Inhaltsverzeichnis
DAS BUCH
DER AUTOR
Widmung
Prolog
ERSTER TEIL – Metzgerfüllsel
ERSTES KAPITEL – People berichtet
1
2
ZWEITES KAPITEL – Haushaltsauflösung
1
2
3
DRITTES KAPITEL – Friedhofs-Blues
1
2
VIERTES KAPITEL – Tod in einer kleinen Stadt
1
2
3
FÜNFTES KAPITEL – 96529 Q
SECHSTES KAPITEL – Tod in einer großen Stadt
SIEBENTES KAPITEL – Polizeiangelegenheiten
1
2
3
4
5
ACHTES KAPITEL – Pangborn kommt zu Besuch
1
2
3
4
5
NEUNTES KAPITEL – Die Invasion des Kriechozoiden
1
2
3
4
ZEHNTES KAPITEL – Später am gleichen Abend
1
2
3
4
ELFTES KAPITEL – Endsville
1
2
3
ZWÖLFTES KAPITEL – Miriam
DREIZEHNTES KAPITEL – Panik
1
2
3
4
5
6
VIERZEHNTES KAPITEL – Metzgerfüllsel
1
2
4
5
6
7
8
ZWEITER TEIL – Stark wird aktiv
FÜNFZEHNTES KAPITEL – Ungläubigkeit
1
2
3
SECHZEHNTES KAPITEL – Stark ruft an
1
2
3
4
5
6
7
SIEBZEHNTES KAPITEL – Wendy fällt
1
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3
ACHTZEHNTES KAPITEL – Automatisches Schreiben
1
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3
NEUNZEHNTES KAPITEL – Stark kauft ein
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4
5
6
ZWANZIGSTES KAPITEL – Die Frist ist abgelaufen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL – Stark wird aktiv
1
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3
4
6
7
8
9
10
DRITTER TEIL – Die Sperlinge fliegen
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL – Thad auf der Flucht
1
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3
4
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL – Zwei Anrufe für Pangborn
1
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VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL – Die Sperlinge kommen
1
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9
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL – Steel Machine
1
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SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL – Die Sperlinge fliegen
1
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8
9
10
11
Epilog
Der Autor
Die Bücher
Copyright
DAS BUCH
Thad Beaumont ist Schriftsteller. Seine ersten beiden Romane werden zwar von der Kritik gepriesen, sind aber unverkäuflich. Da beginnt er, unter dem Pseudonym George Stark Horrorromane zu verfassen. Die Bücher erobern die Bestsellerlisten, und Stark selbst wird dank Beaumonts Ideenreichtum eine fast eigenständige Persönlichkeit. Nach mehr als einem Jahrzehnt beschließt der Autor jedoch, das Pseudonym abzulegen, um wieder seine eigenen Bücher zu schreiben. Aber die schriftstellerische Idylle währt nicht lange... Ein Roman aus dem »Castle Rock«-Zyklus.
»Außerordentlich beängstigend... einer der besten Horrorromane aus dem umfangreichen Werk von Stephen King« Publishers Weekly
DER AUTOR
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk.
Im Anhang an den Roman findet sich ein ausführliches Werkverzeichnis des Autors.
Dieses Buch ist Shirley Sonderegger, die mir hilft, mich um meinen Job zu kümmern, und ihrem Mann Pete zugeeignet
Vorbemerkung des Verfassers
Für seine Mithilfe und Anregung bin ich dem verstorbenen Richard Bachman Dank schuldig. Ohne ihn hätte dieser Roman nicht geschrieben werden können.
S. K.
Prolog
»Schneide ihn«, sagte Machine. »Schneide ihn, solange ich hier stehe und zusehe. Ich will Blut fließen sehen. Laß es nicht dazu kommen, daß ich es zweimal sagen muß.«
Machine’s WayVON GEORGE STARK
Das Leben der Menschen – ihr wirkliches Leben im Gegensatz zu ihrer simplen physischen Existenz – beginnt zu unterschiedlichen Zeiten. Das wirkliche Leben von Thad Beaumont, einem Jungen, der in Bergenfield, New Jersey, geboren wurde und dort aufgewachsen war, begann im Jahre 1960. In diesem Jahr widerfuhren ihm zwei Dinge. Das erste formte sein Leben; das zweite hätte es beinahe beendet. 1960 war Thad Beaumont elf Jahre alt.
Im Januar nahm er mit einer Kurzgeschichte an einem von der Zeitschrift American Teen ausgeschriebenen Wettbewerb teil. Im Juni erhielt er einen Brief vom Chefredakteur der Zeitschrift, in dem es hieß, ihm sei in der Kategorie Belletristik des Wettbewerbs eine Ehrenvolle Erwähnung zuteil geworden. Weiterhin hieß es in dem Brief, die Juroren hätten ihm den zweiten Preis zuerkannt, wenn aus seinem Begleitschreiben nicht hervorgegangen wäre, daß er zwei Jahre zu jung war, um tatsächlich ein »American Teen« zu sein. Dennoch sei seine Kurzgeschichte »Outside Marty’s House« ein außerordentlich reifes Werk, zu dem man ihm gratulieren müsse.
Zwei Wochen später traf eine Urkunde von American Teen ein. Per Einschreiben. Auf der Urkunde stand sein Name in Buchstaben, die so verschnörkelt waren, daß er sie kaum lesen konnte: am unteren Ende befand sich ein goldenes Siegel mit dem eingeprägten Symbol von American Teen - den Silhouetten eines kurzhaarigen Jungen und eines Mädchens mit Pferdeschwanz, die Jitterbug tanzten.
Seine Mutter nahm Thad, einen stillen, ernsten Jungen, der anscheinend nie etwas in der Hand behalten konnte und oft über die eigenen Füße stolperte, in die Arme und erstickte ihn beinahe mit Küssen.
Sein Vater war unbeeindruckt.
»Wenn die Geschichte tatsächlich so gut war, warum haben sie ihm dann nicht ein bißchen Geld gegeben?« knurrte er aus der Tiefe seines Sessels heraus.
»Glen...«
»Aber lassen wir das. Vielleicht kann mir unser Ernest Hemingway ein Bier holen, wenn du damit fertig bist, ihn abzuknutschen.«
Seine Mutter sagte nichts weiter – aber sie ließ den Brief und die Urkunde rahmen, bezahlte dafür mit ihrem Taschengeld, und hängte sie in seinem Zimmer über dem Bett auf. Wenn Verwandte oder andere Besucher kamen, führte sie sie hinauf und zeigte sie ihnen. Thad, erklärte sie ihren Gästen, würde einmal ein großer Schriftsteller werden. Sie hatte immer gespürt, daß er zu Großem bestimmt war, und hier war der erste Beweis dafür. Das machte Thad verlegen, aber er liebte seine Mutter zu sehr, um es ihr zu sagen.
Doch ungeachtet seiner Verlegenheit kam Thad zu dem Schluß, daß seine Mutter zumindest teilweise recht hatte. Er wußte nicht, ober so begabt war, daß er ein großer Schriftsteller werden konnte, aber Schriftsteller würde er auf jeden Fall werden. Schließlich konnte er schreiben. Und was noch wichtiger war – er hatte Spaß daran, zumal, wenn sich die richtigen Worte einstellten. Und man würde ihm nicht immer aus einem formalen Grund sein Geld vorenthalten können. Er würde nicht ewig elf Jahre alt sein.
Die zweite wichtige Sache, die ihm 1960 widerfuhr, begann im August. Das war die Zeit, in der seine Kopfschmerzen anfingen. Anfangs waren sie nicht schlimm, aber als Anfang September die Schule wieder losging, hatten sich die leisen, lauernden Schmerzen in seinen Schläfen und hinter seiner Stirn zu einem monströsen Marathon von Qualen weiterentwickelt. Wenn ihn diese Kopfschmerzen überfielen, konnte er nichts tun, als in seinem abgedunkelten Zimmer zu liegen und darauf zu warten, daß er sterben würde. Ende September hoffte er, daß er sterben würde. Und Mitte Oktober waren die Schmerzen so unerträglich geworden, daß er Angst davor hatte, am Leben zu bleiben.
Das Herannahen der entsetzlichen Kopfschmerzen kündigte sich gewöhnlich durch ein Phantomgeräusch an, das nur er hören konnte – es klang wie das ferne Tschilpen von Tausenden kleiner Vögel. Manchmal bildete er sich ein, diese Vögel, vermutlich Sperlinge, sehen zu können; sie hockten, wie sie es im Frühjahr und im Herbst oft taten, auf Telefonleitungen und Dachfirsten.
Seine Mutter brachte ihn zu Dr. Seward.
Dr. Seward untersuchte seine Augen mit einem Ophthalmoskop und schüttelte den Kopf. Dann zog er die Vorhänge zu, schaltete die Deckenbeleuchtung aus und forderte Thad auf, den Blick auf eine weiße Wandfläche im Sprechzimmer zu richten. Er nahm eine Taschenlampe und ließ in rascher Folge helle Lichtkreise aufleuchten und wieder verlöschen.
»Bewirkt das, daß dir irgendwie komisch zumute ist, Junge?«
Thad schüttelte den Kopf.
»Dir wird nicht schwindlig? Als ob du ohnmächtig werden würdest?«
Thad schüttelte abermals den Kopf.
»Riechst du etwas? Faules Obst zum Beispiel oder brennende Lumpen?«
»Nein.«
»Was ist mit deinen Vögeln? Hast du sie gehört, während du das Licht beobachtet hast?«
»Nein«, sagte Thad ratlos.
»Es sind die Nerven«, sagte sein Vater später, nachdem Thad ins Wartezimmer geschickt worden war. »Der Junge ist das reinste Nervenbündel.«
»Ich nehme an, es ist Migräne«, teilte Dr. Seward ihnen mit. »Ungewöhnlich bei einem so jungen Menschen, aber es hat schon solche Fälle gegeben. Und ich habe den Eindruck, daß er – sehr empfindsam ist.«
»Das ist er«, sagte Shayla Beaumont nicht ohne eine gewisse Genugtuung.
»Vielleicht kann man eines Tages etwas dagegen tun. Aber ich fürchte, fürs erste wird er es durchstehen müssen.«
»Ja«, sagte Glen Beaumont, »und wir auch.«
Aber es waren nicht die Nerven, und es war keine Migräne, und er konnte es nicht durchstehen.
Vier Tage vor Halloween hörte Shayla Beaumont, wie eines der Kinder, die zusammen mit Thad auf den Schulbus warteten, plötzlich aufschrie. Sie schaute aus dem Küchenfenster und sah ihren Sohn in Krämpfen auf dem Gehsteig liegen. Neben ihm lag seine Frühstücksdose; ihr Inhalt aus Obst und Sandwiches war auf den Asphalt der Straße geflogen. Sie rannte hinaus, scheuchte die anderen Kinder beiseite und stand dann hilflos da und wagte nicht, ihn anzurühren.
Wenn der große gelbe Bus mit Mr. Reed am Steuer nur etwas später gekommen wäre, wäre Thad möglicherweise auf dem Gehsteig gestorben. Aber Mr. Reed war in Korea Sanitäter gewesen. Er schaffte es, den Kopf des Jungen zurückzubiegen und ihm Luft zu verschaffen, bevor er an seiner eigenen Zunge erstickte. Thad wurde mit einem Krankenwagen ins Bergenfield County Hospital gefahren, und als er in die Notaufnahme gebracht wurde, hielt sich dort zufällig ein Arzt namens Hugh Pritchard auf, um mit einem Freund eine Tasse Kaffee zu trinken und Golflügen auszutauschen. Und außerdem war Hugh Pritchard zufällig der beste Neurologe im Staat New Jersey.
Pritchard ließ Röntgenaufnahmen machen und betrachtete sie eingehend. Er zeigte sie den Eltern und forderte sie auf, ihre Aufmerksamkeit auf einen undeutlichen Schatten zu richten, den er mit einem gelben Wachsstift eingekreist hatte.
»Das hier«, sagte er. »Was ist das?«
»Woher zum Teufel sollen wir das wissen?« fragte Glen Beaumont. »Schließlich sind Sie der Arzt.«
»So ist es«, sagte Pritchard trocken.
»Meine Frau sagt, es hätte ausgesehen wie ein epileptischer Anfall«, sagte Glen.
Dr. Pritchard sagte: »Es war ein Anfall, ja, aber ich bin ziemlich sicher, daß es sich nicht um Epilepsie handelt. Bei einem so schweren Anfall denkt man natürlich immer zuerst an Epilepsie, aber auf den Litton-Lichttest hat Thad überhaupt nicht reagiert. Wenn Thad tatsächlich Epilepsie hätte, würden Sie keinen Arzt brauchen, der Sie darauf hinweist. Er würde sich jedesmal, wenn das Bild auf dem Fernsehschirm flackert, in Krämpfen auf dem Wohnzimmerteppich winden.«
»Aber was ist es dann?« fragte Shayla Beaumont schüchtern.
Pritchard wendete sich wieder den im Lichtkasten aufgehängten Röntgenaufnahmen zu. »Was ist das?« wiederholte er und tippte abermals auf die eingekreiste Stelle. »Das plötzliche Aufkommen der Kopfschmerzen in Verbindung mit dem völligen Fehlen früherer Krampfanfälle deutet darauf hin, daß Ihr Sohn einen Gehirntumor hat, wahrscheinlich noch klein und hoffentlich gutartig.«
Glen Beaumont starrte den Arzt wie versteinert an, während seine Frau neben ihm stand und in ihr Taschentuch weinte. Sie weinte lautlos, und dieses lautlose Weinen war ein Ergebnis vieler Jahre ehelicher Erziehung. Glens Fäuste waren schnell und schmerzhaft, auch wenn sie fast nie Spuren hinterließen, und nach zwölf Jahren lautlosen Kummers hätte sie vermutlich gar nicht laut weinen können, selbst wenn sie es gewollt hätte.
»Bedeutet das, daß Sie ihm das Gehirn aufschneiden müssen?« fragte Glen mit dem für ihn typischen Mangel an Takt und Feingefühl.
»Ganz so würde ich es nicht ausdrücken, Mr. Beaumont, aber eine Untersuchungsoperation ist erforderlich.« Und er dachte: Wenn es wirklich einen Gott gibt, und wenn er uns wirklich nach Seinem Bilde geschaffen hat, dann möchte ich wissen, warum es so verdammt viele Männer gibt wie diesen hier, die herumlaufen und das Schicksal so vieler anderer in ihren Händen halten.
Glen schwieg eine ganze Weile mit gesenktem Kopf und gerunzelter Stirn. Endlich hob er den Kopf und stellte die Frage, die ihm am meisten zu schaffen machte.
»Sagen Sie mir die Wahrheit – was wird das alles kosten?«
Die Schwester, die bei der Operation assistierte, sah es zuerst.
Ihr Aufschrei war schrill und zerriß die Stille des Operationssaals, in dem in den letzten fünfzehn Minuten die einzigen Laute die gemurmelten Anweisungen Dr. Pritchards gewesen waren, das Zischen der Kontrollapparaturen und das kurze, hohe Heulen der Neglisäge.
Sie taumelte zurück, prallte gegen einen Wagen, auf dem fast zwei Dutzend Instrumente säuberlich bereitgelegt worden waren, und kippte ihn um. Er landete mit nachhallendem Scheppern auf dem gekachelten Boden; dem Scheppern folgte eine Reihe leiserer, klirrender Geräusche.
»Hilary!« schrie die Oberschwester. Ihre Stimme verriet Entsetzen und Überraschung. Sie vergaß sich so sehr, daß sie tatsächlich einen halben Schritt in Richtung der Schwester tat, die mit wehendem grünem Kittel die Flucht ergriffen hatte.
Dr. Albertson, der bei der Operation assistierte, versetzte ihr einen Tritt gegen das Schienbein. »Vergessen Sie nicht, wo Sie sich befinden.«
»Ja, Doktor.« Sie drehte sich sofort wieder um und warf nicht einmal einen Blick auf die Tür, durch die Hilary, noch immer kreischend, von der Bühne abging.
»Stecken Sie das Zeug in den Sterilisator«, sagte Albertson. »Und zwar sofort. Dalli, dalli.«
»Ja, Doktor.«
Sie machte sich daran, die Instrumente aufzusammeln, schwer atmend, offensichtlich nervös, aber trotzdem beherrscht.
Dr. Pritchard schien das alles nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Er blickte hingerissen in das Fenster, das er in Thad Beaumonts Schädel geöffnet hatte.
»Unglaublich«, murmelte er. »Einfach unglaublich. Das ist ein Fall für die Literatur. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sähe...
Das Zischen des Sterilisators schien ihn aufzuwecken, und er wendete sich an Dr. Albertson.
»Wir müssen absaugen«, sagte er scharf. Er warf einen Blick auf die Oberschwester. »Und was zum Teufel machen Sie da? Lösen Sie Kreuzworträtsel? Setzen Sie Ihren müden Arsch in Bewegung!«
Sie kam und brachte die Instrumente in einer frischen Schale mit.
»Ich brauche die Pumpe, Lester«, sagte Pritchard zu Albertson. »Wir müssen absaugen. Und dann werde ich Ihnen etwas zeigen, was Sie – außer vielleicht in einem Raritätenkabinett – noch nie gesehen haben.«
Albertson rollte die Saugpumpe heran, ohne Rücksicht auf die Oberschwester, die beiseite sprang, die Schale mit den Instrumenten aber trotzdem nicht fallen ließ.
Pritchard wendete sich an den Anästhesisten: »Wie ist der Blutdruck? Ein guter Blutdruck ist alles, was ich verlange.«
»Eins-null-fünf über achtundsechzig, Doktor. Stabil wie ein Felsen.«
»Seine Mutter hat gesagt, wir hätten den nächsten William Shakespeare hier auf dem Tisch, also sorgen Sie dafür, daß es so bleibt. Saugen Sie, Al – Sie sollen ihn mit dem verdammten Ding nicht nur kitzeln.«
Albertson saugte, beseitigte das Blut. Im Hintergrund piepte stetig, monoton, beruhigend die Überwachungsmaschinerie. Dann hielt er plötzlich den Atem an. Ihm war, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt.
»Großer Gott. Großer Gott.« Er fuhr kurz zurück – dann beugte er sich vor. Seine Augen über der Maske und hinter den horngefaßten Brillengläsern waren vor Neugier und Faszination geweitet. »Was ist das?«
»Ich nehme an, Sie sehen, was es ist«, sagte Pritchard. »Man braucht ein paar Sekunden, um sich daran zu gewöhnen. Ich habe darüber gelesen, aber nie erwartet, dergleichen je zu Gesicht zu bekommen.«
Thad Beaumonts Gehirn hatte die gleiche Farbe wie der äußere Rand einer Schneckenmuschel – mittelgrau mit einem ganz leichten Anflug von Rosa.
Aus der glatten Oberfläche der Dura ragte ein einzelnes, blindes und mißgebildetes Auge heraus. Das Gehirn pulsierte leicht. Das Auge pulsierte mit ihm. Es sah aus, als versuchte es, ihnen zuzublinzeln. Dieses Blinzeln war es gewesen, das die assistierende Schwester zu ihrer Flucht aus dem OP veranlaßt hatte.
»Großer Gott, was ist das?« fragte Albertson noch einmal. »Es ist nichts«, sagte Pritchard. »Früher einmal war es vielleicht ein Teil eines lebenden, atmenden Menschenwesens. Jetzt ist es nichts. Außer einem Problem. Und zwar einem Problem, mit dem wir fertig werden.«
Dr. Loring, der Anästhesist, sagte: »Darf ich auch einen Blick darauf werfen, Dr. Pritchard?«
»Ist er immer noch stabil?«
»Ja.«
»Dann kommen Sie. Das ist etwas, was Sie ihren Enkelkindern erzählen können. Aber machen Sie schnell.«
Während Loring seinen Blick darauf warf, wendete sich Pritchard an Albertson. »Ich brauche die Negli«, sagte er. »Ich muß ihn noch etwas weiter aufmachen. Dann sondieren wir. Ich weiß nicht, ob ich alles herausholen kann, aber ich will so viel wie möglich herausholen.«
Albertson, der jetzt die assistierende Schwester vertrat, gab Pritchard die frisch sterilisierte Sonde in die Hand, als dieser danach verlangte. Pritchard, der nun leise die Titelmelodie von Bonanza vor sich hinsummte, untersuchte schnell und fast mühelos die Wunde und warf nur hin und wieder einen Blick auf den am Ende der Sonde sitzenden Spiegel. Die meiste Zeit verließ er sich auf seinen Tastsinn. Später erklärte Albertson, er hätte in seinem ganzen Leben noch keine derart faszinierende und souveräne Operation gesehen.
Außer dem Auge fanden sie noch einen Teil eines Nasenflügels, drei Fingernägel und zwei Zähne. In einem der Zähne war ein kleines Loch. Das Auge pulsierte weiter und versuchte weiter zu blinzeln, bis Dr. Pritchard das Nadelskalpell ansetzte und es erst durchstach und dann herausschnitt. Die gesamte Operation, vom ersten Sondieren bis zur endgültigen Exzision, dauerte nur siebenundzwanzig Minuten. Fünf Fleischbröckchen landeten in der Edelstahlschale hinter Thads kahlrasiertem Kopf.
»Ich glaube, wir haben alles«, sagte Pritchard schließlich. »Das ganze Fremdgewebe war offenbar durch rudimentäre Ganglien miteinander verbunden. Selbst wenn tatsächlich noch etwas da sein sollte, sind die Aussichten, daß wir es abgetötet haben, recht gut.«
»Aber – wie ist das möglich, daß das Kind trotzdem noch am Leben ist? Ich meine, das sind doch Teile von ihm?« fragte Loring verblüfft.
Pritchard deutete auf die Schale. »Wir finden im Kopf dieses Jungen ein Auge, Zähne und ein paar Fingernägel, und Sie glauben, es wären Teile von ihm gewesen? Haben Sie festgestellt, daß ihm Fingernägel fehlen? Wollen Sie nachsehen?«
»Aber selbst Krebs ist nichts anderes als ein Teil eines Patienten...«
»Dies war kein Krebs«, erklärte Pritchard ihm geduldig. Seine Hände setzten ihre Arbeit fort, während er redete. »Bei vielen Entbindungen, bei denen die Mutter ein Kind zur Welt bringt, hat das Kind seine Existenz als Zwilling begonnen – möglicherweise sogar in zwei von zehn Fällen. Was passiert mit dem anderen Fetus? Der stärkere absorbiert den schwächeren.«
»Er absorbiert ihn? Sie meinen, er verzehrt ihn?« fragte Loring. Er sah ein wenig grünlich aus. »Reden wir hier von Kannibalismus in utero?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen; es kommt ziemlich oft vor. Wenn es eines Tages so weit ist, daß wir tatsächlich über dieses Sonargrammgerät verfügen, von dem bei Tagungen immer die Rede ist, werden wir vielleicht sogar herausfinden, wie oft es vorkommt. Aber so oft es auch vorkommen mag – das, was wir heute gesehen haben, ist viel seltener. Ein Teil des Zwillings dieses Jungen ist nicht absorbiert worden und zufällig in seinen Stirnlappen gewandert. Es hätte ebensogut in seine Därme, seine Milz oder sein Rückgrat wandern können. Normalerweise sind die einzigen Ärzte, die so etwas zu sehen bekommen, die Pathologen – es stellt sich bei Autopsien heraus, und ich habe nie von einem Fall gehört, in dem das fremde Gewebe die Todesursache gewesen ist.«
»Und was ist hier passiert?« fragte Albertson. »Irgend etwas hat diese Gewebsmasse, die vermutlich vor einem Jahr nur unter dem Mikroskop zu erkennen gewesen wäre, wieder in Bewegung versetzt. Die Wachstumsuhr des absorbierten Zwillings, die zumindest einen Monat vor Mrs. Beaumonts Entbindung ein für allemal hätte stehenbleiben müssen, wurde irgendwie von neuem aufgezogen – und das verdammte Ding begann tatsächlich zu laufen. An dem, was dann passierte, ist nichts absonderlich. Schon der Schädelinnendruck reichte aus, die Kopfschmerzen und den Anfall auszulösen, der ihn hergebracht hat.«
»Ja«, sagte Loring leise, »aber warum ist das passiert?«
Pritchard schüttelte den Kopf. »Wenn ich in dreißig Jahren noch mit anspruchsvolleren Dingen beschäftigt bin als mit meinen Golfschlägern, können Sie mir diese Frage nochmals stellen. Vielleicht weiß ich dann eine Antwort. Im Augenblick weiß ich nur, daß ich eine sehr spezielle, sehr seltene Art von Tumor entfernt habe. Einen gutartigen Tumor. Und solange es keine Komplikationen gibt, brauchen die Eltern meiner Meinung nach nicht mehr zu wissen als eben das. Wenn ich den Vater des Jungen vor mir sehe, muß ich immer an einen Neandertaler denken. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ihm erklären zu müssen, daß ich bei seinem elfjährigen Sohn eine Abtreibung vorgenommen habe. Und nun wollen wir ihn wieder zumachen, Al.«
Dann setzte er, an die Oberschwester gewandt, liebenswürdig hinzu: »Ich möchte, daß diese dämliche Ziege, die hinausgerannt ist, entlassen wird. Bitte notieren Sie das.«
»Ja, Doktor.«
Dreiundzwanzig Tage nach der Operation verließ Thad Beaumont das Krankenhaus. Noch fast sechs Monate danach war seine linke Körperhälfte beängstigend schwach, und gelegentlich, wenn er sehr erschöpft war, sah er merkwürdige, nicht ganz willkürliche Muster aus Lichtblitzen vor seinen Augen.
Seine Mutter hatte ihm als Genesungsgeschenk eine alte Remington-32-Schreibmaschine gekauft, und die Lichtblitze kamen zumeist dann, wenn er in der Stunde vor dem Zubettgehen darübergebeugt dasaß, sich abmühte, die richtigen Worte zu finden, oder sich vorzustellen, was in der Geschichte, die er schrieb, als nächstes passieren sollte. Aber allmählich verschwanden auch die Lichtblitze.
Das unheimliche Phantomgeräusch – das Tschilpen und Zwitschern von ganzen Schwadronen von Sperlingen – hörte er nach der Operation überhaupt nicht mehr.
Er schrieb weiter, gewann Selbstvertrauen, entwickelte mit der Zeit seinen eigenen Stil und verkaufte seine erste Geschichte – an American Teen – sechs Jahre nach Beginn seines wirklichen Lebens. Danach schaute er einfach nicht mehr zurück.
Soweit seinen Eltern und ihm selbst bekannt war, war im Herbst seines zwölften Lebensjahrs ein kleiner, gutartiger Tumor aus dem Stirnlappen seines Gehirns entfernt worden. Wenn er überhaupt darüber nachdachte (was er um so seltener tat, je mehr Zeit darüber vergangen war), dann dachte er nur, daß er geradezu unverschämtes Glück gehabt hatte.
Er hatte die Operation überlebt – im Gegensatz zu vielen anderen Patienten, die sich in jenen noch relativ primitiven Zeiten einer Gehirnoperation unterziehen mußten.
ERSTER TEIL
Metzgerfüllsel
Langsam und bedächtig bog Machine die Büroklammer mit seinen langen, kraftvollen Fingern auf. »Halt seinen Kopf fest, Jack«, sagte er zu dem Mann hinter Halstead. »Halt ihn gut fest.«
Halstead begriff, was Machine vorhatte, und als Jack Rangely seinen Kopf zwischen seine beiden großen Hände nahm und ihn unverrückbar festhielt, begann er zu schreien. Die Schreie widerhallten in dem verlassenen Lagerhaus. Der riesige leere Raum wirkte wie ein natürlicher Verstärker. Halstead hörte sich an wie ein Opernsänger, der sich für eine Premiere einsingt.
»Ich bin zurückgekommen«, sagte Machine. Halstead kniff die Augen zu, aber es half ihm nichts. Das Stück Stahldraht durchdrang mühelos das linke Augenlid und bohrte sich in den darunterliegenden Augapfel. Klebrige, gallertartige Flüssigkeit begann herauszusickern. »Ich bin von den Toten zurückgekehrt, und du undankbarer Hurensohn scheinst dich überhaupt nicht darüber zu freuen.«
Riding to BabylonVON GEORGE STARK
ERSTES KAPITEL
People berichtet
1
Die Ausgabe der Zeitschrift People vom 20. Mai war typisch für dieses Blatt.
Den Einband schmückte die tote Berühmtheit der Woche, ein Rock’n’Roll-Star, der sich in seiner Zelle erhängt hatte, nachdem er wegen des Besitzes von Kokain und diverser anderer Drogen verhaftet worden war. Drinnen fand sich der übliche Gaumenkitzel: neun unaufgeklärte Sexualmorde im öden Westen von Nebraska; ein Guru für gesunde Ernährung, der aufgeflogen war, als er Kinderpornos verkaufte; eine Hausfrau in Maryland, die einen Kürbis geerntet hatte, der einer Büste von Jesus Christus ähnelte – allerdings nur, wenn man ihn in einem düsteren Zimmer mit halbgeschlossenen Augen ansah; ein tapferes, querschnittgelähmtes Mädchen, das für das Big-Apple-Rollstuhl-Marathon trainierte; eine Hollywood-Scheidung; eine Hochzeit in den besseren New Yorker Kreisen; ein Ringer, der sich von einer Herzattacke erholte; ein Komiker, der sich gegen eine Anzeige wegen übler Nachrede zur Wehr setzte.
Außerdem eine Geschichte über einen Unternehmer in Utah, der eine tolle neue Puppe unter dem Namen Yo Mamma! auf den Markt gebracht hatte. Yo Mamma! sah angeblich aus wie »jedermanns geliebte (?) Schwiegermutter«. In die Puppe war ein Tonband eingebaut, das Sätze von sich gab wie »In meinem Haus ist ihm nie kaltes Essen vorgesetzt worden, meine Liebe« oder »Dein Bruder behandelt mich nie wie den letzten Dreck, wenn ich für ein paar Wochen zu Besuch komme«. Der eigentliche Heuler war jedoch, daß man, um Yo Mamma! zum Reden zu bringen, nicht an einer Schnur in ihrem Rücken zog, sondern dem Ding mit aller Kraft einen Tritt versetzte. »Yo Mamma! ist gut gepolstert und garantiert unzerbrechlich; außerdem garantieren wir, daß sie weder Wände noch Möbel beschädigt«, erklärte ihr stolzer Erfinder, Mr. Gaspard Wilmot (der, wie in dem Artikel beiläufig erwähnt wurde, einmal wegen Steuerhinterziehung vor Gericht gestanden hatte – die Anklage wurde fallengelassen).
Und die Seite dreiunddreißig dieser amüsanten und informativen Ausgabe von Amerikas führender amüsanter und informativer Zeitschrift trug eine der typischen People-Kopfzeilen: kurz, knapp und prägnant. Sie lautete Bio.
»People«, erklärte Thad Beaumont seiner Frau Liz, als sie nebeneinander am Küchentisch saßen und den Artikel zum zweiten Mal lasen, »kommt gern direkt zur Sache. Bio. Punktum. Wer kein Bio will, blättert weiter zu In Nöten und liest die Geschichte von den Mädchen, die tief im Herzen von Nebraska um die Ecke gebracht wurden.«
»Wenn man es recht bedenkt, ist das eigentlich nicht so lustig«, sagte Liz Beaumont und verdarb dann die Wirkung ihrer Worte, indem sie unwillkürlich in eine geballte Faust hineinkicherte.
»Nicht gerade zum Hellauflachen, aber gewiß absonderlich«, sagte Thad und begann, sich wieder mit dem Artikel zu beschäftigen. Dabei rieb er, ohne sich dessen bewußt zu sein, über die kleine weiße Narbe auf seiner Stirn.
Wie die meisten Bios von People war dies der einzige Artikel in der Zeitschrift, bei dem der Text mehr Raum einnahm als die Fotos.
»Bereust du, daß du es getan hast?« fragte Liz. Mit einem Ohr horchte sie auf die Zwillinge, aber bisher verhielten sie sich ganz brav und schliefen wie die Lämmchen.
»Zuerst einmal«, sagte Thad, »habe nicht ich es getan. Wir haben es getan. Einer für beide und beide für einen, wie du dich vielleicht erinnerst.« Er tippte auf ein Foto auf der zweiten Seite des Artikels, das seine Frau zeigte, die ihm einen Teller voll Schokoladenkekse anbot; er saß vor seiner Schreibmaschine, in die ein Blatt Papier eingespannt war. Was auf dem Papier stand – und ob überhaupt etwas darauf stand -, war nicht zu erkennen, was vermutlich nur gut war; höchstwahrscheinlich war es nur blanker Unsinn. Schreiben war für ihn immer Schwerarbeit gewesen, und es war keinesfalls etwas, das er vor Publikum tun konnte – schon gar nicht, wenn zu diesem Publikum eine Fotografin von People gehörte. George war es wesentlich leichter gefallen, aber Thad Beaumont fiel es verdammt schwer. Liz störte ihn nicht, wenn er es versuchte – und es ihm manchmal tatsächlich gelang. Sie brachte ihm nicht einmal Telegramme, geschweige denn Schokoladenkekse.
»Ja, aber...«
»Und zweitens...«
Er betrachtete das Foto von Liz mit den Keksen. Er sah zu ihr auf, und sie grinsten beide. Dieses Grinsen nahm sich einigermaßen merkwürdig aus auf den Gesichtern von Leuten, die, obwohl umgänglich, selbst beim Austeilen so gewöhnlicher Dinge wie einem Lächeln recht zurückhaltend waren. Er erinnerte sich an die Zeit, in der er in Maine, New Hampshire und Vermont als Führer auf dem Appalachian Trail gearbeitet hatte. In dieser fernen Vergangenheit hatte er einen zahmen Waschbären namens John Wesley Harding gehabt. Nicht, daß er irgendwelche Versuche unternommen hätte, John zu zähmen; der Waschbär hatte sich ihm einfach angeschlossen. Der alte J. W. liebte es, an kalten Abenden ein Schlückchen zu trinken, und wenn er etwas zu tief in die Flasche geschaut hatte, dann pflegte er genau so zu grinsen.
»Und zweitens, was?«
Und zweitens finde ich es höchst komisch, daß ein Mann, der vor langer Zeit einmal für den National Book Award nominiert worden ist, und seine Frau einander angrinsen wie zwei betrunkene Waschbären, dachte er und konnte sein Gelächter nicht mehr unterdrücken; es wallte einfach aus ihm heraus.
»Thad, du weckst die Zwillinge auf!«
Er versuchte, ohne großen Erfolg, die Lautstärke zu dämpfen.
»Und zweitens sehen wir aus wie zwei Idioten, und das stört mich überhaupt nicht«, sagte er, zog sie an sich und küßte ihre Kehlgrube.
Im Nebenzimmer begannen erst William und dann Wendy zu weinen.
Liz versuchte, ihn vorwurfsvoll anzusehen, brachte es aber nicht fertig. Es tat zu gut, ihn lachen zu hören. Vielleicht deshalb, weil er es nicht in ausreichendem Maße tat. Das Geräusch seines Lachens hatte für sie einen fremdartigen, exotischen Reiz. Thad Beaumont war nie ein Mann des Lachens gewesen.
»Meine Schuld«, sagte er. »Ich hole sie.«
Er wollte aufstehen, stieß gegen den Tisch und hätte ihn beinahe umgekippt. Er war ein sanfter Mann, aber seltsam tolpatschig – ein Uberbleibsel von dem Jungen, der er einst gewesen war.
Liz konnte den Krug mit Blumen, der auf dem Tisch stand, gerade noch festhalten, bevor er über den Rand rutschen und auf dem Boden zerschellen konnte.
»Aber Thad!« sagte sie vorwurfsvoll, doch dann begann sie gleichfalls zu lachen.
Er setzte sich für einen Moment wieder hin und streichelte ihre Hand sanft zwischen seinen Händen. »Sag, Baby, stört es dich?«
»Nein«, sagte sie. Eine Sekunde lang dachte sie daran, zu sagen: Aber es flößt mir ein unbehagliches Gefühl ein. Nicht, weil wir ziemlich blöd aussehen, sondern weil – nun, eigentlich kenne ich den Grund nicht. Ich habe nur ein unbehagliches Gefühl dabei.
Sie dachte daran, aber sie sagte es nicht. Es tat einfach zu gut, ihn lachen zu hören. Sie ergriff eine der sie sanft streichelnden Hände und drückte sie kurz. »Nein«, sagte sie, »es stört mich nicht. Ich finde es spaßig. Und um so besser, wenn es The Golden Dog hilft, falls du dich endlich dazu entschließen kannst, dich ernsthaft an die Arbeit zu machen.«
Sie erhob sich, faßte ihn bei den Schultern und drückte ihn nieder, als er versuchte, ihrem Beispiel zu folgen.
»Du holst sie das nächste Mal«, sagte sie. »Du bleibst hier sitzen, bis du deinen unbewußten Drang, meinen Krug zu zerschmeißen, wieder losgeworden bist.«
»Okay«, sagte er und lächelte. »Ich liebe dich, Liz.«
»Ich dich auch.« Sie ging, um die Zwillinge zu holen, und Thad Beaumont begann, sich wieder seinem Bio zuzuwenden. Anders als bei den meisten People-Artikeln nahm das Aufmacherfoto in dem Thaddeus-Beaumont-Bio nicht die ganze Seite ein, sondern weniger als ein Viertel. Dennoch lenkte es die Aufmerksamkeit auf sich, weil ein Layouter mit einem Blick für das Ungewöhnliche das Foto, das Thad und Liz auf einem Friedhof zeigte, schwarz umrahmt hatte. Der Text darunter bildete einen fast brutalen Kontrast dazu.
Auf dem Foto hatte Thad einen Spaten und Liz eine Spitzhacke. Seitlich stand eine Schubkarre mit weiterem Totengräber-Werkzeug. Auf dem Grab selbst waren mehrere Blumensträuße arrangiert worden, aber die Aufschrift auf dem Grabstein war trotzdem gut zu lesen.
GEORGE STARK 1975-1988 Kein angenehmer Zeitgenosse
In auffallendem Kontrast zu dem Ort und dem offenkundigen Akt (der gerade erfolgten Beisetzung von etwas, das, zumindest den Daten zufolge, der Leichnam eines dreizehnjährigen Jungen gewesen sein mußte) schüttelten die beiden falschen Totengräber einander über den gerade wieder aufgelegten Grassoden die Hand – und lachten vergnügt.
Das Ganze war natürlich gestellt. Sämtliche Fotos, mit denen der Artikel illustriert war – das Leichenbegängnis, die Darbietung der Schokoladenkekse und Thad selber, wie er einsam wie eine Wolke auf einem menschenleeren Waldweg bei Ludlow entlangwanderte und vermutlich »eine Inspiration« hatte -, waren gestellt. Es war komisch. Liz hatte in den letzten fünf Jahren People im Supermarkt gekauft, und sie hatten sich darüber lustig gemacht, aber sie hatten es beide beim Abendessen durchgeblättert oder auf der Toilette, wenn gerade kein vernünftiges Buch zur Hand war. Thad hatte sich von Zeit zu Zeit über den Erfolg der Zeitschrift gewundert und sich gefragt, ob es die eingehende Beschäftigung mit Prominenten war, der sie ihre Faszination verdankte, oder nur die Art, wie sie aufgemacht war, mit all diesen großen Schwarzweißfotos und dem fettgedruckten Text, der überwiegend aus simplen Aussagesätzen bestand. Aber auf die Idee, daß die Fotos womöglich gestellt waren, war er nie gekommen.
Die Fotos hatte eine Frau namens Phyllis Myers gemacht. Sie hatte Thad und Liz erzählt, sie hätte zahlreiche Aufnahmen von Teddybären in Kindersärgen gemacht, wobei alle Teddies Kinderkleidung trugen. Sie hoffte, die Serie an einen der großen New Yorker Verlage verkaufen zu können. Erst am zweiten Tag der Foto-und-Interview-Sitzung hatte Thad begriffen, daß die Frau sondierte, ob er den Text dazu schreiben würde. Der Tod der Teddybären würde, so sagte sie, »der endgültige, vollkommene Kommentar zum Sterben in Amerika« sein, »finden Sie nicht, Thad?«
Angesichts ihrer makabren Interessen war es wohl nicht verwunderlich, daß diese Frau Georges Grabstein bestellt und aus New York mitgebracht hatte. Er bestand aus Pappmaché.
»Es macht ihnen doch nichts aus, sich vor diesem Grabstein die Hände zu schütteln«, hatte sie mit einem Lächeln gefragt, das schmeichlerisch und zuvorkommend zugleich gewesen war. »Das gibt eine wundervolle Aufnahme.«
Liz hatte ihn angesehen, fragend und ein wenig entsetzt. Dann hatten sie den imitierten Grabstein, der aus New York City (wo die Zeitschrift People ganzjährig zu Hause war) nach Castle Rock in Maine (wo die Beaumonts im Sommer zu Hause waren) gereist war, beide mit einer Mischung aus Verwunderung und nachdenklichem Staunen betrachtet. Es war die Inschrift, die Thads Blick immer wieder auf sich lenkte.
Kein angenehmer Zeitgenosse.
Allen schmückenden Beiwerks beraubt, war die Geschichte, die People den hingerissenen Lesern von Prominentenklatsch erzählen wollte, ganz simpel. Thad Beaumont war ein angesehener Schriftsteller, dessen erster Roman, The Sudden Dancers, 1972 für den National Book Award nominiert worden war. Dergleichen hatte zwar bei den Literaturkritikern einiges Gewicht, aber für die hingerissenen Leser von Prominentenklatsch war das völlig belanglos. Der Mann, für den sie sich interessierten, war überhaupt kein wirklicher Mann. Thad hatte einen Bestseller, der ein Riesenerfolg gewesen war, und drei weitere, gleichfalls überaus erfolgreiche Romane, unter einem anderen Namen geschrieben. Und dieser Name war George Stark gewesen.
Jerry Harkavay, aus dem das gesamte Büro von Associated Press in Waterville bestand, hatte die George-Stark-Story als erster aufgegriffen, nachdem Rick Cowley, Thads Agent, mit Thads Erlaubnis Louise Booker von Publisher’s Weekly angerufen hatte. Allerdings hatten weder Harkavay noch Louise Booker die vollständige Story bekommen – schon deshalb nicht, weil es Thad widerstrebte, Frederick Clawson, diesen schleimigen kleinen Widerling, auch nur zu erwähnen -, aber sie war trotzdem gut genug gewesen, um eine weitere Verbreitung zu verdienen, als die Agenturdienste von AP oder das Fachblatt der Buchindustrie ihr bieten konnten. Clawson, hatte Thad Liz und Rick erklärt, war nicht die Story – er war lediglich das Arschloch, das ihn zwang, sie an die große Glocke zu hängen.
Im Verlauf dieses ersten Interviews hatte Jerry ihn gefragt, was für ein Typ George Stark war. »George«, hatte Thad erwidert, »ist kein angenehmer Zeitgenosse.« Dieses Zitat hatte Jerry die Schlagzeile für seinen Bericht geliefert, und es hatte die Fotografin auf die Idee gebracht, einen Grabstein aus Pappmache zu bestellen, auf dem diese Worte standen. Die Welt war schon komisch. Wirklich komisch.
Ganz plötzlich mußte er wieder lachen.
2
Auf dem schwarzen Feld unter dem Foto, das Thad und Liz auf einem der Friedhöfe von Castle Rock zeigte, standen in weißer Schrift zwei Zeilen Text.
DER TEURE VERBLICHENE STAND DIESEM MANN UND DIESER FRAU SEHR NAHE, lautete die erste.
WARUM ALSO LACHEN DIESE BEIDEN? lautete die zweite.
»Weil es in der Welt total verrückt zugeht«, sagte Thad und brach wieder in Gelächter aus. Liz Beaumont war nicht die einzige, die angesichts dieser seltsamen Art von Publicity Unbehagen empfand. Auch er verspürte einen Anflug von Unbehagen. Dennoch fiel es ihm schwer, mit dem Lachen aufzuhören. Er schaffte es ein paar Sekunden lang, und dann brach ein frischer Schwall von Gelächter aus ihm heraus, als sein Blick wieder auf die Zeile Kein angenehmer Zeitgenosse fiel. Der Versuch, aufzuhören, glich dem, die Löcher in einem schlecht gebauten Damm zu verschließen; sobald man ein Leck zugestopft hatte, entdeckte man an einer anderen Stelle ein neues.
Thad argwöhnte, daß bei einem solchen Lachanfall irgendetwas nicht in Ordnung war – er war eine Form von Hysterie. Er wußte, daß solchen Anfällen nur selten, wenn überhaupt jemals, etwas Komisches zugrunde lag. Man konnte sogar davon ausgehen, daß es sich dabei um das genaue Gegenteil von etwas Komischem handelte.
Vielleicht um etwas, wovor man Angst hatte.
Angst wegen eines blöden Artikels in People? Ist es das? Unsinn. Angst, dich lächerlich zu machen, zu denken, daß deine Kollegen in der Englischen Fakultät diese Fotos sehen und glauben, du hättest auch noch das letzte bißchen Verstand verloren?
Nein, von seinen Kollegen hatte er nichts zu fürchten, nicht einmal von denen, die schon dagewesen waren, als die Dinosaurier noch auf der Erde herumwanderten. Er hatte es zu einem Haus gebracht und auch zu genügend Vermögen, um ein Leben als – Trompetenstoß bitte! – freier Schriftsteller führen zu können, wenn ihn danach verlangte (und er war nicht sicher, ob er das wollte; die administrativen Aspekte seines Jobs waren zwar verdammt langweilig, aber das Unterrichten machte ihm Spaß). Und außerdem nein, weil es ihm schon seit etlichen Jahren ziemlich gleichgültig war, was seine Kollegen von ihm dachten. Nicht gleichgültig war ihm allerdings, was seine Freunde dachten, und in einigen Fällen waren seine Freunde, Liz’ Freunde und ihre gemeinsamen Freunde zugleich Kollegen, aber wie er glaubte, konnten auch diese Leute sich vorstellen, daß das Ganze eine Art Spaß war.
Wenn ihn irgendetwas ängstigte, dann war das...
Schluß damit, kommandierte sein Verstand in dem trockenen, strengen Ton, der geeignet war, selbst die aufmüpfigsten seiner Schüler verstummen zu lassen. Schluß mit diesem Unsinn, und zwar sofort.
So wirksam das bei seinen Schülern auch sein mochte – auf Thad selbst übte es keinerlei Wirkung aus.
Er blickte wieder auf das Foto, und diesmal war es nicht das Gesicht seiner Frau und sein eigenes – Gesichter, die einander frech angrinsten wie Kinder, die eine Mutprobe ablegen.
GEORGE STARK 1975-1988 Kein angenehmer Zeitgenosse
Das war es, was ihm Unbehagen einflößte.
Dieser Grabstein. Dieser Name. Diese Daten. Vor allem dieser bittere Zusatz, der ihn laut herauslachen ließ, aber aus irgendeinem Grunde jenseits allen Gelächters ganz und gar nicht komisch war.
Dieser Name.
Dieser Zusatz.
»Macht nichts«, murmelte Thad. »Der Scheißkerl ist jetzt tot.«
Aber das Unbehagen blieb.
Als Liz zurückkam, auf jedem Arm einen frisch gewickelten und umgezogenen Zwilling, hatte sich Thad wieder in den Artikel vertieft.
»Ob ich ihn ermordet habe?«
Thaddeus Beaumont, einst als einer der vielversprechendsten amerikanischen Romanciers gefeiert und 1972 mit The Sudden Dancers für den National Book Award nominiert, wiederholt nachdenklich die Frage des Interviewers. Er blickt ein wenig erstaunt drein. »Ermordet«, sagt er leise, als wäre er nie auf dieses Wort gekommen – obwohl seine »dunkle Hälfte«, wie Beaumont George Stark nennt, kaum jemals an etwas anderes als an Mord gedacht hat.
Aus dem Steinzeugtopf neben seiner altmodischen Remington- 32-Schreibmaschine holt er einen Berol-Black-Beauty-Bleistift (Beaumont zufolge das einzige Instrument, mit dem Stark schreiben wollte) und beginnt daran zu knabbern, allem Anschein nach, ohne sich dessen bewußt zu sein. Dem Aussehen des runden Dutzend von Bleistiften in dem Topf nach zu urteilen, ist das Knabbern eine Gewohnheit.
»Nein«, sagt er schließlich und steckt den Stift wieder in den Topf, »ich habe ihn nicht ermordet.« Er schaut auf und lächelt. Beaumont ist neununddreißig, aber wenn er auf diese offene Art lächelt, könnte man ihn für einen seiner eigenen Studenten halten. »George ist eines natürlichen Todes gestorben.«
Beaumont sagt, auf die Idee mit George Stark wäre seine Frau gekommen. Elizabeth Stevens Beaumont, eine kühle und reizende Blondine, lehnt es ab, dieses Verdienst für sich in Anspruch zu nehmen. »Ich habe«, sagt sie, »lediglich vorgeschlagen, daß er einmal einen Roman unter einem anderen Namen schreibt und zusieht, was dabei herauskommt. Thad litt unter einer schweren Schreibblockierung, und er brauchte etwas, das ihn wieder in Gang brachte. Und im Grunde war George Stark bereits vorhanden. Schon in einigen der unvollendeten Sachen, die Thad hin und wieder geschrieben hatte, habe ich Hinweise auf ihn entdeckt. Im Grunde ging es nur darum, ihn dazu zu bringen, daß er aus dem Schrank herauskam.«
Viele Leute sind jedoch der Ansicht, daß Beaumonts Probleme über eine bloße Schreibblockierung ein wenig hinausgingen. Zumindest zwei wohlbekannte Autoren (die nicht zitiert werden wollten) erklärten, sie hätten sich in dieser kritischen Zeit zwischen seinem ersten und seinem zweiten Buch große Sorgen um seine geistige Gesundheit gemacht. Der eine meinte, Beaumont hätte in dem Jahr nach der Veröffentlichung von The Sudden Dancers, das ihm mehr lobende Worte als Tantiemen einbrachte, sogar einen Selbstmordversuch unternommen.
Gefragt, ob er an Selbstmord gedacht hätte, schüttelt Beaumont nur den Kopf und sagt: »Das ist absurd. Öffentliche Anerkennung war nicht das eigentliche Problem; es war die Schreibblockierung. Und ein toter Autor kann dieses Problem nicht mehr aus der Welt schaffen.«
Indessen kam Liz Beaumont immer wieder auf die Idee eines Pseudonyms zurück. »Sie sagte, ich könnte mich zusammenreißen und es tun, wenn ich nur wollte. Irgendetwas schreiben, wozu ich gerade Lust hatte, ohne das Gefühl, daß mir die New York Times Book Review beim Schreiben ständig über die Schulter schaute. Sie sagte, ich könnte einen Western schreiben, eine Gespenstergeschichte, einen Science-Fiction-Roman. Oder einen Krimi.«
Thad Beaumont lächelt.
»Ich glaube, den hat sie ganz absichtlich als letztes genannt. Sie wußte, daß ich mit dem Gedanken an einen Kriminalroman gespielt hatte; allerdings war es mir nicht gelungen, die Sache in den Griff zu bekommen.
Irgendwie faszinierte mich der Gedanke an ein Pseudonym. Es bedeutete so etwas wie Freiheit - eine Art geheimer Notausgang, wenn Sie verstehen, was ich damit meine.
Aber da war noch etwas anderes – und das ist sehr schwer zu erklären.«
Beaumont streckt eine Hand in Richtung auf die säuberlich gespitzten Berols in dem Steinzeugtopf aus und zieht sie dann zurück. Dann blickt er durch das große Fenster seines Arbeitszimmers auf die Frühlingspracht der Bäume in ihrem frischen Grün.
»Die Vorstellung, ein Pseudonym zu benutzen, war fast so, als stellte man sich vor, man wäre unsichtbar«, sagt er schließlich fast zögerlich. »Je mehr ich mich mit dem Gedanken an ein Pseudonym befaßte, desto stärker hatte ich das Gefühl, mich – ja – neu erfinden zu können.«
Seine Hand geht wieder auf Wanderschaft, und diesmal gelingt es ihr, einen der Bleistifte aus dem Steinzeugtopf zu stibitzen, während er mit seinen Gedanken ganz woanders ist.
Thad schlug die nächste Seite auf und schaute dann zu den Zwillingen in ihrem hohen doppelten Kinderstuhl. Bruderund-Schwester-Zwillinge waren immer zweieüg, doch Wendy und William waren einander so ähnlich, wie zwei Kinder es überhaupt sein können, ohne tatsächlich eineiige Zwillinge zu sein.
William lächelte Thad mit der Flasche im Mund an.
Wendy lächelte gleichfalls mit ihrer Flasche im Mund, aber sie besaß etwas, das ihrem Bruder fehlte – einen einzigen Zahn, der völlig schmerzlos erschienen war und die Oberfläche des Zahnfleischs so lautlos durchbrochen hatte wie das Periskop eines Unterseeboots die Wasseroberfläche.
Wendy löste ein Patschhändchen von ihrer Plastikflasche. Öffnete es. Ballte es. Öffnete es. Ein Wendy-Winken.
Ohne sie anzusehen, löste William eines seiner Händchen von seiner Flasche, öffnete es, ballte es, öffnete es. Ein William-Winken.
Thad hob eine seiner eigenen Hände vom Tisch, öffnete sie, ballte sie, öffnete sie.
Die Zwillinge lächelten mit den Flaschen im Mund.
Er richtete den Blick wieder auf die Zeitschrift. Oh, People, dachte er, wo wären wir ohne dich, was würden wir ohne dich anfangen? Die neuesten Nachrichten über sämtliche Stars in Amerika, Leute. Der Interviewer hatte die gesamte schmutzige Wäsche ans Licht gezogen, die sich herausziehen ließ – in erster Linie die vier schlimmen Jahre, nachdem er für The Sudden Dancers den National Book Award nicht bekommen hatte -, aber das war zu erwarten gewesen, und er stellte fest, daß ihn die Zurschaustellung nicht sonderlich störte. Erstens einmal war die Wäsche nicht übermäßig schmutzig, und zweitens war er immer der Ansicht gewesen, daß es sich mit der Wahrheit besser leben ließ als mit einer Lüge. Zumindest auf lange Sicht.
Wobei sich natürlich die Frage ergab, ob die Zeitschrift People und die »lange Sicht« irgendetwas gemeinsam hatten.
Und wenn schon. Jetzt war es ohnehin zu spät.
Der Bursche, der den Artikel geschrieben hatte, hieß Mike – daran erinnerte er sich, aber Mike wie? Wenn man nicht gerade ein Earl war, der über Fürstenhäuser plauderte, oder ein Filmstar, der sich über andere Filmstars ausließ, dann stand in People der Name des Verfassers am Ende des Artikels. Thad mußte vier Seiten weiterblättern (zwei davon waren ganzseitige Anzeigen), um den Namen zu finden. Mike Donaldson. Er und Mike hatten bis in die Nacht hinein zusammengesessen und geredet, und als Thad gefragt hatte, ob die Tatsache, daß er ein paar Bücher unter Pseudonym geschrieben hatte, überhaupt jemanden interessierte, hatte Mike etwas gesagt, das Thad hell auflachen ließ. »Umfragen haben ergeben, daß die meisten Leser von People extrem enge Nasen haben. In ihnen läßt sich schwer bohren, und deshalb bohren sie in den Nasen so vieler anderer Leute, wie sie nur können. Sie möchten alles über Ihren Freund George wissen.«
»Er ist nicht mein Freund«, hatte Thad lachend erwidert.
Nun fragte er Liz, die jetzt am Herd stand: »Kommst du zurecht, Baby? Oder brauchst du Hilfe?«
»Alles bestens«, sagte sie. »Ich mache gerade ein bißchen Brei für die Kinder. Du bist nach wie vor mit dir selbst beschäftigt?«
»Das bin ich«, sagte Thad, ohne sich zu schämen, und wendete sich wieder dem Artikel zu.
»Das Schwierigste an der ganzen Sache war, einen Namen zu finden«, fährt Beaumont fort und knabbert dabei am Bleistift. »Aber es war sehr wichtig. Ich wußte, daß es funktionieren konnte. Ich wußte, daß es die Schreibblockierung lösen würde, mit der ich mich herumschlug. Wenn ich eine Identität hatte. Die richtige Identität, eine von meiner eigenen getrennte Identität.«
Und wie ist er auf George Stark gekommen?
»Es gibt da einen Kriminalschriftsteller namens Donald E. Westlake«, erläutert Beaumont. »Wenn er unter seinem eigenen Namen schreibt, benutzt Westlake die Form des Kriminalromans zum Schreiben amüsanter Gesellschaftskomödien über das amerikanische Leben und die amerikanischen Sitten.
Aber von Anfang der sechziger bis um die Mitte der siebziger Jahre schrieb er eine Reihe von Romanen unter dem Namen Richard Stark, und diese Bücher sind völlig anders. Sie handeln von einem Mann namens Parker, der ein Berufsverbrecher ist. Er hat keine Vergangenheit, keine Zukunft und – in den besten Büchern – keine Interessen außer Rauben und Stehlen.
Wie dem auch sei – aus Gründen, nach denen Sie Westlake selbst fragen müssen, hörte er um 1975 herum auf, über Parker zu schreiben, aber ich habe nie vergessen, was er sagte, nachdem er das Pseudonym gelüftet hatte. Er erklärte, er hätte seine Bücher an sonnigen Tagen geschrieben, und an Regentagen hätte Stark das Schreiben übernommen. Das gefiel mir, denn die Zeit damals, von 1973 bis Anfang 1975, bestand für mich nur aus Regentagen.
In den besten dieser Bücher hat Parker mehr Ähnlichkeit mit einem mordenden Roboter als mit einem Menschen. Der seiner Beute beraubte Räuber ist ein immer wiederkehrendes Thema. Und Parker bewegt sich durch die bösen Buben – die anderen bösen Buben, meine ich – haargenau wie ein Roboter, der nur auf ein einziges Ziel programmiert ist. >Ich will mein Geld<, sagt er und sonst gar nichts. >Ich will mein Geld. Ich will mein Geld.< Erinnert Sie das an etwas?«
Der Interviewer nickt. Beaumont beschreibt Alexis Machine, die Hauptperson des ersten und des letzten George Stark-Romans.
»Wenn Machine’s Way so geendet hätte, wie es begann, dann hätte ich es in die Schublade gesteckt und nie wieder herausgeholt«, sagt Beaumont. »Wenn ich es veröffenlicht hätte, wäre es ein Plagiat gewesen. Aber als ich ungefähr ein Viertel geschrieben hatte, hatte es seinen eigenen Rhythmus gefunden, und alles weitere ergab sich von selbst.«
Der Interviewer fragt, ob Beaumont damit sagen will, daß, nachdem er eine Zeitlang an dem Buch gearbeitet hatte, George Stark erwachte und zu reden begann.
»Ja«, sagt Beaumont. »Das kommt der Sache ziemlich nahe.«
Thad schaute auf und hätte beinahe wieder unwillkürlich gelacht. Die Zwillinge bemerkten sein Lächeln und erwiderten es durch das Erbsenpüree hindurch, mit dem Liz sie gerade fütterte. Soweit er sich erinnerte, hatte er in Wirklichkeit gesagt: »Himmel, wie melodramatisch. Das hört sich an wie eine Stelle in Frankenstein, wo der Blitz schließlich in den Blitzableiter auf der höchsten Zinne der Burg einschlägt und das Ungeheuer zum Leben erweckt!«
»Es ist unmöglich, sie zu füttern, wenn du nicht damit aufhörst«, bemerkte Liz. Sie hatte einen kleinen Spritzer Erbsenpüree auf der Nasenspitze, und Thad verspürte den absurden Drang, ihn wegzuküssen.
»Womit soll ich aufhören?«
»Wenn du grinst, grinsen sie auch. Und ein grinsendes Baby kann man nicht füttern.«
»Entschuldigung«, sagte er demütig und blinzelte den Zwillingen zu. Einen Augenblick lang wurde ihr grünumrandetes Lächeln breiter.
Dann senkte er den Blick und las weiter.
»Nachdem ich den Namen hatte, fing ich noch am selben Abend mit der Arbeit an Machine’s Way an; aber da war noch etwas. Ich spannte ein Blatt Papier in meine Schreibmaschine, wie immer, wenn ich schreiben will – und dann zog ich es wieder heraus. Ich habe all meine Bücher mit der Maschine geschrieben, aber George Stark hielt offenbar nichts von Schreibmaschinen.«
Für einen Moment erscheint wieder das Lächeln auf seinem Gesicht.
»Vielleicht deshalb, weil es in den staatlichen Hotels, in denen er seine Strafen absaß, keine Schreibmaschinenkurse gab.«
Beaumont spielt auf George Starks »Schutzumschlag-Biographie« an, in der es heißt, der Autor wäre neununddreißig Jahre alt und hätte dreimal im Gefängnis gesessen: wegen Brandstiftung, wegen Bedrohung mit einer tödlichen Waffe und wegen Überfalls mit mörderischer Absicht. Der Text auf dem Schutzumschlag ist jedoch nur ein Teil der Geschichte; Beaumont holt eine Autoreninformation der Darwin Press aus der Schublade; dort ist der Lebenslauf von George Stark bis ins kleinste Detail wiedergegeben – nur ein guter Romancier kann einen Charakter auf diese Art quasi aus dem Nichts erschaffen. Von seiner Geburt in Manchester, New Hampshire, bis zu seinem letzten Wohnsitz in Oxford, Mississippi, ist alles vorhanden, ausgenommen George Starks Beisetzung in Castle Rock, Maine.
»In einer meiner Schreibtischschubladen fand ich ein altes Notizbuch, und ich benutzte die hier.« Er deutet auf den Steinzeugtopf mit den Bleistiften und scheint etwas überrascht, als er feststellen muß, daß er einen davon in der Hand hält. »Ich fing an zu schreiben, und auf einmal stand Liz an der Tür, sagte, es wäre Mitternacht, und fragte, ob ich überhaupt nicht ins Bett wollte.«
Liz Beaumont hat ihre eigenen Erinnerungen an diesen Abend. Sie sagt: »Ich wachte um viertel vor zwölf auf und sah, daß er nicht im Bett war, und ich dachte, nun ja, er schreibt. Aber ich hörte die Schreibmaschine nicht, und da bekam ich es ein wenig mit der Angst zu tun.«
Ihr Ausdruck läßt vermuten, daß es mehr als nur ein wenig war. »Als ich hinaufkam und ihn in dieses alte Notizbuch schreiben sah, war ich sprachlos.« Sie lacht. »Seine Nase berührte fast das Papier.«
Der Interviewer fragt, ob sie erleichtert gewesen war.
Mit leiser, gemessener Stimme sagt Liz Beaumont: »Ich war sehr erleichtert.«
»Ich blätterte in dem Notizbuch zurück und stellte fest, daß ich sechzehn Seiten geschrieben hatte, ohne etwas durchgestrichen zu haben«, sagt Beaumont, »und ich hatte drei Viertel eines brandneuen Bleistifts im Anspitzer in Späne verwandelt.« Er mustert den Steinzeugtopf mit einem Ausdruck, bei dem es sich ebensogut um Melancholie wie um hintergründigen Humor handeln kann. »Vielleicht sollte ich jetzt, wo George tot ist, diese Bleistifte in den Müll werfen. Ich selbst brauche sie nicht. Ich habe es versucht. Es funktioniert einfach nicht. Ich bin auf die Schreibmaschine angewiesen. Sonst werden meine Hände lahm und dumm. Bei George war das nie der Fall.«
Er schaut auf und bedenkt den Interviewer mit einem mysteriösen Zwinkern.
»Liebling?« Er richtete den Blick auf seine Frau, die sich gerade bemühte, den Rest Erbspüree in William hineinzubekommen. Ein beträchtlicher Teil davon schien auf seinem Lätzchen gelandet zu sein.
»Ja?«
»Sieh mich einen Moment an.«
Sie tat es.
Thad zwinkerte.
»War das mysteriös?«
»Durchaus nicht.«
»Es kam mir auch nicht so vor.«
Der Rest der Story ist ein ironisches Kapitel in der größeren Geschichte dessen, was Thad Beaumont als »das, was die Spinner den Roman nennen« bezeichnet.
Machine’s Way wurde im Juni 1976 von der relativ kleinen Darwin Press herausgebracht (Beaumonts »eigene« Bücher werden von Dutton verlegt), wurde zum Überraschungserfolg des Jahres, kletterte auf den ersten Platz sämtlicher Bestsellerlisten von Küste zu Küste und lieferte das Drehbuch für einen Film, der ein Kassenschlager wurde.
ENDE DER LESEPROBE
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Die Originalausgabe THE DARK HALF erschien 1990 bei Viking Press, Penguin Books, New York
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 09/2009
Copyright © 1989 by Stephen King Copyright © 1990 der deutschen gebundenen Ausgabe by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Copyright © 1991 der deutschen Taschenbuchausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer Illustration von (c) Anja Filler
eISBN : 978-3-641-03571-6V002
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