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Stell dir vor, wenn du zur Arbeit gehst, kommt ein Fremder in deine Wohnung. Er liest deine privatesten Dinge, sitzt auf deiner Toilette und liegt in deinem Bett. Er eignet sich dein komplettes Leben an - und du ahnst nichts. Ein Albtraum? Warte ab, bis er den zweiten Teil des Plans umsetzt! Genau das erlebt Vivian Heber. Sie hat Angst den Verstand zu verlieren. Der Polizei sind die Hände gebunden, denn einen Beweis für die Existenz dieses Fremden gibt es nicht. Nur Polizeireporter Mike Staller glaubt ihr. Dann verschwindet Vivian plötzlich spurlos… Eigentlich haben Kommissar Bombach und Mike Staller genug mit der Suche nach einem Mädchen zu tun. Die kleine Laura aus Eimsbüttel war auf dem Weg zum Spielplatz. Aber dort ist sie nie angekommen. Geht es um Lösegeld oder ist sie gar in den Händen eines Kinderschänders gefangen? Eine Fahndung in "KM - Das Kriminalmagazin" soll helfen, Licht in den Fall zu bringen. Doch Spuren und Zeugenaussagen bleiben diffus. Einzig ein weißer Transporter scheint eine Rolle gespielt zu haben. Während Bombach Verkehrskameras auswertet, um die Nadel im Heuhaufen zu finden, bittet Vivian Mike Staller um Hilfe. Sie hat in ihrer Wohnung Gegenstände bemerkt, die ihr nicht gehören. Ein Apfel, eine Zeitschrift, eine CD … Wer ist der geheimnisvolle Besucher und was will er von ihr? Fragen, die Vivian Angst machen. Erst recht, weil sie als Jugendliche von zwei Männern vergewaltigt wurde. Das Trauma sitzt tief. Und dann ist sie plötzlich verschwunden. Da es aber keinen Beweis für ein Verbrechen gibt, kann Kommissar Bombach offiziell nicht eingreifen. Staller und seine Kolleginnen von "KM - Das Kriminalmagazin" recherchieren auf eigene Faust und kommen einem Mann auf die Spur, dem alles, wirklich alles zuzutrauen ist. Staller-Freunde wissen, was sie erwartet: Auch im sechsten Band verbindet der Autor atemberaubende Spannung mit skurrilen Typen und witzigen Dialogen.
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Seitenzahl: 613
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STALLER UND DER UNHEIMLICHE FREMDE
Bisher in diesem Verlag erschienen:
Staller und der Schwarze Kreis
Staller und die Rache der Spieler
Staller und die toten Witwen
Staller und die Höllenhunde
Staller und der schnelle Tod
Mike Staller schreibt bei Facebook unter:
Michael „Mike“ Staller
Chris Krause
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STALLER UND DER UNHEIMLICHE FREMDE
Mike Stallers sechster Fall
Impressum:
© 2017 Chris Krause
Autor: Chris Krause
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
978-3-7439-6077-0 (Paperback)
978-3-7439-6078-7 (Hardcover)
978-3-7439-6079-4 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Sein Blick huschte durch den Flur der unbekannten Wohnung wie ein Suchscheinwerfer durch die Nacht. Das kleine Sideboard mit allerlei Gegenständen darauf – eine Schale für Schlüssel, einige Briefumschläge und diverse Reklamezettel – er brauchte nur Sekunden, um es als Bild in seiner Gedankenbibliothek abzulegen. Während seine Augen als Nächstes die Garderobe scannten, speicherte sein erstaunliches Hirn die bisherigen Daten zuverlässig. Jetzt würde er zu jedem beliebigen Zeitpunkt sämtliche Objekte im Raum und ihre genaue Position zueinander aufrufen können. Das war wichtig. So konnte er unbesorgt Dinge in die Hand nehmen, mit sich herumtragen und trotzdem den ursprünglichen Zustand exakt wiederherstellen.
Seine Hand strich über die gefütterte Lederjacke mit dem künstlichen Pelzkragen und ein kleiner Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich vorstellte, dass seine Auserwählte in diesem Kleidungsstück steckte. Er hatte sie schon darin gesehen. Gut sah sie aus. Ein bisschen sportlich, aber nicht zu lässig. Gerade richtig für ihn.
Er drückte seine Nase in den Kragen und atmete tief ein. Ein Hauch ihres Parfüms war zu erahnen. Frisch, ein wenig zitronig und mit einer Anmutung von Holz. Angenehm und nicht zu üppig aufgetragen. Genau so, wie er es liebte. Mit geschlossenen Augen trat er einen Schritt zurück und gönnte sich einen Moment der Träumerei. Er rief ihr Gesicht auf und vertiefte sich in ihre grün-braunen Augen mit den kleinen, bernsteinfarbenen Reflexen. Andere hätten ihr Gesicht als durchschnittlich bezeichnet, aber für ihn war es wunderschön. Die schmale Form, das Grübchen am Kinn und die schlanken Brauen hatten es ihm angetan. Eine minimal zu große Nase und die relativ schmalen Lippen machten ihre Erscheinung zu etwas Besonderem. Auch die glatten, braunen Haare, die ihr immer so viel Kummer machten, weil sie dazu neigten einfach nur herunterzuhängen, passten in sein Bild der idealen Frau. Die unnatürliche und gleichförmige Schönheit der Models auf den Titelseiten der Illustrierten verachtete er.
Mit ein wenig Bedauern verschob er diese Vorstellung zurück in sein inneres Archiv. Jetzt stand er in ihrer Wohnung und es gab so viel zu entdecken. Das verlangte seine volle Aufmerksamkeit. Mit einem eigentümlichen Gefühl von Spannung und Vorfreude öffnete er die nächste Tür. Ah, die Küche! Ganz in schlichtem Hellgrau gehalten und – wie nicht anders zu erwarten – picobello aufgeräumt. Lediglich ein benutzter Kaffeebecher auf der Spüle zeugte davon, dass hier ein Mensch lebte.
Er hob den Becher an den Mund und ließ den letzten noch darin befindlichen Tropfen gegen seine Zungenspitze rinnen. Kalt war er natürlich und mit einem Rest von Süße. Auch die fettarme Milch, die sie so gern in ihrem Kaffee mochte, schmeckte er heraus. Außerdem bildete er sich ein, dass der Becherrand minimal von einem Lippenpflegestift klebte. Den benutzte sie regelmäßig, wie er wusste. Gut, vielleicht hatte sie empfindliche Haut. Außerdem setzten spätherbstliche Kälte und trockene Heizungsluft diesem empfindlichen Körperteil gerade besonders zu. Gedankenverloren leckte er über den Rand des Bechers und stellte sich vor, dass er so den Kontakt zu ihren Lippen herstellte. Wie sie sich wohl anfühlten? Nun, er würde es herausfinden. Nicht heute. Aber bald.
* * *
„Und bitte!“
Der Kameramann machte eine kreisende Bewegung mit der Hand über seinem Kopf und presste sein Auge an den Sucher. Er hatte die Tür zu dem Altbau groß eingestellt und filmte, wie sie geöffnet wurde. Im Eingang erschien Thomas Bombach mit ernstem Gesichtsausdruck und schritt die drei Treppenstufen herab. Dann blieb er stehen und sprach direkt in die Kamera.
„Genau hier, in der Straße Am Weiher in Hamburg-Eimsbüttel hat am 11. November gegen 15 Uhr die achtjährige Laura gestanden. Sie wollte nur die Straße überqueren, um sich mit ihrer Freundin auf dem Spielplatz zu treffen. Dort ist sie jedoch nie angekommen. Die Kriminalpolizei benötigt jetzt dringend Ihre Hilfe.“
An dieser Stelle machte der Kommissar eine kleine Pause, die der Kameramann nutzte, um ganz dicht an das Gesicht des Sprechers heranzuzoomen.
„Wer hat das Mädchen an diesem Tag in der Nähe des Spielplatzes gesehen? Laura trug eine dunkelblaue, eng anliegende Jeans und eine ziemlich dicke Daunenjacke in einem auffälligen rosa Farbton. Vermutlich hatte sie die Kapuze übergezogen, sodass man möglicherweise ihre halblangen, blonden Haare nicht sehen konnte. Außerdem war sie mit dunkelbraunen, knöchelhohen Fellstiefeln und roten Handschuhen bekleidet. Wenn Sie gesehen haben, dass irgendjemand mit dem Kind gesprochen hat oder es in ein Auto gestiegen ist, dann melden Sie sich bitte unter der eingeblendeten Telefonnummer oder bei jeder Polizeidienststelle. Bitte helfen Sie den Eltern von Laura, die vor Sorge um ihre Tochter fast verrückt werden.“
Der Kameramann wartete noch zwei Sekunden und durchschnitt dann mit seiner linken Hand die Luft von oben nach unten.
„Danke!“ Mehr hatte er nicht zu sagen.
„Eddy möchte mit seinen ausführlichen Erläuterungen zum Ausdruck bringen, dass er dein Gestammel sauber aufgenommen hat, Bommel!“
Polizeireporter Mike Staller, der schräg hinter dem Kameramann gestanden und die Arbeiten lediglich beobachtet hatte, trat nun vor und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Für deine Verhältnisse war das ganz ordentlich! Du klingst zwar immer schwer nach Hans Albers, aber den Dialekt werde ich in diesem Leben nicht mehr aus dir rauskriegen.“
„Wir klären ja auch Verbrechen auf und legen keinen Wert darauf unser Gesicht in jede Kamera zu halten“, knurrte der Kommissar und rieb sich die klammen Finger. „Ob man hier irgendwo einen Kaffee bekommt?“
„Sicher, um die Ecke ist eine Bäckerei. Eddy, kommt ihr nach, wenn ihr hier fertig seid?“
Der Kameramann nickte nur, während der Tonassistent bereits Mikrofon und Kabel in einer Kiste verstaute.
„Du lässt auch weitgehend arbeiten, was?“, frotzelte Bombach.
„Du kennst doch Eddy. Es ist etwas ermüdend mit ihm eine Unterhaltung zu führen, weil er einfach die Zähne nicht auseinanderbekommt, aber auf seinem Gebiet ist er ein Vollprofi. Er dreht noch ein paar Zwischenschnitte und Bilder vom Spielplatz – mehr ist hier sowieso nicht zu tun. Komm, ich möchte auch aus dem Wind heraus.“
Der Reporter drehte sich noch einmal um und schätzte den Abstand von der Haustür bis zum Spielplatz ab.
„Keine zwanzig Meter Luftlinie. Eine enge Straße mit unzähligen Wohnungen und entsprechend vielen Fenstern zum Park. Ständiger Autoverkehr, weil jeder, der hier parken will, erst dreimal um den Block fahren muss. Irgendjemand muss einfach etwas gesehen haben.“ Seine Miene war bitterernst geworden.
„Die Kollegen haben schon alle umliegenden Häuser abgeklappert. Ein solcher Fall geht allen ganz besonders an die Nieren. Aber das Ergebnis war: nichts. Kein Mensch hat etwas gesehen, niemandem ist jemand aufgefallen. Als ob sich ein Loch im Boden aufgetan und das Mädchen verschluckt hätte.“
„Wenn es überhaupt irgendeine Chance gibt, dann werden die Zuschauer von “KM“ helfen können. Irgendwelche Reaktionen hat es bisher auf alle unserer Fahndungen gegeben.“
Mike Staller arbeitete als Reporter bei der Sendung “KM - Das Kriminalmagazin“. Zweimal pro Woche, immer mittwochs und sonntags, ging es darin eine Stunde lang rund um das Thema Kriminalität mit all seinen Facetten. Vom Mordfall bis zum Handtaschenraub, von Drogendealern bis zu Trickbetrügern und von Aufklärungsbeiträgen bis zu Fahndungsaufrufen reichte die Palette der Themen bei dieser äußerst erfolgreichen Sendung. Vielleicht lag ihr Geheimnis darin, dass früher oder später jeder Mensch in irgendeiner Form mit Kriminalität in Berührung kam.
Bombach stieß die Tür zur Bäckerei auf und sog genussvoll die olfaktorische Mischung aus Kaffee und frischen Backwaren ein.
„Hier ist es schön, hier will ich bleiben“, befand er und beäugte interessiert die appetitliche Auslage, bevor er sich für ein Franzbrötchen und eine Vanilleschnecke entschied. Staller, der sich auf einen schlichten Kaffee beschränkte, zog missbilligend eine Augenbraue hoch.
„Du hast doch unter Garantie bereits üppig gefrühstückt. Solltest du als baldiger Zwillingspapa nicht auf deine Figur achten?“
Der Kommissar winkte kopfschüttelnd ab.
„Co-Schwangerschaft. Da kann man nichts machen. Manche Menschen sind so. Mit der Geburt geht das wieder weg.“
„So, so“, kommentierte Staller und gab sich keinerlei Mühe den Zweifel in seiner Stimme zu unterdrücken. „Geht es Gaby denn weiterhin gut?“
Bombach nickte lediglich, denn größere Teile der Vanilleschnecke steckten in seinem Mund und machten eine gesprochene Kommunikation zeitweise unmöglich.
„Ein bisschen Rückenschmerzen hat sie“, stellte er fest, als er wieder halbwegs verständlich reden konnte. „Und Schwierigkeiten beim Zuschnüren der Schuhe. Aber das ist alles ganz normal. Ihre Ärztin ist sehr zufrieden mit ihr.“
Der Kommissar hatte seine anfängliche Besorgnis wegen der doppelten Vaterschaft mittlerweile überwunden und fieberte der Ankunft seiner beiden Söhne nunmehr mit großer Vorfreude entgegen.
„Du solltest jede durchschlafene Nacht ab sofort genießen“, schmunzelte Staller. „Es könnte für längere Zeit die letzte gewesen sein.“ Obwohl seine Tochter bereits fast erwachsen war, erinnerte sich der Reporter noch gut an die Babyzeit und allnächtliche Störungen durch kräftiges Geschrei.
„Ein paar Wochen dürfte es schon noch dauern. Aber genau weiß man das natürlich nie, da hast du recht.“
Staller stibitzte ein Eckchen von Bommels Franzbrötchen und überhörte dessen Protestgeheul.
„Was glaubst du, was passiert ist?“, fragte er mit ernster Miene.
„Da gibt es wohl nicht viele Möglichkeiten, oder?“ Bombach blickte grimmig auf die Tischdekoration in Form eines kleinen Plastikschlittens mit bunten Geschenkkartons darauf. „Wenn Laura einen Bekannten getroffen hätte oder zu einer anderen Freundin gegangen wäre, dann müsste sie sich längst gemeldet haben oder zurück sein. Ein Verkehrsunfall bleibt hier keinesfalls unbemerkt. Theoretisch kann sie natürlich fortgelaufen sein, aber das erscheint mir unwahrscheinlich. Das Elternhaus wirkt völlig intakt. Also bleibt nur …“ Er brach mutlos mitten im Satz ab.
„ … ein Verbrechen“, ergänzte Staller und schüttelte frustriert den Kopf. „Wobei das einen Bekannten als Täter natürlich nicht ausschließt. Hast du die Eltern in diese Richtung befragt?“
„Natürlich. Und wie du dir denken kannst, schließen sie diese Möglichkeit kategorisch aus. Das ist ganz normal. Kein Mensch stellt sich vor, dass der gute Onkel Otmar, der bei den Familienfeiern immer so langweilige Anekdoten erzählt, auf kleine Mädchen steht und seine Nichte entführt.“
„Obwohl das immer wieder vorkommt“, warf Staller ein.
„Natürlich! Aber niemand will das wahrhaben. In diesem Fall ist es allerdings auch nicht besonders wahrscheinlich. Zumindest wohnen keine näheren Verwandten der Familie in Hamburg.“
„Es könnte allerdings auch ein Bekannter in Frage kommen.“
„Klar. Oder eben jemand, der das Kind allein gesehen und die Gunst der Stunde ausgenutzt hat. Weiß der Geier, was er ihr erzählt hat. Mit einem Lolli wird er es nicht geschafft haben. Die Eltern haben sie sehr ausführlich vor Fremden gewarnt. Laura wusste Bescheid, dass sie nie mit jemandem mitgehen durfte.“
„Wollen wir hoffen, dass irgendjemand sie und ihren Entführer gesehen hat und sich nach dem Fahndungsaufruf meldet. Mit viel Glück bekommen wir eine Beschreibung. Dann können wir nur beten, dass wir schnell genug herausfinden, wo sie versteckt gehalten wird.“
„Und dass sie noch lebt“, fügte der Kommissar düster hinzu.
* * *
Den Kühlschrank hatte er sich für den Abschluss seiner Untersuchung der Küche aufgehoben. In den übrigen Schränken hatte es wenig zu sehen gegeben. Der Haushalt war zweckmäßig und übersichtlich ausgestattet. Man merkte, dass hier nur eine Person lebte. Kochen schien nicht zu ihren Leidenschaften zu gehören, aber das war okay für ihn. An die Fähigkeiten seiner Mutter in der Küche würde sie sowieso nie heranreichen können.
Auch die Vorratshaltung bewies, dass die Wohnungsbesitzerin Essen als Notwendigkeit und nicht als Genuss begriff. Grundnahrungsmittel waren in geringem Umfang vorhanden, eine Schale mit Obst stand auf dem kleinen Küchentisch und ein schmales Gewürzbord an der Wand legte den Schluss nahe, dass zumindest gelegentlich in dieser Küche auch eine warme Mahlzeit zubereitet wurde.
Jetzt also zum Kühlschrank! Es handelte sich um ein Kombigerät mit einer kleineren Extratür für den Gefrierschrank. Diese öffnete er zuerst und zog die oberste der drei Schubladen vorsichtig auf. Drei kleine Pakete Brot, ein Gefrierbeutel mit Toastscheiben und ein Beutel mit Salatkräutern. Gelangweilt schob er die Lade wieder hinein und öffnete die nächste. Hier fand er verschiedene Plastikdosen mit bunten Deckeln vor, die mit Klebeetiketten versehen waren. So lernte er, dass sie offensichtlich Kürbissuppe, Hühnerfrikassee und Süßkartoffelcurry mochte und übriggebliebene Portionen einfror. Das gefiel ihm. Sparsamkeit war eine Tugend, die er sehr schätzte. Leider war sie in der heutigen Zeit seltener geworden. Aber bei seiner Auserwählten hatte er damit gerechnet. Sie durfte ja nicht anders als perfekt sein.
Die letzte Schublade enthielt drei Fertigpizzen, die ihm ein kritisches Stirnrunzeln abnötigten, und zwei Beutel mit Tiefkühlgemüse. Daneben lag noch ein Beutel mit Eiswürfeln. Insgesamt lauter Dinge, mit denen zu rechnen war. Auch wenn für seinen Geschmack die Pizzen zu sehr in Richtung Fastfood deuteten. Das würde sie sich abgewöhnen müssen.
Vom eigentlichen Kühlschrank erhoffte er sich mehr und öffnete erwartungsvoll die Tür. Wie vermutet, störte kein Fleck die makellosen Einlegeböden. Reinlichkeit war ebenfalls eine Tugend, die er schätzte und voraussetzte. An dieser Stelle hatte er allerdings nicht mit einer Enttäuschung gerechnet.
Angesichts der Tatsache, dass der Kühlschrank recht groß war, ließ sich der Inhalt ziemlich gut überschauen. Wasser, fettarme Milch und eine Flasche Sekt in der Tür. Er nahm die Milch heraus, schraubte den Plastikverschluss ab und trank einen Schluck direkt aus der Packung. Er schmeckte frisch und unverdorben.
Während er den Tetrapack in einer Hand hielt, musterte er die übrigen Fächer der Tür. Vier Eier, laut Stempel ziemlich frisch, eine Tube Senf, mittelscharf, halbvoll und sauber aufgerollt. Das war gut. Eine Tubenquetscherin wäre inakzeptabel. Ein sehr kleines Glas mit Sahnemeerrettich. Der oberste Teil schien schon etwas eingetrocknet. Okay, den brauchte man so selten, das ließ er durchgehen. Ein angebrochenes Glas Gewürzgurken aus dem Spreewald. Eine gute Wahl.
Er stellte die Milch zurück. Ohne darüber nachzudenken, drehte er sie genau so, wie sie vorher gestanden hatte, mit dem Verschluss nach vorn. Solche Dinge erledigte sein Hirn automatisch. Es wäre auch kein Problem gewesen, den ganzen Inhalt herauszunehmen und nachher exakt an den gleichen Platz zurückzustellen. Aber so viel war nicht im Kühlschrank, dass das erforderlich gewesen wäre.
Es war zu erkennen, dass die Besitzerin der Lebensmittel zumindest keiner allzu strengen Ernährungsphilosophie anhing. Es gab abgepackten Aufschnitt und Käse, fettarme Produkte und einen Becher Sahne, sowie Vollmilchjoghurt. Ein Glas mit offensichtlich selbstgemachter Marmelade erregte seine Neugier und er nahm es in die Hand. Auf dem verschnörkelten Klebeetikett stand in einer kunstvollen Handschrift “Erdbeer-Rhabarber 2017“. Nicht ihre Handschrift, wie er anhand der beschrifteten Essensreste im Tiefkühlfach nachweisen konnte. Wer mochte ihr selbstgemachte Konfitüre schenken? Ihre Mutter oder gar eine Oma? Oder doch eine Freundin? Auf jeden Fall eine Frau, dessen war er sich sicher. Gedankenverloren schraubte er den Deckel auf und stieß seinen kleinen Finger in die Öffnung. Die Konsistenz war perfekt. Ganz vorsichtig führte er eine kleine Probe der Marmelade an seine Zungenspitze und leckte zunächst vorsichtig. Ja, da war eine erfahrene Köchin am Werk gewesen. Jetzt lutschte er den gesamten Finger ab und analysierte das Geschmackserlebnis. Fruchtigsüß mit einer wohldosierten Säure durch den Rhabarber. Offensichtlich mit einem Zuckerverhältnis von 1:1 hergestellt, ganz wie früher. Keine modernen Gelier- oder künstliche Verdickungsmittel. Er nickte beifällig. Vielleicht konnte er sie ermuntern zumindest das Kochen von Marmelade zu erlernen. Die Aromen erinnerten ihn an seine Kindheit.
Die Untersuchung des Gemüsefachs bildete den Abschluss seiner Recherchen im Kühlschrank. Missbilligend betrachtete er die drei Tomaten. Sie gehörten an einen Ort mit Zimmertemperatur. Das gab einen Minuspunkt. Außerdem machte die eine Zitrone, die dort lag, einen arg verschrumpelten Eindruck. Eine Salatgurke, wenige Möhren und eine rote Paprika komplettierten das Angebot. Ein bisschen mehr frisches Gemüse hätte es schon sein dürfen. Aber vielleicht war ja heute ihr Einkaufstag. Er beschloss, nicht vorschnell zu urteilen.
Während er ans Fenster trat und einen beiläufigen Blick auf die Straße warf, zog er ein erstes Resümee. Bisher hatte er nichts entdeckt, was für ihn als Ausschlusskriterium gelten würde. Sein Eindruck von ihr war im Großen und Ganzen bestätigt worden. Sie war allein, ordentlich, gut organisiert und im Wesentlichen normal. Natürlich überraschte ihn das nicht. Seine Menschenkenntnis war ausgezeichnet und sein Instinkt noch besser ausgeprägt. Wenn er sie erwählte, dann war sie es auch wert.
Sollte er sich noch ein großes Vergnügen gönnen? Er schaute auf seine Armbanduhr. Zeitlich sprach nichts dagegen. Sie würde noch mehrere Stunden arbeiten und er selbst hatte ebenfalls noch Luft, bevor er seinen Job antreten musste. Warum also nicht?
Es kostete ihn ein wenig Überwindung hinter die übrigen Türen jeweils nur einen kurzen Blick zu werfen, sodass er die Aufteilung der kleinen Wohnung verinnerlichen konnte. Gerade das Badezimmer war mit Sicherheit ein Ort außerordentlich aufschlussreicher Erfahrungen. Welche Produkte und Hilfsmittel eine Frau zur Körperpflege benutzte, sagte sehr viel über sie aus. Außerdem erregte ihn die Vorstellung, dass sie in diesem Raum oft nackt stehen würde. Aber trotzdem riss er seinen Blick nach vielleicht drei Sekunden los. Er hatte den Ort jetzt millimetergenau abgespeichert. Für den Moment musste das reichen.
Auch das Wohnzimmer überflog er nur. Er würde an einem anderen Tag jede Schublade öffnen und jedes Buch durchblättern können. Nichts drängte ihn zur Eile. Monate hatte er auf diesen Moment gewartet und hingearbeitet. Ein paar Tage spielten jetzt überhaupt keine Rolle mehr. Er öffnete die letzte Tür und blieb mit geschlossenen Augen im Eingang stehen. Diesen Moment wollte er sehr bewusst Schritt für Schritt genießen.
Nach einer Weile sog er langsam und tief die Luft in seine Lungen. Jede Wohnung besaß ihren ureigenen Geruch, der teilweise von dem Gebäude, hauptsächlich aber von seinem Bewohner stammte. Sein Elternhaus beispielsweise roch immer zuerst ein wenig nach Sägespänen, weil sein Vater im Keller eigentlich ständig mit irgendwelchem Holz bastelte. Darüber mischte sich der Duft nach Grüner Seife, die seine Mutter regelmäßig zum Putzen benutzte. Wenn man ganz genau hinroch, erahnte man immer noch einen Hauch von Moder von dem Kamin, in den es vor vielen Jahren hineingeregnet hatte. Die Feuchtigkeit war lange beseitigt, die beschädigten Stellen ausgebessert und renoviert, aber so ganz verschwand der Geruch nicht wieder.
Hier im Schlafzimmer der Frau dominierten zwei Düfte. Der eine war eine Mischung aus Waschmittel und Weichspüler, mit denen sie offensichtlich konsequent ihre Kleidung reinigte. Die Werbung würde den Geruch vermutlich als “frühlingsfrisch“ vermarkten. Er bestand aus ziemlich aufdringlichen Blütennoten, die sich Mühe gaben jede individuelle Duftnuance zu zerstören. Aber seine feine Nase nahm eine zweite Komponente wahr, die er eindeutig der Frau zuordnen konnte. Schließlich hatte er oft genug so dicht bei ihr gestanden, dass er diesen Hauch wiedererkannte. Es war ihr ganz individueller Körpergeruch. Er hätte ihn nicht genau beschreiben, aber jederzeit identifizieren können. Besonders natürlich, wenn es geeignetes Trägermaterial gab, in dem er sich festsetzen konnte. Und was war dafür besser geeignet als ein Bett oder die Nachtwäsche?
Er war gespannt, was sie zum Schlafen trug. War sie der Typ für ein neckisches Nachthemd? Eher nicht. Eine verfrorene Anhängerin langer Pyjamas? Auch das hielt er für unwahrscheinlich, aber möglich. Einzig ausschließen wollte er nur, dass sie nackt schlief. Das passte nicht zu ihr und würde ihn enttäuschen. Aber alle Spekulation war müßig, denn gleich würde er es wissen. Da im Bad keine Nachtwäsche gelegen hatte, musste sie im Bett sein, wo sie im Übrigen auch hingehörte.
Was für eine Schlafstatt es wohl sein würde? Da er die Augen immer noch geschlossen hielt, konnte er diese Frage noch nicht beantworten. Er hob die Hände und klatschte sie zusammen, während er aufmerksam lauschte. Allzu groß war der Raum nicht und viele freie Flächen gab es ebenfalls nicht. Dann hätte er mehr Hall gehört. Vermutlich schluckte ein großer Kleiderschrank den Schall und dicke Vorhänge sorgten für angenehme Verdunkelung bei Nacht. Der Schein der Straßenlaternen würde auch hier im dritten Stock sicher noch störend sein, könnte er ungehindert ins Zimmer dringen. Außerdem gehörte Hamburg zu den Großstädten, in denen es immer hell war. Außer vielleicht bei einem flächendeckenden Stromausfall.
Nachdem er bestimmt fünf Minuten so gestanden und geschnüffelt und gelauscht hatte, öffnete er ganz langsam die Augen. Sofort überlagerte der visuelle Reiz alle andern Sinne. Das Bettgestell war aus schwarzem Metall und verfügte über filigrane Muster an Kopf- und Fußteil. Es war überraschend schmal und war ganz sicher nicht für die dauerhafte Benutzung durch zwei Personen geeignet. Dafür war das Bettzeug akkurat hergerichtet, mit glatt gezogenen Ecken und einem Zierkissen über dem Kopfkissen. Das Muster bestand aus breiten, unregelmäßigen Blockstreifen in unterschiedlichen Grüntönen und erweckte Assoziationen an einen Dschungel.
Gegenüber dem Fußende stand wie erwartet ein großer, dreitüriger Schrank, dessen Mittelteil verspiegelt war. Die bodenlangen Vorhänge waren aus einem dicken, dunkelbraunen Stoff und für den Tag geöffnet. Überraschend fand er die zwei hohen, aber schlanken Bücherregale. Bücher im Schlafzimmer? Las sie möglicherweise gern abends im Bett? Aber der ganze Staub! Er wäre nie auf die Idee gekommen seine Lektüre im Schlafzimmer aufzubewahren. Offensichtlich sorgte sie aber für regelmäßige Reinigung, denn das Regal wirkte durchaus sauber und staubfrei.
Mit diesen Eindrücken trat er zwei Schritte in den Raum hinein, was bedeutete, dass er schon fast an das Bett stieß. Befriedigt nahm er zur Kenntnis, dass nirgendwo auf dem Boden Kleidung herumlag. Er hasste diese Unart. Vielleicht, weil seine Schwester stets ihre Klamotten dort fallengelassen hatte, wo sie sie ausgezogen hatte. Ihr Zimmer war auch heute noch ein Mittelding zwischen Abstellkammer und Wäscherei. Jedes Wochenende, wenn er seine Familie besuchte, stieß ihm diese Unordnung sauer auf. Getragene Kleidung gehörte in einen Wäschesack und saubere in den Schrank. So einfach war das.
Mit ausgestreckten Händen strich er sanft über die Bettdecke. Solide, glatte, angenehme Baumwolle. Nicht so ein neumodischer Kram wie Satin, Kunstfaser oder unsägliches Seersucker. Sie schien seine Vorliebe für schlichte, praktische und bewährte Dinge zu teilen.
Aufgeregt trat er einen Schritt nach rechts und beugte sich über das Kopfkissen. Abermals schloss er die Augen und sog bedächtig die Luft ein. Ja, man roch, dass sie hier geschlafen hatte. Der Waschmittelduft war schon fast verflogen. Er schätzte, dass das Bettzeug bereits mindestens eine Woche aufgezogen war. Das war völlig in Ordnung. Wenn man, wie es sich gehörte, frisch gesäubert zu Bett ging, dann reichte es durchaus, die Bettwäsche alle zwei Wochen zu wechseln.
Ganz langsam griff er nach der Bettdecke und zog sie zurück. Eine kleine Falte im Laken zeigte, dass hier ihr Körperschwerpunkt ruhte, wenn sie schlief. Er deckte das Bett vollständig auf und runzelte die Stirn. Keine Nachtwäsche? Schlief sie etwa doch nackt? Wie konnte er sich so täuschen? Gedankenverloren hob er das Kopfkissen auf, um es an sein Gesicht zu drücken. Dann musste er lachen. Sorgfältig gefaltet lag darunter ein T-Shirt. Er nahm es in die Hand und roch kurz daran. Ja, das war SIE. Er ließ das Kissen fallen und hielt das Shirt mit beiden Händen an den Schultern, sodass es sich voll entfaltete. Es handelte sich um eine lange Version, die ihr etwa über den halben Oberschenkel reichen dürfte. Er presste es so an sein Gesicht, dass seine Nase die Stelle zwischen ihren Brüsten berührte. Hier war der Geruch am intensivsten, nicht etwa unter der Achsel. Das fand er zumindest. Er spürte, wie er wie von einem Strudel fortgerissen wurde und verlor sich für einen Moment in Fantasien, die er unter keinen Umständen jemals einem Menschen mitteilen würde. Dann brauchte er seine ganze Beherrschung, um wieder in die Realität zurückzukehren.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass immer noch genügend Zeit war, obwohl er sich ein wenig verschätzt hatte. Wie konnte es sein, dass er bereits eine halbe Stunde in ihrem Schlafzimmer zugebracht hatte? Sein Leben bestand aus Akkuratesse und Disziplin, deswegen machten ihm die gelegentlichen Aussetzer ein wenig Angst. Aber es war ja nichts passiert. Er hatte die Dinge im Griff. Nun würde er sich etwas sputen.
Eilig legte er seine Kleidung ab, beginnend bei dem dunklen Basecap mit dem breiten Schirm. Dunkler, weiter Hoodie, Sneaker, die Jeans samt Socken, T-Shirt und schließlich die Boxershorts. Alles landete sorgfältig gefaltet auf dem Stuhl neben dem Bett. Als er schließlich nackt dastand und sich im Spiegel des Kleiderschranks betrachtete, stellte er fest, dass er erregt war. Ein Schauer der Vorfreude lief über seinen Rücken und er schlug probehalber mit der Faust auf das Kopfkissen, um es aufzuschütteln. Dann schlüpfte er unter die Decke und legte sich ihr Schlaf-Shirt über das Gesicht. Während er langsam und regelmäßig ihren Duft einatmete, spürte er die aufkommende Wärme unter der dicken Daunendecke. Die kleine Falte des Lakens in seinem Rücken drückte ein wenig, aber wenn er sich vorstellte, dass sie normalerweise ihren Körper berührte, dann empfand er den Druck fast als angenehm.
Zehn Minuten würde er sich geben. Dann wurde es Zeit aufzubrechen. Er würde noch andere Gelegenheiten haben. Geduld war eine seiner Stärken. Für den Moment reichte es ihm, ihr auf diese Weise so nah zu sein, wie es nur ein wahrer Liebhaber konnte.
* * *
„Hallo und guten Abend! Willkommen bei “KM - Das Kriminalmagazin“. Neben vielen anderen Themen geht es heute um das mysteriöse Verschwinden der kleinen Laura. Helfen Sie uns bitte diesen tragischen Fall aufzuklären!“
Sonja Delft beherrschte die Kunst, jedem Zuschauer das Gefühl zu geben, dass sie ihn direkt ansprechen würde. Ihr ernster, aber trotzdem freundlicher Blick war direkt in die Kamera gerichtet. Immer wenn sich das Logo von “KM“ aufgebaut hatte und dann – wie von einem Schuss getroffen – zersplitterte und dahinter den Blick ins Studio freigab, zeigte die Moderatorin höchste Präsenz und zwang die Zuschauer in ihren Bann. Diese Kunst war praktisch nicht zu erlernen, sondern ein Geschenk, das nicht viele Menschen besaßen.
Mike Staller saß in seinem Büro und beobachtete, wie das Bild von Sonja durch den Einspieler abgelöst wurde, der die Themen des Tages anriss. Er hörte seine eigene Stimme, die sachlich, aber engagiert die ersten drei Themen bis zur Werbung skizzierte. Diese Teaser – mundgerechte Appetithäppchen – sollten die Zuschauer bei der Stange halten, selbst wenn sie das erste Thema möglicherweise weniger interessierte. Das Konzept ging meistens auf, wobei die heutige Sendung mit der Fahndung nach Laura aufgemacht wurde. Ein Thema, das größtmögliche Aufmerksamkeit garantierte. Die uralte Fernsehweisheit, dass Kinder und Tierbabys immer funktionierten, galt auch heute noch, obwohl sich das Sehverhalten der Menschen teilweise gravierend verändert hatte.
Ein weiterer Grund, warum der Fall des verschwundenen Mädchens ganz zu Anfang gezeigt wurde, war die Tatsache, dass mit etwas Glück schon im Laufe der Sendung eine erste Rückmeldung über die Reaktion der Zuschauer gegeben werden konnte. Das schaffte Zuschauerbindung und setzte “KM“ in ein positives Licht.
Spontan entschloss sich Staller, dem intern “Deppenzentrale“ genannten Kommunikationsraum einen Besuch abzustatten. Die abwertende Bezeichnung war entstanden, weil für jeden sinnvollen und hilfreichen Anruf zehn weitere eingingen, bei denen die Person am anderen Ende der Leitung entweder betrunken, psychisch labil oder nur auf einen vermeintlichen Spaß aus war.
Neuerdings gab es neben der Möglichkeit anzurufen auch Kontakte über die üblichen sozialen Medien. Das hatte die Rate der nützlichen Meldungen allerdings nicht gerade erhöht. Die Anonymität des Internets trug im Gegenteil dazu bei, dass sich noch mehr Idioten ermutigt fühlten komplett sinnfreie Statements abzugeben. Aber ein einziger Hinweis, der half ein Verbrechen aufzuklären, wog alle diese Zumutungen natürlich auf.
Auch in der Deppenzentrale lief über den Hauskanal die aktuelle Sendung, wenn auch sehr leise. Fünf Studenten waren damit beschäftigt Anrufe entgegenzunehmen, Mails auszuwerten und bei Twitter und Facebook dafür zu sorgen, dass Hassbotschaften und Falschinformationen so schnell wie möglich entfernt wurden.
Der Fahndungsaufruf endete mit einem Foto der kleinen Laura. Dann nannte Sonja die Telefonnummer und die anderen Kommunikationswege, die darüber hinaus auch eingeblendet wurden. Erfahrungsgemäß würde das Telefon jetzt recht schnell anfangen zu klingeln, wobei relevante Meldungen in der Regel erst nach frühestens fünf Minuten eingingen und oft auch erst weit nach Ablauf der Sendezeit eintrafen. Die Spaßanrufer hingegen wählten sofort.
Wie auf Kommando setzte das Klingeln ein. Gleichzeitig gerieten die Computerbildschirme in Bewegung und bildeten die ersten Nachrichten ab. Der Reporter blickte einem der Studenten über die Schulter und las die eintrudelnden Postings bei Facebook mit.
„Wer tut so was???“
Ja, genau das war die Frage. Schade, dass Birgit Nachname sie nicht beantworten konnte.
„Armes Mädchen, ich werde für sie beten!“
Das schadete sicherlich nicht, brachte sie allerdings leider auch nicht weiter.
„Das waren bestimmt diese arabischen Kinderficker, Dreckspack! Warum lassen wir die alle rein???“
Der Reporter zuckte zusammen, obwohl er natürlich mit derartigen Reaktionen gerechnet hatte. Die Volksseele kochte und ließ ihren Unmut ungefiltert in die Welt hinaus, wo immer ihr die Möglichkeit dazu geboten wurde. Zufrieden registrierte Staller, dass der Student routiniert und sekundenschnell den unreflektierten Gedankenmüll entsorgte. Rechten Idioten eine Plattform zu bieten lag gewiss nicht in der Intention von “KM“.
Auf dem Bildschirm war wieder Sonja zu sehen, die einen neuen Beitrag ankündigte. Dabei handelte es sich quasi um einen Klassiker: Trickbetrug über das Internet. Was vor Jahren einmal mit angeblichen nigerianischen Diplomaten begonnen hatte, die riesige Gewinne versprachen, wenn man ihnen etwas Geld zur Verfügung stellte, wurde inzwischen fast monatlich abgewandelt. Ausländische Lotteriegewinne, angebliche Käufe in Onlineshops und Rechnungen über die Nutzung von Pornoseiten – die Cyberkriminellen dachten sich immer neue Wege und Szenarien aus, um ohne großen Aufwand an Geld zu kommen. Millionenfach versandte Mails überschwemmten die elektronischen Briefkästen der Nation und ein Rücklauf von 0,1 Prozent lohnte bereits den Aufwand. Die jeweils neuesten Maschen dieser Betrüger fasste “KM“ einmal im Monat zusammen und brachte damit das Geschäftsmodell für kurze Zeit zum Stocken. Dann entstand eine neue Tarngeschichte und das Spiel begann von vorn. Einerseits war das ermüdend, weil es ein Kampf gegen Windmühlen war, aber andererseits füllte es regelmäßig die Sendezeit und wurde vom Publikum als hilfreich empfunden.
Jetzt kündigte Sonja Delft die Werbung an und verabschiedete sich mit ihrem bezaubernden Lächeln. Als Abschluss des ersten Teils der Sendung lief jetzt der Teaser für die nächsten Themen. Dann folgten das animierte Logo und die Einblendung “gleich geht es weiter“. Von da an übernahm der Sender.
Staller suchte sich einen freien Platz vor einem Telefon. Die ersten Anrufe mit Substanz gingen meist während der Werbung ein. Er war zwar nicht verpflichtet mit den Zuschauern zu sprechen, aber er hatte die Erfahrung gemacht, dass der gelegentliche Kontakt sinnvoll war. Erstens war sein Name bekannt, weil er die Sendung auch jahrelang moderiert hatte, und die Menschen neigten dazu mit ihm eher ernsthaft zu sprechen. Und zweitens erhielt er oft eine ganz direkte Rückmeldung zur Sendung, die ihm half, die Sichtweise des Publikums zu verstehen.
Der rote, blinkende Punkt an der Telefonanlage zeigte an, dass mehr Anrufer in der Leitung waren, als die Studenten aktuell annehmen konnten. Er nahm den Hörer und drückte auf den entsprechenden Knopf.
„KM – Das Kriminalmagazin, guten Abend! Mein Name ist Michael Staller, was kann ich für Sie tun?“
Am anderen Ende war zunächst nur ein angestrengtes Atmen zu hören. Oft waren die Menschen überrascht, dass einer der führenden Köpfe der Sendung persönlich am Apparat war.
„Hallo? Ist da die Kriminalsendung?“
Oh je. Offensichtlich war sein Gesprächspartner schwerhörig. Der brüchigen Stimme nach handelte es sich um einen Mann weit jenseits des Rentenalters.
„Hier ist KM – Das Kriminalmagazin“. Staller erhob die Stimme deutlich und warf gleichzeitig einen entschuldigenden Blick in die Runde. „Mit wem spreche ich, bitte?“
„Hier ist Berger, Alfred Berger“. Die Stimme verebbte kraftlos.
„Worum geht es denn, Herr Berger?“ Instinktiv hatte Staller die Lautstärke noch einmal angehoben, in der irrigen Hoffnung, dadurch dem Anrufer Kraft übertragen zu können.
„Ich habe es gesehen“, verkündete der Oldie, dem es unmöglich zu sein schien, mehr als einen Satz herauszubringen. Vielleicht litt er an einer Lungenkrankheit?
„Was haben Sie gesehen, Herr Berger?“ Staller röhrte jetzt geradezu in den Hörer. Aber sein Anrufer schwieg, zumindest für den Moment. „Herr Berger?“
Ein pfeifender Atemzug bewies zumindest, dass der alte Mann noch am Leben war und beabsichtigte das Telefonat weiterzuführen.
„Das Mädchen!“, rang er sich schließlich ab.
„Sie haben die kleine Laura gesehen? Wann war das denn?“ Bange Sekunden verstrichen.
„Vor ihrem Haus.“
Gut, das war zwar nicht die Antwort auf die Frage, aber immerhin wusste Staller jetzt, dass dieser Anruf nicht vollständig sinnlos war.
„Haben Sie Laura an dem Tag gesehen, als sie verschwunden ist? Am Nachmittag des 11. November?“
Zur Abwechslung erklang ein bellender Husten. Als er verebbte, holte der Anrufer tief Luft und brachte einen unerwartet langen Monolog über die Lippen.
„Sie stand auf der Treppe. Plötzlich wurde sie von dem Auto verdeckt. Das dauerte einen Moment. Und als das Auto wegfuhr, hatte sie sich in einen Hund verwandelt.“
Stallers Freude über die sprudelnden Informationen bekam durch den letzten Satz einen enormen Dämpfer. Hatte er es hier doch mit einem Spinner zu tun? Oder zumindest mit einem Menschen, der die Grenze zur Senilität schon weit überschritten hatte?
„Entschuldigen Sie, Herr Berger. Habe ich das richtig verstanden, dass sie glauben, das Mädchen hätte sich in einen Hund verwandelt?“ Der Student am Computer neben Staller drehte den Kopf und prustete los. Mit dem Finger machte er eine kreisende Bewegung über der Stirn. Staller zuckte mit den Schultern.
„So ein braun-weißer mit langem Fell. Wie Lassie!“
„Aber Menschen können sich doch nicht in Hunde verwandeln, Herr Berger. Das müssen Sie doch wissen!“
„Ja, aber es war doch so! Erst stand sie da in ihrer dicken, rosa Jacke und als das Auto weg war, war sie dieser Hund mit der Leine.“
Staller schloss die Augen und rieb seine Stirn. Einen Versuch wollte er dem alten Mann noch geben, bevor er ihn endgültig als Zeitverschwendung betrachtete. Immerhin hatte er ganz offensichtlich Laura gesehen, wenn er die Jacke so genau beschreiben konnte. Oder hatte er diese Information aus dem Fahndungsaufruf?
„Konnten Sie denn sehen, ob jemand mit dem Hund weggegangen ist, Herr Berger?“
Ein abermaliger Hustenanfall unterbrach das eh schon stockende Gespräch erneut. Der Mann röchelte wirklich erbärmlich. Es klang schon eher nach einem Lungenemphysem.
„Der Hund ist alleine weggelaufen. Er hat dabei die Leine hinter sich hergezogen.“
Das klang einerseits merkwürdig, gehörte aber nicht zu der Art von Details, die man sich ausmalte, wenn man eine Geschichte erfand. Der Reporter wusste wirklich nicht, wo er seinen Anrufer einordnen sollte.
„Wo waren Sie denn, als Sie diese Beobachtungen gemacht haben?“
„Auf der anderen Straßenseite. Da, wo der Spielplatz ist. Ich gehe gern ein paar Schritte, aber ich muss oft Pause machen. Dann setze ich mich auf meinen Rollator und ruhe mich aus.“ Auch diese Erklärung kam stockend, unterbrochen von quälendem Husten.
„Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Herr Berger?“
„82, mein Junge. Ich höre ein bisschen schlecht, aber gucken kann ich noch sehr gut. Ich merke schon, dass Sie denken, ich wäre ein alter Sack, der nicht mehr weiß, was er sagt. Aber ich bin noch ganz klar im Kopf!“
„Nicht doch, Herr Berger! Aber wir müssen natürlich ein paar Nachfragen stellen, das verstehen Sie sicher! Können Sie mir denn etwas über den Wagen sagen, der das Mädchen verdeckt hat?“
„Das war so eine Art Lieferwagen. Weiß oder hellbeige.“
„Hatte er vielleicht eine Aufschrift? Ein Handwerksbetrieb oder etwas Ähnliches?
Der Mann schien einen Moment zu überlegen.
„Nein, nicht dass ich wüsste. Und die Nummer habe ich mir natürlich auch nicht angeschaut.“
Logisch denken konnte er immerhin. Staller wurde aus dem seltsamen Anrufer einfach nicht schlau.
„Sie verstehen sicher, dass es komisch klingt, wenn Sie sagen, dass sich das Mädchen in einen Hund verwandelt hat. Haben Sie vielleicht irgendeine Erklärung dafür?“
„Nein, tut mir leid. Ich habe nur geschildert, was ich gesehen habe. Den Rest müsst ihr machen, nicht wahr?“
„Das war auch sehr richtig von Ihnen. Darf ich mir Ihre Nummer aufschreiben, falls die Polizei noch Nachfragen an Sie hat, Herr Berger?“
„Sicher, mein Junge! Ich freue mich immer über ein bisschen Abwechslung.“
Staller notierte schnell die Nummer von seinem Display.
„Danke für Ihre Mithilfe, Herr Berger. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend!“
Staller legte schnell den Hörer auf und betrachtete versonnen seine Notizen, die er während des Anrufs gemacht hatte.
„Was war das denn für ein Spinner? Das Mädchen soll sich in einen Hund verwandelt haben? Was hat der denn genommen?“
„Der Gute war schon etwas älter. Aber ob es wirklich ein Spinner war? Ich kann das nicht richtig einschätzen.“
Das war absolut ungewöhnlich. Normalerweise lebte der Reporter davon, dass er Menschen blitzartig und sehr zuverlässig beurteilen konnte. Das half ihm bei seinen Recherchen enorm. Aber bei Berger war sein Instinkt überfordert. Der Mann hatte sich Details gemerkt, die ungewöhnlich genau beobachtet waren, wie die Leine, die der Hund hinter sich hergezogen hatte. Hätte er sich die ganze Geschichte nur ausgedacht, um sich wichtig zu machen, dann wäre diese Einzelheit völlig unnötig gewesen. Andererseits war es ja nun völlig unmöglich, dass sich Laura in Lassie verwandelt hatte. Was blieb also Verwertbares übrig? Möglicherweise ein heller Transporter, der vermutlich exakt zum Zeitpunkt, als Laura das Haus verließ, vor dem Eingang hielt. Leider war die Beschreibung so vage, dass sie keinen geeigneten Ansatzpunkt bot. Es sei denn, jemand konnte weitere Angaben zu dem Fahrzeug machen.
Staller entschied, dass er diese Information für eine erste Rückmeldung noch während der Sendung nutzen konnte. Nach einer kurzen Frage an die Studenten stand fest, dass ansonsten noch keine vielversprechenden Hinweise eingegangen waren. Also kritzelte er hastig einige Worte auf eine Moderationskarte und warf einen Blick auf die Uhr. Gut, die zweite Werbung würde in wenigen Minuten beginnen. Er würde es gerade noch rechtzeitig ins Studio schaffen.
„Wir sind gleich zurück – vielleicht schon mit ersten Neuigkeiten zum Fall der kleinen Laura - und auf jeden Fall mit diesem Thema!“
Sonja Delft lächelte noch in die Kamera, bis das Rotlicht erlosch, dann konnte sie sicher sein, dass der letzte Teaser lief und die Kollegen aus dem Sender für die Werbung übernahmen. Auf den fragenden Blick der Maskenbildnerin hinter der Kulisse schüttelte die Moderatorin den Kopf. So heiß war es heute nun wirklich nicht und sie hatte nicht das Gefühl noch mehr Puder zu brauchen. Aus reiner Gewohnheit blätterte sie die restlichen Moderationskarten noch einmal durch, obwohl ihr der Ablauf durchaus präsent war. Dann nahm sie einen kleinen Schluck Wasser und wollte gerade eine Nachfrage an die Regie stellen, als Staller mit raumgreifendem Schritt ins Studio eilte.
„Was gibt es denn?“, erkundigte sie sich und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
„Mehr Schatten als Licht“, brummte der Reporter und drückte ihr die Karte in die Hand. „Ein alter Mann mit Rollator will gesehen haben, dass genau in dem Moment, als Laura aus der Haustür trat, ein heller Transporter vor dem Eingang hielt. Dadurch wurde dem Zeugen der weitere Blick auf das Mädchen verdeckt. Dann verschwand der Wagen und Laura war ebenfalls nicht mehr zu sehen. Leider konnte der Mann den Transporter nicht näher beschreiben. Aber vielleicht sollten wir an der Stelle noch einmal nachhaken.“
„Das ist doch nicht so schlecht“, urteilte Sonja.
„Der Zeuge ist 82 Jahre alt, schwerhörig und behauptet nur, dass er gut sehen kann. Wer weiß, ob das alles Hand und Fuß hat. Aber andere Hinweise gibt es bisher nicht.“ Staller verschwieg den Teil mit der Verwandlung von Laura in einen Hund lieber.
„Gut. Ich erkläre die Sache mit dem Wagen und dann fragen wir einfach mal nach, ob der auch anderen Leuten aufgefallen ist. Vielleicht meldet sich ja noch jemand, der genauere Angaben machen kann. Danke, Mike!“ Wieder strahlte sie, als ob in ihrem Gesicht ein Scheinwerfer angeknipst worden wäre. Wenn sie ihn so anlächelte, dann bekam Staller regelmäßig wacklige Knie, nur um sich Sekunden später genau darüber zu ärgern. Die Unsicherheit, die ihn in diesen Situationen überfiel, trieb ihn beinahe in den Wahnsinn, zumal er sich einbildete, dass niemand außer ihm selber diese erkannte. Zu Unrecht, übrigens. Heute rettete ihn die Stimme der Regisseurin aus dem Studiolautsprecher.
„Eine Minute bis re-entry!“
Staller nickte Sonja aufmunternd zu und hob seinen Daumen.
„Bis gleich!“ Dann verschwand er eilig in der Kulisse. Er hatte gerade sachte die Studiotür hinter sich geschlossen, als die Musik einsetzte, mit der der letzte Teil der Sendung begann. Der nächste Bildschirm befand sich in der Garderobe. Staller trat ein und drehte sofort den Ton an. Er traf genau den richtigen Zeitpunkt. Sonja hatte die erneute Begrüßung abgeschlossen und drehte sich in die zweite Kamera, die sie in Großaufnahme zeigte.
„Im Fall der verschwundenen Laura aus Hamburg-Eimsbüttel gibt es einen ersten Hinweis. Ein heller, möglicherweise weißer Transporter stand genau zu dem Zeitpunkt vor dem Haus, als Laura durch die Tür trat. Unmittelbar darauf verschwand der Wagen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Mädchen darin entführt wurde. Leider wissen wir noch keine Einzelheiten über Fahrzeugtyp, Kennzeichen oder den Fahrer beziehungsweise die Fahrerin. Wenn Ihnen also am 11. November gegen 15 Uhr in der Straße Am Weiher oder in unmittelbarer Nähe ein solches Fahrzeug aufgefallen ist, dann melden Sie sich doch bitte. Die Kontaktmöglichkeiten werden gleich eingeblendet.“
Als Profi hatte Sonja natürlich bedacht, dass sie gerade einen ungeplanten Eingriff in den Ablauf der Sendung vorgenommen hatte, und unterstützte die Regie mit diesem Hinweis. In diesem Fall war das allerdings unnötig, denn die Bildmischerin, eine erfahrene Mitarbeiterin der ersten Stunde, hatte die entsprechende Grafik bereits aufgerufen und punktgenau eingeblendet. Zeitgleich rief die Regisseurin das Laufband ebenfalls auf, bis sie bemerkte, dass es bereits lief. Die beiden Frauen grinsten sich an und simulierten high five. Dann konzentrierten sie sich wieder auf die Monitore.
Staller nickte zufrieden und verließ die Garderobe. Wieder einmal war es gelungen eine Sendung trotz aktueller Ereignisse pannenfrei über die Bildschirme zu bringen. Der Rest war Formsache. Ein letzter Beitrag, der sogenannte Rausschmeißer, der das Thema Kriminalität mit einem Augenzwinkern betrachtete, die Abmoderation und ein Ausblick auf die nächste Sendung – da konnte eigentlich nichts mehr schief gehen. “KM“ lief wie eine gut geölte Maschine. Das Team war motiviert und kompetent, die Abläufe waren eingespielt, aber nicht abgedroschen und die jahrelange Erfahrung half immer dann, wenn doch mal eine brenzlige Situation entstand.
In der Deppenzentrale bereitete man sich auf eine zweite Welle von Anrufen und Meinungsäußerungen vor. Nach dem Ende der Sendung nahm die Zahl der sinnbefreiten Meldungen selbst ernannter Spaßvögel noch einmal sprunghaft zu und auch die Promillezahl war uhrzeitgemäß im Steigen begriffen. Aber die Studenten an den Telefonen und Bildschirmen waren inzwischen geübt darin, die Spreu vom Weizen zu trennen. Freundlich, aber bestimmt kickten sie die Pöbler und Trunkenbolde aus der Leitung und löschten Beiträge, die nicht den Standards des Magazins entsprachen.
„Wie schaut's aus?“
Staller trat hinter den Leiter des kleinen Teams, bei dem die als relevant geltenden Meldungen und Hinweise zusammenliefen. Er arbeitete hier schon drei Jahre und finanzierte so sein Studium mit.
„So lala. Überdurchschnittliche Beteiligung, wie immer, wenn wir eine Fahndung drin haben. Qualitativ eher nicht so dolle. Am auffälligsten ist vielleicht noch eine Mail, die aber ziemlich anonym daherkommt.“ Er klickte eine Nachricht auf seinem Bildschirm an.
„Von [email protected]“, las Staller. „Notfalls sollten wir die Daten aber rausbekommen.“ Er las weiter und pfiff durch die Zähne. „Gerald Pohl arbeitet in der Nähe der Wohnung von Laura. Und er hat ungefähr um die Zeit Feierabend.“
„Sagt dir der Name was?“
Der Reporter nickte.
„Pohl ist wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden und hat etliche Jahre im Knast verbracht. Seine Opfer waren alle zwischen 6 und 12 Jahre alt. Seine Strafe hat er vermutlich vor ein oder zwei Jahren abgesessen.“
„Dann könnte das ja ein heißer Tipp sein.“
„Könnte, ja.“ Staller war skeptisch. „Natürlich gilt erst einmal die Unschuldsvermutung. Und die Tatsache, dass der Hinweis anonym gegeben wird, macht die Angelegenheit nicht eben glaubwürdiger. Aber checken muss man das schon. Sonst noch was?“
„Jede Menge Leute, die zum passenden Zeitpunkt Verdächtige gesehen haben wollen. Natürlich alles südländische Typen. Aber niemand mit Kind. Außer einer Frau, aber deren Kind saß im Buggy und war somit viel zu jung.“
„Vermutlich besorgte Bürger, die zwar nichts gegen Ausländer haben, aaaber … und das muss man doch mal sagen dürfen!“
„Genau.“ Der Teamleiter der Zuschauerredaktion zuckte mit den Schultern. „Eimsbüttel ist zwar insgesamt ein toleranter Stadtteil, aber die Idioten sind inzwischen überall.“
„Wie lange bleibt ihr heute noch dran?“
„Ich schätze, so bis 23 Uhr. Danach kommt nur noch Müll. Und wenn jemand wirklich etwas loswerden will, läuft ja der Anrufbeantworter.“
„Okay.“ Staller sah auf die Uhr. Kurz vor halb zehn – die Sendung war beendet und Sonja war vermutlich in ihrer Garderobe. „Kannst du mich um elf noch einmal auf dem Handy anrufen für ein update?“
„Kein Problem, mach ich!“ Der Student nickte bestätigend und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.
Staller machte sich auf den Rückweg ins Studio und zückte währenddessen sein Telefon. Der Kommissar würde auf seinen Anruf warten.
„Bommel, hat dich Hollywood schon angerufen nach deinem großartigen Auftritt im German Reality-TV?“ Er hielt das Handy ein Stück von seinem Ohr weg, bis die Flut von Beschimpfungen durch Bombach abebbte. „Jetzt sei nicht so empfindlich. Willst du Ergebnisse hören?“
„Falls du es schaffst einfach unkommentiert ein paar sachliche Informationen zu übermitteln ...“
„Ja, ja, ich gebe mir Mühe. Aber ich bin hungrig. Wollen wir uns bei Mario treffen?“
Die Erwähnung von Stallers Lieblingsitaliener hob die Laune des Kommissars sofort spürbar an.
„Ich hatte zwar schon eine Kleinigkeit, aber für ein Häppchen bei Mario ist sicher noch Platz.“
Dieser Satz war der pure Hohn, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens war es unvorstellbar, dass Bombach nur “eine Kleinigkeit“ zu sich nahm. Er war immer ein guter Esser gewesen und seit seine Frau schwanger war, hatte sein Appetit eher noch zugenommen. Wie er selbst übrigens auch. Fünf Co-Schwangerschaftskilos waren es bestimmt, die die Konturen seines Körpers erfolgreich weichzeichneten. Zweitens war es ausgeschlossen bei Mario nur ein Häppchen zu sich zu nehmen. Der gebürtige Sizilianer interpretierte seinen Beruf so, dass Qualität und Quantität gleichermaßen Zeichen seiner überbordenden Gastfreundlichkeit waren.
„Gut, dann ist es abgemacht. In einer halben Stunde?“
„Das schaffe ich. Bis gleich!“
Staller bog schwungvoll um die letzte Ecke des Korridors und öffnete die Tür zu Sonjas Garderobe praktisch zeitgleich mit seinem Anklopfen.
„Wollen wir ...“, begann er und brach abrupt ab, als er bemerkte, dass die Moderatorin lediglich mit einem schmalen Slip bekleidet vor ihm stand. „Oh, Verzeihung, ich wusste nicht ...“, stammelte er verlegen und wollte auf dem Absatz wieder kehrtmachen.
„Herrgott, Mike!“ Sonja schimpfte regelrecht los. „Jetzt stell dich doch nicht an wie eine jungfräuliche Klosterschülerin! Oder sehe ich so schrecklich aus?“ Mit diesen Worten stellte sie sich mit halb erhobenen Händen absichtlich in eine Pose, die natürlich und verführerisch zugleich wirkte. Ihr fester Busen, nicht zu klein und nicht zu groß, streckte sich ihm entgegen und durch die Spitzenränder des Slips blitzte nacktes Fleisch. Wenn man ihre sportliche, aber nicht übermäßig muskulöse Figur dazu rechnete, dann bot sich dem Betrachter ein Anblick, der unbedingt ein zweites Hinsehen lohnte.
Staller selbst fixierte einen Punkt schräg oberhalb des großen Spiegels. Immerhin hatte er seine Flucht abgebrochen. Trotzdem brauchte er noch einige Augenblicke, bis er sich wieder gefasst hatte. Dann brachte er mit belegter Stimme sein Anliegen vor.
„Äh, ich wollte fragen, ob du noch mit auf einen Happen zu Mario kommst. Ich treffe mich dort mit Bommel, um ihm die Ergebnisse unserer Fahndung mitzuteilen.“
„Klar. Wenn ich es genau betrachte, habe ich sogar ziemlichen Hunger. Und du kannst jetzt übrigens aufhören Löcher in meine Garderobenwand zu starren. Du wirst jetzt nicht mehr blind, wenn du mich anschaust.“ Ihre Stimme schwankte zwischen Belustigung und Resignation. Ihr Verhältnis zu Mike war schon seit langer Zeit etwas kompliziert. Sie waren erst Arbeitskollegen gewesen, hatten sich sehr gut verstanden und es war eine Freundschaft entstanden. Diese erstreckte sich auch auf Kati, Stallers praktisch erwachsene Tochter, die als Erste entdeckt hatte, dass zwischen den beiden mehr als nur Freundschaft im Spiel war. Sonja war auch bereit dieses zuzugeben. Mike hingegen, da waren sich die beiden Frauen sicher, empfand ebenfalls sehr viel für Sonja, schaffte es aber nicht, dieses auch nach außen zu tragen. Inwieweit der tragische Tod seiner Frau, der immerhin schon sieben Jahre zurücklag, dafür verantwortlich war, blieb das Ziel andauernder Spekulationen.
Staller warf probehalber einen Blick auf Sonja und registrierte dankbar, dass sie in Jeans und Pullover gehüllt war und gerade ihre Schuhe anzog. Trotz der schlichten Kleidung war ihre Wirkung immer noch umwerfend. Sie hatte das übertriebene Make-up aus der Fernsehsendung bereits entfernt und trug nur etwas Rouge und Lidschatten. Ihre Attraktivität speiste sich hauptsächlich aus ihrem offenen und freundlichen Gesicht mit den blitzenden, blauen Augen. Ihr blondes Haar hatte sie heute zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.
„So besser?“, zog sie ihn auf und griff nach ihrer Jacke.
„Zumindest verschuldest du so weniger Verkehrsunfälle“, entgegnete Staller, der die Sprache inzwischen wiedergefunden hatte. „Auf zu Mario, ich habe Hunger!“
* * *
Vivian Heber drehte mit geübtem Griff den Schlüssel herum und öffnete die Wohnungstür. Den Lichtschalter fand sie, ohne hinzusehen, und während sie der Tür mit dem Fuß einen Schubs gab, sodass sie zufiel, warf sie den Schlüsselbund auf das Sideboard. All dies waren Vorgänge, die sie so oft durchgeführt hatte, dass sie zur selbstverständlichen Routine geworden waren, über die sie überhaupt nicht mehr nachdenken musste. Ihre Sporttasche stellte sie vorübergehend mitten in den Raum und ihre Handtasche legte sie neben die Schlüssel. Ihre rote Winterjacke kam auf einen Bügel vor die Lederjacke. Die Strickmütze zog sie vom Kopf und legte sie oben auf die Garderobe. Den Versuch ihre Haare zu ordnen brach sie wegen erwiesener Erfolglosigkeit ab. Nach dem Sport hatte sie sie nur schnell halbwegs trocken geföhnt und ohne jedes Styling unter der Mütze versteckt. Über Nacht wäre jede Form von Frisur sowieso wieder abhandengekommen.
Im Bad hängte sie schnell ihr Sportzeug über den Badewannenrand. Hier würde es trocknen, bevor sie es in den Wäschekorb warf. Zweimal in der Woche ging sie direkt von der Bank ins Fitnessstudio und trainierte dort. Einmal davon war es ein Zumba-Kurs, heute hingegen hatte sie sich auf dem Laufband und an den Geräten ausgetobt. Zusammen mit dem anschließenden Saunabesuch waren dann schnell drei Stunden um und sie hatte keine Lust mehr zu kochen. Deshalb holte sie die Plastikbox mit dem fertigen Salat aus der Tasche, den sie auf dem Heimweg schnell geholt hatte. Das würde reichen.
In der Küche räumte sie noch ihren Kaffeebecher vom Morgen weg und holte sich eine Gabel aus der Schublade. Sie würde den Salat einfach direkt aus der Schale essen. Es war ja niemand da, der sich darüber beschweren konnte. Aus dem gleichen Grund schaltete sie ohne schlechtes Gewissen den Fernseher ein. Manchmal bedauerte sie es, dass sie keinen Partner hatte, mit dem sie ihr Leben teilen konnte, aber oft barg dieser Zustand ungeahnte Vorteile. Ein Sonntag in Jogginghose, zwei Stunden in der Badewanne oder eben ein Abendessen vor dem Fernseher waren nicht zu verachten. Es war so schön einfach, wenn man keine Rücksicht nehmen musste. Nur wenn sie abends mit kalten Füßen im Bett lag, dann wünschte sie sich manchmal einen Mann, an dessen Oberschenkeln sie sie wärmen konnte.
Das Fernsehprogramm konnte sie heute nicht gerade begeistern, deshalb schaltete sie die Kiste aus, sobald sie ihren Salat aufgegessen hatte. Wie es ihre Art war, brachte sie die Schale zurück in die Küche und warf sie in den Mülleimer. Die Gabel wusch sie von Hand ab und legte sie zurück in die Besteckschublade.
Unschlüssig, wie sie den Rest des Abends verbringen sollte, lief sie durch die Wohnung. In der Küche gab es nichts mehr zu tun, das Wohnzimmer war aufgeräumt und sauber und im Bad musste sie warten, bis ihre Sportklamotten trocken waren, bevor sie sie wegräumen konnte. Sie putzte ein Paar Schuhe mit schwarzer Schuhcreme und wusch sich anschließend die Hände, die komischerweise immer etwas von der Creme abbekamen. Dann schlenderte sie ins Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett. Vielleicht sollte sie sich einfach hinlegen und noch ein wenig lesen.
Als sie sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf das Kissen sinken ließ, sog sie prüfend die Luft durch ihre Nase. Etwas störte ihr Geruchsempfinden. Vermutlich war es einfach mal wieder an der Zeit das Bettzeug zu wechseln. Im Gegensatz zu vielen anderen anfallenden Aufgaben hatte sie dafür keinen festgelegten Plan. Sie entschied nach Gefühl – oder eben nach Geruch. Heute war es offensichtlich soweit. Sie sprang auf und öffnete den Kleiderschrank. Die erste Nacht im frisch bezogenen Bett war immer etwas Besonderes. Sie würde gut schlafen.
* * *
Zu so später Stunde war das Restaurant von Mario längst nicht mehr voll besetzt. Als Staller und Sonja den Gastraum betraten, konnten sie sehen, dass Thomas Bombach bereits an dem “Familientisch“ Platz genommen hatte, der besonderen Gästen und Freunden der Familie vorbehalten war und etwas abseits stand. Hier lag auch ein kariertes, etwas rustikaleres Tischtuch auf, während im übrigen Raum die Farbe Weiß in der Unterkategorie Blütenweiß dominierte. Der Kommissar war bereits mit den obligatorischen Pizzabrötchen versorgt worden und … kaute fleißig.
„Ah, Mike und die bella signorina“, röhrte Mario, als ob der lange verloren geglaubte Sohn überraschend in den Schoß der Familie zurückgekehrt wäre. Dabei schaute Staller mehrmals pro Woche vorbei und war mit Sicherheit von Bombach bereits angekündigt worden. „Un momentino, isch bin gleich bei euch!“
Er balancierte mit der Eleganz eines russischen Balletttänzers eine opulente Platte mit verschiedenen Desserts durch den Raum. Seine Erscheinung stand dazu im krassen Gegensatz. Dem hochgewachsenen Mike reichte er gerade mal bis zur Brust, brachte dafür aber deutlich mehr Gewicht auf die Waage. Seine Figur war am ehesten mit einem Fass zu vergleichen. Die im Verhältnis winzigen Füße und relativ dünnen Beine trugen den Mann trotzdem ebenso schnell wie geschmeidig durch den dicht bestuhlten Raum, wobei der mächtig vorstehende Bauch je nach Bedarf elegant nach rechts, links oder nach vorn geschwenkt wurde, ohne dass das Tempo der Vorwärtsbewegung darunter litt.
„Na, konntest du es wieder nicht abwarten?“ Staller schlug seinem Freund zur Begrüßung kräftig auf die Schulter. Bombach schluckte eifrig an einem großen Stück Brötchen mit Aioli und konnte momentan nicht antworten. „Ich denke, du hattest schon gegessen? Aber ich verstehe schon. Doppelt hält besser!“ Grinsend faltete der Reporter seine langen Gliedmaßen auf einen Stuhl und griff ebenfalls nach einer der noch warmen Köstlichkeiten.
„Hallo Thomas!“, grüßte Sonja freundlich, die den Kommissar sehr schätzte und ihn vermutlich als einziger Mensch der Welt mit seinem richtigen Vornamen anredete.
„Moin Sonja – bezaubernd wie immer! Und Mike: Hör auf, mir die Pizzabrötchen wegzufuttern!“
„Man muss auch gönnen können“, befand der Reporter und langte erneut zu.
„Scusi, isch bringe gleich neue!“ Mario bewegte sich nicht nur geschmeidig, sondern auch lautlos. „Wolle kleine Antipasti, schlichte Eintopfe mit pollo und bisse Nachtische?“
Eine der Regeln für besondere Gäste bestand darin, dass sie keine Speisekarte mehr zu sehen bekamen. Mario hatte immer etwas Besonderes in petto, das er lediglich pro forma zur Disposition stellte. Da dieses Experiment bisher noch nie schief gegangen war, nickten die Drei unisono, woraufhin Mario verschwand und wenig später mit einer großen Flasche Wasser, reichlich Gläsern, sowie einer Karaffe Rotwein erneut erschien. Seine Frau Gerda folgte in seinem breiten Kielwasser mit weiteren Brötchen und Aioli. Außerdem servierte sie verschiedene Öle, Oliven und grobes Meersalz.
„Da freue ich mich schon eine Stunde drauf“, stöhnte Staller wohlig auf und roch probehalber an seinem Rotwein. Auch dieser fand sich mit Sicherheit nicht auf der Karte, sondern stammte aus Marios persönlichem Vorrat.
„Könntest du in Anbetracht der Tatsache, dass die zu erwartende Völlerei gleich beginnt, schon mal einen kleinen Überblick darüber geben, was bei der Fahndung herausgekommen ist?“ Bombachs berufliche Neugier war größer als sein Appetit, was allerdings weniger bedeutsam schien, wenn man bedachte, dass er bereits zu Abend gegessen hatte.
„Ja.“ Nach dieser Antwort mampfte Staller ungerührt weiter. Nachdem der Kommissar einige Sekunden abgewartet hatte, fragte er genervt nach.
„Machst du es auch?“
„Nö.“
Bombach warf einen irritierten Blick zu Sonja, die nur unmerklich mit den Schultern zuckte. Sie wusste ebenfalls nicht, was den Reporter ritt.
„Warum nicht?“ Bombach klang minimal angespannt.
„Ganz einfach.“ Staller machte eine kleine Pause und tupfte sich den Mundwinkel mit der Serviette ab. „In spätestens drei Minuten steht der Tisch voll mit Leckereien. Dann hörst du mir eh nicht zu, weil du überflüssige Kalorien in deinen Körper schaufelst. Außerdem habe ich mit meinen Leuten verabredet, dass ich in etwa einer halben Stunde eine Auswertung der Meldungen bekomme. Das sollten wir noch abwarten.“
Wie aufs Stichwort erschien Mario mit einer Platte von fast einem halben Quadratmeter. Das entsprach seiner Vorstellung von “kleine Antipasti“.
„Gut, unter diesen Voraussetzungen stimme ich dir zu!“. Bombach klang wieder bedeutend fröhlicher und beäugte die Köstlichkeiten gierig. Der Sizilianer hatte sich mal wieder selbst übertroffen.
„Danke, Mario! Aber wer soll das alles essen?“ Sonja war zwischen Freude und Entsetzen hin- und hergerissen.
„Isse keine Problem! Viele Arbeit – viele esse! Il commissario immer gute Appetit“, schmunzelte Mario und ordnete den Tisch blitzschnell so, dass jeder problemlos an die Antipasti kam. „Buon appetito!“
„Siehst du Bommel, Mario verfügt über eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und gesunde Menschenkenntnis.“
Bombach ignorierte seinen Freund und machte sich bereits über die Platte her. Dabei ließ er in der Tat keineswegs durchscheinen, dass er bereits gegessen hatte. Und nach exakt elf Minuten hatte sich Marios Vorhersage bewahrheitet, denn mit Ausnahme von etwas Dekoration war die gesamte Vorspeise verschwunden.
„Jetzt fühle ich mich in der Lage einen kleinen Zwischenbericht abzugeben“, stellte Staller zufrieden fest und trank einen Schluck Wasser.
„Ich bin ganz Ohr“, antwortete Bombach, dessen Kinn von einem herabgelaufenen Tropfen Olivenöl leicht glänzte.
„Leider sind die meisten Reaktionen wenig hilfreich“, beklagte Sonja, die im Auto von Mike informiert worden war.
„Zwei Dinge darfst du morgen gleich bearbeiten.“ Der Reporter klang wieder ganz munter. „Zum einen soll Gerald Pohl in der Nähe des Spielplatzes arbeiten und auch zur passenden Zeit Feierabend machen. Allerdings kam diese Information anonym per Mail von einer Allerweltsadresse. Keine Ahnung, wie glaubwürdig das ist, aber checken kannst du es ja mal.“
Bombach zupfte nachdenklich an seinem Ohrläppchen.
„Ein verurteilter Kinderschänder vor Ort klingt ein bisschen zu einfach für meinen Geschmack. Vielleicht ist es irgendeinem selbsternannten Hilfssheriff ein Dorn im Auge, dass auch solche Menschen eine zweite Chance erhalten, nachdem sie ihre Strafe abgesessen haben.“
„Aber überprüfen wirst du es trotzdem, oder?“, wollte Sonja wissen.
„Natürlich. Und wenn es nur ist, um etwas auszuschließen.“
„Der zweite Hinweis ist etwas weniger konkret, aber in meinen Augen trotzdem interessanter. Jemand hat einen Lieferwagen oder Transporter beobachtet, der vor dem Haus stand, als Laura rauskam. Unmittelbar danach ist er weggefahren.“
Diese Nachricht elektrisierte den Kommissar förmlich.
„Das ist in der Tat hilfreich. Hat der Zeuge zufällig auf Werbeaufdrucke oder gar das Kennzeichen geachtet?“, fragte er mit hoffnungsvollem Gesichtsausdruck.
„Leider nein. Also: Keine Aufschriften und keine Sicht auf das Kennzeichen. Und es gibt noch einen zweiten Pferdefuß.“ Staller erzählte ausführlich, wie Alfred Berger gesehen haben wollte, dass sich Laura in einen Hund verwandelt hatte.
Bombach massierte sich die Schläfen und verbarg seine Verzweiflung nur mit Mühe.
„Also ein Spinner?“
Staller wiegte bedächtig sein Haupt.
„Ich bin mir natürlich nicht sicher, aber ich denke nicht. Der Mann ist 82 Jahre alt, offensichtlich schwerhörig, aber er behauptet, gut sehen zu können. Senil wirkte er auf mich nicht. Aber selbstverständlich ist seine Interpretation dessen, was er gesehen hat, völliger Quatsch. Wir haben noch in der Sendung reagiert und nachgefragt, ob auch andere Zeugen den Transporter gesehen haben.“
„Und?“
„Keine Ahnung. Ich hoffe, dass ich per Telefon gleich noch etwas dazu erfahre.“
„Es kostet mich zwar etwas Überwindung das zu sagen, aber das habt ihr gut gemacht. Wenn Laura wirklich entführt worden ist, dann wäre ein Wagen vor der Tür ziemlich plausibel. So minimiert der Täter die Chance, dass er mit dem Mädchen gesehen wird.“
„Warum nicht die Täterin?“, fragte Sonja nach.
„Das ist natürlich nicht ausgeschlossen. Aber Frauen greifen in aller Regel nur zu solchen Mitteln, wenn sie in einer Beziehung zu dem Kind stehen. Mütter ohne Sorgerecht zum Beispiel. Das ist hier aber nicht der Fall.“
Der zweite Gang unterbrach ihre Überlegungen. Mario erwartete, dass die volle Aufmerksamkeit seiner Gäste den Speisen galt, und er wurde nicht enttäuscht. Allerdings duftete die Schüssel mit Huhn in heller Soße auch zu verführerisch. Die nächsten Minuten verliefen äußerst schweigsam, wenn man die Essgeräusche ignorierte. Sonja war die Erste, die ihren Teller von sich schob und leise japste.