Stammtisch - Günther Urban - E-Book

Stammtisch E-Book

Günther Urban

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Beschreibung

Severin Berenth und seine Geliebte Saskia Herzog kämpfen seit langem für nachhaltige und zukunftsfähige Lebens- und Wirtschaftsformen. Sie kollidieren dabei regelmäßig mit Zeitgenossen, die dem Mainstream anhängen, der von skrupellosen Individuen auf dem Kapital- und Wirtschaftssektor nach dem Fall der Mauer in Gang gesetzt wurde. Saskia Herzog meint, dass die Menschheit auf eine Katastrophe zusteuert, die nur ein weltweiter Aufstand der Volksmassen, die die negativen Folgen dieser Entwicklung zunehmend zu spüren bekommen, abwenden kann. Severin Berenth, der Gewalt ablehnt, will dagegen mit diversen Aktivitäten den Boden aufweichen, auf den sich die Dominanz von Wirtschaft und Kapital gründet. Als er nach kleinen Erfolgen wieder einmal Mut schöpft, wird Saskia, die sich möglicherweise einer radikalen Untergrundorganisation angeschlossen hatte, tot aufgefunden. Der Handlungszeitraum ist das Jahr 2013. Neben den beiden Hauptfiguren spielen rebellierende Jugendliche eine starke Rolle.

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GÜNTHER URBAN

Schon in jungen Jahren entwickelte sich beim Autor ein kritischer Blick auf das Wirken etablierter Kreise. Deshalb setzte er sich unter anderem für die Gründung der Partei DIE GRÜNEN in Oberbayern ein, und war zwölf Jahre lang grünes Mitglied im Stadtrat einer oberbayrischen Kreisstadt. Seit seiner Stadtratstätigkeit setzt er sich ganz besonders für Jugendliche ein, die an den Rändern der Stadtgesellschaft leben. Er schreibt system- und gesellschaftskritische Gedichte und hat inzwischen knapp 200 Beiträge für die Monatszeitschrift OHA verfasst.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

I

Severin Berenth spannt schon beim Aussteigen seinen Regenschirm auf und fällt deswegen beinahe aus dem Zug, was der dicke Typ hinter ihm spöttisch mit »Wasserscheu, was?« kommentiert. Der Severin schenkt sich eine Bemerkung dazu und marschiert, so schnell es die Menschenmenge auf dem Bahnsteig zulässt, zum Nebenausgang und zu den Fahrradständern. Dort klemmt er den Griff des Regenschirms zwischen Kinn und Schulter und dann seinen Aktenkoffer auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Im immer stärker strömenden Regen öffnet er hastig das Fahrradschloss und lässt den Dynamo auf den Reifen schnappen. ›Ja, Severin‹, denkt er dabei, ›der Fettsack vorhin hatte ganz Recht, du bist wohl auf deinen Radtouren in ganz Europa zu oft und zu lange im Regen gefahren, und möchtest nun wenigstens im Alltag nicht mehr nass werden‹.

Der Dynamo beginnt schon nach wenigen Metern aufsässig zu quietschen und lässt die Beleuchtung am Fahrrad nur mehr flackern. »Scheiß Regen und scheiß Autos!«, schimpft da der Severin lauthals los. ›Jetzt haben wir wieder‹, wettert er in Gedanken weiter, ›diese schmierige Brühe aus Reifenabrieb, Öl und Wasser auf der Straße, der kein Dynamo der Welt gewachsen ist. Wenn mich jetzt der kleinkarierte Hornsteiner erwischt‹, flimmert es gleich darauf durch seinen Kopf, ›dann wird das unvermeidlich so ablaufen: Er wird mit seinem Streifenwagen langsam neben mir herfahren, schließlich die Seitenscheibe herunterlassen und dann genüsslich sagen: Berenth, so können Sie nicht weiterfahren, Ihr Geblinkere sieht doch kein Mensch. Ja, und dann auch noch mit dem Schirm in der Hand radeln … Mann, Sie sind wohl lebensmüde?! Also, steigen Sie schon ab, Berenth! Ich sehe mich ansonsten gezwungen, Ihnen einen Strafzettel zu verpassen. Ich würde im Falle dieses Falles‹, spinnt der Severin den Faden im prasselnden Regen selbstquälerisch weiter, ›dem Hornsteiner natürlich am liebsten »Du Blödmann, du!« zurufen und weiterfahren. Weil ich vermutlich zu gut erzogen wurde, sage ich aber kein Wort, steige ab und schiebe das Fahrrad am Bürgersteig neben mir her. Brav, Berenth!, würde da der Hornsteiner wie ein Oberlehrer sagen, die Seitenscheibe hochfahren und dann den Wagen betont langsam weiterrollen lassen. Nach zehn oder zwanzig Metern würde er noch einmal umschauen, dann sportlich Gas geben und mit mindestens siebzig Sachen um die nächste Ecke rauschen. Ich würde mich gleich darauf wieder aufs Rad setzen und weiterfahren, auch wenn ich fast sicher sein kann, dass der Hornsteiner, vom Jagdinstinkt und dumpfer Pflichterfüllung getrieben, nur um den Block fährt, um mich erneut von hinten zu stellen.‹

Der Severin kann diesen hässlichen Gedankenlauf nicht länger verfolgen, weil ihn eine Böe erfasst, den Schirm umstülpt und ihn selbst ins Schlingern bringt. »Scheiß Wetter!«, schimpft er ergrimmt und hält an. Er hält den Schirm gegen den Wind, und der knallt ihn mit heftigem »Wumm« in seine Sollstellung zurück. Während er sich klitschnass wieder in Bewegung setzt, sieht er keine hundert Meter entfernt den blau leuchtenden Schriftzug ›Saskias Bistro‹.

»Nichts wie hin!«, sagt er sich und jagt auch schon los. Trotz tief abgesenkter Bordsteinkante stürzt er beinahe auf den Bürgersteig, als er in die Einfahrt neben dem Bistro kurvt. »Verdammtes Wetter!«, schimpft er wieder und stellt das Fahrrad neben der Einfahrt auf den Bürgersteig. Er sperrt es hektisch ab, nimmt den Aktenkoffer vom Gepäckträger, klemmt den Regenschirm darauf und hastet ins Bistro. Der stürmische Wind reißt ihm die Tür aus der nassen Hand und knallt sie hinter ihm derart laut zu, sodass die knapp zwei Dutzend Gäste erschrocken in Richtung Eingang schauen.

Die junge Wirtin Saskia Herzog, die gerade ein Pils einschenkt, schaut ebenfalls erschrocken hoch und sagt überrascht: »Ja grüß’ dich, Sevi! Also dich hätte ich bei dem Sauwetter zuallerletzt erwartet.« Sie schaut gleich darauf erneut hoch und meint betroffen: »Und außerdem, du siehst ja aus wie eine getaufte Maus! Du, warte einen Moment, ich hole dir gleich ein Handtuch.«

Sie bringt dann das Pils und zwei Gläser Weißbier zum Stammtisch der »Schürzenjäger«, eilt nach kurzem Wortwechsel mit den Stammtischlern in ihre kleine Küche und kommt mit einem weißblau gestreiften Handtuch zurück.

»Du bist ein Schatz, Saskia«, sagt der Severin dankbar, deutet noch einen Kuss an, und eilt dann ins WC.

Halbwegs trocken kommt er nach einer Weile zurück, reicht Saskia das Handtuch über den Schanktisch und bestellt sich ein Pils. Er schaut sich dann im Bistro um und geht schließlich zu den Schürzenjägern hinüber. Mit »Hallo, zusammen!« begrüßt er die fünfköpfige Truppe und fragt: »Habt ihr einen Platz für mich frei, Leute?«

»Aber klar«, sagt der Malermeister Otto Fuchs und rückt zur Seite.

Der Severin holt sich einen Stuhl vom Nebentisch und setzt sich zwischen den Fuchs und den Berufsschullehrer Richard Heidrich. Er sitzt so seinem Dauerrivalen auf dem Tennisplatz, dem Polizeihauptmeister Carsten Mederer, direkt gegenüber. Der Polizist hat sich im Laufe der Jahre aber auch abseits vom Tennissport zu einem hartnäckigen Gegenspieler von ihm entwickelt, und so geht kaum ein Zusammentreffen der beiden ohne Frotzeleien ab. Nur wenn sie als Doppel auf dem Tennisplatz stehen, finden sie immer zu einem einträchtig kämpfenden und nur schwer bezwingbaren Team zusammen.

Und prompt, der Severin sitzt noch gar nicht richtig, da meint der Mederer auch schon spöttisch grinsend: »Bist wieder einmal nass geworden, Sevi?« Er stößt dabei dem Steuerberater Hans Reuß mit dem rechten Ellenbogen in die Rippen, und dann lachen die beiden auch schon so laut und gemein sie nur können.

»Wenn man so wasserscheu und gichtbrüchig ist, wie ihr zwei, dann fährt man natürlich auch zum Stammtisch mit dem Auto«, gibt der Severin trocken heraus und erntet dafür den Applaus der beiden Stammtischler links und rechts von ihm, und vom »Ladiescatcher«, der zwischen dem Mederer und dem Fuchs sitzt.

Der »Ladiescatcher« heißt mit bürgerlichem Namen Markus Reiser und betreibt ein Fahrradgeschäft für Leute, die nicht aufs Geld schauen müssen, die für einen Drahtesel gerne mehrere tausend Euro hinblättern. Er hat heute seine langen, dunkelblonden Haare zu einem Knoten zusammengebunden; und hätte er noch eine Adlerfeder im Haar stecken, dann könnte man ihn, nicht zuletzt auch wegen seiner markanten Gesichtszüge, für einen Abkömmling der Siouxindianer halten.

Die Stammtischler Berenth, Mederer und Reiser kennen sich seit ihrer Realschulzeit. Bald danach hat sich der Reiser seinen Spitznamen eingehandelt, weil er auf Partys, in den Diskos und auf Volksfesten dem Drang nicht widerstehen konnte, neue Eroberungen zu machen. Er ist deshalb auch der einzige am Tisch, der noch solo lebt, was der Malermeister Fuchs nur zu gerne folgendermaßen erklärt: »Ein Anstrich kann nicht dauerhaft halten, wenn man den Untergrund nicht gut vorbereitet, den Voranstrich flüchtig aufträgt und beim Deckanstrich schon den nächsten Auftrag im Auge hat.«

Dem »Ladiescatcher« hat der Stammtisch, an dem sich ansonsten eigentlich nur Männer treffen, die eher zur Monogamie neigen, auch seinen Namen zu verdanken.

Nachdem sich der Beifall für Severins Konter gelegt hat, meint der Fuchs geradezu väterlich, er verfällt dabei – wie immer, wenn ihn etwas besonders bewegt – in sein breites Oberbayrisch: »Aba moanst ned a, Sevi, dass du dir sche langsam a a Auto zualeng soitast? Du marschierst doch a scho recht stramm auf de fuchzge zua, und da konnstas dawartn, dass du dir bei an Apruiweda wia heit am Radl a sauwane Lungaentzündung hoist.«

Der Severin legt seinen rechten Arm über Ottos Schultern und sagt lachend: »Fuxi, das kann ich dir in die Hand hinein versprechen, dass ich unsere schöne Stadt auch in Zukunft nicht mit Motorlärm und Abgasen überziehen werde.«

»Mann, Berenth«, erregt sich da der Steuerberater Reuß, »jetzt lassen Sie den Radfahrer nicht gar so heraushängen!« Und nach einem aufgeregten Schnaufer schickt er hinterher: »Die Stadt mit Motorlärm und Abgasen überziehen, finden Sie nicht, dass Sie da in blinder Ökomanier hemmungslos übertreiben?«

Weil der Severin eher selten zum Stammtisch kommt, und für den Steuerberater ein Leben ohne Auto schlichtweg undenkbar ist, konnte er Severins lockere Bemerkung nur als einen Angriff auf seine wichtigste Lebensgrundlage werten und verfiel deshalb wohl ganz unbewusst in die Sie-Form, was bei den Stammtischlern mindestens so störend ankommt, als würde er mit einem Mal lateinisch sprechen. Den Severin stachelt dessen Aufgeregtheit allerdings nur an, und so schlägt er ohne Rücksicht auf Verluste zurück: »Mensch, Hans, bleib kühl! Von mir aus kannst du auch weiterhin mit deinem Geländewagen in der Stadt herumgurken.«

»Severin, ich gurk nicht rum!«, faucht der Reuß ärgerlich, aber immerhin auf Du-Basis zurück.

Der Lehrer Heidrich hält es nun für angezeigt, den Disput der beiden mit einem Gag zu beenden. Er schaut mit nicht übersehbarem Schalk in den Augen vom Reuß Hans zum Severin und sagt: »Also, bevor ihr noch länger herumhakelt, ich hätte da eine Idee.« Bevor er sich weiter auslässt, genehmigt er sich aber erst einmal einen Schluck Bier und wiederholt dann: »Also, ich hätte da eine Idee, die euch zwei vielleicht wieder zusammenbringt und daneben den benachteiligten Menschen im Lande zu Gute käme. Die Sache ist zwar nicht grundsätzlich neu, wäre in dieser Form aber doch ein Novum. Und wenn ich es mir so recht überlege, dann ist …«

Der Heidrich kann seine Idee nicht weiter ausbreiten, weil ihm der Reiser ungeduldig dazwischen fährt: »Mann, Heidi, spuck’s doch endlich aus!«

»Okay, okay, du Nerverl!«, kontert der leicht verstimmt, kommt dann aber umgehend zur Sache: »Also, Leute, der Hans könnte dem Sevi Verschmutzungsrechte abkaufen, sagen wir mal zum Preis von zehn Cent für jeden Liter Sprit, den er in seiner tonnenschweren Kutsche verbrennt; und der Sevi, weil er ein sozial eingestellter Mensch ist, spendet dieses Geld, ich schätze da kommt ein ganz ordentlicher Batzen zusammen, jeweils am Jahresende der ›Aktion Sorgenkind‹. Damit …«

Der Heidrich muss erneut abbrechen, weil der Mederer und der Reiser lauthals loslachen. Die beiden zerreißt es nach wenigen Augenblicken regelrecht, und dann hämmert der Reiser auch schon mit den Fäusten auf den Tisch und schreit: »Verschmutzungsrechte! Der Hansi muss Verschmutzungsrechte kaufen!«

Einige Gäste schauen kopfschüttelnd und missbilligend zum Stammtisch hinüber. Die Mehrzahl aber, die die Schürzenjägertruppe schon lange kennt und weiß, dass es an deren Stammtisch früher oder später immer laut wird, nimmt den Radau amüsiert hin.

Die Wirtin Saskia dagegen findet, dass sich die beiden undiskutabel aufführen. Sie kurvt eilends um den Schanktisch herum, baut sich zwischen ihnen auf und herrscht sie an: »He, ihr zwei, ihr nehmt jetzt eure Lautstärke augenblicklich zurück, verstanden!« Weil sie der Mederer und der Reiser verständnislos anschauen, packt sie beide an den Schultern, schüttelt sie heftig und wütet: »Ihr seid doch nicht alleine hier, verdammt noch mal!« Und während sie sich auf den Rückenlehnen der beiden abstützt, knurrt sie: »So, Freunde, und jetzt sagt ihr mir, warum ihr mit einem Mal so ein Getöse veranstalten müsst.« Diese Aufforderung hätte sie aber besser sein lassen, weil die beiden nun total ausflippen.

»Verschmutzungsrechte!«, heult der Mederer auf.

Und der Reiser brüllt: »Der Hansi, die Sau …«, er verschluckt sich dabei und wiederholt nach ein paar Hustern: »Der Hansi, die Sau, muss dem Sevi Verschmutzungsrechte abkaufen! Aber dann kann er wenigstens«, tobt er nach kurzem Atemholen weiter, »mit seinem Zweitonner ohne Gewissensbisse in der Stadt herumgurken!«

»Und der Sevi«, keucht der Mederer, »spendet das Geld der Aktion Sorgenkind.«

Und dann lachen sie trotz Saskias wütender Miene wieder hemmungslos. Ihr Lachen reißt schließlich auch den Severin, der zunächst nicht so recht wusste, ob er über Heidrichs Gag lachen oder weinen sollte, dann auch den Heidrich und nach einer Weile sogar den Reuß mit.

Saskia versucht händeringend die fünf zu beruhigen, sie sagt zwischendurch auch so etwas wie »Hausverbot«, aber das hören ihre aufgedrehten Stammtischler gar nicht mehr. Es dauert keine viertel Minute, dann lachen auch alle ihre Gäste derart laut mit, sodass die Weingläser auf dem Regal hinter dem Schanktisch zu klingeln beginnen, was allerdings nur der Malermeister Fuchs vernimmt. Der sitzt nämlich seit Heidrichs verrücktem Vorschlag mit verständnislosem Blick und wiederholtem Kopfschütteln nur wortlos da und findet, dass seine Stammtischfreunde immer alberner werden. Weil für ihn sechzig Wochenstunden seit Jahren die Regel sind, kann er sich kaum einmal mit Themen beschäftigen, die über seinen Beruf und seinem kleinen Betrieb hinausgehen; und so kann er auch mit dem Begriff Verschmutzungsrechte und deren Kauf nicht das Geringste anfangen.

Saskia gewinnt allmählich den Eindruck, dass ihre Gäste inzwischen auch über ihre verzweifelten Versuche lachen, die Stammtischler zu beruhigen. Sie lässt es deshalb sein, geht kopfschüttelnd und mit etwas gezwungen wirkendem Lächeln zum Schanktisch, lehnt sich mit vor der Brust verschränkten Armen daran und wartet ab, wie sich die Lage am Stammtisch weiter entwickelt. Sie steht dort noch keine fünf Sekunden, da ebbt das Gelächter im Bistro ab – ganz so, wie der Bierstrom, wenn sie den Zapfhahn schließt. Die junge Wirtin seufzt kurz auf und marschiert dann energischen Schrittes zum Stammtisch zurück. Sie zieht sich vom Nebentisch einen Stuhl heran, setzt sich zwischen die Haupttäter Mederer und Reiser und sagt mit Nachdruck: »Also, ihr zwei Helden, könnt ihr mir wenigstens jetzt sagen, um was es bei dem Radau in den letzten Minuten eigentlich ging?«

Diese Frage löst bei den beiden aber nur einen neuerlichen Lachanfall aus, den Saskia allerdings mit Handkantenschlägen auf deren Oberarme umgehend abwürgt.

Saskia Herzog ist eine bildhübsche, schlanke Frau mit kurzem schwarzen Haar. Sie ist gerade einmal einsfünfundsechzig groß, trägt heute eine grüne Bluse und wie immer einen schwarzen Minirock. Die grüne Bluse lässt ihren schön geformten Busen besonders zur Geltung kommen, was es ihren männlichen Gästen recht schwer macht, nicht dauernd auf ihr Dekolleté zu schauen. Sie ist darüber hinaus ein wahres Energiebündel, sehr sportlich und mit einem unschlagbaren Mundwerk ausgestattet.

Nachdem der Reiser Saskias Karateschlag halbwegs verdaut hat, legt er seinen rechten Arm um ihre Taille und sagt unverändert aufgekratzt: »Ach liebste Saskia, das kann man nicht so leicht erklären – und einer Frau schon gar nicht.«

Saskia drückt seinen Arm weg und knallt ihm ihre kleine Faust auf den Oberarm.

»Au u!«, stöhnt der wieder und sagt dann zum Lehrer: »Heidi, übernimm du das bitte, die Saskia ist mir heute zu rabiat.«

»Du, Saskia, da gibt es eigentlich nichts zu erklären«, meint auch der Heidrich abwehrend. »Du weißt doch besser als ich«, fügt er nach einem Seufzer hinzu, »dass die zwei über jeden Blödsinn lachen, wenn sie beim zweiten Bier sind.«

Saskia rückt mit ihrem Stuhl an den Tisch heran und sagt äußerst ungehalten: »Richard, drück dich nicht! Wenn ihr euch bei mir dermaßen aufführt, dann möchte ich aber auch erfahren, was das ganze Theater ausgelöst hat.«

Der Heidrich trinkt erst einmal einen ordentlichen Schluck von seinem Weißbier und beginnt dann gottergeben: »Also, Saskia, das war so: Der Sevi hat gemeint, dass der Hans mit seinem Geländewagen unsere Stadt mit Lärm und Gestank überzieht und …«

»So war das nicht, Richard!«, protestiert der Severin energisch. »Ich habe lediglich zum Fuxi gesagt, dass er das nie erleben wird, dass ich mit einem Auto die Stadt mit Lärm und Gestank überziehe.«

»Gut, gut, Sevi!« Ein wenig genervt klopft ihm der Heidrich mit der rechten Hand auf den Unterarm und beginnt dann von neuem: »Also, Saskia, ich habe nach einigem Hin und Her um den Geländewagen vom Reuß der Gaudi halber vorgeschlagen, dass der Hans dem in Autoenthaltsamkeit lebenden Severin in Zukunft Verschmutzungsrechte abkaufen könnte. Das Geld, das bei ihm zusammenkommt, könnte er dann am Jahresende der ›Aktion Sorgenkind‹ zukommen lassen.«

Der Lehrer Heidrich hat den letzten Satz noch gar nicht richtig zu Ende gebracht, da beginnt der Mederer erneut lauthals zu lachen. Offenbar löst die bekannte TV-Aktion eine Assoziation bei ihm aus: Der Geländewagenfahrer Reuß wird zum Sorgenkind, dem allerdings nicht zu helfen ist.

Saskia lässt ihn ein paar Sekunden wiehern und droht ihm dann unmissverständlich mit der Faust, was ihn auch sofort verstummen lässt.

Dem Fuchs reißt nun der Geduldsfaden und er gnatzt missmutig: »Herrgott Leute, kann mir einer von euch endlich sagen, was ich mir unter diesen Verschmutzungsrechten vorzustellen habe!«

»Okay, okay, Otto!« Nun vollends genervt lässt sich der Heidrich in die Stuhllehne fallen, überlegt eine Zeit lang und beginnt schließlich recht umständlich: »Weil ich das Affentheater um die Verschmutzungsrechte ausgelöst habe, sollte ich nun auch versuchen, dir diese Thematik zumindest vom Grundsatz her nahe zu bringen. Also, Otto, wenn zum Beispiel ein Unternehmen den Ausstoß von CO2 prinzipiell nicht vermeiden kann oder aus wirtschaftlichen Gründen nicht vermeiden will, dann kann es Geldmittel zur Verfügung stellen, damit an anderer Stelle Maßnahmen zur Reduktion von CO2 ergriffen werden können. In der Praxis erwirbt das Unternehmen bei speziellen Dienstleistern so genannte Emissionszertifikate beziehungsweise Emissionsrechte, also Verschmutzungsrechte, die aus Klima- beziehungsweise aus Umweltschutzmaßnahmen an anderer Stelle hervorgehen. Dass unser Hans beim radelnden Severin Verschmutzungsrechte kaufen könnte, war also nur ein Gag, auch deshalb, weil der Sevi ja seit eh und je klimafreundlich mit dem Fahrrad unterwegs ist. Vom Severin geht also in Sachen Mobilität keine zertifikatwerte Änderung seines Verhaltens zu Gunsten des Klimas aus.«

Der Malermeister kratzt sich eine Weile nachdenklich am Kopf und meint dann listig: »Heidi, ich glaub’, ich hab dich so halbwegs verstanden. Wenn es also wirklich so ist, dass der Hans beim Sevi keine Verschmutzungsrechte kaufen kann, dann wäre es doch nur g’scheit, wenn er sein Ungetüm durch einen kleinen Wagen ersetzen würde, oder?«

Bevor ihm der Lehrer zustimmen kann, fährt ihn der Reuß unwirsch an: »Mann, Fuchs, ich hab doch keinen Geldscheißer, ich kann mir nicht schon wieder einen neuen Wagen zulegen!«

»Okay, okay, Hans! Ich hab ja nur laut gedacht, und das wird man ja noch dürfen, oder?«

»O Gott, wenn ein Pinselschwinger schon einmal denkt, dann wird höchst selten etwas Gescheites dabei herauskommen!«, giftet der Reuß, dem das nicht enden wollende Gerede um seinen Geländewagen und die Verschmutzungsrechte langsam aber sicher zu viel wird.

Mit »Ach Leute, fangt doch bloß keinen neuen Streit an!« greift der Severin alarmiert in den Disput ein. »Aber vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit anmerken«, lässt er sich nach einem Schluck Pils weiter vernehmen, »dass es mit kleineren Autos alleine nicht getan ist. Ich bin nämlich felsenfest davon überzeugt, dass wir nicht mehr darum herum kommen, neue Wege in Sachen Mobilität zu beschreiten, und dass wir darüber hinaus unserem Streben nach Mobilität Zügel anlegen müssen.«

»Das meine ich auch«, pflichtet ihm die Wirtin bei und fährt sich mit beiden Händen angriffslustig übers Haar.

»A, a, a, Saskia!«, tönt da der Reuß lauthals und meint dann auch noch missmutig: »Du schließt dich doch dem Severin nur an, weil deine Gäste aus Angst vor den Punkten in Flensburg kaum mehr etwas trinken.«

»O, o, o, wenn ein Steuerzwicker schon einmal denkt!« Saskia übernimmt genüsslich dessen Tenor und klärt ihn gleich darauf recht selbstbewusst auf: »Für mein Überleben, mein guter Hans, bin ich schon seit längerem nicht mehr auf den Alkoholkonsum meiner Gäste angewiesen.« Noch bevor der Reuß Hans eine Retourkutsche zustande bringt, steht sie auf, dreht sich um und ruft einem ihrer Gäste zu: »Ich bin gleich da, Christian!«, und eilt in die Küche.

Der Fuchs schaut Saskia einen Moment lang nachdenklich nach, tippt dann den Severin mit dem linken Ellenbogen an und fragt bewusst unbedarft: »Du, Sevi, neue Wege in Sachen Mobilität, wie meinst du das eigentlich?«

»Mensch, Otto, frag doch nicht so blöd!«, fährt ihn der Reuß neuerlich an und schickt verdrossen hinterher: »Der Severin will uns das Auto wegnehmen. Und das, Mann, kann doch selbst dir nicht entgangen sein.«

»Quatsch, Hans, ich will niemand das Auto wegnehmen!«, korrigiert ihn der Severin nachdrücklich. Er lehnt sich daraufhin zurück, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und befindet nach kurzem Überlegen aber schon: »Dass die Automobilität der Gegenwart im Grunde schon Vergangenheit ist, das ist für mich allerdings so gut wie sicher. Und ich denke auch, dass die meisten von uns das zumindest ahnen, sich derzeit aber nur ganz wenige dazu durchringen können, auf das Auto zu verzichten.«

Der Reuß, der sich direkt angesprochen fühlt, schnappt nach Luft und will den Severin heftig anschießen, aber da hakt der Fuchs auch schon hartnäckig nach: »Also, noch einmal, Severin, neue Wege in Sachen Mobilität, soll das vielleicht auch heißen, dass ich meine Farbeimer und Leitern demnächst wie mein Vater – Gott hab ihn selig – mit dem Zweiradkarren durch die Stadt schiebe?«

Der Severin setzt sich auf, muss seine Stellungnahme zu diesem Szenario aber zurückstellen, weil der Reiser begeistert feixt: »Genau, Fuxi, genau so ist das gemeint! Den Zweiradkarren hast du ja noch, den hab ich doch erst vor kurzem in deinem Lager gesehen. Du hättest also keine Umstellungsprobleme, dein Betrieb läuft auch ohne Auto wie geschmiert weiter. – Nur der Carsten wird vielleicht arbeitslos«, meint er nach kurzem Überlegen augenzwinkernd, »weil es in einer Zukunft von Severins Gnaden für die Polizei viel weniger zu tun gibt. Aber der Carsten, Fuxi, der Carsten … also der Carsten könnte dir dann ja deinen Karren von der einen Arbeitsstelle zur anderen schieben, und du …«

Der Reiser kann sich jetzt kaum mehr halten, er japst nach Luft und gluckst dann weiter: »Und du, Otto … und du … du fährst mit dem Radl in aller Ruhe pfeifend voraus. – Mann, Fuxi, das wäre doch ein grandioses Bild, oder?« Er boxt dem Malermeister noch übermütig in die Rippen, und dann lachen er und seine Stammtischfreunde auch schon wieder aus vollem Halse. Das Lachen vom Fuchs und vom Reuß kommt allerdings recht bald ziemlich verkrampft daher. Und so schwenkt der Fuchs – nachdem sich der Stammtisch wieder beruhigt hat – mit seinem Blick vom Reiser zum Severin und fragt in einem Tonfall, der zwischen Ernst und Spott schwebt: »Und wie komme ich zu meinen Kunden in der nächsten Stadt, ihr zwei Schlaumeier?«

Der Severin schiebt sein Pilsglas ein Stück weit von sich weg und sagt nach einer Weile bedächtig: »Du, Otto, ich denke, du kannst vermutlich auch in Zukunft mit einem Auto zu deinen Kunden fahren. Aber du tust sicher gut daran, wenn du dir baldmöglichst einen umweltfreundlicheren Transporter zulegst. Dein Einwand«, fährt er nach einem Schluck Pils fort, »weist allerdings auch auf einen Tatbestand hin, der mit Abstand betrachtet eigentlich nicht zu verstehen ist. – Also, Otto, ich meine den Tatbestand, der besonders im Bereich des Handwerks und der mittelständischen Unternehmen auffällt, weil es dort gängige Praxis ist, dass Betriebe in der Stadt A Aufträge in der Stadt B annehmen und deshalb ihre Teams samt Gerätschaften dorthin beordern; und die branchengleichen Betriebe in der Stadt B ihre Leute in die Stadt A fahren lassen, um dort Aufträge abzuwickeln.« Nach kurzem Überlegen möchte er noch auf das gigantische Hin und Her im Bereich des Güterverkehrs hinweisen, aber der Steuerberater lässt ihn nicht dazu kommen.

»Mann, Berenth«, wütet der los, »du bist nicht nur ein blinder Öko- und Umweltspinner, du hast offenbar auch keine Ahnung von der Wirtschaft! Und deshalb ist dir auch nicht bekannt, dass ein weit gespannter Konkurrenzraum die Qualität der Leistungen hebt und die Preise nicht ausufern lässt.« Der Reuß wirft dem Severin noch einen geringschätzigen Blick zu und trinkt dann hektisch ein paar Schlucke von seinem Weißbier.

Während der Reuß das Glas so heftig auf den Tisch zurückstellt, dass der Rest Bier fast herausschwappt, mutmaßt der Heidrich ungehalten: »He Hans, jetzt sind dir wohl alle Sicherungen auf einmal herausgeflogen?! Dabei, du Schnellschütze, hat der Sevi doch nur allzu Recht, denn der Motorverkehr hat inzwischen nicht nur ein absolut unnötiges Ausmaß angenommen, sondern belastet und schädigt auch in nicht mehr hinnehmbarem Maße uns Menschen und die Natur. Und so werden die Vorteile, die sich aus der modernen Mobilität hierzulande und in weiten Teilen unserer Erde ergeben, von deren Nachteilen zunichte gemacht, ja in zunehmendem Maße übertroffen.« Weil der Reuß offenbar kurz vor einer Explosion steht, kürzt der Lehrer sein Statement ab und sagt nur noch mit Nachdruck: »Und deshalb, Hans, verschlechtern sich insbesondere in den Industrienationen die volkswirtschaftlichen Bilanzen nun schon seit Jahren, somit also die wichtigsten Bilanzen überhaupt, deren Offenlegung allerdings von einflussreichen Mobilitätsfanatikern bis zum heutigen Tag verhindert wird.«

Wie der Heidrich vermutet hatte, feuert der Reuß nun auch auf ihn: »Du magst ja ein guter Lehrer sein, Heidrich«, hebt er hemmungslos an, »aber das bewahrt dich nicht davor, die Dinge genauso einäugig und defizitär zu betrachten wie der giftgrüne Berenth!«

Die beiden nehmen diese Attacke gelassen hin, schauen sich nur grinsend an und warten in aller Ruhe ab, was der Reuß sonst noch von sich geben wird.

Und nach einmal tief Luft holen, legt der auch tatsächlich restlos aufgebracht nach: »Herrgott, Heidrich, wie kannst du nur in Sachen Mobilität eine so oberflächliche und kurzsichtige Vor- und Nachteilsrechnung aufmachen! Die Mobilität der Gegenwart, Mann, und das sollte doch gerade dir bestens bekannt sein, hat sich mittlerweile zur größten und umfassendsten Plattform für Beschäftigung entwickelt, die wir unbedingt aufrechterhalten müssen, wenn wir nicht das halbe Volk arbeitslos machen wollen.«

Nach dieser Breitseite schüttet der Reuß den Rest von seinem Weißbier in einem Zug hinunter und knallt dann das Glas kopfschüttelnd auf den Tisch. Er schaut nach einer Verschnaufpause fassungslos, ja mit geradezu verzweifeltem Blick in die Runde und wettert dann noch einmal los: »Herrgott, Leute, in jedem Kilometer, den ein Motorfahrzeug zurücklegt, steckt doch Beschäftigung auf vielerlei Ebenen! Wie könnt ihr also nur so vernagelt sein und nur eine Sekunde lang ernsthaft daran denken, dass wir … Wie hat der grüne Gifter schon wieder gesagt? … Ach ja, dass wir unserem Streben nach Mobilität Zügel anlegen müssen.«

Noch bevor der Heidrich und der Severin auf das Beschäftigungsargument, das von diversen Kreisen im Laufe der Zeit geradezu zum Evangelium erhoben wurde, eingehen können, meint der Reiser, der den Steuerberater für sein Leben gern hochnimmt, süffisant: »Mobilität nicht zuletzt um der Beschäftigung willen … Mann, Hans, welch ein genialer Gedanke!« Er umfasst daraufhin mit beiden Händen den Fuß von seinem Weißbierglas und stichelt – den Blick auf das Glas gerichtet – genüsslich weiter: »An einer größeren Straße oder in der Nähe von einem Flughafen möchtest du aber ganz bestimmt leben, oder?« Während er seinen Blick wieder auf den Reuß richtet, fällt der verbittert über ihn her:

»Mensch, Markus, du redest doch nur deshalb so blöd daher, weil du davon ausgehst, dass dir eine Zukunft von Severins Gnaden, so hast du Drahteseltandler doch gerade vorhin gelästert, Vorteile bieten könnte.« Nach diesem Konter fährt er sich mit beiden Händen hektisch über seine Halbglatze, überlegt noch einen Moment lang und giftet dann: »Mann, tu dich doch mit der Saskia zusammen und gründe einen Verein oder eine neue Sekte, von mir aus auch eine Partei! ›Die Antimobilen‹ zum Beispiel, du Vogel! So intelligent wie ›Die Piraten‹ klingt das allemal.«

»Super Idee, Hans!«, meint da der Reiser grinsend. »Mit der Saskia würde ich so etwas sofort anfangen. Die Saskia, ich und eine neue Partei … da dauert es keine drei Jahre, mein Freund, und deine CSU findet sich unterhalb der 40-Prozent-Marke wieder.«

Die Stammtischler, bis auf den Steuerberater natürlich, kringeln sich ob dieses Szenarios unübersehbar.

Der Lehrer Heidrich kann sich offenbar ganz besonders dafür begeistern, denn er greift sich sein Glas und meint: »Darauf sollten wir anstoßen, Leute! Selbstverständlich nur auf die Antimobilen, Hans«, fügt er mit schelmischem Blick rasch hinzu.

Und dann stoßen der Heidrich, der Severin, der Fuchs, der Mederer und der Reiser auch schon feixend an und prosten zuletzt auch dem Reuß zu, der das Ganze mit finsterer Miene beobachtet. Während die fünf ihre Gläser wieder abstellen, zerreißt es ihn aber regelrecht: »So, für heute langt es mir mit euch Deppen! Saskia, zahlen!« Sein Mienenspiel beginnt allerdings gleich darauf zu kippen, und er schaut nach wenigen Augenblicken recht unglücklich und niedergeschlagen über die Stammtischrunde. Er zahlt mit fahrigen Bewegungen, überlässt Saskia ein großzügiges Trinkgeld und steht dann hastig auf. Etwas verkrampft legt er noch seinen linken Arm um Saskias Schultern, drückt sie einen Augenblick lang an sich und sagt mit brüchiger Stimme: »Übrigens, Saskia, der Ladiescatcher will eine Partei gründen … mit dir als Generalsekretärin.«

Saskia schaut überrascht zum einen Kopf größeren Reuß hoch und sagt amüsiert: »Ja sauber, Hans, Ideen habt ihr heute vielleicht!« Sie versetzt ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen und schickt lächelnd hinterher: »Du, wenn ich euch nicht selber eingeschenkt hätte, müsste ich doch glatt annehmen, dass irgendeine Droge in euer Bier geraten ist.«

»Ach Saskia«, ächzt da der Reuß, »die fünf brauchen keine Droge, die spinnen doch von Natur aus!« Er drückt sie noch einmal kurz an sich und flüchtet dann mit »Ciao, Saskia!« aus dem Bistro.

Seine Stammtischfreunde rufen ihm im Chor »Servus Hans« nach, was der aber nur mit einer wegwerfenden Handbewegung quittiert.

Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist, fragt die junge Wirtin streng: »Sagt einmal, Männer, was habt ihr denn heute mit dem Hans angestellt? Der ist ja stocksauer.«

»Gar nix, Saskia«, sagt der Reiser scheinheilig lächelnd. »Der Hansi«, fährt er nach einem eher gespielten Seufzer fort, »hat sich heute wieder einmal selbst abgeschossen. Wenn es um das Auto und die Wirtschaft geht, das kennst du ja, greift er nach wie vor zur CSU-Brechstange und versteht dann auch keinen Spaß mehr.«

Der Reiser kann gar nicht so schnell schauen, da zieht ihn die Saskia auch schon am Ohr und knurrt: »Mein lieber Markus, wenn ich dich so grinsen sehe, dann weiß ich Bescheid. Aber okay, der Hans kommt wieder, denn nachtragend ist er nicht.«

»Nein, nachtragend ist der Hans wirklich nicht«, stimmt ihr der Severin zu. »Aber ein armer Hund ist er schon, weil er blindlings auf einem Pfad unterwegs ist, der sich zunehmend als Irrweg herausstellt.«

Nach diesem Urteil trinkt er sein Pils aus, hält Saskia das Glas hin und sagt aufgeräumt: »Eins geht noch, Saskia, denn meine Frau wartet heute bestimmt nicht auf mich, weil ich eigentlich erst mit dem Elf-Uhr-Zug aus München herausgekommen wäre.«

»Und mia bringst no a Woazn, bittschön«, sagt der Fuchs und verfällt dann – im Dialekt hängen bleibend – ins Sinnieren: »Ja, er is echt a arma Hund, unsa Hansi. Wenn i bloß dro denk, wia oft er über den irren Vakehr in München schimpft und üba den Dauerstau auf unsana Hauptstrass. Er kimmt einfach ned drauf, dass er soiwa mit schuid is. Er bsondas, weil er ja koan Meta z’Fuaß geht.« Der Fuchs schiebt sich eine Strähne von seinen leicht angegrauten dunkelblonden Haaren aus der Stirn und meint dann noch: »Und so is a koa Wunda, dass er von seim Gwicht ned runta kimmt und eam sei Herz imma mehr Probleme macht.«

»Zu mir hat er einmal gesagt«, knüpft der Heidrich daran an, »dass es nicht einmal ein Tropfen auf dem heißen Stein wäre, wenn er des Öfteren das Auto in der Garage stehen ließe. Und außerdem, fügte er damals restlos überzeugt hinzu, würde garantiert niemand seinem Beispiel folgen. Er würde höchstens von seinen Bekannten bei jeder sich bietenden Gelegenheit gefragt werden, ob sie ihm vielleicht den Führerschein weggenommen hätten. – Ja, Leute, und dann kam er auch noch mit seinem stärksten Trumpf daher: Er als Steuerberater könne es sich absolut nicht leisten, seine wertvolle Zeit mit dem ÖPNV zu verplempern.«

»Nicht einmal an einem Sonntag«, schließt der Reiser daran an, »nimmt er sich Zeit für einen kleinen Marsch und steigt sogar bei schönstem Wetter ins Auto, um die Frühstückssemmeln zu holen. Dabei hat er, auch wenn er im Südend wohnt, keine fünfhundert Meter zum Bäcker Andrä.« Der Reiser Markus schnippt ein paar Mal mit dem Mittelfinger der rechten Hand gegen den Kelch seines Weißbierglases und berichtet dann: »Wir begegnen uns am Sonntag immer wieder einmal, weil ich etwa um die gleiche Zeit mit meinem Hund Gassi gehe. Und stellt euch vor, Leute, ausgerechnet er hat mich einmal, als ich auf dem Rückweg an seiner Villa vorbeikam, aus dem Auto heraus in äußerst vorwurfsvollem Tonfall gefragt, wo ich denn die Plastiktüte mit der Hinterlassenschaft von meinem Köter hätte. Ich habe ihn daraufhin wissen lassen, dass ich schwer darauf achte, dass mein Hasso sein Geschäft nur im Gebüsch oder an Feldrändern erledigt. Aber da, Freunde, ist der Hans erst so richtig giftig geworden. Das Liegenlassen der Hundescheiße sei so oder so eine Sauerei, hat er gewettert, und eine nicht tolerierbare Umweltverschmutzung. Und dann, das war schließlich der Abschuss, hat er wie ein Irrer Gas gegeben und ist mit seinem Zweitonner in Richtung Bäcker gebrettert.«

Der Severin fährt sich auf diese Story hin mit beiden Händen übers Haar und sagt dann nachdenklich: »Wenn ich so etwas höre, Freunde, dann drängt sich mir der Gedanke auf, dass wir es mit einer neuen Form von Bewusstseinsspaltung zu tun haben. Und so sehen Leute wie der Reuß den ›schwarzen Peter‹ immer nur bei den anderen und sind, gerade was die Mobilität angeht, von einer regelrechten Lähmung befallen. Dabei spürt der moderne Mensch ja schon, dass nicht nur seine Mobilität, sondern sein insgesamt sehr aufwendiges Leben zu hinterfragen ist, aber nur die wenigsten setzen sich dieser für unser Überleben so eminent wichtigen Fragestellung ernsthaft und konsequent aus. – Und das ist letztlich nicht besonders verwunderlich«, befindet er nach einem Schluck vom frischen Pils noch, »weil die führenden politischen Kräfte nicht in der Lage sind, das Staatsschiff auf einen zukunftsfähigen Kurs zu bringen, beziehungsweise sich zu oft von starken Kräften in der Wirtschaft leiten lassen.«

Der Malermeister Fuchs lässt sich nach Severins Auslassungen in die Rückenlehne fallen und meint dann kritisch: »Alles schön und gut, Severin, aber g’rad das mit der Verhaltensänderung im Bereich der Mobilität ist oft gar nicht so einfach.« Und nach einem Schluck Weißbier lässt der ansonsten eher wortkarge Handwerker auch noch eine umfangreiche Anklage vom Stapel: »Also, Sevi, ich muss mir demnächst auf jeden Fall einen neuen Pkw und einen etwas größeren Transporter zulegen, und ich hatte selbstverständlich vor, dein Hinweis vorhin war also gar nicht notwendig, meine alten Kisten durch deutlich umweltfreundlichere Fahrzeuge zu ersetzen. Aber schau dich doch auf dem Fahrzeugmarkt nur einmal um, du eingefleischter Radlfahrer, die Entwicklung geht dort fast ohne Ausnahme in Richtung schneller, stärker und schwerer, aber so gut wie gar nicht in Richtung geringer Verbrauch. Die Hersteller denken doch derzeit überhaupt nicht daran, wirklich umweltfreundliche Fahrzeuge auf den Markt zu bringen. Die …«

Mit »Die Kundschaft ist daran schuld, Fuxi!« unterbricht ihn der Mederer rigoros und untermauert auch umgehend diese seine Ansicht: »Denn die Autobauer, Fuxi, bringen nur das auf den Markt, was nachgefragt wird. Und gefragt ist vor allem Geschwindigkeit, auch wenn bei dem Tempo, das die Autos heute entwickeln können, so mancher Fahrzeuglenker an seine Grenzen stößt, was mir nur allzu oft und immer grausiger vor Augen geführt wird. Weil also für die Autobauer nicht nur die Geschwindigkeit ein Thema sein kann, weil sie also auch die Sicherheit der Insassen im Auge behalten müssen, werden die Autos natürlich immer schwerer und somit auch von daher kaum sparsamer.«

Der Fuchs rumpelt hoch und fährt den Polizeihauptmeister heftig an: »Oiso, mei guada Medera, i hoab no nia an Wert auf a schnois Auto g’legt!« Er dreht sich daraufhin hektisch um und ruft in Richtung Schanktisch: »Saskia, i brauch jetzt an Obstla!«

Saskia, die in der Küche die Verstimmung des Malermeisters so halbwegs mitbekommen hatte, ruft besorgt zurück: »Otto, ich bring ihn dir gleich, ich muss nur noch ganz schnell zwei Salate fertig machen!«

Und der Heidrich sagt zu ihm in besänftigendem Tonfall: »Mann, Otto, dass du keinen Wert auf schnelle Autos legst, das wissen wir doch alle. – Ich übrigens auch nicht, und in meinem Bekanntenkreis wüsste ich eigentlich auch keinen, der schnelle Autos bevorzugt.« Er fährt nach dieser Stellungnahme mit der rechten Hand ein paar Mal an seinem Weißbierglas auf und ab und meint schließlich noch nachdenklich: »Irgendwie ist das Ganze schon verrückt und nicht leicht zu verstehen.«

»Das ist vor allem in einem Land nicht zu verstehen«, schließt der Reiser daran an, »in dem Geschwindigkeitsbegrenzungen die Straßen dicht bei dicht säumen und die Staumeldungen nicht mehr abreißen.«

Der Mederer schnappt sich den Packen Bierdeckel in der Tischmitte und meint: »Schnell und PS-stark bauen die deutschen Hersteller ihre Autos, um ihre Chancen im Exportgeschäft zu wahren … und natürlich auch für die hirnlosen Typen in unserem Land.« Er lässt daraufhin den Packen bis knapp unter die Decke des Bistros wirbeln, fängt ihn mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung nur eine Hand breit über der Tischplatte wieder auf und schubst ihn in die Tischmitte.

Nach diesem Kunststück, das er fasziniert beobachtet hatte, kommt der Heidrich auf den Kern des Mobilitätsthemas zurück: »Also, Leute, von einer Lähmung hat der Severin nicht ganz unberechtigt gesprochen, als er auf die Unfähigkeit weiter Bevölkerungskreise, ihr Mobilitätsverhalten zu überdenken und zu ändern, eingegangen ist. Und ich meine, diese Lähmung resultiert aus dem Umstand, dass man die moderne Lebenswelt recht unüberlegt vor allem auf die Verkehrsmittel Auto und Flugzeug gegründet hat, und heute nicht in der Lage ist, davon wegzukommen. Wir müssen aber, darin besteht für mich kein Zweifel, unser Leben gerade in diesem Punkt schnellstmöglich umgestalten, wenn wir uns nicht den Ast absägen wollen, auf dem wir sitzen.« Während er sich die Bierdeckel angelt und zu einem sauberen Packen zusammenstößt, schließt er daran an: »Das muss vermutlich nicht unvermeidlich auf Ottos Zweiradkarren hinauslaufen, denke ich, aber letztlich doch auf eine drastische Reduktion des Verkehrsaufkommens. Und so muss neben dem Hin und Her auf der regionalen Ebene, das wir heute schon kurz gestreift haben, auch die gigantische globale Zirkulation von Personen und Waren ganz erheblich zurückgefahren werden.«

Der Heidrich möchte noch zu einer Abschlussbemerkung ansetzen, aber da kommt Saskia mit dem Obstler für den Malermeister geradezu angeflogen, stellt ihn neben sein Weißbierglas und flachst: »So, Fuxi, da ist dein Beruhigungsmittel ja schon.« Sie zieht sich dann einen Stuhl heran, setzt sich zwischen ihn und den Markus und sagt ein wenig atemlos: »Du, Heidi, ich hätte da noch ein ganz anderes Thema.« Sie fährt sich noch mit beiden Händen über die Haare und beginnt dann mit ernster Miene: »Ihr ward doch gerade beim deutschen Exportgeschäft, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Mir geht nämlich, müsst ihr wissen, in der letzten Zeit immer wieder einmal durch den Kopf, wohin das wohl führen wird, wenn die Deutschen auch in Zukunft Jahr für Jahr hohe Exportüberschüsse erzielen, wenn sie also auf dem Weltmarkt deutlich mehr Euro und Dollar einnehmen, als sie dort ausgeben. Und so ein Ungleichgewicht, Heidi, kann doch nicht mehr allzu lange gut gehen, oder?«

Bevor der darauf antworten kann, legt der Reiser seinen Arm um Saskias Schultern, zieht sie an sich heran und meint übermütig: »Also Saskia, das darf doch nicht wahr sein, was du dir so alles durch deinen hübschen Kopf gehen lässt! Wie sollst du denn da zu einem Mann kommen, wenn du dich nicht nur um dein Bistro, sondern daneben auch noch um unsere Exportüberschüsse und die Weltwirtschaft kümmerst.«

»Mann, Markus, du ewiger Macho, du!«, faucht ihn da die junge Frau an und drückt ihn energisch von sich weg. Und nach einmal tief Luft holen schickt sie mit blitzenden Augen hinterher: »Und, mein Freund, die Zeiten, wo das Nachdenken vorrangig Männersache war, gehören Gott sei Dank schon eine ganze Weile der Vergangenheit an, capito?!«

»Bravo, Saskia, das hat der Markus echt verdient!«, applaudiert der Lehrer Heidrich begeistert. Und mit dem nächsten Atemzug baut er seine Beifallskundgebung auch noch aus, indem er augenzwinkernd hinzufügt: »Denn der Ladiescatcher glaubt ja heute noch daran, dass die Frauen recht einseitig und nur in seinem Sinne gepolt wären.«

Mit »Super, Heidi, das sitzt!« applaudiert nun der Severin dem Lehrer und versetzt ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen.

Den Reiser berührt diese Attackenserie offenbar nicht besonders, denn er blafft nach Severins Schuss nur den Lehrer eher zurückhaltend an: »Heidi, lass deine Sprüche und komm zur Sache, die Saskia hat dich schließlich etwas gefragt!«

»Okay, okay, Markus! – Also, Saskia, was deine Bedenken in Sachen deutsche Exportüberschüsse angeht, kann ich dir nur zustimmen. Denn alle Staaten, die über einen längeren Zeitraum eine negative Außenhandelsbilanz nicht vermeiden können oder ganz bewusst hinnehmen, weil zum Beispiel alleine der Zukauf von Rohstoffen und Energieträgern ihr Außenhandelsbudget weitgehend erschöpft, häufen spätestens dann einen immer größeren Schuldenberg an, wenn sie auch Einrichtungen für ihre Infrastruktur im Ausland kaufen, Bauaufträge an ausländische Firmen vergeben oder, was leider nur allzu oft vorkommt, ihr Militär mit Waffen aus dem Ausland ausrüsten. Und so drückt der wachsende Schuldenberg ihr Staatsschiff immer weiter unter die Wasserlinie, bis es früher oder später wie die Titanic untergeht.«

»Und dann sind auch wir Deutschen die Dummen«, meint Saskia nach kurzem Überlegen noch ein wenig zögerlich. Sie fährt sich wieder übers Haar, schaut auch noch kurz nach links und rechts und stellt dann doch recht sicher fest: »Wir sind die Dummen, weil unter anderem unsere Banken die Geschäftemacherei mit den exportschwachen Ländern zu lange gestützt, und damit in einer konzertierten Aktion mit den großen Kapitaleignern und, was weiß ich, mit wem sonst noch, deren Leben auf Schuldenbasis erst ermöglicht haben. Liege ich damit wenigstens so halbwegs richtig, Heidi?«

Der Reiser, den Saskias Nähe geradezu herausfordert, kann sich erneut nicht zurückhalten und meint anzüglich: »Ach Saskia, wie kannst du nur so fragen, du liegst doch immer richtig.«

Saskia revanchiert sich diesmal kommentarlos mit einem harten Ellenbogenstoß auf seine Rippen und wiederholt dann: »Also, Heidi, wie siehst du diesen Punkt im Bereich unserer Außenhandelsbeziehungen?«

»Ich sehe das genauso, Saskia. Um die großen Kapitaleigner, die gerade in den letzten beiden Jahrzehnten viel Geld zu Lasten der Mehrheit gescheffelt haben, mache ich mir im Falle eines Staatsbankrotts auf Seiten der Schuldenländer allerdings zuallerletzt Sorgen, obzwar deren Verluste letztlich auch für uns kein Grund zum Jubeln sind, weil damit Geld verloren ist, das weiten Teilen der Bevölkerung vorenthalten wurde. Aber die Geldmittel, die unsere Banken, nicht zuletzt auch die Bundesbank verlieren, können sich durchaus zu einem Schadensereignis entwickeln, das viele von uns direkt oder indirekt trifft. Übrigens, die fast schon verzweifelten Versuche, den Euro zu retten, verschärfen diese Situation letztlich ganz erheblich, weil die EZB diverse Schuldenstaaten unermüdlich stützt und damit das Dilemma am Leben erhält. Es wird also in Europa ein Wirtschaften auf Schuldenbasis am Leben erhalten, das früher oder später eigentlich nur zusammenbrechen kann, und aus dem nur ganz wenige als Gewinner hervorgehen werden, nämlich diejenigen, die ihre Erträge aus dem über Finanzspritzen auf einem hohen Pegel gehaltenen Wirtschaftsleben in Sach- und Bodenwerte gesteckt haben.«

»Leute«, hakt nun der Severin ungeduldig ein, »vielleicht darf ich auf den schon traditionellen und in aller Regel recht hohen Überschuss in unserer Außenhandelsbilanz zurückkommen und darauf hinweisen, dass dessen negative Wirkungen und Folgeerscheinungen nur die eine Seite der Medaille sind. Auf deren Rückseite bildet sich nämlich immer deutlicher ab, und das macht mich inzwischen echt wütend, worauf sich unser Übergewicht auf dem Weltmarkt stützt. Es erwächst doch vor allem aus den konkurrenzlos niedrigen Stückkosten, mit welchen die deutschen Unternehmen auf vielen gewichtigen Feldern des Weltmarktes antreten können. Und die niedrigen Stückkosten kommen zu Stande, weil die deutschen Belegschaften – die übrigens in ganz entscheidendem Maße dafür sorgen, dass unser Land auch die Spitzenposition bei der Produktivität einnimmt – seit langem mit relativ bescheiden Löhnen und Gehältern abgespeist werden. Der deutsche Vorteil auf dem Weltmarkt, der den anderen Nationen in mehrfacher Hinsicht zum Schaden gereicht und uns zunehmend in ein Licht rückt, das wir nicht zuletzt wegen unserer jüngeren Geschichte unbedingt vermeiden sollten, der sich darüber hinaus auch im Inland zu einem zweischneidigen Schwert entwickelt, wird also zu Lasten der Mehrheit erkämpft.«

»Und das, Freunde, spüre ich schon eine ganze Zeit lang«, fügt Saskia mit ein wenig Bitterkeit in der Stimme hinzu. Sie steht auf, holt sich ihren gespritzten Apfelsaft vom Schanktisch und berichtet dann mit rauer Stimme: »Also, ich bin ja bisher mit einem blauen Auge davon gekommen, aber in weiten Teilen des Gastgewerbes herrscht mittlerweile fast schon eine Weltuntergangsstimmung. Die Anzahl der Betriebe hat sich in den letzten Jahren fast halbiert, und trotzdem sind die Umsätze bei denjenigen die durchhalten konnten im Durchschnitt um etwa fünfundzwanzig Prozent zurückgegangen. Die kleinen Leute müssen ihren Gürtel ganz offensichtlich immer enger schnallen, wogegen auf der anderen Seite die Bars für die Hautevolee, die Szenelokale und die Spitzenrestaurants immer mehr Zuspruch finden.«

»Und ein Fünfsternehotel nach dem anderen wächst aus dem Boden«, schließt der Mederer grimmig daran an und lässt die Bierdeckel wieder wirbeln. Während er sie auffängt, erklärt er: »Leute, ich weiß das aus erster Hand, weil meine Schwester in einem großen Architekturbüro in München arbeitet.« Er stößt die Bierdeckel, die diesmal nicht als geschlossenes Paket in seiner Hand gelandet waren, noch zu einem ordentlichen Packen zusammen, knallt den dann auf den Tisch und schimpft: »Ja, es ist echt eine Sauerei, was da zur Zeit abläuft!« Und nach einem kräftigen Schluck Weißbier sinniert er auch noch laut vor sich hin: »Und wenn ich mir durch den Kopf gehen lasse, was ihr zwei«, er richtet seinen Blick auf den Severin und den Heidrich, »vorhin gesagt habt, dann wird mir erst jetzt so richtig bewusst, dass wir Deutschen in erheblichem Maße auch dafür buckeln, dass unsere exportorientierten Unternehmen an vorderster Front stehen und einige wenige dabei den großen Reibach machen können.«

»Beim Handel mit Ländern«, spinnt der Reiser den Faden aufgebracht weiter, »die auf Schuldenbasis einkaufen, irgendwann nicht mehr zahlungsfähig sind, und dann womöglich via Schuldenschnitt gerettet werden. Und für diese Rettungen, fürchte auch ich, werden wir, so wie wir sechs hier sitzen, ebenfalls bluten. Wir sind also am Ende gleich zweimal die Dummen: Wir werden kurz gehalten und müssen dann auch noch für diverse Rettungen herhalten.« Der Fahrradhändler lehnt sich nach dieser trüben Betrachtung weit zurück, verschränkt die Arme im Nacken und mutmaßt nach einer Weile: »Ja, Leute, und so könnte das Auslandsgeschäft doch auch der Grund dafür sein, dass gewisse Kreise von einem florierenden Inlandsmarkt wenig halten. Aber klar, Leute!«, stößt er mit dem nächsten Atemzug heraus, ruckt wie von einer Tarantel gestochen hoch, lässt die Arme auf den Tisch fallen und bringt dann seinen Gedankengang zu Ende: »Aber klar, Leute, eine starke Inlandsnachfrage setzt natürlich die entsprechende Kaufkraft, also höhere Masseneinkommen voraus, und die gingen, das ist genauso klar, zu Lasten der Exportquote.« Nach einmal tief Luft holen versetzt er dem Mederer mit dem Ellenbogen einen kumpelhaften Stoß in die Rippen und knurrt: »Mensch, Carsten, jetzt haben wir doch glatt die nächste zum Himmel stinkende Sauerei aufgedeckt!« Wie erschlagen lässt er sich in die Stuhllehne fallen, rumpelt aber gleich wieder hoch und meint sarkastisch: »Freunde, das müssen wir feiern!« Und von der einen Sekunde auf die andere wieder bestens gelaunt, legt er seinen Arm um Saskias Schultern und flötet: »Du letzter Engel in dieser grauen Welt, mute ich dir zu viel zu, wenn ich dich zu so später Stunde und nach so schwerwiegenden Erkenntnissen darum bitte, uns eine Runde Obstler einzuschenken?«

»Absolut nicht, du Charmeur und Schlawiner in einer Person! Aber dem Otto möchte ich eigentlich keinen mehr bringen, weil er sich sonst garantiert Punkte in Flensburg holt. Denn heute, Markus, fährt der Hornsteiner Streife, und der hat eine Nase und einen Blick für alkoholisierte Autofahrer wie kein zweiter.«

»Recht hoast, Saskia! Und i moag a koan mehr, weil ma des, woas da groad gredt woarn is, schwar im Moagn liegt.« Nach einem tiefen Seufzer wechselt der Fuchs wieder ins Schriftdeutsche und gesteht: »Ich habe mir nämlich bis heute nicht so recht erklären können, warum sich die Deutschen etwa seit den 90er-Jahren zunehmend weniger leisten können. Dass unsere Exportgeschäfte daran schuld sein könnten, darauf wäre ich von selbst ja nie gekommen. Aber ihr habt bestimmt Recht, fürchte ich.« Nach einem neuerlichen Seufzer fährt er mit der flachen Hand missmutig über die Tischplatte und grollt: »Ja, Freunde, die schmalen Geldbeutel der Masse treffen aber nicht nur das Gastgewerbe, sondern auch das Malerhandwerk. Denn landauf, landab greifen die Leute immer häufiger selbst zum Pinsel und zur Walze, und größere Renovierungsarbeiten werden nicht selten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufgeschoben.«

Der Lehrer Heidrich setzt sich auf, fasst mit hartem Griff sein Weißbierglas am Fuß und sagt dann ernst: »Du, Otto, das kommt aber nicht nur von unserer überzogenen Fixierung auf das Exportgeschäft, die …« Er bricht ab, und alle am Tisch spüren, dass es ihm Mühe bereitet, nicht die Fassung zu verlieren. Der Ausdauersportler Heidrich hat sich aber gleich wieder im Griff und nimmt seinen Kommentar halbwegs kühl und gelassen wieder auf: »Also, Otto, die schmalen Geldbeutel der Masse erwachsen auch aus der veränderten wirtschaftlichen Landschaft und den damit einhergehenden Verschiebungen bei den Einkommen.« Nach einem kurzen Blick in die Runde schließt er mit Nachdruck daran an: »Ja, Leute, die zunehmende Schlechterstellung der Masse erwächst vor allem aus dem Tatbestand, dass nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion und der dort überwiegend vom Kommunismus geprägten Gesellschaftsordnung, die Parteigänger des Gegenmodels ungehemmt dazu übergehen konnten, den Lauf der Dinge nach ihrem Gutdünken und ihrer Ideologie zu gestalten. Und das hat während der beiden letzten Jahrzehnte unter anderem bewirkt, dass in der Wirtschaft das kapitalistische Element aufblühen konnte, wie es wohl die wenigsten für möglich gehalten haben. Die …«

»Nach Ansicht meines Vaters«, fährt ihm Saskia aufgeregt in die Rede, »haben diese sauberen Herrschaften nach dem sehnsüchtig erwarteten Zerfall der Sowjetunion – der Papa belegt seine diesbezüglichen Gedankengänge unter anderem mit Ronald Reagans Kampfansage ›Wir werden die Sowjetunion zu Tode rüsten‹ – unverzüglich ein Strategiepapier, das sie für die Zeit nach dem Sieg über den Kommunismus entwickelt hatten, aus ihren Schreibtischen geholt und skrupellos umgesetzt. Und wenn ich mich heute in der Welt umschaue«, fügt sie nach kurzem Atemholen hinzu, »dann kann ich nichts anderes feststellen, als dass sie dabei zu weit gegangen sind, und ich kann mich nur wundern, warum die Volksmassen diesen Kurs kampflos hingenommen haben.« Die junge Frau schluckt einmal hektisch und fährt dann mit heiserer Stimme fort: »Ja, Leute, und dann denke ich manchmal auch, und das macht mir echt Angst, dass es den Protagonisten der kapitalistisch geprägten Weltordnung vielleicht schon so ergeht wie dem Zauberlehrling bei Goethe, dass sie also den Prozess, den sie nach dem Fall der Mauer blindwütig in Gang gesetzt haben, inzwischen nicht mehr kontrollieren können und die Welt nun auf einen Super-GAU zutreibt.« Saskia nimmt nach diesem zunehmend leidenschaftlich geführten Statement mit zitternder Hand einen Schluck Apfelsaft zu sich und lässt sich dann erschöpft in die Stuhllehne fallen.

Der Polizist Mederer, der ihr zuletzt mit offenem Mund zugehört hatte, meint nach einer Weile baff: »Herrgott, Saskia, war das eine Kanonade! Also wirklich, Saskia, genau wie der Markus kann auch ich nur staunen, was dir so alles durch den Kopf geht.«

Und der Reiser, während er eine Nadel tiefer in den Haarknoten drückt, befindet ausnahmsweise ganz ernsthaft: »Vielleicht lag der Reuß vorhin gar nicht so verkehrt, Saskia, du hättest möglicherweise tatsächlich das Zeug für das Amt einer Generalsekretärin. Du, eine Generalsekretärin – nach deinem engagierten Statement kann ich mir das durchaus vorstellen –, die mit Herzblut und Verstand den Schieflagen im Lande zu Leibe rückt.«

»Recht hat er, der Markus!« Der Malermeister unterbindet mit dieser energisch geäußerten Zustimmung Saskias Versuch, den Reiser umgehend vom Hochseil herunterzuholen. Und ganz ernsthaft meint er gleich darauf auch noch: »Und für mich, Saskia, wärst du auch eine bessere Kanzlerin als die Merkel. Denn unser Oberhaupt ist doch inzwischen viel zu sehr damit beschäftigt, ihren disziplinlosen Haufen im Zaum zu halten, sie ist außerdem zu oberschichten- und wirtschaftshörig geworden, und so gehen von ihr auch keine Impulse mehr aus, die ich unterschreiben könnte.«

Saskia legt nach diesen wilden Spekulationen ihre Arme um den Fuchs und den Reiser, drückt die beiden herzlich an sich und sagt lachend: »Ach Männer, ihr stürzt euch heute von einer verrückten Idee in die andere!« Sie lässt die beiden wieder los und meint dann: »Ich könnte vielleicht einen größeren Betrieb in der Gastronomie managen, aber für den Posten einer Generalsekretärin oder gar für das Amt einer Kanzlerin fühle mich weder befähigt noch berufen.«

Der Severin, der die letzten Wortwechsel amüsiert verfolgt hatte, lehnt sich in seinem Stuhl weit zurück, trommelt mit den Fingern der rechten Hand eine Weile auf dem Tisch herum und meint schließlich: »Okay, Saskia, für diese Aufgaben bringst du vermutlich nicht in ausreichendem Maße Härte und Skrupellosigkeit mit, ohne die man im politischen Betrieb offenbar nicht bestehen kann. Und so geraten leider auf der politischen Bühne Herzblut und Verstand immer weiter ins Hintertreffen, obwohl gerade diese beiden Elemente einen Spitzenpolitiker antreiben sollten. Denn nur dann, das meine ich wenigstens, ist er auch in der Lage Impulse auszulösen, die unser Otto und die Mehrheit im Lande unterschreiben können.«

»Das sehe ich genauso, Sevi.« Der Heidrich fährt nach diesem Schulterschluss mit der rechten Hand wieder an seinem Weißbierglas auf und ab und meint schließlich noch: »Und so bleiben wir unvermeidlich an der Frage hängen, warum diese Elemente derzeit so wenig zum Tragen kommen, obwohl sie, da bin ich mir ganz sicher, bei vielen Politikern durchaus angelegt sind.«

»Weil sie Marionetten woarn san, Heidi!«, knurrt der Malermeister. Und nach einem schweren Seufzer schließt er verdrossen daran an: »I kriag zwar ned vui mit, weil i schwar in mein Gschäft drin heng, aba des is a für mi ned zum übersegn, dass in unsam Land scho a ganze Zeit lang ’s Großkapital den Ton ogibt.«

»Otto, ich fürchte, da kann man dir nicht widersprechen. Denn anders …« Der Heidrich greift sich wieder den Bierdeckelstoß, spielt eine Weile damit herum, rollt ihn dann mit einer missmutigen Bewegung zum Mederer hinüber und beginnt von neuem: »Denn anders sind viele Entwicklungen bei uns und in weiten Teilen der Welt nicht zu erklären. Was mich dabei besonders erbittert, Leute, ist der Umstand, dass man gegen diese unheimliche Klammer, die aus dem Hintergrund heraus operiert, deren einzelne Glieder auch nicht auszumachen sind, nicht angehen kann. Ich überlege schon seit langem, wie man diesen Machtapparat, der der Politik einen zunehmend engeren Rahmen setzt, der unsere Demokratie nach Gutdünken aushebelt und unser aller Leben in immer größerem Ausmaß beeinflusst, ohne Gewaltanwendung aus der Welt schaffen könnte. Denn Gewalt …«