste Isa und zwinkerte auffällig verschwörerisch. „Wollen wir die beiden angehenden Turteltäubchen hier mal alleine lassen und noch ein bisschen die Stadt unsicher machen? Sie sind ja wie Pandas: Wenn man sie beobachtet, passiert überhaupt nichts!“

Bevor Staller seine Gesichtszüge auch nur halbwegs wieder unter Kontrolle hatte, waren die beiden Mädels lachend im Flur verschwunden. Mit verzweifelter Miene wandte er sich Sonja zu, aber die lächelte nur unergründlich.

* * *

„Ich habe es dir doch erklärt, es ist ganz einfach. Du musst es nur einmal ausprobieren und es wird dir gefallen, das verspreche ich dir. Es ist jetzt dunkel, also wird dich niemand sehen.“

Energisch drückte Christian auf die Fernbedienung, mit der sich das Garagentor öffnen ließ. Die Leinen der beiden Möpse hatte er vorher an einer Öse befestigt, die seitlich an dem Scooter angebracht war. Die Hunde hegten offenbar weniger Vorbehalte gegen das Vehikel als die Fahrerin, denn sie strebten eifrig Richtung Garten.

„Jetzt gib vorsichtig Gas! Gut so! Wunderbar, du machst das sehr gut.“

Das Gefährt bewegte sich gemächlich auf die Einfahrt zu, gelenkt von einer äußerst skeptischen Elisabeth Schuchardt, die zusätzlich zum unförmigen Mantel auch noch ein Kopftuch gewählt hatte. Erst ruckelnd und dann immer flüssiger fuhr sie in Richtung auf das schmiedeeiserne Eingangstor an der Grundstücksgrenze. Die eifrig kläffenden Möpse äußerten große Freude über die zügige Bewegung.

„Halleluja, das wäre geschafft!“, stöhnte der Sohn und betätigte eine weitere Fernbedienung, die das Tor zur Straße öffnete. „Stur wie ein Maultier, die Alte!“

„Ziemlich despektierlich, wie du da von unserer Mutter redest“, befand Susanna, die aus der Verbindungstür vom Haus zur Garage trat und der ungewöhnlichen Gassi-Gang hinterherschaute. Das Grundstück war selbst für Blankeneser Verhältnisse groß und ein Verkauf würde Millionen einbringen. Allein die Grundfläche der Garage war derart üppig, dass die drei darin stehenden Autos nur etwa die Hälfte des vorhandenen Platzes einnahmen. Und es handelte sich nicht etwa um Kleinwagen.

„Ist doch wahr!“ Falls es Christian peinlich sein sollte, dass er gehört worden war, so ließ er es sich keinesfalls anmerken. „Himmel, die Frau ist 80 Jahre alt, ihre Gelenke leuchten vermutlich im Dunkeln, so entzündet sind sie, und sie weigert sich konsequent, ein wenig Rücksicht auf ihre Gesundheit zu nehmen. Besonders klug ist das nicht!“

„Aber sie ist geistig völlig auf der Höhe und kann von daher ganz gut selber entscheiden, was sie möchte und was nicht.“

„Oh ja, das kann sie und das tut sie auch.“

Inzwischen waren Frauchen und Hunde auf die Straße gebogen und verschwanden aus dem Blickfeld. Offensichtlich kam die alte Dame mit dem Scooter klar.

„Wollen wir wieder ins Haus gehen?“ Christian hielt seiner Schwester höflich die Tür auf. Er trug immer noch seinen dunklen Anzug, während sie sich inzwischen umgezogen hatte und eine bequeme Hose und Sneakers trug.

„Klar.“ Sie schritt voran in den schmalen Durchgang zur eigentlichen Villa, vorbei an dem Treppenaufgang zur Wohnung der Hausangestellten, die sich über der Garage befand. „Wo wohnst du eigentlich jetzt?“

„Ich musste ein bisschen Abstand haben und hab mir ein Haus am Beginn des Alsterlaufs gekauft. Nichts Spektakuläres, aber ruhig, hübsch gelegen und wertstabil. Und vor allem: weit genug weg von hier. So wie Matthias könnte ich nicht leben. Ewig unter Mutters Kontrolle und Fuchtel.“

„Ist er tatsächlich nie hier ausgezogen?“ Sie betrat durch eine weitere Tür den geräumigen Flur des Haupthauses, der eher einer Empfangshalle glich. Eine große, über zwei Meter breite Treppe führte in den oberen Stock, wo sie zunächst in eine Empore mündete. Durch die gewaltige Deckenhöhe des alten Bauwerks fühlte man eine Weite um sich, die es sonst nur unter freiem Himmel gab, was ein beabsichtigter Effekt war.

„Nein, er besitzt aber auch irgendwie kein nennenswertes Privatleben. Entweder er ist in der Firma oder er zieht sich in sein Arbeitszimmer hier zurück und tüftelt an irgendwelchen Dingen. Vielleicht guckt er auch einfach nur Pornos, wer weiß das schon.“ Er öffnete eine Hälfte der Doppeltür zum Wohnzimmer und winkte seine Schwester herein zu einer Sitzgarnitur von der Größe eines mittleren Möbelwagens.

„Krischan, das ist nicht nett“, tadelte Susanna. „Was ist mit dir, gibt es jemanden?“

Er lachte und strich sich das graue, noch recht volle Haar aus der Stirn. „Immer! Na ja, fast immer. Aber fast nie dieselbe. Ich bin wohl nicht so der Typ für langfristige Bindung. Wenn sie eine Zahnbürste in dein Badezimmer stellen wollen, dann ist es an der Zeit die Reißleine zu ziehen. Von da an geht es nämlich nur noch bergab.“

„Hast du nie das Bedürfnis nach einer eigenen Familie gehabt?“, erkundigte sie sich ganz ernsthaft.

„Nein.“ Keine Einschränkung, keine Erklärung, nur dieses eine Wort.

„Das ist … sehr konsequent.“

„Vielleicht ist es das, was ich aus unserer Familie gelernt habe.“ Er sah aus, als ob ihm diese Erklärung schon zu weit ging, fand sie. Und richtig, er wechselte prompt das Thema.

„Was ist mit dir? Keinerlei Ambitionen wieder zurückzukommen?“

Susanna lehnte sich in die Polster und schaute herum. Die Einrichtung war gediegen, aber nicht protzig. Trotzdem neigte sie dazu mit schierer Größe und Opulenz den Betrachter zu erschlagen. Was für ein Unterschied zu ihrem schlichten Haus in den Bergen von Teneriffa!

„Ich kann es mir nicht vorstellen. Mein Leben unterscheidet sich in so ziemlich allem von eurem Leben hier. Das soll keine Wertung sein, versteh mich nicht falsch. Es ist nicht besser, nur anders. Aber der Weg zurück wäre vermutlich schwer bis unmöglich. Dafür habe ich mich zu sehr an meine Umgebung gewöhnt. Allein die Kälte hier!“ Sie schauderte leicht.

„Also eigentlich haben wir es gerade recht warm“, schmunzelte Christian und ging zu einem riesigen Barschrank aus Kirschbaumholz. „Einen Sherry?“

Sie überlegte kurz. „Ja, warum nicht.“

Er schenkte zwei funkelnde Kristallgläser ein und brachte sie zum Tisch. „Auf dein Wohl, Schwesterchen! Und auf dein anderes Leben in der Ferne, wo es warm ist.“

Sie prostete ihm dankend zu, probierte einen kleinen Schluck und stellte das Glas dann ab. „Ich vermisse die Insel tatsächlich schon“, gestand sie ein. „Es ist das Licht, die Luft und einfach dieses Gefühl von Weite. Hamburg ist im Vergleich ja wirklich eine schöne und großzügige Stadt, aber ich fühle mich hier inzwischen eingeengt.“

„Und wie ist das mit Noah? Weißt du etwas über die Pläne deines Sohnes? Es sieht ja irgendwie so aus, als ob er der einzige Vertreter der nächsten Generation von Eisen-Schuchardt wäre?“

Sie spürte seinen lauernden Blick von der Seite, auch ohne in seine Richtung zu blicken. „Hast du darüber schon mit ihm gesprochen? Du bist ja im Moment dichter an ihm dran als ich.“

Christian schüttelte den Kopf.

„Er ist nicht oft bei uns. Genau genommen so gut wie nie. Und er ist auch nicht besonders mitteilsam.“

„Für ihn ist Hamburg erst recht eine Umstellung. Ich kenne das Großstadtleben zumindest noch von früher. Noah ist praktisch auf der Insel aufgewachsen. Ich musste ihn richtiggehend überreden, auch mal etwas anderes zu sehen.“

Eine weitere Tür zum Wohnzimmer öffnete sich und Matthias erschien. Er hatte sich zwar nicht umgezogen, aber das Jackett abgelegt, die Ärmel aufgekrempelt und die Krawatte gelockert. Mit seinem etwas wirren Haarkranz sah er aus, als ob er ein Nickerchen gemacht hätte, die wachen Äuglein sprachen jedoch dagegen.

„Wo hast du gesteckt, Brüderchen?“

„Du kennst meine Gewohnheiten ja nicht so gut, Susi. Mir gehen ständig Dinge durch den Kopf, an denen ich gerade arbeite. Und wenn mich ein Geistesblitz – oder das, was ich dafür halte – überraschend trifft, dann muss ich den Gedanken schnellstens notieren, sonst ist er gleich wieder futsch. Vermutlich eine Alterserscheinung“, lächelte er entschuldigend.

„Von wegen! Meines Wissens hast du ein Gedächtnis wie ein Elefant. Aber du wirst ja unglücklich, wenn du mehr als drei Stunden von deinem Fass getrennt bist, Diogenes.“ Der Satz hätte wie eine gut gemeinte Frotzelei klingen können, aber er besaß eine gewisse Schärfe, wie Susanna fand.

„Woran arbeitest du denn gerade?“, wollte sie wissen.

„Och, es geht um bestimmte Steuerungsmechanismen. Langweiliger Kram für andere Leute. Aber ich find's spannend.“

„Matthias schraubt ständig an unseren Arbeitsabläufen in der Produktion herum. Eine Ökonomisierung der Herstellung um fünf Sekunden pro Teil ist für ihn wie für mich eine Nacht mit einer heißen Blondine, stimmt's Matze?“

„Ich interessiere mich nun mal für das, was wir tun – Maschinenteile herstellen. Dafür muss ich doch wissen, was diese Teile können müssen und wie wir sie dann am geschicktesten fertigen.“

„Du kommst halt ganz nach unserem Vater. Der hat auch immer noch nachts an der Drehbank gestanden und irgendwas ausprobiert, selbst als wir schon längst CNC-gesteuerte Maschinen im Einsatz hatten.“

„Einer sollte schon verstehen, was wir eigentlich machen“, entgegnete Matthias kühl und wandte sich entschuldigend an seine Schwester. „Ich will dich nicht langweilen.“

Bevor sie antworten konnte, setzte Christian das Gespräch mit einer Kälte in der Stimme fort, die die Raumtemperatur abzusenken schien. „Für den technischen Kram haben wir Abteilungsleiter, Ingenieure und Meister. Ich muss nicht Dreher gelernt haben, um eine Firma leiten zu können. Das Zeug, das wir bauen, muss ja auch an den Mann gebracht werden. Das geht nicht, wenn man tagein, tagaus in einer Ecke hockt und Flacheisen entgratet.“

„Jetzt streitet euch doch nicht“, griff Susanna beruhigend ein. „Es ist doch ganz klar, dass eine erfolgreiche Firma Kaufleute und Techniker braucht. Ist doch prima, dass ihr euch da anscheinend ganz gut ergänzt!“

Die Tür zur Halle öffnete sich erneut und die beiden Möpse stürmten ins Wohnzimmer. Sie erklommen völlig selbstverständlich einen Sessel und rollten sich auf der Sitzfläche ein, wobei sie mehrere Anläufe brauchten, bis sie sich auf eine für beide akzeptable Position geeinigt hatten. Susanna, die Parallelen zum Gespräch der Brüder erkannte, unterdrückte ein Schmunzeln und drehte den Kopf zur Tür, als zunächst ein Rollator und dann ihre Mutter sichtbar wurden.

„Mama! Seit wann benutzt du denn einen Rollator?“

Elisabeth Schuchardt schloss zunächst ordentlich die Tür hinter sich, ging dann, fest auf die Griffe gestützt, mit langsamen, aber entschlossenen Schritten zur Sitzgruppe und ließ sich mit einem unterdrückten Seufzer in ihren Sessel sinken. Die zusammengepressten Lippen verrieten dem aufmerksamen Beobachter, dass sie dabei Schmerzen verspürte.

„Die Last der Jahre zwingt uns allerlei Entwürdigendes zu akzeptieren“, verkündete sie und warf ihrem ältesten Sohn einen auffordernden Blick zu. „Bekomme ich auch einen Sherry?“

„Natürlich, Mutter.“ Matthias sprang auf und organisierte das Gewünschte aus dem Barschrank.

„Danke. Und – worüber sprecht ihr gerade?“

„Wir haben uns gerade gefragt, wie du mit deinem neuen Gassi-Mobil zufrieden bist. Hast du die große Runde gedreht?“ Christian reagierte geschmeidig und ließ keinen Zweifel daran, dass er das bisherige Gesprächsthema in Anwesenheit seiner Mutter nicht zu vertiefen gedachte.

„Ich gebe zu, dass es schön war, auch mal wieder die große Runde zu drehen. Sir Toby und Sir Henry waren ebenfalls angetan.“

Die große Runde implizierte den nahegelegenen Hessepark und bedeutete neben der reinen Bedürfnisverrichtung auch die Gelegenheit zum Spiel.

„Bist du zurechtgekommen mit dem Scooter?“

„Was für eine Frage. Ich habe mich den größten Teil meines Lebens mit Fahrzeugen aller Art beschäftigt. Ausnahmslos alle erforderten größeres technisches Verständnis als dieser Krankenfahrstuhl.“ Empört nahm sie einen großen Schluck Sherry.

„Also ja.“ Christian ließ sich nicht entmutigen. „Das ist doch prima! Dann kannst du doch wieder öfter mit den Hunden raus. Glaubst du nicht, dass dir das Freude machen wird?“

„Freude würde es mir machen, wenn ich auf meinen eigenen Beinen durch den Park laufen könnte. Aber davon ist vermutlich nicht mehr auszugehen“, schnarrte sie und machte ein bitterböses Gesicht.

„Und deshalb solltest du entsprechend reagieren. Ein paar Hilfsmittel annehmen ist die eine Möglichkeit, etwas kürzertreten die andere“, schlug Christian vor.

„Ich weiß, dass du mich lieber heute als morgen aus der Firma rausdrängen würdest. Aber ich habe deinem Vater auf dem Totenbett versprechen müssen, dass ich bis zum letzten Atemzug dafür Sorge trage, die Firma so zu leiten, wie er sie ein Leben lang aufgebaut hat. Und ich habe vor dieses Versprechen zu halten.“ Sie klang fest entschlossen.

„Ich weiß.“ Der jüngere Sohn seufzte deutlich hörbar. „Dann fall halt irgendwann auf der Arbeit tot um. Du lässt dir ja eh nichts sagen.“

„Von dir jedenfalls nicht. Ich kenne deine Vorstellungen! Irgend so einen neumodischen Kram willst du bauen lassen, den kein Mensch braucht. Und dann geht die Firma den Bach runter. Gut, dass dein Vater das nicht mehr erleben muss!“

Susanna beobachtete diese kleine Auseinandersetzung aufmerksam. Die Gräben zwischen den Verantwortlichen des Familienbetriebes schienen tief und fest gezogen. Trotzdem versuchte sie zu vermitteln. „Mutter, es ist dein Geburtstag! Ich finde, zumindest heute solltest du mal alle Gedanken an die Arbeit fallen lassen. Wann kommst du mich endlich mal besuchen? Es ist so wunderschön auf der Insel. Und die Aussicht aus dem Gästezimmer ist ein Traum!“

„Wunderschön? Wenn ich richtig informiert bin, besteht der größte Teil der Insel aus ein paar kargen Felsen und der Rest wird von angetrunkenen Touristen bevölkert. Wenn es schon eine Insel sein muss, dann kommt nur Sylt in Frage.“

Im Familienbesitz befand sich auch ein größeres Reetdachhaus in Rantum, das der Mann von Elisabeth für eine damals schwindelerregende Summe gekauft hatte, das seinen Wert allerdings seitdem vervielfacht hatte. Richtigen Urlaub hatte die Witwe hier allerdings schon länger nicht mehr gemacht, denn mehr als ein verlängertes Wochenende gönnte sie sich nicht.

„Das stimmt so aber nicht“, stellte Susanna richtig. „Mein Haus liegt in einer Gegend der Insel, die fast ein bisschen an unsere Mittelgebirge erinnert. Ich würde mich wirklich freuen dir alles mal zu zeigen! Außerdem dürfte das ausgeglichene, warme Klima ein echtes Geschenk für deine schlimmen Gelenke sein.“

Die alte Dame warf ihr einen scharfen Blick zu.

„Hast du dich etwa in das Komplott deiner Brüder reinziehen lassen, mich unbedingt aus der Firma fernzuhalten?“

„Mutter, du weißt, dass ich keinerlei Interesse an der Art habe, wie unser Geschäft geführt wird. Aber du wirst nicht jünger und ich fände es schön, wenn du sehen könntest, wie dasjenige deiner Kinder lebt, zu dem du mit großem Abstand den wenigsten Kontakt hast. Verstehst du das denn nicht? Ich meine – du wirst nicht ewig leben!“

„Jetzt fang du nicht auch noch an! Meine Mutter ist 95 geworden und das habe ich auch vor. Mindestens. Soll ich die nächsten zehn, zwanzig Jahre nur Bridge spielen oder was?“ Sie trank ihren Sherry aus und stellte das Glas mit Nachdruck auf den Couchtisch. „So, jetzt werde ich mich zurückziehen. Christian, ich brauche noch die Tagesordnung für das Meeting in der nächsten Woche. Die wolltest du mir gestern schon gegeben haben.“

„Bekommst du morgen, Mutter!“

„Matthias, wir sehen uns beim Frühstück. Ach ja, Susanna, wir ja auch. Ich bin es nicht gewohnt, dass du wieder bei uns bist. Gute Nacht!“ Mühsam erhob sie sich, stützte sich auf den Rollator und schlurfte davon. Ihr Kopf war allerdings hoch aufgerichtet und der Rücken kerzengerade durchgedrückt.

„Gute Nacht, Mutter!“ Ein dreistimmiger Chor verabschiedete sie.

Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, entspannten sich die übrigen Familienmitglieder sichtlich.

„Sie scheucht euch ganz schön rum“, befand Susanna.

„Stur wie ein Muli. Ich hab' es doch gesagt.“ Christian lockerte seine Krawatte.

„Es war auch für sie ein anstrengender Tag“, suchte Matthias nach einer Entschuldigung. „Ich werde gleich noch einmal nach ihr sehen und gucken, ob sie noch etwas braucht.“

„Mach mal! Ich wollte mich sowieso auf den Weg machen. Mich dürstet nach diesem Tag dringend nach etwas Ablenkung.“

„Eine Verabredung?“, stichelte Susanna freundlich.

„Noch nicht. Aber du hast völlig recht: Ich brauche jetzt eine freundlichere, jüngere und hübschere Frau um mich, damit ich nicht den Glauben an das Gute im Weibe verliere.“ Christian sprang dynamisch auf und drückte seiner Schwester einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Du zählst nicht – du gehörst zur Familie. Wir sehen uns morgen!“

* * *

In der unordentlichen Küche waberten dichte Rauchschwaden unter der tief hängenden Lampe. Es roch neben dunklem Tabak auch leicht süßlich nach Marihuana. Auf dem Tisch befanden sich unzählige Becher und Gläser mit unterschiedlichsten Getränkeresten, deren Alter von ganz frisch bis undefinierbar variierte. Eine große Holzschale beherbergte in friedlicher Eintracht einige teils überreife Obststücke und eine großzügige Auswahl an Schokoriegeln und anderen Süßigkeiten. Die Sitzmöbel – allesamt Einzelstücke und offenbar überwiegend vom Sperrmüll – waren von zwei jungen Männern und einer Frau besetzt, die abwechselnd an einem riesigen Joint zogen. Ihre Augen legten den Schluss nahe, dass es nicht der erste des Tages war.

„Da werden die Scheißbullen aber mal so richtig abstinken“, versicherte einer der Jungs mit schleppender Stimme und strich sich zufrieden über seine blau gefärbten Haare. „Du bist aber auch ein echtes Genie, Noah!“

„Warte mit den Vorschusslorbeeren erst mal ab. Noch hat der Plan nicht funktioniert.“

„Wird er aber“, behauptete die junge Frau und drückte ihrem Sitznachbarn einen Kuss auf den Mund. Zumindest war das ihre Absicht. Da ihre Bewegungen jedoch nicht besonders zielführend und koordiniert waren, traf sie stattdessen sein Ohr. Immerhin gelang es ihr aus der Not eine Tugend zu machen und sie knabberte einen Moment liebevoll daran.

„Sollen wir den Zeitplan noch einmal durchgehen?“, erkundigte sich Eichelhäher, wie er wegen seiner Haare genannt wurde, und riss sich mit gierigen Fingern ein Snickers auf. Anhand der vor ihm liegenden Papiere war ersichtlich, dass es bereits sein drittes war.

„Du bist so stoned, du erinnerst dich doch morgen an nichts mehr“, winkte Noah lachend ab. Er wirkte deutlich fitter als die beiden anderen. Entweder hatte er sich mit den Joints zurückgehalten oder er vertrug die Droge besser. „Außerdem sollten wir eine gewisse Flexibilität beibehalten. Wir warten, bis an anderer Stelle gerade der Punk richtig abgeht, und schlagen dann zu. Zu dem Zeitpunkt liegt der Fokus der Aufmerksamkeit nicht so auf unserem Ziel.“

„Aber die können doch eh nichts machen“, kicherte die Frau ausgelassen. „Weil wir verdammt nochmal aus dem Nichts zuschlagen. Und dann: bämm!“

„Hauptsache es wird kein Schlag ins Wasser“, presste Eichelhäher mit Mühe heraus, bevor alle drei in brüllendes Gelächter ausbrachen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sie sich wieder beruhigten, denn immer wenn sie ihren Lachflash halbwegs unter Kontrolle hatten, prustete einer doch wieder los und riss die Übrigen sofort wieder mit, eine weitere Folge des Marihuanas.

„Ganz einfach ist das alles nicht. Wir wissen nicht über welche Sicherheitsmaßnahmen sie dort verfügen. Damit kenne ich mich ehrlich gesagt überhaupt nicht aus. Aber wir befinden uns immerhin mitten in der Stadt. Da wird es schon keine Abwehrraketen oder so geben.“

Der Satz rief einen erneuten Heiterkeitsausbruch hervor.

„Wichtig ist auf jeden Fall, dass wir damit ein klares Zeichen setzen gegen den globalen Kapitalismus. Amerika ist und bleibt der Vorreiter und erst recht, seit dieser Clown ins Weiße Haus gewählt wurde.“

„Richtig, Nina! Venceremos!“ Eichelhäher schlug mit der Faust auf den Tisch und warf dabei ein Glas um, das glücklicherweise halbleer war. Niemand schien sich um das Rinnsal kümmern zu wollen, das sich über den Tisch ergoss. „Wir müssen aufstehen und die Herrschaft der Konzerne bekämpfen. Die Welt muss wieder allen Menschen gehören und nicht nur ein paar Kapitalistenschweinen!“

„Weißt du, ob der Widerstand Aktionen geplant hat?“, wollte Noah wissen.

„Natürlich. Aber nicht, wo und wann. Die Bewegung muss aufpassen, dass sie nicht unterwandert wird. Deswegen gibt es kaum zentral gesteuerte Aktionen. Klar, die große Demo, ein paar Kundgebungen. Aber die wirklich bedeutsamen Ereignisse werden in einzelnen Zellen geplant und durchgeführt. Dann können sie nicht auffliegen. Aber den Vogel werden wir abschießen!“

Wieder wurde das Gespräch durch minutenlanges Gelächter unterbrochen.

„Jetzt reißt euch doch mal zusammen!“, brüllte Noah plötzlich im Kasernenhofton und brachte damit erneut die Stimmung zum Kochen.

„Haben wir eigentlich Pfirsichsaft?“, fragte Nina schließlich und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. „Dafür könnte ich jetzt töten!“

„Ey, wir arbeiten ausschließlich gewaltfrei“, stellte Noah grinsend fest.

„Keine Ausnahme für Pfirsichsaft?“

„Nope. Auch nicht für Dope.“ Eichelhäher schmiss sich fast weg über sein bescheidenes Wortspiel.

„Du kannst die Kalaschnikow wieder einmotten“, befand Noah. „Hier ist welcher!“

Dankbar zog Nina sich den Tetrapack heran und trank einen langen Zug direkt aus der Verpackung. Dann setzte sie den Karton ab, schaute erwartungsvoll in die Runde und rülpste dann donnernd.

„Respekt!“ Eichelhäher hielt sich den Bauch, der vom vielen Lachen mittlerweile schmerzte.

„Gute Nachricht: Es waren noch keine Bröckchen im Saft“, berichtete Nina mit seligem Lächeln. „Wo sind die Gummibärchen?“

* * *

Obwohl er heute ziemlich früh nach Hause kam, drehte Thomas Bombach den Schlüssel betont leise im Schloss herum. Das Leben mit neugeborenen Zwillingen war kraft- und schlafraubend, besonders für Gaby, seine Frau. Wenn es irgendwann die Gelegenheit zu einem kurzen Nickerchen gab, dann nahm sie diese dankend wahr. Das konnte morgens um acht Uhr sein, nachmittags um fünf oder abends um neun. Gaben Max und Moritz zufällig gleichzeitig Ruhe, dann kippte die übernächtigte Mutter praktisch im selben Moment um und fiel in ein kurzfristiges Koma. Allerdings wachte sie zuverlässig beim ersten Geräusch wieder auf.

Bombach hängte seine Jacke an die Garderobe im Flur, legte seine Schlüssel auf die Kommode und lauschte. Tatsächlich war es geradezu beunruhigend still im Haus. Leise öffnete er die Tür zum Wohnzimmer und blieb direkt auf der Schwelle stehen. Das Bild, das sich ihm bot, rührte ihn zutiefst. Mitten im Raum lag die extragroße Krabbeldecke, darauf stumpf auf dem Rücken Gaby. Aufgrund der Lage klang ein gleichmäßiges Schnarchen aus ihrem halbgeöffneten Mund. In jedem Arm hielt sie einen der Zwillinge, die deutlich geräuschloser, aber ebenso fest schliefen. Die etwas knittrigen Gesichtchen waren jeweils dem mütterlichen Körper zugewandt. Diese Konstellation vermittelte ein Gefühl tiefen Friedens.

Nachdem er das Bild sehr ausführlich in sich aufgesogen hatte, riss der Kommissar sich los. Ansonsten hätte er noch stundenlang im Türrahmen stehen und seiner Familie beim Schlafen zusehen können. Auf leisen Sohlen schlich er näher und suchte nach einer Decke. Das Haus war zwar gut geheizt, aber so ganz ohne …

Einer der Jungs streckte plötzlich ein Ärmchen aus und bewegte sich. War das Max? Irgendwie fand er es peinlich, aber Bombach hatte Schwierigkeiten seine beiden Jungs auseinanderzuhalten. Gaby hatte das von Anfang an gekonnt. Jedenfalls zog Max, wenn er es denn war, eine Schnute und legte alle Anzeichen an den Tag, dass er gleich wieder aufwachen wollte. Es sah so aus, als ob die Raubtiere unmittelbar nach der Fütterung in Schlaf gesunken wären. Mit drei Monaten war die Nahrungsaufnahme noch harte Arbeit, die die Kleinen ziemlich erschöpfte. Jetzt meldete sich möglicherweise die Verdauung und störte die Ruhe. So viel hatte der junge Vater immerhin auch schon gelernt. Und wenn Max – der Einfachheit halber blieb Bombach jetzt dabei – mit einer vollen Windel aufwachte, dann würde er dies lautstark anprangern und dabei natürlich seinen Bruder und die Mutter wecken.

Mit den geschmeidigen Bewegungen eines Entfesselungskünstlers entwand der Kommissar seiner Frau das Kind und legte es sich vorsichtig an die Schulter. Wenn er es bis in den ersten Stock schaffte, wo die Wickelkommode stand, dann gab es eine Chance dass die anderen beiden weiterschlafen konnten.

Zu seiner großen Freude gelang es ihm das Wohnzimmer unbemerkt zu verlassen. Leise, aber zügig begab er sich nach oben in das Kinderzimmer und deponierte Max auf der Kommode. Wenn er ihn wickelte, ohne dass dieser richtig wach wurde, dann gelang vielleicht sogar das seltene Kunststück, dass er ihn schlafend in sein Bettchen legen konnte.

Die erforderlichen Handgriffe waren ihm inzwischen vertraut. Anfangs hatte er furchtbare Angst gehabt, dass er mit seinen großen, ungeschickten Händen seinen Kindern irgendein Leid antun könnte, aber die erfahrene Hebamme hatte die richtigen Worte gefunden. „So schnell bekommen Sie ein Kind nicht kaputt!“, hatte sie gesagt und natürlich recht behalten. Mittlerweile griff er beherzt zu und erledigte die Aufgabe zügig und routiniert.

„Uh, heute haben wir ja eine Splitterbombe!“, murmelte er, als er feststellte, dass die Verdauung mal wieder jeden vorgegebenen Rahmen gesprengt hatte und ihre Spuren bis zum Hals reichten. „Und das riecht auch gar nicht gut. Aber wir kriegen das hin!“ Tapfer brachte er Feuchttücher und Creme zum Einsatz, wechselte die beschmutzte Kleidung und versenkte die dampfende Windel mit spitzen Fingern im dafür vorgesehenen Eimer.

„So, kleiner Mann, jetzt spricht überhaupt nichts dagegen, dass du einfach weiterpennst. Du bist satt, der Darm ist leer und dein Vater liebt dich“, flüsterte er und nahm das Kind wieder hoch. Der Schnüffeltest bewies, dass alles wieder gut war und dankbar drückte Bombach einen zarten Kuss auf die Haare von Max und legte ihn dann vorsichtig in sein Bettchen. Zur Sicherheit zog er die Spieluhr noch auf und trat dann einen Schritt zurück. In solchen Momenten spürte er ganz stark, dass in seinem Leben gerade alles richtig verlief, auch wenn der Alltag mit Zwillingen sehr fordernd sein konnte.

„Drück mir die Daumen, dass ich das genauso gut hinbekomme wie du, dann haben wir vielleicht zwei Stunden für uns“, flüsterte eine Stimme von hinten. Er hatte überhaupt nicht gemerkt, dass Gaby ihm mit Moritz auf dem Arm gefolgt war.

„Hab ich dich etwa geweckt?“, fragte er zerknirscht.

„Du warst so leise, wie ein Mann nur sein kann!“ Sie streifte seine Wange mit einem flüchtigen Kuss. „Aber du glaubst doch nicht, dass du einer Mutter das Kind aus dem Arm stibitzen kannst, ohne dass sie das merkt.“