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Das Gästehaus von Olaf Henning brennt. Die Feuerwehr findet die Leiche von Maria, dem Au-pair-Mädchen der Familie, im Bett. Unfall, Selbstmord oder Mord? Die Todesursache ist unklar. Schwierige Ermittlungen für Kommissar Bombach. Und das ist nur der Beginn einer Serie von Brandstiftungen, alle im Zusammenhang mit den Hennings. Polizeireporter Mike Staller und seine Kollegin Isa untersuchen die Vergangenheit der Familie. Dabei stoßen sie auf zwei Tote - im Auto verbrannt - und Olafs Vater, schwerverletzt in den Flammen seines brennenden Hauses. Zufall? Oder ein grauenvolles Familiendrama? Der Vater, Willy Henning, könnte viele offene Fragen beantworten, aber er ist dement und erkennt oft nicht einmal seine nächsten Verwandten. Die einzige Spur für Kommissar Bombach: Maria war schwanger. Der Vater des Kindes könnte ein Motiv haben - aber er ist unbekannt. War es ein unglücklich verlaufener One-Night-Stand? Oder gar Olaf Henning? Welche Rolle spielt Cousin Olli Henning, der Altenpfleger, der sich rührend um Willy kümmert? Mike Staller hat Urlaub, den er in seinem Wochenendhaus in der Heide verbringt. Auch dort kommt es zu einer Brandserie und die Dorfjugend bittet den erfahrenen Polizeireporter um Hilfe. Das führt zu den kuriosesten Erlebnissen, die nur in der dünnbesiedelten Einsamkeit Norddeutschlands vorstellbar sind. Hin- und hergerissen zwischen den Herausforderungen eines großen Falls, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, und den halb kriminellen Manipulationen bauernschlauer Landbewohner, löst der findige Reporter schließlich beide Rätsel auf. Wieder ein spannender Kriminalfall, bei dem auch die humorvolle Auseinandersetzung zwischen den beiden Hauptpersonen nicht zu kurz kommt.
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Seitenzahl: 572
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STALLER UND DER FEUERTEUFEL
Bisher in diesem Verlag erschienen:
Staller und der Schwarze Kreis
Staller und die Rache der Spieler
Staller und die toten Witwen
Staller und die Höllenhunde
Staller und der schnelle Tod
Staller und der unheimliche Fremde
Staller und die ehrbare Familie
Staller und der Mann für alle Fälle
Staller und der Pate von Hamburg
Mike Staller schreibt bei Facebook unter:
Michael „Mike“ Staller
Chris Krause
Staller und der Feuerteufel
Mike Stallers zehnter Fall
© 2021 Chris Krause
Autor: Chris Krause
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
978-3-347-42119-6 (Paperback)
978-3-347-42120-2 (Hardcover)
978-3-347-42121-9 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Wie bitte?“
Die Frau mit den wirren Haaren wirkte verstört. Mit einer Hand hielt sie den Kragen ihres Morgenmantels zusammen und mit der anderen Hand nestelte sie unaufhörlich am frei herabhängenden Ende des Gürtels.
„Ob jemand in dem Gebäude ist, habe ich gefragt.“ Der Feuerwehrmann legte eine beachtliche Professionalität an den Tag und blieb ganz ruhig, obwohl seine einzige Informationsquelle sich nicht gerade ergiebig zeigte. Er warf einen Blick über die Schulter und versuchte einzuschätzen, ob es noch möglich war in das Gebäude einzudringen, ohne das Leben seiner Männer leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Das Gartenhaus brannte von zwei Seiten sehr heftig, rund um die Tür hingegen waren noch keine Flammen zu sehen. Es war in jedem Fall eine knappe Entscheidung.
„Nein … ich … warten Sie.“
Geduldig wartete er, obwohl es ihn innerlich drängte die Frau zu schütteln, damit sie seine einfache Frage beantwortete.
„Mein Mann ist auf einer Veranstaltung und Maria wollte zu Freunden. Jemand anderes kann nicht im Gästehaus sein.“ Sie schien sich gesammelt zu haben und strich sich energisch eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. „Nein, da ist niemand.“
„Danke. Gehen Sie jetzt bitte ins Haus zurück. Derzeit sind Sie dort sicher. Sollte sich die Situation anders entwickeln, melden wir uns. Aber der Wind steht günstig.“
Er entfernte sich eiligen Schrittes, um weitere Anweisungen zu geben. Innerlich fühlte er Dankbarkeit, dass er niemanden seiner Leute in das brennende Nebengebäude schicken musste.
Das Aufgebot an Einsatzkräften war groß. Bei dem betroffenen Objekt handelte es sich um ein massives Gebäude, das auf anderen Grundstücken sogar als Wohnhaus für eine Familie durchgegangen wäre. Hier in Hamburg Sasel galten andere Maßstäbe, wie das riesige Haupthaus bestätigte. Auch das Grundstück durfte geradezu parkähnlich genannt werden. Üppige Gehölze schützten vor den Blicken der Nachbarn. Der Abstand zwischen den Gebäuden war groß genug, um ein Überspringen der Flammen verhindern zu können. Trotzdem wurde die den Flammen zugewandte Seite massiv bewässert, eine sinnvolle und übliche Vorsichtsmaßnahme.
Das brennende Objekt bestand im unteren Bereich aus alten Klinkern, während das obere Stockwerk mit Holz verkleidet war, was den gierigen Flammen reichlich Nahrung bot, zumal der Sommer trocken gewesen war und es seit Wochen nicht mehr geregnet hatte. Das war ein Umstand, der eigentlich für Hamburg ungewöhnlich, in den letzten Jahren jedoch mit zunehmender Häufigkeit eingetreten war. Ob Laune der Natur oder Zeichen eines unumkehrbaren Klimawandels – wer konnte das schon sagen.
„Keine Personen im Gebäude“, berichtete der Einsatzleiter den beiden Männern, die daraufhin erleichtert ihren schweren Atemschutz wieder ablegten. „Ich bin ganz froh, dass ich euch da nicht reinschicken muss.“
„Da wollen wir dir nicht widersprechen“, entgegnete einer der Männer trocken. „Wär’ ganz schön warm geworden, schätze ich.“
„Wir bleiben besser noch einsatzbereit“, ergänzte der andere. „Man weiß ja nie. Nachher fällt jemandem noch ein, dass sein heiß geliebter Goldfisch unbedingt gerettet werden muss. Kennt man doch!“
„Heiß geliebt ist gut“, grinste sein Partner. „Okay, schwitzen wir also noch ein bisschen weiter!“
Der Einsatzleiter nickte zustimmend und wandte sich ab. Seine langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass auch eine Situation, die sich anscheinend unter Kontrolle befand, jederzeit wieder eskalieren konnte. Feuer war unberechenbar und konnte erst als besiegt gelten, wenn auch letzte Glutnester gelöscht waren.
Mit geschultem Auge beobachtete er den Löschangriff. Momentan schienen sich die Flammen zumindest nicht weiter auszubreiten. Ein signifikanter Rückgang war allerdings noch nicht zu beobachten.
Er prüfte auch die nähere Umgebung. Rings um das Gästehaus befand sich eine Rasenfläche. Das war gut so. Üppiger Bewuchs mit Büschen oder gar Bäumen wäre ein zusätzliches Problem gewesen. Bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen hätte sich ein schwer kontrollierbarer Flächenbrand entwickeln können, der auch die Nachbargrundstücke in Gefahr gebracht hätte. So hingegen musste er nur auf eventuellen Funkenflug achten. Das nächste Haus war durch eine sehr niedrige Buchsbaumhecke, eine breite gepflasterte Auffahrt und ein weiteres Rasenstück vom Brandherd getrennt. Der Einsatzleiter schätzte den Abstand auf fast zwanzig Meter. Das war gut. Normalerweise war Hamburg viel dichter bebaut. Aber die teureren Stadtteile brachten eben auch gewisse Privilegien mit sich.
Die Flammen stiegen nahezu senkrecht in die Höhe, was bedeutete, dass der wenige Wind inzwischen fast gänzlich abgeflaut war. Noch ein Pluspunkt. Alles sah danach aus, dass dieser Einsatz ohne Gefahr für Leib und Leben und mit einem überschaubaren Sachschaden beendet werden könnte.
Ein Taxi hielt am Straßenrand und die Beifahrertür wurde aufgerissen. Der Mann, der mit hektischen Bewegungen heranstürmte, wirkte seltsam deplatziert, denn er trug Reitstiefel und eine helle, an den Innenseiten mit Leder besetzte Hose.
„Um Gottes willen, was ist denn passiert?“, erkundigte er sich mit überschlagender Stimme. Gleichzeitig versuchte er das Gesamtbild der Situation zu erfassen und ließ dabei seinen Kopf wie einen Wackeldackel auf der Hutablage von rechts nach links pendeln.
„Sie sind …?“ Der Einsatzleiter blieb ein Prototyp an Professionalität.
„Olaf Henning. Das ist mein Haus. Was ist mit meiner Frau und den Kindern?“
„Beruhigen Sie sich, Herr Henning. Ihrer Familie geht es gut. Sie befindet sich im Haupthaus und ist dort zurzeit in Sicherheit. Laut Aussage Ihrer Frau befindet sich niemand in dem brennenden Gebäude. Können Sie das bestätigen?“
Der Mann klammerte sich an seinem Sakko, das er über den Arm gelegt hatte, fest und knetete dabei die Lederflicken auf den Ellenbogen. Offensichtlich bemühte er sich um Fassung und Konzentration.
„Gäste haben wir im Moment keine. Unser Au-pair-Mädchen wollte auf eine Party und ist bestimmt nicht vor dem Morgengrauen zurück. Ansonsten habe ich noch mein Büro in dem Gebäude. Nein, es dürfte sich niemand dort befinden. Aber wie konnte das passieren? So ein Haus fängt doch nicht einfach an zu brennen!“
„Tja, wenn das immer so wäre, dann hätte ich keinen Job, nicht wahr? Kurzschluss, Nachlässigkeit, Brandstiftung – es gibt unzählige Ursachen für ein Feuer. Das klären wir später, wenn wir den Brand gelöscht haben. Sie gehen jetzt am besten zu Ihrer Frau ins Haus! Wir melden uns, wenn die Gefahr vorüber ist.“ Der Einsatzleiter schob den Mann, der immer noch fassungslos schien, mit sanfter Gewalt in die entsprechende Richtung. Offensichtlich genügte dieser kleine Impuls, denn Henning setzte sich widerspruchslos in Bewegung und fummelte in der Hosentasche nach dem Hausschlüssel.
Zwei Stunden später war die Situation weitgehend unter Kontrolle. Die Schaulustigen in unterschiedlichen Zusammenstellungen von Nachtbekleidung hatten sich entfernt und zogen ein paar Stunden Schlaf dem nachlassenden Unterhaltungsfaktor durch ein eingedämmtes Feuer vor. Anstelle der lodernden Flammen war ein dünner Rauch getreten und in der Luft lag ein unangenehmer Geruch nach feuchter Asche. Die mörderische Hitze hatte sich gelegt und die Brandstelle erweckte diesen typischen, unaufgeräumten Eindruck nach einem Feuerwehreinsatz. Das Wasser hatte sich seine Wege gesucht und schmutzige Bahnen auf der Auffahrt und dem Rasen gezogen. Für den normalen Betrachter wirkte das Gästehaus wie eine abrissreife Brandruine, der Einsatzleiter mit seinem erfahrenen Auge stellte jedoch fest, dass sich die Schäden in einem durchaus überschaubaren Rahmen bewegten. Er begutachtete die beiden Seiten, die es besonders getroffen hatte, die Richtung Nachbargrundstück lagen. Ein Kollege stellte sich dazu und schob seinen Helm, unter dem er mächtig schwitzte, ein Stück weit in den Nacken.
„Da war wohl ein Amateur am Werk, was?“
„Oder jemand, der damit gerechnet hat, dass zumindest das obere Stockwerk in Holzrahmenbauweise errichtet wurde. Jedenfalls haben wir mehr Schaden angerichtet als das Feuer.“
„Wir tun halt, was wir können!“, grinste der Kollege, rückte seinen Helm wieder zurecht und stapfte in seinen schweren Stiefeln davon.
Der Einsatzleiter seufzte und zückte sein Telefon. Er würde die Polizei informieren müssen. Es handelte sich hier recht eindeutig um eine, wenn auch wenig kenntnisreich durchgeführte, Brandstiftung. Irgendjemand hatte, vermutlich unter Zuhilfenahme von Benzin oder einem ähnlichen Brandbeschleuniger, die Holzverkleidung des oberen Stockwerks entzündet. Diese war, ebenso wie Teile des Dachstuhls, weitgehend abgebrannt. Das Gebäude an sich, speziell das Innere, war jedoch kaum vom Feuer betroffen. Allerdings hatten die Mengen an Löschwasser hier trotzdem für erhebliche Schäden gesorgt. Ab sofort musste die Brandruine als Tatort betrachtet werden. Aber das war nicht sein Problem – zum Glück. Er musste nur noch eine Absperrung veranlassen und die Kollegen von der Brandermittlung informieren. Gerade wollte er telefonieren, als ihn ein drängender Ruf erreichte.
„Chef! Das musst du dir mal ansehen!“ Die Stimme klang schrill. Feuerwehrleute sind stresserprobt und lernen bei ihren Einsätzen sehr zügige und gleichzeitig umsichtige Entscheidungen zu treffen. Panik ist ihnen weitgehend fremd. Nur so können sie ihr und das Leben anderer Menschen zuverlässig schützen. Insofern war der Einsatzleiter beim Ruf seines Kollegen gleichzeitig irritiert und alarmiert.
„Was gibt’s denn?“
Der Kollege deutete stumm auf ein Fenster auf der dem Feuer abgewandten Seite. Die Scheibe war durch die Rauchentwicklung schlierig und an einer Stelle notdürftig blank gewischt.
Der Einsatzleiter presste sein Auge an die freie Stelle und versuchte irgendetwas zu erkennen. Im fahlen Licht des dämmernden Morgens war dies ein aussichtsloses Unterfangen.
„Warte, Chef!“ Der Kollege reichte ihm eine Taschenlampe. „So geht’s besser.“
Auch mit dieser Unterstützung dauerte es einige Zeit, bis der Einsatzleiter sich im Raum halbwegs orientiert hatte. Zuerst ließ er den starken Strahl der Lampe methodisch von links nach rechts und von hinten nach vorne wandern. Dann stoppte die Bewegung abrupt. Mehrere Sekunden schien der Beobachter regungslos zu verharren. Dann knipste er die Taschenlampe aus und drehte sich zu seinem Kollegen um. Die von Müdigkeit und Erschöpfung geröteten Augen hoben sich deutlich von dem bleichen Gesicht ab.
„Scheiße!“
„Du sagst es, Chef.“
* * *
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fanden zielstrebig den Spalt zwischen den Vorhängen und tanzten über das Kissen des Schläfers. Gleichzeitig gab sich eine Horde Spatzen größtmögliche Mühe ihre offensichtliche Auseinandersetzung so laut wie möglich vorzutragen. Mehrere Amseln flöteten vergebliche Vermittlungsversuche dazwischen, bis eine verärgerte Krähe ein weithin schallendes Machtwort sprach. Daraufhin folgten einige Momente der Ruhe, bis das Spektakel mit unverminderter Lautstärke erneut losbrach. In entsprechend ruhiger, ländlicher Umgebung können Vögel einen unglaublichen Krach machen.
Das Wochenenddomizil von Michael Staller lag abgelegen in einer ländlichen Umgebung am Rande der Lüneburger Heide. Wenn nicht gerade ein Landwirt die angrenzenden Felder bewirtschaftete, zeichneten entweder der Polizeireporter selbst oder die Natur für eventuelle Geräuschentwicklung verantwortlich. Da der Protagonist – noch – in tiefem Schlaf lag, ebenso wie seine Tochter Kati im Nebenzimmer übrigens, hatte die Natur in Form einer sehr mitteilsamen Vogelwelt absolutes Oberwasser.
Nach seinem letzten Fall, im Verlaufe dessen seine Tochter entführt und unter Aufbietung aller Kräfte schließlich unversehrt befreit worden war, hatte Staller sich geschworen, bei einer gemeinsamen Auszeit neue Kräfte zu tanken. Dafür gab es keinen besseren Ort als das alte Bauernhaus, das ihnen schon immer ein Refugium der Ruhe und des Friedens gewesen war. Zwar konnte er sich nicht vollständig freimachen, aber es war ihm gelungen, für zwei Wochen keine anderen Aufgaben anzunehmen als die Moderation von “KM – Das Kriminalmagazin“. Dafür musste er zweimal die gute halbe Stunde nach Hamburg hineinfahren und war ansonsten Herr seiner Zeit. Er genoss die Zweisamkeit mit Kati, werkelte mit ihr in Haus und Garten, kochte und führte lange Gespräche über Gott und die Welt. Zu seiner großen Beruhigung hatte er festgestellt, dass seine Tochter die Erlebnisse gut verarbeitet hatte und keinerlei Anzeichen eines Traumas an den Tag legte.
Jetzt hatte der vorwitzige Sonnenstrahl sein Gesicht erreicht und schien ihn förmlich wachzukitzeln. Ansatzlos öffnete er die Augen und lauschte mit einem leichten Lächeln den Geräuschen vor dem geöffneten Fenster. Ein neuer, wunderbarer Tag lag vor ihm, niemand schrieb ihm vor, was er als Nächstes zu tun hätte, und er befand sich an einem der schönsten Orte, die er sich vorstellen konnte.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es noch geradezu unchristlich früh war. Aber er kannte es schon, dass er sich hier auf dem Land praktisch sofort dem natürlichen Rhythmus von Tag und Nacht anpasste. Er stand auf, streckte sich und schob die Vorhänge zurück. Kurz schmunzelte er über den Andrang an der Vogeltränke – offensichtlich war heute Badetag – und beschloss dann, den Tag mit einem Lauf durch die Felder zu beginnen. Dann würde er den Tisch draußen im Hof decken und Kati zum Frühstück wecken.
Zwanzig Minuten später trabte er mutterseelenallein einen von Birken gesäumten Feldweg entlang. Die Sonne stand noch tief und die Luft roch nach Sommer. Es war zwar warm, aber nicht heiß, also ideales Laufwetter. Kein Landwirt fühlte sich gemüßigt, so früh am Morgen mit seinem Trecker aufs Feld zu fahren und Staller kam sich in der windstillen Ruhe wie der einzige Mensch auf Erden vor. Ein Häschen, das am Wegesrand friedlich Löwenzahn frühstückte, überlegte lange, ob die hochgewachsene Gestalt Grund genug für einen Ortswechsel war, und hoppelte schließlich fast widerwillig einige Meter davon. Dann setzte es sich auf, ließ die Löffel spielen und beobachtete, wie der Läufer gleichmäßig vorbeizog. Keine Gefahr.
Staller bog auf einen Trampelpfad ab, der auf ein lichtes Wäldchen zuführte, und durchquerte es ohne weitere Tiersichtungen. Nur das durchdringende Zetern eines Eichelhähers begleitete ihn. Am anderen Ende bog er rechts ab und bewegte sich am Rande des Wäldchens entlang. Links von ihm befand sich eine endlose Grünlandfläche, die aber nicht beweidet wurde, denn sie war nicht eingezäunt.
Ein kaum merkliches Rauchfähnchen über den Bäumen erweckte die Aufmerksamkeit des Reporters. Die anhaltende Trockenheit barg die Gefahr von Waldbränden und auch wenn hier kaum Menschen verkehrten, so genügte doch schlimmstenfalls eine Glasscherbe, um ein Feuer zu verursachen. Da er sowieso kein Ziel hatte, folgte er dem Rauch und bog ein weiteres Mal um eine Ecke des nahezu quadratischen Wäldchens.
Nach etwa dreihundert Metern blieb er überrascht stehen. Anstelle des großen Weideschuppens, den er zu sehen erwartet hatte, fand er nur ein ziemlich verkohltes Häufchen Asche. Normalerweise lagerte dort landwirtschaftliches Gerät, das selten benutzt wurde, und darüber hinaus etliche in Folie eingewickelte Heuballen. Zusammen mit den uralten Holzbrettern des Schuppens ideale Nahrung für hungrige Flammen in trockenen Zeiten. Was war hier passiert? Ein aus dem Ruder gelaufener Streich von Kindern? Rauchende Jugendliche, die unachtsam ihre Kippen in den Schuppen geworfen hatten?
Sorgfältig umkreiste er die verwüstete Stelle, konnte aber außer einigen gesprungenen Eternitplatten und einem Haufen verkohlter Reste nichts finden, das ihm Informationen lieferte. Immerhin zeigten Spuren im Gras, dass jemand mit einer Frontladerschaufel die Überbleibsel des Schuppens zusammengeschoben hatte. Was für ein Glück, dass das Feuer nicht auf den Wald übergegriffen hatte!
Kopfschüttelnd trabte der Reporter weiter. Hier gab es nichts mehr zu sehen oder gar zu tun. Nach wenigen Minuten hatte er den Vorfall bereits wieder vergessen und überlegte stattdessen, ob er Spiegel- oder Rühreier zum Frühstück zubereiten sollte. Nach einem Lauf von zehn Kilometern konnte er eine kräftige Mahlzeit vertragen. Und Kati war ebenfalls keine Kostverächterin.
* * *
Kommissar Bombach warf einen bedauernden Blick auf sein Schuhwerk, sandfarbene Slipper aus Wildleder, und betrat vorsichtig den Raum, auf dessen Boden das durchgesickerte Löschwasser immer noch eine fast ununterbrochene Fläche bildete. Das Zimmer war mittelgroß und als Wohn- und Schlafraum eingerichtet. Auf dem mit einer blauen Tagesdecke bezogenen Bett lag eine junge Frau mit langen, dunklen Locken, die ihr feucht um den Kopf hingen. Sie mochte etwa zwanzig Jahre alt sein, war schlank und in Jeans und helles Top gekleidet. Außerdem war sie tot.
„Mein Gott, so ein junges Ding“, murmelte er vor sich hin und trat näher an das Bett heran, um dem Arzt über die Schulter zu schauen, der das Mädchen mit ernster Miene untersuchte. „Wie ist sie gestorben?“
„Kann ich noch nicht sagen“, brummte der Mediziner und drehte ihren Kopf hin und her, um ihn von allen Seiten genau zu betrachten. „Keine offensichtlichen äußeren Einwirkungen wie Schläge, Stiche oder Strangulierungen. Auch keine Schusswunden.“
„Natürlicher Tod?“ Bombach zog überrascht die Brauen hoch.
„Ist mit in der Verlosung, aber nicht sehr wahrscheinlich.“
„Weil?“
„Weil junge Mädchen nicht mehrheitlich mit zwanzig an Altersschwäche sterben.“ Wie so oft gestaltete sich das Gespräch mit dem Pathologen eher problematisch.
Bombach beugte sich etwas weiter herab und sog prüfend die Luft durch die Nase.
„Riechen Sie das auch?“
„Was denn? Holzasche? Calvin Klein? Kräuterlikör? Oder Ihr Deo, das Sie anstelle einer Dusche heute Morgen großzügig aufgetragen haben?“
Der Kommissar trat automatisch einen Schritt zurück.
„Ich meinte den Alkohol. War sie betrunken? Ist sie möglicherweise an Erbrochenem erstickt?“
Der Doc mit der Supernase zeigte keine Scheu und öffnete der Toten durch Druck zweier Finger auf die Wangen den Mund. Die erstaunlich roten Lippen teilten sich und der Arzt brachte sein Riechorgan in eine Position dicht darüber. Für einen Moment sah es so aus, als ob er das Mädchen küssen wollte.
„Kein Erbrochenes. Ob sie alkoholisiert war oder nur mit Jägermeister geduscht hat, werde ich auf dem Tisch feststellen.“
„Was ist mit Rauchvergiftung?“
Jetzt drehte der Mediziner sich erstmalig um und zeigte eine verärgerte Stirnfalte in voller Pracht.
„Wir können gern darüber philosophieren, ob irgendjemand sie mit belanglosen Fragen in den Tod gequatscht hat. Wie alles andere bleibt auch das Spekulation. Fakt ist, das Mädel ist tot, und zwar seit ungefähr sechs Stunden. Können eventuell fünf oder acht sein – hier war schließlich gut geheizt. Und jetzt würde ich gern ungestört Weiterarbeiten, wenn das irgendwie möglich wäre!“
„Schon gut, danke.“ Indigniert trat Bombach zwei Schritte zurück und ließ seinen Blick durch den übrigen Raum schweifen in der Hoffnung, dort irgendwo einen geständigen Mörder oder wenigstens einen auffälligen Anhaltspunkt zu finden. In beiden Angelegenheiten wurde er erwartungsgemäß enttäuscht. Aber immerhin kam ein Streifenpolizist mit einem Reisepass in der Hand auf ihn zu.
„Maria Vâsquez heißt die Tote. Arbeitete als Au-pair bei Familie Henning. Einundzwanzig Jahre alt, stammt aus Kolumbien. Seit sechs Monaten in Deutschland.“
„Danke.“ Bombach nahm dem Beamten den Ausweis ab und betrachtete eindringlich das Bild. Lebendig sah Maria wie eine typische lateinamerikanische Schönheit aus mit großen, dunklen Augen, sinnlichen Lippen und einer Fülle ungebändigten Haars. Bestimmt war sie glücklich gewesen ihren Horizont in Europa zu erweitern und wahrscheinlich hatte sie Pläne für ihre Zukunft. Nass und tot auf dem Gästebett eines halb abgebrannten Hauses zu liegen, gehörte vermutlich nicht dazu.
„Sonst noch was?“ Der Streifenpolizist hatte geduldig gewartet.
„Nein, danke. Ich mache dann weiter. Ist die Familie schon wach?“
Immerhin war es noch ganz früh am Morgen.
„Ich schätze, die waren noch gar nicht im Bett. Also die Eltern. Der Hausherr rennt jedenfalls noch mit Reithose herum.“
„Ach ja?“ Der Kommissar hatte es aufgegeben, sich über die Marotten der Leute zu wundern. „Dann gehe ich gleich mal rüber und rede mit ihnen.“
„Der Einsatzleiter der Feuerwehr wartet noch draußen im Wagen. Er ist jetzt seit 14 Stunden im Dienst ...“
„Okay, dann kümmere ich mich zuerst um ihn. Danke, Kollege!“
Bombach verließ das Haus, durchquerte den Garten Richtung Straße und ging dann zielstrebig auf den Streifenwagen zu, in dessen Fond er eine Person bemerkte, die gierig aus einer kleinen Flasche Wasser trank.
„Thomas Bombach, Kripo. Moin. Lange Nacht, was?“ Der Kommissar hatte den Wagen umrundet und sich von der anderen Seite auf den freien Rücksitz fallen lassen.
„Morgenroth, Einsatzleitung. Tach! Ja, kann man wohl sagen.“
Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.
„Erzählen Sie mal!“
Der Einsatzleiter nahm zunächst einen weiteren tiefen Zug aus der Wasserflasche.
„Wir sind gegen 0.30 Uhr ausgerückt. Ein Passant hatte den Brand gemeldet. Ziemlich frühzeitig. Als wir ankamen, haben wir einen dreiteiligen Angriff gefahren. Sicherungsberegnung für die beiden benachbarten Häuser und Eindämmung des eigentlichen Brandherdes von zwei Seiten. Optisch sah es aus wie ein Vollbrand, aber nach relativ kurzer Zeit stellte sich heraus, dass lediglich die Fassade in Flammen stand. Dahinter lag massives Mauerwerk, sodass das Innere des Gebäudes weitgehend verschont blieb. Lediglich Teile des Dachstuhls waren ebenfalls betroffen.“
„Haben Sie das Gebäude zu dem Zeitpunkt betreten?“
„Nein. Es wäre unter Atemschutz zwar möglich gewesen, aber die Hausbesitzerin versicherte mir glaubhaft, dass sich niemand in dem Gebäude befand. Ihr Mann, der dort ein Büro hat, war auf einer Veranstaltung und das Mädchen angeblich bei Freunden. Man rechnete nicht vor dem frühen Morgen mit ihr.“
Der Einsatzleiter war erkennbar betroffen, rekapitulierte die Ereignisse jedoch sachlich und ohne zu zögern.
„Wann haben Sie dann entdeckt, dass doch jemand im Haus war?“
„Erst einige Stunden später, nachdem die Löscharbeiten praktisch beendet waren. Ein Kollege hat durch das Fenster bemerkt, dass sie dort lag.“ Der so professionelle Mann senkte nun doch den Blick und stockte. „ Woran ist sie gestorben?“
„Das konnte der Arzt noch nicht sagen. Wir müssen die Obduktion abwarten. Es ist durchaus möglich, dass das Mädchen schon tot war, als Sie erschienen sind. Machen Sie sich keine Vorwürfe!“
„Ich hätte mich nicht auf die Aussage der Frau verlassen dürfen. Für meine Männer wollte ich kein unnötiges Risiko eingehen. Zu dem Zeitpunkt war noch nicht klar, welches Ausmaß der Brand hatte.“
„Glauben Sie, dass es sich um Brandstiftung handelt?“
„Mit ziemlicher Sicherheit. Ich schätze, da hat jemand Benzin oder etwas Ähnliches gegen die Fassade gespritzt und dann … wumm. Ziemlich tölpelhaft, wenn Sie mich fragen.“
„Warum?“
„Na ja, wenn das Ziel war, das Gebäude abzufackeln, dann hätte der Täter den Brand besser innen gelegt. Das Feuer wäre vermutlich deutlich später bemerkt worden und unser Angriff hätte bei Weitem nicht den Erfolg gehabt. Wahrscheinlich wäre die Hütte dann komplett abgebrannt.“
„Irgendwelche Zeugen außer dem, der den Brand gemeldet hat?“
„Die üblichen Schaulustigen. Hauptsächlich Nachbarn, nehme ich an. Wegen der Kleidung, Bademäntel und so. Wenige Passanten. Sasel ist ruhig in der Nacht. Überprüft haben wir die Leute natürlich nicht.“
„Das ist ja auch unser Job. Haben Sie vielen Dank, Herr Morgenroth! Wenn Ihnen noch etwas einfällt …“
„Klar, dann melde ich mich.“
„Schlafen Sie sich ordentlich aus. Ich werde die Kollegen bitten, sie zur Feuerwache zu fahren.“
„Danke.“ Der Einsatzleiter wirkte von einer Sekunde zur anderen todmüde.
„Und wie gesagt: Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken. Sie haben alles richtig gemacht!“
„Danke, Herr Bombach! Tschüss dann!“
Der Kommissar stieg wieder aus, wobei er verärgert feststellte, dass der Platz im Fond des Streifenwagens eher knapp ausfiel. Oder hatte er selber etwa wieder zugelegt?
Im Vorbeigehen wies er den Uniformierten an, den Einsatzleiter zurückzubringen. Dann stieg er die fünf Stufen zum Haupteingang des Hauses hinauf und drückte auf den Klingelknopf. Ein rascher Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es inzwischen fast sieben Uhr morgens war. Beinahe schon eine vornehme Uhrzeit. Aber nur beinahe.
Nur wenige Sekunden nach dem Ertönen des melodischen Gongs öffnete sich die Tür und eine Frau im Bademantel stand vor ihm. Ihre ungekämmten Haare waren mit einem Gummi notdürftig zusammengehalten und ihr Gesicht zeigte die Spuren einer weitgehend durchwachten Nacht. Mechanisch bemühte sie sich trotzdem um ein einladendes Lächeln, auch wenn dieser Versuch ziemlich misslang.
„Mein Name ist Thomas Bombach und ich bin von der Kripo Hamburg. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“
„Natürlich. Kommen Sie bitte herein. Mein Mann sitzt in der Küche. Ich muss gleich die Kinder wecken. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“ Sie schritt voran, während die Sätze ihr wie auswendig gelernt aus dem Mund fielen.
„Das wäre sehr freundlich von Ihnen.“ Die Aussicht auf das Heißgetränk verlieh dem Kommissar neue Energie. Auch für ihn war die Tageszeit unpassend. Normalerweise saß er jetzt mit Gaby und den quirligen Zwillingen beim Frühstück. Wobei das Samstagsfrühstück aus der alltäglichen Reihe von Morgenmahlzeiten noch einmal erheblich hervorstach.
„Herr Henning? Ich bin Thomas Bombach von der Kripo. Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie mir einige Fragen beantworten könnten.“
„Natürlich.“ Henning deutete auf einen Stuhl ihm gegenüber. „Nehmen Sie bitte Platz!“
Der Kommissar setzte sich und nickte dankbar, als die Frau ihm einen Becher mit Kaffee servierte. Henning war vermutlich erst Anfang vierzig, verfügte jedoch schon über eine recht expansive Stirn. Das Resthaar trug er ein wenig länger, jedenfalls lang genug, um es mit der Hand gehörig durcheinanderzubringen. Gerade sorgte er wieder für neue Unordnung auf seinem Haupt und stützte dann sein Kinn auf beide Hände. Der Kragen seines Hemdes war geöffnet und die Ärmel hochgekrempelt. Der Gesamteindruck pendelte zwischen leger und leicht desolat. Ein formidabler Kaffeefleck auf der Brusttasche leistete dabei erfolgreich Schützenhilfe.
„Ist Maria … ist sie verbrannt? Ich meine, musste sie leiden?“ Die Stimme von Henning brach gelegentlich. Er wirkte erschüttert.
„Verbrannt ist sie nicht. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts über die Todesursache sagen. Gewissheit wird erst die Obduktion bringen.“
„Furchtbares Schicksal für so ein junges Mädchen.“ Henning schüttelte verständnislos den Kopf. „Mein Gott, wir müssen den Eltern irgendetwas sagen!“
„Ich würde damit noch warten, bis es genaue Informationen über ihren Tod gibt. Das wird nicht allzu lange dauern.“
„Vermutlich haben Sie recht.“ Der Mann schien erleichtert über den Aufschub.
„Wie lange war Maria schon bei Ihnen?“
„Ungefähr ein halbes Jahr. Ende Januar ist sie nach Deutschland gekommen.“
„Was waren ihre Aufgaben?“
„In erster Linie hat sie sich um die Kinder gekümmert. Meine Tochter ist acht, unser Sohn sechs Jahre alt.“
„Verstanden sie sich gut?“
„Maria war ein Glücksfall. Sie hatte ein Händchen für Kinder und wurde von ihnen regelrecht geliebt.“
„Und das Verhältnis zu Ihnen und Ihrer Frau?“
„Ausgezeichnet, würde ich sagen. Maria war sehr fleißig, respektvoll und zielstrebig. Als sie ankam, sprach sie einigermaßen Deutsch, mittlerweile beherrschte sie es nahezu perfekt.“
„Sie lebte allein in dem Gästehaus?“
„Es gab dort ein relativ geräumiges Zimmer für sie, Sanitäranlagen und eine Art Pantry, wobei sie meistens mit uns aß. Aber wenn sie wollte, konnte sie für sich sein.“
„Wurde das Gebäude noch anderweitig genutzt?“ Bombach nippte an seinem Becher und spürte, wie das Getränk ihn munter machte.
„Im oberen Stockwerk habe ich mein Büro. Normalerweise arbeite ich natürlich in der Kanzlei, aber für manche Sachen habe ich zu Hause mehr Ruhe. Ich bin Steuerberater“, ergänzte er auf den fragenden Blick hin. „Außerdem gibt es oben noch ein Gästezimmer und unten einen Saunabereich. Der wird aber eher im Winter genutzt.“
„Verstehe. Maria hatte einen eigenen Schlüssel?“
„Für beide Häuser, ja. Sie konnte praktisch kommen und gehen, wie sie wollte. Wir haben ihr immer vertraut und sind nie enttäuscht worden.“
„Wer hat sonst noch Zutritt zum Haus?“
„Meine Frau und ich natürlich. Außerdem noch unsere Reinigungskraft. Sonst niemand, soweit ich weiß.“
„Schildern Sie mir doch bitte die Ereignisse seit gestern Abend, Herr Henning.“
„Wir haben gegen 19 Uhr zu Abend gegessen.“
„Alle zusammen? Auch Maria?“, unterbrach der Kommissar.
„Ja. Wir haben unsere Pläne für den Abend besprochen. Ich hatte um halb neun ein Treffen im Reitklub. Wir bereiten für den Herbst ein größeres Turnier vor, da gibt es eine Menge zu organisieren.“
„Und Ihre Frau?“
„Sie hatte den Kindern versprochen, sich gemeinsam einen Film anzusehen. Wir haben ein kleines Heimkino. Sie machen sich dann Popcorn, trinken Apfelschorle und kuscheln in den Liegesesseln. Die Kinder lieben das sehr.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Bombach hatte so ein Gefühl, als ob seine Zwillinge nicht ganz so feudal aufwachsen würden. Ein eigenes Heimkino! Steuerberater schien ein einträglicher Beruf zu sein. „Was war mit Maria? Was hatte sie für Pläne?“
„Maria wollte sich mit Freunden treffen. Die Au-pairs aus Kolumbien bilden eine Art Community, der sich aber auch mehr und mehr deutsche Bekannte angeschlossen haben.“
„Können Sie mir davon ein paar Namen und Telefonnummern geben?“
„Da fragen Sie vielleicht besser meine Frau, das weiß ich nicht. Ich habe nur hin und wieder jemanden gesehen, der bei Maria zu Besuch war.“
„Gab es einen Freund?“
„Das kann ich nicht sagen. Meistens kamen Mädchen. Das ging mich auch nichts an, finde ich.“
„Natürlich. Wollte Maria länger wegbleiben?“
„Ich glaube nicht, dass sie etwas dazu gesagt hat. Aber üblicherweise treffen sich die Mädels bei einer von ihnen, reden, trinken etwas und gehen dann aus. Wie das die jungen Leute heute halt so machen. Die gehen ja erst los, wenn wir schon im Bett liegen.“ Henning produzierte ein etwas gequältes Lachen.
„Es war also durchaus üblich, dass sie erst spät oder besser früh nach Hause kam?“
„Sofern wir am nächsten Morgen keine Termine verabredet hatten, ja. Wenn sie allerdings die Kinder zum Sport fahren sollte, dann war sie immer frühzeitig zu Hause und ist morgens zuverlässig zu ihren Aufgaben erschienen. Wie gesagt, sie war sehr fleißig.“
In diesem Augenblick erschien Frau Henning wieder in der Küche und holte einige Lebensmittel aus dem Kühlschrank.
„Die Kinder essen nur schnell ein Müsli im Esszimmer und dann fahren wir los. Ich mache ihnen ein paar Brote, falls sie zwischendurch Hunger bekommen.“
„Wunderbar, danke, Schatz! Kannst du dem Kommissar vorher noch die Nummern von einigen Freundinnen von Maria geben?“
„Ich habe nur eine einzige, aber die suche ich gern raus.“ Frau Henning hatte sich inzwischen angezogen und gekämmt und machte einen deutlich frischeren Eindruck. Routiniert scrollte sie auf ihrem Handy herum und notierte dann etwas auf einem gelben Klebezettel, den sie Bombach mit einem Lächeln aushändigte.
„Bitte sehr, mehr Kontakte habe ich leider nicht. Jenny ist die beste Freundin von Maria, soweit ich weiß.“
„Danke, Frau Henning!“ Er wandte sich wieder an den Mann, der die Pause genutzt hatte, um sich frischen Kaffee einzugießen. „Was das Feuer angeht – wir gehen momentan von Brandstiftung aus. Jemand hat vermutlich von außen Brandbeschleuniger eingesetzt und das Gebäude angesteckt. Haben Sie eine Idee, wer das getan haben könnte? Gibt es irgendjemanden, der Ihnen einen Denkzettel verpassen wollte? Hatten Sie Streit, vielleicht mit einem Nachbarn? Das Gebäude ist ja relativ neu, jedenfalls viel neuer als das Haupthaus. Hat sich jemand über den Bau geärgert?“
Herr und Frau Henning wechselten einen raschen Blick, der dem Kommissar auffiel.
„Aha, da gibt es also jemanden?“
Henning zögerte und suchte nach den passenden Worten.
„Das sind ja relativ heftige Beschuldigungen, deshalb bin ich da etwas zurückhaltend, aber in der Tat hat es eine Art Auseinandersetzung mit unserem Nachbarn hinter dem Gästehaus gegeben. Wobei Auseinandersetzung vielleicht zu viel gesagt ist.“
„Worum ging es dabei denn?“
„Um die Position des Gästehauses. Wir wollten den luftigen Eindruck des Grundstückes möglichst wenig stören und deshalb mit dem Bau so weit wie möglich an den Rand. Wir haben uns deshalb mit den Hinrichs über eine Grenzbebauung unterhalten, die natürlich zustimmungspflichtig gewesen wäre.“
„Aber davon wollte der Nachbar nichts wissen?“
„Genau. Er beklagte, dass das Gebäude sein Grundstück sehr beschatten würde. Aus diesem Grund wollte er einer Grenzbebauung keinesfalls zustimmen.“
„Was haben Sie dann gemacht?“
„Wir mussten das natürlich akzeptieren. Das war sein gutes Recht. Unser gutes Recht hingegen war dann, die Möglichkeiten, die das Baurecht bietet, möglichst vollständig auszunutzen und das haben wir getan. Wir haben den vorgeschriebenen Grenzabstand eingehalten, aber auch nicht mehr. Und auch bei der Höhe haben wir das rechtlich zulässige Maximum ausgereizt. Aber damit war alles in Ordnung, unser Bauantrag wurde anstandslos genehmigt. Wir sind auch nicht davon abgewichen. Das kann jederzeit überprüft werden.“
„Und wie hat Ihr Nachbar darauf reagiert?“
Henning rührte nachdenklich in seiner Tasse herum.
„Leicht verschnupft, würde ich sagen. Er hatte vorgeschlagen, den gesamten Bau mehr nach links hinten zu verlegen auf dem Grundstück.“
„Wäre das möglich gewesen?“
„Natürlich. Aber dann hätten wir vom Wohnzimmer und der Terrasse aus auf ein Haus und nicht ins Grüne geschaut. Das wollten wir natürlich nicht.“
„Verstehe. Das Argument hat Ihren Nachbarn aber vermutlich nicht überzeugt.“
„Nein. Ich kann ihn ja auch zum Teil verstehen. Aber es ist ja nicht so, dass ich etwas Verbotenes getan hätte. Ich habe ihm sogar den Bauantrag mit Zeichnung und allen Planungen gezeigt. Er sollte von vorneherein informiert sein, dass alles vollkommen rechtskonform abläuft. Ich hatte keine Lust auf irgendwelche unnötigen Prozesse.“
„Hat er das schließlich akzeptiert?“
„Er hat gesagt, dass er die Angelegenheit überprüfen lassen würde. Da danach aber nie wieder etwas passiert ist, nehme ich an, dass er eingesehen hat, dass alles korrekt abgewickelt wurde.“
„Hat sich das auf Ihr Verhältnis ausgewirkt?“
Henning zuckte die Schultern.
„So richtig vertraut waren wir nie. Mit den Vorgängern war das anders. Unser Haus hier hat meinem Vater gehört und ich bin darin groß geworden. Die alten Nachbarn kannten mich noch als Kind und ich habe sie Onkel Jürgen und Tante Erika genannt. Aber die sind vor fast zehn Jahren in eine Seniorenwohnanlage umgezogen und haben verkauft. Die Hinrichs waren ziemlich distanziert und sind nie mehr als Nachbarn gewesen.“
In diesem Moment erschien Frau Henning mit zwei Kindern.
„Gebt eurem Vater einen Kuss und verabschiedet euch! Los, ihr Bummelanten, sonst kommen wir zu spät!“ Die Ermahnung klang aber durchaus nachsichtig.
„Tschüss, Papa!“ Das Mädchen sprang voraus und umarmte ihren Vater stürmisch.
„Tschüss, meine Süße, viel Spaß beim Reiten!“
„Los Papa, ganz feste drücken!“ Der Sohn folgte, schon fertig in Trikot und mit Stutzen, und ließ seinen Worten sogleich Taten folgen. Der Vater zwinkerte dem Kommissar unbemerkt zu und stöhnte laut auf. „Au, bist du aber stark! Tschüss, mein Großer, und schieß viele Tore!“
„Mach’ ich!“, versprach der Junior und stürmte davon. Jetzt war Frau Henning an der Reihe. Sie gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange und warf einen Blick auf die Uhr.
„Wir sind rechtzeitig zum Mittagessen zurück. Bis dann! Leg dich noch ein bisschen hin, wenn du kannst!“
„Ja, mal sehen. Viel Spaß!“
Aus dem Flur ertönte aufgeregtes Geplapper, das erst durch das Klappen der zugeschlagenen Tür beendet wurde. Dann war es auffällig still im Haus.
„Ja, das war es dann auch für den Augenblick.“ Bombach schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ich möchte Sie beide noch bitten, das Gästehaus nicht zu betreten. Die Spurensicherung wird dort noch einige Arbeit zu verrichten haben. Ich melde mich wieder bei Ihnen. Ihre Frau hat übrigens recht: Ruhen Sie sich ein bisschen aus. Sie können im Moment nichts tun!“
„Ich werd’s versuchen.“
„Bemühen Sie sich nicht, ich finde allein hinaus. Tschüss, Herr Henning!“
* * *
„Paps! Huhu, Paps!“
Durch den Lärm des steinalten Rasenmähers hatte Staller die Annäherung seiner Tochter beinahe überhört. Mit einem beherzten Ruck am Gashebel versetzte er den zuverlässigen Hondamotor in den einstweiligen Ruhestand und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
„Was ist denn los, Kati?“
„Isa hat gerade angerufen. Sie hat sich und Ben zum Grillen eingeladen.“
Der Reporter rollte theatralisch mit den Augen.
„Und wann wäre es der Gnädigsten genehm?“
„In einer Stunde. Sie fahren gleich in Hamburg los.“ Kati lachte fröhlich über das gespielte Entsetzen ihres Vaters. Isa war spontan, durchsetzungsfreudig und konnte unfassbar konsequent sein. Die jahrelange Bekanntschaft hatte ihre Mitmenschen mit diesen Eigenarten vertraut gemacht. Wer immer noch den Kontakt zu Isa pflegte, der war Kummer gewöhnt und rechnete jederzeit mit allem. Darüber hinaus war sie klug, freundlich und insgesamt liebenswert, weswegen sie im Hause Staller ein stets willkommener Gast war, wie diese Selbsteinladung bewies.
„Haben wir überhaupt etwas zum Grillen?“
„Wenn ich mich beeile, bekomme ich noch was beim Schlachter.“
„Dann ab mit dir! Geld liegt in der Küche. Und kauf nicht zu wenig. Du kennst ja Isas Appetit.“
„Allerdings. Ich beeile mich. Bereitest du schon mal einen Salat vor, Paps?“
„Sobald ich den restlichen Rasen hier vermurkst habe.“
Der alte Honda war zwar die Zuverlässigkeit in Person, das Messer hingegen ähnelte mehr einem Kamm und massakrierte das Gras eher, als es abzuschneiden. Der Fangkorb war erstens viel zu klein und zweitens recht durchlässig geworden, sodass das Gerät unfreiwillig als Mulcher benutzt wurde und in unregelmäßigen Abständen Klumpen von Mähgut in alle Richtungen spuckte, die auf der leicht unordentlichen Wiese bis zum nächsten Schnitt langsam einwuchsen. Überhaupt konnte man das Grundstück mit Wohlwollen naturnah bewirtschaftet, bei etwas anderer Betrachtungsweise verwildert nennen. Aber dem Reporter und seiner Tochter gefiel es so und eine Vielzahl von Vögeln, Insekten und Kleintieren teilte diese Ansicht. Nachbarn, die sich beschweren konnten, gab es nicht und gelegentliche Aufrufe zur Dorfverschönerung reichten nicht bis hierher in den Außenbereich.
Nach der letzten Bahn ließ Staller den Mäher noch einige Sekunden auf dem Kopfsteinpflaster vor der Scheune laufen. Das musste als Reinigung reichen. Dann verstaute er das Gerät und ging zurück zum Haus. Ein Blick auf seine grünen Unterschenkel ließ ihn noch einmal umkehren. Besser war es, wenn er sich zunächst am Außenwasserhahn grob säuberte.
Eine knappe Dreiviertelstunde später war das Gespann aus Vater und Tochter routiniert mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Eine gigantische Platte beherbergte ganze Berge von regionalen Grillspezialitäten, die sich sehen lassen konnten. Die große Glasschüssel war mit einem bunten Sommersalat gefüllt und mehrere Baguettes waren aufgeschnitten und mit Butter und Kräutern versehen worden. Der Tisch im Freien war gedeckt und vom Grill stiegen erste Rauchwolken auf.
„Jetzt könnten sie eigentlich kommen“, stellte Kati mit Blick auf die üppige Tafel fest und prompt ertönte in der Ferne das dumpfe Geboller eines großvolumigen Zweizylinders. Die Anfahrt ließ sich akustisch ausgezeichnet verfolgen. Erst in letzter Sekunde, als die Ankömmlinge die von dichten Büschen gesäumte Einfahrt zum Grundstück passiert hatten, wurde die schwarze Harley von Ben sichtbar und rollte langsam aus.
Isa, die mit hochgezogenen Beinen auf dem Sozius hockte, sprang herab, löste den Kinnriemen ihres Halbschalenhelms und umarmte nacheinander Kati und den Reporter. Dann sah sie sich um, quittierte den rauchenden Grill mit einem zufriedenen Grinsen und plapperte los.
„Mensch, ihr wisst gar nicht, wie gut ihr das habt! Und der Grill ist fast einsatzbereit, super. Ich hab noch nicht gefrühstückt, also rechnet mit einem Bärenhunger! Sag mal, Mike, langweilst du dich noch nicht, so ganz ohne Arbeit?“
Staller konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Wenn Isa nicht gerade in ihrem Job als Volontärin bei “KM“ tätig war, dann erinnerte sie ihn immer an ein Eichhörnchen auf Speed.
„Stell dir vor, Arbeit gibt es hier genug und außerdem hatte ich bis jetzt exakt vier freie Tage, denn Mittwoch war ich ja zur Sendung im Studio.“
Ben hatte mittlerweile das Motorrad geparkt und sich ebenfalls von seinem Helm getrennt, der lässig auf der Vorderlampe thronte. Er trug ein weißes T-Shirt mit einer Lederweste darüber und eine ausgeblichene Jeans. Nun trat er zurückhaltend auf die kleine Gruppe zu.
„Hallo Ben, herzlich willkommen! Außer Dienst heute?“ Staller schüttelte ihm die Hand und deutet dann auf das Outfit seines Gastes.
„Die Kutte ist in der Satteltasche. Für den Fall, dass der Klub sich meldet.“ Mike hatte Ben als Prospekt der Rockergruppe Hounds of Hell bei seinem letzten Fall kennengelernt. Allerdings war der junge Mann kein aufstrebender Krimineller, sondern verdeckter Ermittler, der von der Abteilung Organisierte Kriminalität bei den Rockern eingeschleust worden war.
„Ben ist jetzt vollwertiges Mitglied“, verkündete Isa stolz.
„Na, dann herzlichen Glückwunsch“, entgegnete Staller.
„Danke. Es tut mir leid, dass wir hier einfach so einfallen. Das war Isas Idee. Sie hat irgendwas von einem Frühstück und einem Badesee erwähnt.“
„Au ja“, freute sich Kati. „Nach dem Essen fahren wir an den See, das ist eine ausgezeichnete Idee!“
Ben deutete auf den Grill und den vollbeladenen Tisch.
„Und das ist das Frühstück?“
„Jaaa“, seufzte Isa glücklich und begutachtete die Auswahl an Grillgut. „Hier draußen gibt es einen Schlachter, der alles noch selbst macht. Das schmeckt unglaublich gut. Du wirst es lieben!“
„Warum nicht? Müsli und Toast sind eh überbewertet“, stellte Ben fest und grinste breit. „Bei dir wundert mich nichts mehr.“
„Amen, damit hast du Isa vollumfänglich verstanden“, befand Kati und deutete auf die Stühle. „Setzt euch!“
Die nächste Stunde verging wie im Flug und von den mehr als beachtlichen Lebensmittelmengen blieb praktisch nichts übrig. Isa holte schließlich tief Luft, warf einen prüfenden Blick auf den Fleischteller und meinte: „Die eine Wurst kann man unmöglich aufheben. Ich würde mich notfalls opfern.“
Ben zog überrascht eine Augenbraue hoch, während Staller ungerührt die letzte Bratwurst auch noch auf den Grill legte.
„Schwimmen kannst du danach aber für mindestens zwei Stunden nicht“, neckte Kati. „Du würdest erst untergehen und dann einen Herzinfarkt bekommen.“
„Macht nichts, dann döse ich erst eine Stunde in der Sonne, das hört sich für mich auch ganz gut an.“
„Was für einen Fall bearbeitest du denn aktuell, wenn du nicht gerade auf der faulen Haut liegst?“, wechselte der Reporter das Thema.
„Für die Montagskonferenz bereite ich eine Geschichte aus der letzten Nacht vor. Ein ungeklärter Todesfall in Sasel. Die Leiche eines Au-pair-Mäd-chens wurde nach einem Brand in einem Gartenhaus entdeckt.“
„Wo ist die Story her? Im Newsticker habe ich nichts davon gelesen.“
Isa ließ ihre Hand mit sattem Klatschen auf den Oberschenkel von Ben fallen.
„Mein schmuddeliger Rockerfreund hier hat sich nützlich gemacht. Ich hatte ihn gebeten, mir eine Geschichte zu besorgen, die noch nicht öffentlich ist. Damit will ich Zenzi überfallen.“
Zenzi oder besser Helmut Zenz war der Chef vom Dienst bei “KM“, der die Themenvergabe koordinierte. Inhaltlich war er für die Aufgabe geeignet, menschlich jedoch überhaupt nicht. Er war mit Abstand der unbeliebteste Mitarbeiter im gesamten Team. Reizbar, ungerecht, überheblich und vollkommen empathielos – das waren nur einige seiner typischen Eigenschaften.
„Der schmuddelige Rockerfreund wirft dich gleich in den See, du kleine Kröte“, tadelte Ben mild.
„Okay, okay, ich bin dir ja dankbar.“ Ausnahmsweise lenkte Isa ein, was für einen erstaunten Blick zwischen Kati und Mike sorgte. „Was? Ich kann wunderbar über meinen Schatten springen!“
„Ist das so?“ Sehr überzeugt klang der Reporter nicht. „Gibt es Einzelheiten zu dem Fall? Todesursache? Fremdverschulden? Verdächtige?“
„Darf ich darauf hinweisen, dass du Urlaub hast?“, mischte Kati sich ein.
„Ich habe nur den internen Bericht gelesen“, erklärte Ben. „Brandstiftung steht außer Zweifel, die Todesursache des Mädchens ist aber noch ungeklärt. Seltsam ist, dass die Tote im Gebäude lag, die Brandstiftung aber von außen erfolgte und wegen der baulichen Gegebenheiten nur einen überschaubaren Schaden angerichtet hat. Sollte also der Brand ein Tötungsdelikt verdecken, dann ist das gründlich misslungen. Möglicherweise ist das Mädel aber auch eines natürlichen Todes gestorben.“
„Mit 21 Jahren? Unwahrscheinlich.“ Isa klang sicher.
„Ich weiß, dass das in eurem Alter unglaubwürdig klingt, aber auch junge Menschen sind nicht unsterblich“, wandte Staller ein.
„Natürlich nicht. Trotzdem!“ Isa wischte den Einwand einfach beiseite. „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich mit Anfang zwanzig aufs Sofa werfe, am Herzinfarkt sterbe und eine halbe Stunde später jemand die Hütte abfackelt? Hm?“
„Das ist natürlich ein Argument“, räumte der Reporter ein. „Zumindest kannst du die Geschichte so lange verfolgen, bis man etwas zur Todesursache sagen kann. Die Sache klingt rätselhaft und das ist ja schon mal ein Anfang.“
„Genau das hat mein Reporterinstinkt auch gesagt“, behauptete die Volontärin und nahm sich die letzte Wurst, die mittlerweile einen appetitlichen Bräunungsgrad aufwies. „Ich vernichte noch schnell diesen Rest totes Tier und dann nix wie an den See! Ihr kommt doch mit, oder?“
„Klar“, beeilte sich Kati zu antworten.
„Ich nicht“, entgegnete Staller. „Haut ihr mal schön ab und ich kümmere mich um die Hauswirtschaft hier.“
„Wer nicht will, der hat schon“, stellte Isa mit vollem Mund fest. „Ich bin so weit. Wir können!“
Wenig später hatte der Reporter die Badetouristen verabschiedet, den Tisch abgedeckt und die Küche wieder in einen benutzbaren Zustand versetzt. Jetzt stand er mit einem vor Kälte beschlagenen Glas Mineralwasser, in dem einige Zitronenscheiben schwammen, vor dem Haus und überlegte, was er tun sollte. Der Garten bot eigentlich immer weitere Aufgaben, aber er hatte nach dem schweißtreibenden Einsatz am Rasenmäher das Gefühl, sein Tagwerk diesbezüglich bereits hinter sich zu haben. Also steuerte er den Deckchair im Schatten an und ließ sich auf dem bequemen Polster nieder. Das üppige Mahl hatte ihn leicht ermüdet.
Kurz dachte er daran, seinen Freund Bommel anzurufen und ihn nach neuesten Informationen über das tote Au-pair-Mädchen auszuquetschen. Aber dann ermahnte er sich, dass er tatsächlich Urlaub hatte und diese Aufgabe durchaus Isa überlassen konnte, deren Geschichte das schließlich auch war. Vermutlich wäre sie geradezu beleidigt, wenn er sich ungefragt einmischte. Außerdem hatte sie im Laufe des Jahres unheimlich viel gelernt und besaß alle Anlagen, zu einer fähigen Journalistin heranzuwachsen. Sie würde selbst mit der Recherche klarkommen. Und wenn nicht, dann wandte sie sich vertrauensvoll an ihn, die Erfahrung hatte er schon gemacht.
Blieb als letzte Möglichkeit noch ein Anruf bei seiner Kollegin Sonja, die seit einem knappen halben Jahr in Amerika für CNN arbeitete und deren Rückkehr nun stetig näherrückte. Neben der beruflichen Herausforderung sollte die räumliche Trennung dazu dienen, dass er sich über seine Gefühle für sie klar wurde. Ihr Miteinander schrammte nun schon lange an der Grenze zwischen guter Freundschaft und enger Beziehung entlang und er musste zugeben, dass er derjenige war, der sich vor einer diesbezüglichen Entscheidung drückte. Nun war fast ein halbes Jahr vergangen und er hatte sich mit reichlich Arbeit vor der inneren Auseinandersetzung erfolgreich gedrückt, obwohl Kati und auch Isa ihn geradezu penetrant an diese Aufgabe erinnert hatten. Jetzt hatte er Urlaub und es gab überhaupt keinen Grund, die Sache noch länger aufzuschieben.
Ein Spatz, der letzte Brotkrumen unter dem Tisch auf gepickt hatte, hopste neugierig näher und legte den Kopf schief. Es sah aus, als ob er den Reporter vorwurfsvoll beäugte, aber dieser bekam das nicht mit. Die Regungslosigkeit des Mannes ermutigte den kleinen Vogel und er hüpfte noch ein wenig dichter heran. Jetzt war er nur noch einen halben Meter von der herabhängenden Hand Stallers entfernt und tschilpte auffordernd. Doch der reagierte nicht. Ermüdet von der üppigen Mittagsmahlzeit, auf der Flucht vor Gedanken, denen er sich nur ungern aussetzte, oder einfach nur mit sich und der Welt im Reinen: Mike schlief den Schlaf des Gerechten und leise Schnarchlaute drangen aus seinem halb geöffneten Mund.
„Ja, ja, die anstrengende Hauswirtschaft!“, höhnte Isas Stimme so lautstark, dass Staller mit einem Ruck von seinem bequemen Liegeplatz hochfuhr. „Da kann man schon mal ein Nickerchen von zwei bis drei Stunden dranhängen, oder?“
„Ist es schon so spät?“, murmelte der Reporter beschämt und linste nach dem Sonnenstand. Tatsächlich war der gelbe Planet ein gutes Stück ums Haus gewandert.
„Wir waren gute drei Stunden weg“, erklärte Kati, deren nasse Haare von einem kürzlichen Bad im See zeugten.
„Hoppala“, stellte Staller fest und setzte sich auf. „Dann habe ich tatsächlich eine ganze Zeit gepennt.“
„Sehr gut“, kommentierte Kati. „Dann bist du jetzt ja bestens ausgeruht und voller Tatendrang.“
„So?“
„Bestimmt. Du hast – oder besser: wir haben – einen Termin. In anderthalb Stunden.“
„Aha. Und mit wem?“
„Mit der Dorfjugend.“
„Bitte? Warum das denn?“
„Das sollen sie dir selber erklären. Es geht um deine kriminalistischen Fähigkeiten. Sie werden gebraucht.“
„Hier? Hat Bauer Behrens seinen Acker einen Meter in die Wiese des Nachbarn hinein vergrößert?“
Kati grinste. Solche Vorkommnisse stellten tatsächlich ungefähr den Höhepunkt der hiesigen kriminellen Energie dar.
„Etwas ernster ist es schon. Vermute ich. Als Frau, Tochter und Nicht-Kriminalerin verrät man mir natürlich nur Bruchstücke. Ich soll lediglich dafür sorgen, dass du um 7 Uhr in der Bude erscheinst.“
Die Bude war ein geräumiger Bauwagen, der auf einem ungenutzten Grundstück am Rande des Dorfes aufgestellt war und der Dorfjugend als Treffpunkt diente. Mit Kreativität und Geschick war daraus tatsächlich eine halbwegs komfortable Unterkunft geworden mit Kaminofen, Kühlschrank und selbstverständlich Zapfanlage und Satellitenschüssel für Fußball-Übertragungen.
Wobei Dorfjugend ein etwas dehnbarer Begriff war. Das offizielle Einstiegsalter begann mit der Konfirmation. Entgegen aller Gesetze zum Schutze der Jugend bedeutete dieser Schritt quasi die Lizenz zum Trinken. Allerdings achteten die Älteren zumindest ein bisschen darauf, dass die Vierzehnjährigen es nicht komplett übertrieben.
Das Ausstiegsalter variierte, denn in der Regel korrelierte es mit der Hochzeit. Da in der relativen Einöde der ländlichen Gesellschaft Töpfe und Deckel oftmals Schwierigkeiten hatten einander zu finden, gab es Mitglieder der Dorfjugend, die hart auf die Vierzig zugingen. Die durchaus vorhandenen Junggesellen jenseits dieser imaginären Grenze hatten sich rücksichtsvoll in den Klubraum der Dorfkneipe umorientiert und verbrachten ihre Abende dort.
„Ich soll in die Bude kommen?“ Staller war mehr als irritiert. Kati hatte sich zwar recht gut in die Dorfgemeinschaft integriert, aber er selbst fühlte sich auch nach all den Jahren mehr wie ein Urlauber, der zwar geduldet, aber nicht in die Gemeinschaft aufgenommen war. Das war für ihn auch völlig in Ordnung, schließlich lag sein Lebensmittelpunkt eindeutig in Hamburg.
„Jepp. Große Ehre, würde ich sagen.“
„Und du meinst, ich sollte da wirklich hin?“
„Unbedingt. Es ist an der Zeit, dass du beweist, dass du auch ein nützliches Mitglied der Dorfgemeinschaft bist.“
„Sind das nicht ein bisschen zu große Worte?“
„Völlig egal. Hauptsache, du gehst mit!“
„Aber wir haben Gäste!“
„Gleich nicht mehr. Isa und Ben duschen noch und dann düsen sie wieder zurück nach Hamburg.“
„Dann habe ich also keine Ausrede?“
„Nö. Sie werden dich schon nicht beißen.“
„Das war jetzt auch nicht meine Befürchtung.“
„Gut, dann ist das also abgemacht.“
* * *
Bombach schritt den langen Flur entlang und empfand eine Kühle, die trotz der sommerlichen Hitze draußen eher unangenehm war. Vielleicht lag das weniger an den objektiven Temperaturen als an dem Ort, an dem er sich befand. Der Kommissar wagte sich in die Pathologie, die Heimstatt der Knochenbrecher und Leichenschänder, wie er sie still bei sich nannte. Das Schicksal des jungen Mädchens ließ ihm keine Ruhe. Er wollte unbedingt wissen, was Maria widerfahren war.
Vor der entscheidenden Tür hielt er einen Moment inne und holte tief Luft. Natürlich war er dank seiner langjährigen Erfahrungen als Polizist in der Großstadt den Anblick von Toten gewohnt. Auch der Vorgang der Obduktion war ihm nicht fremd. Trotzdem musste er sich immer noch gegen die Gefühle wappnen, die ihn beim Anblick eines Verbrechensopfers zu übermannen drohten. Vermutlich war das sogar ein gutes Zeichen und bedeutete, dass er in seinem Beruf noch nicht vollständig abgestumpft war. Seit der Geburt seiner Zwillinge war er noch sensibler geworden. Und gleich würde er eine junge Frau sehen, deren Tod die Welt ihrer Eltern in Kürze zusammenbrechen lassen würde.
Mit einem entschlossenen Ruck stieß er die schwere Tür auf und betrat den Raum. Viel Platz gab es hier. Die halbhoch gekachelten Wände und die Bodenfliesen ließen seinen Schritt durch den Raum hallen. Der Mediziner, der eifrig Stichworte in ein kleines Aufnahmegerät diktierte, blickte kurz auf und zog seine Stirn in missmutige Falten. Er mochte es nicht, wenn ungeduldige Ermittler in sein Reich eindrangen und ihn unter Zeitdruck setzten.
Der Kommissar betrachtete die junge Frau, deren Obduktion offensichtlich beendet war, wie der grob zusammengenähte klassische Schnitt im Oberkörper bewies. Sie wirkte gar nicht richtig tot, was vielleicht an ihrem Lippenstift lag. Es sah so aus, als ob sie sich gleich aufrichten könnte, um sich etwas zum Anziehen zu holen.
„Moin Doc“, murmelte der Kommissar und wartete brav, bis der Mediziner sein Diktiergerät weggelegt hatte.
„Ist es mal wieder so dringend, dass Sie meinen Bericht nicht abwarten können?“ Der Arzt klang säuerlich, aber das war praktisch seine Werkseinstellung.
„Eigentlich nicht.“
Jetzt war der Doc eindeutig überrascht.
„Was machen Sie dann hier, Langeweile? Streit mit Ihrer Frau?“
Bombach schüttelte den Kopf, was allerdings nichts mit der Frage zu tun hatte.
„Sie sieht so jung aus. Und fast noch lebendig.“
„Soll ich Sie beide ein bisschen alleinlassen?“ Schwärzeren Humor als den von Pathologen konnte es auf dieser Welt nicht geben. Bombach verzichtete auf eine Bewertung dieser Replik und stellte die klassische Frage.
„Woran ist sie gestorben?“
„Sie ist erstickt.“
„Also durch eine Rauchvergiftung?“
„Nein, definitiv nicht.“
Der Kommissar starrte den Arzt verständnislos an.
„Wodurch dann?“
„Das kann ich nicht sagen. Jedenfalls handelt es sich keinesfalls um einen anämisch/histotoxischen Vorgang, sondern um eine hypoxisch-hyperkapnische Erstickung.“
„Ach so. Ja dann … ich habe kein Wort verstanden. Was Ihnen natürlich vollständig klar ist.“
„Na gut, dann sag ich es so, dass selbst Sie es verstehen: Sie hat keinen Rauch eingeatmet, sie hat gar nichts mehr eingeatmet. Vor allem keinen Sauerstoff. Das hat in schlanken drei Minuten zu ihrem seligen Ende geführt.“
„Und warum hat sie das Atmen eingestellt?“
„Lassen Sie mich kurz nachdenken: keine Ahnung. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass an dieser Stelle Ihr Job beginnt.“
Jetzt war es Bombach, der eindeutig säuerlich klang.
„Wenn jemand das Atmen einstellt, dann gibt es dafür neben spontanem Ableben meist einen äußeren Grund. Das könnte ein Gegenstand in der Luftröhre sein, eine Lähmung durch Vergiftung oder wegen anderer Ursachen, ein schiefgegangenes autoerotisches Experiment oder schlicht ein aufs Gesicht gedrücktes Kissen. Dazu müssen Sie als Arzt mir doch irgendetwas sagen können!“
„Sieh mal an, Sie verfügen ja doch über ein zumindest rudimentäres Wissen! Dann wollen wir doch Ihre kleine, gar nicht mal so unvollständige Liste abarbeiten. Die Luftröhre war frei. Intoxikation fand vorbehaltlich schwer nachweisbarer Mittel vermutlich nicht statt. Bleiben Autoerotik und massive Fremdeinwirkung. In beiden Fällen muss ich passen. Eine Plastiktüte hatte sie nicht um ihren Kopf gebunden und falls jemand ihr Gewalt angetan hat, dann haben Ihre Kollegen von der Feuerwehr sämtliche Spuren davon in den Gully gespült. Es ließen sich weder Faser- noch DNA-Spuren isolieren.“
Der Kommissar senkte unglücklich den Kopf.
„Viel bieten Sie mir nicht gerade an“, monierte er vorwurfsvoll.
„Ich hab’ die Kleine nicht geduscht“, erinnerte der Arzt. „Außerdem habe ich mich für Sie schon recht weit aus dem Fenster gelehnt, wenn ich sage, dass sie erstickt ist. Die entsprechenden Hinweise, petechiale Stauungsblutungen, Zyanose des Gesichts, intensive Leichenflecken und so weiter sind genau das: Hinweise, Anzeichen. Keine Beweise. Ich hätte auch schreiben können: Todesursache unbekannt. Für einen gerichtsfesten Beweis brauchen Sie schon das Kissen, mit dem sie erstickt wurde und eine Bestätigung, dass keine andere Todesursache infrage kommt.“
„Oh Mann!“, klagte Bombach. „Aber tot ist sie ganz ohne Zweifel, oder?“
„Ja, dafür stehe ich mit meinem guten Namen. Seit etwa zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens.“
„Was war mit dem Schnapsgeruch?“
„Negativ. Kein messbarer Blutalkoholgehalt.“
„Das heißt, sie war körperlich und geistig voll da?“ Der Kommissar registrierte das zweifelnde Gesicht seines Gegenübers und stöhnte auf. „Nein, bitte nicht! Sagen Sie einfach ja oder nein!“
„Würde ich gern, kann ich aber nicht. GHB zum Beispiel, also klassische K.o.-Tropfen, lassen sich nur sechs bis zwölf Stunden lang nachweisen. Die wären also aus dem Körper raus gewesen, als ich sie auf dem Tisch hatte. GHB kann übrigens bei entsprechend hoher Dosierung zu Atemstillstand führen.“
„Heißt das, dass Sie das für wahrscheinlich halten?“
„Das heißt, dass ich es für möglich halte. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Aber damit habe ich Ihnen doch wenigstens mal eine spannende und herausfordernde Aufgabe überlassen. Nun freuen Sie sich doch mal über ein bisschen Abwechslung von der Routine!“
„Ich bin völlig aus dem Häuschen vor Freude“, brummte Bombach. „Irgendwelche Anzeichen von sexuellem Missbrauch?“
„Nein, jedenfalls nicht kürzlich.“
„Warum die Einschränkung?“
„Na ja, sexuell aktiv war das Mädel schon.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Sie war schwanger. Das geht nach meiner Erfahrung in den meisten Fällen mit sexueller Aktivität einher.“
* * *
Der Garten war mustergültig gepflegt, weiträumig und verband unzählige gemütliche Eckchen mit sauberen Wegen. Es gab Bänke nahe lauschigen Büschen, eine Fläche mit großen Schachfiguren und sogar einen kleinen Teich, auf dem einige Enten für Abwechslung und Beschäftigung sorgten. Der große, hagere Mann mit den behaarten Unterarmen im weißen Kittel schob einen modernen, bequemen Rollstuhl und unterhielt sich mit dem darin sitzenden älteren Herrn. Wobei die Unterhaltung daraus bestand, dass der Pfleger erzählte und der Mann im Rollstuhl gelegentlich Geräusche von sich gab.
„Olaf hat angerufen“, bemerkte der Pfleger, den die Einseitigkeit des Gesprächs nicht zu stören schien. „Er kann heute nicht kommen, es ist irgendetwas im Haus passiert.“
„Chrn“, machte der alte Mann und ein Speichelbläschen bildete sich in seinem Mundwinkel.
Der Pfleger stoppte den Rollstuhl und trat davor, damit er seinem Patienten ins Gesicht schauen konnte.
„Olaf ist dein Sohn, Willy! Er kommt heute nicht. Aber nächste Woche bestimmt wieder.“
„Olaf?“ Die brüchige Stimme klang unsicher.
„Ja, Olaf. Dein Sohn! Der in deinem Haus wohnt.“
„Hause? Jetzt schon?“ Der Senior riss entsetzt die Augen auf.
„Nein Willy, wir können noch weiter spazieren gehen“, beruhigte der Pfleger ihn sofort. Das Verständnis des alten Willy Henning kam und ging. Wenn er die Information, dass sein Sohn ihn heute nicht besuchen würde, gerade nicht verstand, dann würde er ihn auch nicht vermissen. Im Moment schien der Spaziergang wichtiger für ihn zu sein.
Der Wille der Patienten wurde hochgehalten, auch wenn sie nicht mehr vollständig im Besitz ihrer geistigen Kräfte waren. Denn das “Alte Eichen“ war kein Altersheim, sondern eine Seniorenresidenz, was einen gewaltigen Unterschied bedeutete. Zunächst einmal in den Kosten: Wer hier eine Rundumversorgung beanspruchte, der kam schnell auf eine fünfstellige Summe im Monat. Dafür bekam er aber auch wirklich etwas geboten. Großzügige Räumlichkeiten, hell und modern, maßgeschneiderte Pflegeangebote, eine sternewürdige Küche und jeglichen Komfort, den man sich wünschen konnte. Für die rüstigeren Bewohner wurden Ausflüge organisiert, Kulturschaffende kamen ins Haus, es gab einen Wellnessbereich und überhaupt konnte man praktisch jeden Wunsch äußern. Meistens wurde er auch erfüllt.
Im Kleinen merkte man den Unterschied schon beim Betreten des Hauses. In einem durchschnittlichen Pflegeheim umwehte die Nase des Besuchers bereits wenige Meter hinter dem Eingang oft ein Ruch von aufgewärmtem Essen, Desinfektionsmittel und Hoffnungslosigkeit. Satt und sauber war das Ziel, das oft genug nicht oder nur gerade erreicht wurde. Im “Alte Eichen“ hatte man hinter der großen Glastür den Eindruck, in der Lobby eines vornehmen Hotels zu stehen. Üppiger Blumenschmuck übertünchte alle eventuellen Gerüche eines prosaischen Alltags, das Personal wirkte stets freundlich und adrett, aber niemals gestresst. Unvollständig bekleidete Bewohner mit wirrem Haar gab es hier nicht. Auch machte man in diesem Haus nicht in die Hose, sondern es passierte allenfalls ein “Malheur“, das ebenso zügig wie diskret beseitigt wurde.
Der Personalschlüssel ließ es zu, dass der Pfleger mit seinem Schützling Willy nach Herzenslust durch den parkähnlichen Garten schlendern konnte, ohne mit einem Auge ständig auf die Zeit zu schauen. Solange Willy Spaß dort draußen hatte, solange dauerte es eben.
„Wollen wir den Enten zugucken, Willy?“
Wieder trat der Pfleger vor den Rollstuhl, bevor er den alten Mann ansprach. Die Augen verrieten meist, wie viel von dem Satz den Patienten erreichte. Jetzt leuchteten diese Augen kurz auf. Willy hatte ihn verstanden. Er liebte die Vögel und freute sich wie ein Kind, wenn er zuschauen konnte, wie sie majestätisch auf dem Teich ihre Bahnen zogen.
„Wir gehen da drüben hin, da ist mehr Schatten“, schlug der Pfleger vor und deutete auf eine Nische im Gebüsch auf der anderen Seite des Teichs. Eine Holzbank und mehrere Blumenkästen erhöhten die Attraktivität des Ortes noch.
„Enten?“
„Ja, von da drüben können wir sehr gut den Enten zusehen. Schau, sie haben sich eh auf der anderen Seite versammelt!“
Der Pfleger setzte den Rolli vorsichtig in Bewegung.
„Enten, gut“, murmelte der alte Willy zufrieden und nickte wie zur Bestätigung mehrmals. Für seine Verhältnisse war er ziemlich auf der Höhe heute.
Auf der anderen Seite angekommen, schob der Pfleger den Rollstuhl neben die Bank, arretierte sorgfältig die Bremsen und wischte Willy mit einem Taschentuch den Speichel aus dem Mundwinkel.
„Du musst doch schick aussehen, Willy! Vielleicht kommt ja gerade heute deine Traumfrau hier vorbei, wer weiß?“
Der alte Mann raffte sich zu einem Lächeln auf, von dem nicht klar war, ob es sich auf den Inhalt des Satzes oder nur auf den freundlichen Tonfall bezog. Aber im Grunde war das egal. Willy hatte einen gewissen Bezug zu seiner Umwelt hergestellt und freute sich darüber. Persönliche Ansprache war so wichtig im Kampf gegen die schwindenden Fähigkeiten des alternden Gehirns.
Für einige Minuten standen ein Erpel und seine Auserwählte im Zentrum von Willys Interesse. Der Vogel schaffte es, so menschliche Züge wie Überlegenheit und Arroganz auszustrahlen und die Ente – ignorierte ihn einfach. Der Pfleger schaute ebenfalls zu und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Olaf!“, mahnte Willy schließlich drängend und versuchte auf seine Armbanduhr zu schauen, was seine Koordination allerdings überforderte. „Wo?“
Der Pfleger beugte sich so weit vor, bis er seinen Zögling direkt anschauen konnte.
„Olaf hat vorhin angerufen. Er kann dich heute nicht besuchen. Ihm ist etwas dazwischengekommen!“
„Kein Olaf?“ Es war nicht klar, ob Willy über den ausgefallenen Besuch traurig war. Denn andererseits schien er froh, dass er einen Sachverhalt verstanden hatte.
„Nächste Woche kommt Olaf bestimmt wieder“, tröstete der Pfleger. „Am nächsten Samstag!“
„Olaf, Samstag. Gut!“
Heute schien ein denkwürdiger Tag zu sein. Es sah wirklich so aus, als ob Willy die Information in ihren wesentlichen Elementen verstanden hatte. Das war sehr gut. Er wusste zwar ziemlich sicher nicht, welcher Wochentag gerade war, aber den Rest hatte er begriffen.
„Großartig, Willy! Das hast du sehr gut gemacht!“
Der Mund des alten Mannes zog sich schelmisch in die Breite und er schien vergnügt zu zwinkern. Auch Lob war so wichtig.
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