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Bei der Detonation einer Sternenbrücke geht das Raumschiff von Yul Debarras Frau im Hyperraum verloren. Seitdem zweifelt Yul am Sinn seines Lebens, doch dann erhält er ein einmaliges Angebot: Als Bordarzt heuert er auf einem Raumschiff der Starsilver Corporation an, das die zerstörte Sternenbrücke reparieren soll. Yul nimmt den weiten Unterlichtflug in Kauf, da er hofft, so etwas über das Verschwinden seiner Frau herauszufinden. Doch wird er nach eineinhalb Jahrhunderten in einer Kälteschlafkammer wirklich das im Zielsystem vorfinden, was er sich erhofft hat?
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2022
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© Piper Verlag GmbH, München 2022
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Cover & Impressum
Wider die Leere
Ein halbes Jahr später
Chance
Einhundertsechsundvierzig Jahre später
Brückenbauer
Überfall
Reparaturen
Paradies
Risse
Entscheidungen
Bündnisse
Wandel
Drei Monate später
Wahl
Elf Monate später
Heilung
Glossar
Dramatis Personae
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Fürst Yul genoss die Frische, die sich mit dem Platzen der Traube in seinem Mund ausbreitete. Er kaute mit geschlossenen Lidern und hinter dem Kopf verschränkten Händen. Die Süße kitzelte auf seiner Zungenspitze, zugleich prickelte Säure an den Seiten. Eine Präzision, die seine Sinneswahrnehmungen in der Realität niemals erreichten. Dort klebten sie in den Beschränkungen des Fleisches fest, am Körper, den der Zufall zum Zeitpunkt von Yuls Geburt aus der endlos brodelnden Suppe chaotischer Evolution an die Oberfläche gespült hatte.
Hier nicht. Lächelnd öffnete Yul die Augen. Was er hier sah, roch, schmeckte oder sonst wie wahrnahm, fand seine Grenzen lediglich in seiner Fähigkeit, einem Codemonger zu vermitteln, was er sich wünschte. Und natürlich im Gewicht seines Balancechips. Auch wenn in seiner Wunschwelt jeder eine funktionslose, schneeweiße Raute in der Stirnhaut trug, reichte die Macht des Geldes bis hierher.
Mittlerweile entsprach der Raum, in dem Yul seinen Imbiss einnahm, perfekt seinen Vorstellungen. Er befand sich auf halber Höhe des Schlosses, fünfzig Meter hoch über dem Meer. Die Abendsonne versank hinter dem Horizont. Ihr tieforangefarbenes Licht schuf einen Keil aus Gold auf den ruhig webenden Wellen des Ozeans. Yul liebte den Blick in die uferlose Weite. An der Westseite des Zimmers verbanden nur fünf Säulen aus weißem, geriffeltem Stein Boden und Decke. Ungehindert wehte der Seewind herein und umfächelte Yuls Gesicht mit Feuchtigkeit und Salzgeruch. Ein paar Möwen flogen in einiger Entfernung vorüber. Ihr weißes Gefieder hob sich vom wolkenlosen Himmel ab, der allmählich von einem dunklen Blau ins Violett wechselte. Solange sich die Vögel nicht allzu schnell seitwärts bewegten, ähnelten sie beleuchteten Raumschiffen in der Dunkelheit des Alls.
Yul merkte, wie sein Lächeln erstarrte. Der Gedanke an Raumer fühlte sich an, als streichelte ihn die rissige Hand einer alten Frau.
Er lehnte sich zurück, blickte hinauf zur Decke und überlegte, ob er die Möwen aus diesem Teil seiner Wunschwelt entfernen sollte. Mit der Veränderung der Decke war er zufrieden. Sie glänzte noch wie Chrom, spiegelte aber nichts mehr. Anfangs hatte das Wechselspiel mit dem Fußboden, der ebenfalls aus Chrom bestand, für endlose Spiegelungen in Spiegelungen in Spiegelungen gesorgt. Der Codemonger hatte vorausgesehen, dass dieser Effekt Yul bei den Wanderungen durch sein damals noch leeres Schloss in den Wahnsinn treiben würde. Es hatte ihn nur ein Grinsen und einen kurzen Programmbefehl gekostet, um alles auf jeweils ein einziges Spiegelbild zu reduzieren, aber auch das hatte Yul noch irritiert. Er mochte den indifferenten Glanz des Chroms, frei von allen Reflexionen, und so war es jetzt auch. Es lohnte sich, seine Träume ständig zu verbessern.
Sollten die Möwen über dem westlichen Ozean also verschwinden?
Vielleicht wäre es besser, eine andere Farbe für den Himmel bei Sonnenuntergang zu wählen. Etwas heller. Es verlieh Yuls Gedanken Leichtigkeit, wenn er den Vogelflug beobachtete. Und Leichtigkeit konnte er wahrlich gebrauchen.
Ein Winseln erbat seine Aufmerksamkeit.
Yul sah neben seinen Sessel. Pilgrim saß auf dem Chromboden und blickte ihn mit seinen schwarzen Knopfaugen an. Der Goldton seines lockigen Fells war nur einen Hauch dunkler als das Wasser, das die untergehende Sonne entflammte. Der Hund wedelte mit dem kurzen Schwanz, der dadurch über den staubfreien Boden wischte, und leckte seine Lefzen.
Yul beugte sich vor und klaubte eine gerollte Scheibe von der Schinkenplatte. »Magst du das?«
Pilgrim schnappte, als müsste er seine Beute aus der Luft fangen.
Lachend warf Yul ihm den Schinken zu.
Während der Hund zufrieden schmatzte, wanderte Yuls Blick über die Teller, Schalen und Platten auf dem ovalen Tisch. Mandarinenstücke, geschälte und zerteilte Bananen, Haselnusskerne, Trauben, Mandeln, Himbeeren, Käsewürfel. Nichts wurde in dieser Wunschwelt matschig oder gar schimmlig, alles blieb frisch. Unentschlossen ließ er seine Finger tanzen, um dann ein Viertel von einem Apfel zu wählen und sich wieder zurückzulehnen.
Er sah den Sessel zu seiner Rechten an. »Was sollen wir mit den Möwen machen?«
Kein Körnchen Staub war auf der hölzernen Sitzgelegenheit zu erkennen. Natürlich nicht, in ihrer Zeit als Laborassistentin in der Chipfertigung hatte Iona eine Abneigung gegen Unreinheiten entwickelt. In Chrome Castle gab es nichts, das ihr missfallen hätte.
Der Wind zupfte an der roten Seide des Schals, der auf den Lehnen des Sessels lag. Ein Kleidungsstück, das nicht gemacht war, um Kälte abzuhalten, sondern um Eleganz zu unterstreichen.
»Und was meinst du?«, wandte sich Yul an Pilgrim.
Der Hund leckte sein Fell. In Momenten wie diesem fragte sich Yul, ob es möglich war, dass sich eine Katze in Pilgrims Ahnenlinie eingeschlichen hatte.
Leise seufzend sah er wieder hinaus zu den Möwen. Diese Entscheidung würde er allein fällen müssen. Wie jeden Entschluss, der seine Wunschwelt betraf.
Offenbar interpretierte das Programm Yuls Untätigkeit als Langeweile. Es schuf mit einem Boten Abhilfe, der abgehetzt in den Raum stürzte. Der blonde Jüngling mit dem Pagenschnitt war ein generisches Design, an dem Yul noch keine Individualisierung vorgenommen hatte. Helle Haut, natürlich die weiße Raute in der Stirn, ein blauer Wappenrock, der über dem Herzen die stilisierten Halbleiterbahnen zeigte, die überall in Chrome Castle zu sehen waren, eine enge Hose, Schuhe mit hochgebogenen Spitzen. Er fiel auf seine knochigen Knie. »Das Nichts bestürmt uns! Rettet uns, Herr!«
»Natürlich.« Mit mäßiger Begeisterung drückte sich Yul an den Lehnen hoch. »Lauf zu Frauchen, Pilgrim!«, forderte er den Hund auf. »Du bist die letzte Verteidigung, wenn alle anderen scheitern.«
Obwohl das goldgelockte Tier allenfalls dadurch gefährlich werden konnte, dass sein Bettelblick einen zu Tränen rührte, nahm es seine Beschützeraufgabe ernst. Es sprang auf und lief durch die offen stehende Tür davon.
Yul beachtete den Diener nicht weiter. Im Gegensatz zu Iona fiel es ihm schwer, offensichtlich künstlichen Konstrukten mit Respekt zu begegnen oder sie gar wie Personen zu behandeln. Um eine Verbindung aufzubauen, brauchte Yul die Illusion der Einmaligkeit, die kleine Fehler und andere Besonderheiten erschufen.
–
Mit weiten Schritten eilte Fürst Yul durch Gänge und Säle, in denen weiße Säulen die Chromdecken stützten. Die Wände bestanden aus schwarzem Basalt. Schlanke Fenster öffneten den Blick auf den Ozean oder das Gebirge, dessen schneebedeckte Gipfel im letzten Sonnenlicht zu brennen schienen, während die steilen Bergflanken bereits Schatten warfen. Auf den Treppen nahm er drei Stufen mit jedem Schritt. Seine Absätze knallten auf dem Chrom wie Hammerschläge, ein gleichmäßiger Takt wie bei einem Metronom. In seiner Wunschwelt ermüdete Yul auch nicht, nachdem sich seine weiche Stoffkleidung in eine Rüstung aus glänzendem Stahl verwandelt hatte.
Er passierte Gemälde, deren Rahmen wie Halbleiterbahnen gemustert waren. Sie fassten Szenen aus Ionas Leben ein, die wie Ölbilder anmuteten. Wie sie den Vortrag aufzeichnete, der ihr die Professur einbrachte. Wie sie mit verschränkten Armen den Prototypen eines Hochleistungsrechners auf den Schrott schickte, weil die Kommunikation der verbauten Siliziumhirne – trotz der Entwicklungskosten im Wert von einer Tonne Rhodium – Streitfälle unzureichend löste. Wie sie der akademischen Welt den Rücken kehrte und ihren ersten kommerziellen Auftrag als Interpretin für künstliche Intelligenzen annahm. Wie sie mit Pilgrim spielte. Wie sie Yul heiratete. So groß, dass nur ihre Gesichter und Ionas rechte Hand auf dem Bild Platz fanden: wie sie Yuls Wange streichelte. Er erinnerte sich an Hunderte unterschiedliche Arten, auf die sie das getan hatte, und noch jetzt spürte er bei der Erinnerung ein wohliges Kribbeln im Nacken.
Mit einem Schild am linken Unterarm und einem silberglänzenden Schwert in der rechten Faust trat Yul auf den östlichen Wehrgang. Über den Bergen funkelten Sterne in einem samtschwarzen Himmel. Sie erschienen fern, kalt und hart wie Diamanten, unbeeindruckt vom Geschick ihrer sterblichen Bewunderer, unverrückbar für die Ewigkeit.
Außer in einem Bereich im Nordosten. Dort verschluckte eine undurchdringliche Finsternis die Himmelslichter. Eine Verzerrung umgab sie, als zerknitterten die räumlichen Dimensionen gleich einem Tischtuch, wenn sie vorüberzog. Das blieb auch so, als sie herabsank und den Gipfel eines Bergs verdeckte: Erst erzitterte die Spitze des Massivs, wackelte wie in heißer Luft, dann verschluckte die Schwärze den Schnee und den Fels. Über ihr erschienen die Sterne wieder in unerschütterlicher Ruhe.
Yul war der einzige Verteidiger von Chrome Castle, er stand allein gegen die Leere. So wollte er es. Er sprang auf eine Zinne und breitete die Arme aus. »Komm her und stell dich!«
Die Finsternis nahm Formen an, auch wenn Yul sie nicht mit letzter Sicherheit erfassen konnte: Schwingen, Klauen, ein peitschender Schweif, ein lang gezogener Schädel mit einem riesigen Maul, in dem gebogene Hauer drohten, alles so dunkel, dass selbst der Nachthimmel zwischen den Sternen im Vergleich dazu hell erschien. Yul erahnte die Konturen mehr, als dass er sie sah.
»Hier bin ich!« Donnernd schlug er die Schwertklinge gegen den Schild. »Komm her, wenn du dich traust!«
Die Leere nahm die Herausforderung an. Ihr blieb keine Wahl, sie war darauf programmiert. Mit weiten Schwingenschlägen kam sie heran. Rasch wuchs sie an, verschluckte und verzerrte immer größere Bereiche der hinter ihr liegenden Landschaft, während sie sich näherte.
Yul sprang von Zinne zu Zinne, um den Abschnitt zu erreichen, in dem der Feind das einhundert Meter hohe Bollwerk angreifen würde. Tief unter sich sah er das Glitzern silbrigen Wassers im Burggraben, dahinter die im Grau des verdämmernden Tages liegenden Hügel. Von hier oben aus betrachtet waren die Kirschbäume, unter deren Kronen eine berittene Jagdgesellschaft Zuflucht fand, so klein, dass man sie mit einem Finger verdecken konnte.
»Na komm schon!«, rief Yul. »Komm her, wenn du dich traust, du … Nichts!«
Die Leere tauchte ab. Sie täuschte an, zehn Meter unter ihm die Festungsmauer zu rammen. Im letzten Moment, als die Verzerrung bereits den weiß verputzten Stein erreichte, aber kurz vor dem Kontakt mit der massiven Schwärze, riss sie ihre Flugbahn steil nach oben. Ein Stück vor Yul schlugen ihre Schwingen gegen einen schlanken Turm.
Als explodierte eine Granate, spritzten Steinsplitter in alle Richtungen. In der schwarzen Leere verschwanden sie einfach, so wie ein Lichtstrahl im Vakuum erlosch. Trümmerstückchen prasselten auf die Brustplatte und den Helm von Yuls Rüstung, andere schlugen gegen die Dachaufbauten oder zerrissen die üppigen Beete voller Blumen, die hier oben blühten.
Yul fehlte die Zeit, den Schaden zu bedauern. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf die finstere Wesenheit, die mit ausgebreiteten Schwingen auf den Wehrgang sprang. Er rammte den Schild gegen das aufgerissene Maul, das der schlangenartige Hals auf ihn zustieß. Der Atem der Bestie wehte ihm entgegen, eiskalt wie eine einsame Winternacht. Die Wucht des Aufpralls hätte ihn umgeworfen, wenn Yul nicht so erfahren gewesen wäre, den Impuls zu nutzen, um sich um die eigene Achse zu drehen und seinem Gegner entgegenzuwirbeln. Er stieß das Schwert vor. Die Spitze tauchte in die indifferente Finsternis des Leibes.
Die Leere warf den Kopf zurück und brüllte zum Himmel hinauf, als wollte sie einen Richter anrufen, der die Blasphemie ahndete, dass so ein kümmerlicher Mensch sie verwundete. Sie schlug die Schwingen zusammen, sodass sie Yul umhüllten. Es war wie eine Umarmung durch das Nichts, ein Angebot, ihn der Welt mit all ihren Mühen zu entreißen.
Trotz der Nähe erkannte Yul seinen Gegner nur schemenhaft. Maul, Zähne, Tatzen … wie eine Ansammlung von Schattenrissen. Die Verzerrung ließ ihn schwindeln.
Er drang vor, stieß mit dem Schild, hackte mit der Klinge. Fühlte, wie er auf Widerstand traf.
Kälte strömte ihm aus jeder Wunde entgegen, die er schlug. Sie schmerzte beim Luftholen. Er wagte nicht, den Griff um das Schwert auch nur für einen kurzen Moment zu lockern, weil er fürchtete, die Faust danach nicht mehr kraftvoll schließen zu können.
Eine Schwinge, ein Bein oder der Schweif – etwas traf ihn mit solcher Wucht, dass es ihn von den Füßen hob, er fünf Meter weit flog, gegen eine Zinne prallte und scheppernd auf den Boden krachte.
Sofort rappelte er sich auf, war aber zu langsam, um den nächsten Schlag zu parieren. Die Attacke traf seine Rüstung an der rechten Flanke. Ein helles Knallen zeugte davon, dass eines der Scharniere brach.
Yul drehte sich, um die angeschlagene Seite vom Gegner wegzudrehen und diesen mit dem Schild auf Distanz zu halten.
Doch die Leere bewies ihre Agilität. Er hörte ihre Schwingen über sich schlagen, Dunkelheit fiel auf ihn, und im nächsten Moment hockte sie auf den Zinnen. Sie schnappte nach ihm.
Der Schild kam zu spät. Zielsicher fand das Maul den fingerbreiten Spalt, der sich im Harnisch öffnete. Entschlossen rissen die Zähne. Die Brustplatte löste sich. Sie hing nur noch an den Scharnieren der linken Seite. Halb aufgeklappt war sie mehr Hindernis als Schutz. Eisiger Atem traf ungehemmt auf Yuls Körper, kroch auch unter der Halskrause in den Helm hinein.
Er hatte Angst, aber er hatte gelernt, sie nicht über sein Handeln bestimmen zu lassen.
Im Gegenteil! Als das zahnbewehrte Maul erneut vorzuckte, gab Yul nicht nach. Er wich gerade genug aus, dass es an ihm vorbeischoss, und sprang seinerseits auf den Gegner zu, mit der rechten, der ungeschützten Seite voran.
Das brachte seinen Schwertarm neben den dünnen Hals.
Bei allen wichtigen Dingen gewährte das Leben nur eine einzige Chance. Yul schlug zu, so fest er konnte. Tief hackte er die Klinge in den Nacken.
Er konnte den Kopf nicht abtrennen, aber es reichte. Schlaff stürzte das Ungeheuer zu Boden.
Auch im Tod war es nur ungenau zu erkennen. Kalte Finsternis, formloses Grauen, die Negierung von Yuls Träumen.
Das Schwert steckte in der Wunde fest. Halbherzig versuchte Yul, es freizuziehen. Er gab es auf, ließ dem besiegten Gegner die Waffe und trat einen Schritt zurück.
Erst in einigem Abstand bemerkte er, dass er zitterte. Unbestimmbares, unfassbares Grauen aus der Leere des Weltalls lag dort vor ihm. Ja, solcherart waren die Feinde, denen er sich stellen musste. In seiner Wunschwelt wurden sie immerhin greifbar genug, um sie bekämpfen und besiegen zu können.
Er sah zum beschädigten Turm hinüber. Auch einige Zinnen und der Dachaufbau mit der Sternwarte hatten gelitten. Yul entschied, sie nicht mit einem Reset auf die Ausgangskonfiguration zurückzusetzen. Er wollte die Reparatur der Schäden miterleben. Vielleicht wäre das wie eine Heilung.
Überhaupt würde das seiner Wunschwelt mehr Dichte geben. Die meisten künstlichen Wirklichkeiten waren zu fertig, zu statisch. Nur selten wurde etwas aufgebaut oder ging kaputt und musste wiederhergestellt werden. Ein weiteres Detail, das er ergänzen würde, wenn er genug Geld dafür hätte. Noch vor der Individualisierung der Nebenfiguren.
Er begriff, dass sein Zittern erst nachließe, wenn er das erschlagene Monstrum nicht mehr sehen müsste. Obwohl er die Regeln des Programms kannte, gab es etwas in seinem Innern, das dem Sieg misstraute und befürchtete, der überwundene Gegner könnte sich wieder erheben.
Freudlos schüttelte Yul den Kopf. Er machte sich an den Abstieg.
–
Auf der Treppe verschwand die Rüstung, während die Kleidung aus Samt und fein gewebter Wolle zurückkehrte. An ihr waren keine Beschädigungen zu erkennen, und der Panzer wäre beim nächsten Einsatz ebenfalls wieder in tadellosem Zustand. Widersinnigerweise machte das Yul unzufrieden.
Er erreichte ein Zimmer, das ein Spieltisch beinahe vollständig ausfüllte. Mit Stäben und Fäden konnten zwei Spieler Magnete über die bemalte Fläche bewegen und dadurch Holzkugeln anstoßen oder Hindernisse in ihre Bahn schieben. Das Ziel bestand darin, die Kugeln in Vertiefungen an der gegenüberliegenden Tischseite zu versenken. In Chrome Castle gab es ausschließlich Spiele, die für zwei Spieler vorgesehen waren.
Ein Feuer knisterte in einem Kamin. Im Schein der Flammen sah Yul gerade noch den Zipfel eines roten Seidenschals im Dunkel der Tür zu seiner Rechten verschwinden.
Von dort kam Pilgrim hechelnd in den Raum gelaufen.
Mit einem Lächeln, das sich bitter anfühlte, ging Yul in die Hocke und lud den Hund in seine Arme ein. Die kleine Zunge leckte sein Gesicht ab.
Yul nahm den Kopf zurück und streichelte das Fell. »Du bist immer im Auftrag der Königin unterwegs, was, Pilgrim? Wollen wir sie suchen?« Er wuschelte durch die goldfarbenen Locken. »Wir werden sie nicht finden, weißt du? Nie, wenn ich dabei bin.«
Als wollte Pilgrim dieser Aussage widersprechen, blickte er zu der dunklen Tür.
»Es ist noch zu früh dafür«, erklärte Yul. »Für Iona brauche ich einen viel schwereren Balancechip, als ich jemals gehabt habe. Und dann muss ich einen Codemonger finden, der mehr Künstler als Handwerker ist. Bis dahin werde ich mit dir vorliebnehmen.«
Er tauchte die Nase in das Fell.
Und zuckte zurück.
Fragend blickte der Hund ihn an.
Yul runzelte die Stirn und setzte das Tier ab. Er sah in die Richtung, wo der Schal verschwunden war. »Du warst doch mit ihr zusammen …«
Pilgrim machte Platz und leckte sich die Lefzen.
Was war das schon wieder für eine Schlamperei?
»Ausstieg!«, rief Yul.
»Möchtest du den aktuellen Status deiner Wunschwelt speichern?«, fragte eine körperlose Frauenstimme, die bestimmt irgendein Konzernpsychologe danach ausgesucht hatte, dass sie beruhigend wirkte und keine Aggressionen weckte.
So etwas zeitigte bei Yul den gegenteiligen Effekt. »Ausstieg!«, rief er. »Was ist denn daran so schwer zu verstehen? Ich will aussteigen! Sofort!«
»Soll der Status gesichert werden?«, fragte die Stimme. »Ohne Sicherung wird deine Wunschwelt beim nächsten Besuch wieder so erscheinen wie zu Beginn des aktuellen Laufs.«
»Das ist mir klar! Und ich will aussteigen. Ich will weder, dass du mir vorher einen bläst, noch will ich erklärt bekommen, was jeder Neuling nach dem ersten Besuch weiß, noch will ich hier weiter meine Zeit vertrödeln.« Er trat unter die Tischplatte, sodass die Spielelemente durcheinanderflogen. »Ausstieg! Sofort! Zurück ins Fleisch! Jetzt!«
Chrome Castle verschwand.
–
Was Yul Debarra an den billigen Traumalkoven im Lizzard’s besonders hasste, war der Druck, den der Chipleser auf die Stirn ausübte, während das Bewusstsein aus der Wunschwelt ins Fleisch zurückkehrte. Zwar war es in seinem Sinne, dass ihm die nicht verbrauchte Reservierung von Rhodiumgramm-Äquivalenten wieder gutgeschrieben wurde, aber die Prozedur fühlte sich an, als zielte jemand mit einem Bolzenschussgerät auf sein Frontalhirn. Das einzig Positive daran war, dass es davon ablenkte, wie sich die Schläuche, die den Nährstoff- und Flüssigkeitshaushalt regulierten, aus Adern und Intimbereichen zurückzogen. Wobei diese Ablenkung nicht funktionierte, wenn man daran dachte, dass man gerade abgelenkt wurde.
Der Chipleser klappte weg.
»Du hast zwei Tage, sieben Stunden und drei Minuten in der Wunschwelt verbracht«, informierte ihn die weiblich klingende Administrationsstimme. »Du befindest dich im Lizzard’s Den, Libreville, Ostatlantische Konföderation, Afrika, Erde.«
»Du solltest auch noch erwähnen, dass sich die Erde im Solsystem befindet«, murrte Yul. »Für diejenigen, deren Hirn totales Mus ist. Bestimmt eure besten Kunden.«
»Heute ist Samstag, der fünfte November 2518. Die Ortszeit ist einundzwanzig Uhr, dreiundvierzig Minuten.«
»Und wie viele Sekunden?«
Die widerlich sanfte Stimme blieb die Antwort schuldig. Sie gab nur die Informationen weiter, die ihre Abschlussroutine vorgab. »Das Restguthaben auf deinem Balancechip beträgt dreihundertsiebenundzwanzig Milligramm Rhodium-Äquivalent.«
»Na toll.« Yul würde keinen Codemonger finden, der dafür eine brauchbare Erweiterung seiner Wunschwelt vornähme. Das würde kaum reichen, um sich einen Monat in Suppenküchen zu ernähren. Solchen, bei denen man nicht so genau wusste, ob einem das Fleisch für die Einlage eine halbe Stunde zuvor quiekend und bepelzt in der Gosse begegnet war.
Der Formschaum, der während des Traums Druckstellen verhinderte, weichte auf. Yul kreiste die Schultern, um den Blutfluss anzuregen. In einem besseren Alkoven hätte das eine Massagefunktion übernommen. Aber in einem besseren Alkoven wäre Yuls Balancechip jetzt noch leichter als dreihundertsiebenundzwanzig Milligramm Rhodium-Äquivalent gewesen.
Der Deckel klappte nach vorne hoch. Grünes Deckenlicht beschien die Kabine, in der neben dem Alkoven auch eine Kommode aus halbtransparentem Hartplastik stand, deren Schlösser sich mit einem hellen Klacken entriegelten.
Der Muskelschmerz, der das Anziehen der Beine begleitete, war nicht der Rede wert. Yul setzte sich auf, drehte sich und stellte die Füße auf den Boden. Er gönnte sich einen Moment, um vor seine Zehen zu starren. Schwarze Fliesen, keine Spur von Chrom. Er war zurück.
»Wir hoffen, dein Erlebnis war angenehm«, sagte die Stimme, die hier ebenso körperlos blieb wie in der Wunschwelt. »Es würde uns freuen, dir bald wieder zu Diensten zu sein. Bitte denke an deinen Codekristall.«
»Ich denke an nichts anderes.« Er wartete, bis die Halterung vollständig aus der Innenseite des Alkovendeckels gefahren war, und entnahm die wasserblaue Pyramide. In der Handfläche spürte er ihre in Facetten gearbeitete Form, die klaren Kanten und die Spitze, aber kein Gewicht. Träume wogen nichts, auch wenn Erinnerungen so schwer auf der Brust lasten konnten, dass sie einen erstickten.
Yul erhob sich. Er stellte den Codekristall auf die Kommode. Der Anflug eines schlechten Gewissens regte sich, während er die Geschäftskleidung aus dem obersten Fach nahm. Seine Tochter hatte sich wirklich Gedanken gemacht. Das schräg von der linken Hüfte zur rechten Schulter schließende Jackett ließ das Violett des Hemds erkennen. Nicht nur am Röhrenkragen, der zwar eng an Yuls Hals lag, aber nicht in die Haut schnitt. Auch die Länge der Ärmel war genau bemessen, sodass noch ein Stück des Hemds darunter hervorkam. Die schlichte schwarze Hose war einfacher gestaltet, zwar auf Yul zugeschnitten, aber aus recyceltem Stoff gefertigt. Neue Schuhe hätten das Budget überfordert. Yul stieg in die Boots, deren Schäfte bis zur Hälfte der Waden heraufreichten.
Er kontrollierte, dass die Kommode leer war, und steckte den Codekristall in die Innentasche auf der linken Seite des Jacketts, bevor er die Magnetleiste des Kleidungsstücks schloss.
Yul presste die Zähne aufeinander. Sicher, Lizzard’s Den war keine Nobeleinrichtung, aber wenn er Ionas Duft teuer in seine Wunschwelt hatte hineinprogrammieren lassen, dann wollte er ihn, verdammt noch mal, auch riechen! Er hätte in Pilgrims Fell haften müssen. Eine solche Schlamperei würde Yul nicht hinnehmen.
Er stellte sich vor den Ausgang der Kabine. »Öffnen!« Ein Distanzleser verifizierte seine Identität anhand des Balancechips in seiner Stirn. Die Tür glitt zur Seite.
–
»Hier ist er drauf!« Yul Debarra streckte Lizz den Codekristall entgegen, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. »Der Duft, den ich riechen will. Ich habe ein Vermögen dafür bezahlt!«
»Ach.« Genervt sah Lizz ihn an. Dass die Besitzerin des Lizzard’s Den waagerechte Linien aus Kobalt implantiert hatte – beiderseits der türkis schimmernden Raute ihres Balancechips –, machte sie nicht nur alterslos, sondern verstärkte auch ihr Stirnrunzeln. »Und wieso hast du nicht erst das halbe Gramm abgedrückt, das du mir schuldest?«
»Das tut überhaupt nichts zur Sache, und das weißt du!«, rief Yul. »Du kriegst das Geld nächstes Jahr. So ist es abgemacht.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wann nächstes Jahr?« Lizz trug ein ärmelloses Hemd, dessen Farbe wechselte. Im Moment leuchtete es pink, was gut zu ihrer braunen Haut passte. Ebenso wie die verchromten Augen. Vielleicht hatte sie sich für die Kobaltstreifen in der Stirn entschieden, weil ihre Augen nur einen einzigen Ausdruck kannten.
Yul zog den Kristall zurück, bevor Lizz auf die Idee käme, ihn als Pfand zu fordern. »Nächstes Jahr eben.«
»Na gut.« Sie lehnte sich auf den Tresen, in den die geschuppte Struktur einer Echsenhaut geprägt war. »Bis dahin will ich keine Beschwerden hören.«
»Vielleicht sind die olfaktorischen Reizgeber nicht richtig eingestellt.« Unbestimmt zeigte er auf die Kabine, die er benutzt hatte. Reinigungsmaschinen versprühten Desinfektionsmittel, um sie auf den nächsten Kunden vorzubereiten. Drei Türen weiter waren sie schon fertig, ein grünes Licht signalisierte die Bereitschaft des Traumalkovens. Zwölf davon gab es im Lizzard’s, verteilt auf zwei Stockwerke. Die meisten waren belegt.
»Hattest du ansonsten auch Schwierigkeiten beim Riechen?«, erkundigte sich Lizz.
Er dachte an den Duft von Salz, den der Seewind herangeweht hatte. »Ich glaube nicht.«
»Dein Codemonger hat dich gelinkt«, vermutete Lizz. »Der Duft ist nicht in der Wunschwelt.«
»Aber wir sind Hunderte Geruchsproben durchgegangen!«, protestierte Yul.
Lizz zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ein Versehen beim Codieren.«
»Das glaube ich nicht.« Entschlossen schüttelte Yul den Kopf. »Ich stand daneben, als er die Sequenz eingespielt hat. Er hat die neueste Generation Kalibrierer verwendet.«
»Etwa Platinum KF-13?«
»Genau! Höchste Datenrate, doppelte Redundanz. Da geht nichts verloren.«
»Mag sein«, sagte Lizz gedehnt. »Aber um die in meinen Alkoven auszulesen, musst du extra zahlen.«
»Was?«, rief Yul. »Wieso das denn?«
»Weil es hier steht.« Lizz wischte auf dem Sensorfeld des Tresens herum. Ein halb durchsichtiges Hologramm erschien. Darin raste ein Text vorbei, bis er an einer giftgelb hinterlegten Passage einfror. »Die Nutzungsbedingungen, die jeder Kunde akzeptiert.«
»Mag ja sein!« Verärgert wischte Yul durch das Lichtbild, das die Geste jedoch ignorierte. »Was kostet das?«
»Darüber reden wir«, Lizz grinste schief, »wenn dein Schuldenstand auf null ist.«
»Jetzt fang nicht wieder damit an! Du bist nicht die Einzige, die eine Traumherberge betreibt.«
»Ach? Es gibt noch mehr in Libreville?«
»Ein paar Hundert!«
»Was du nicht sagst!«
»Ich kann jederzeit woanders hingehen.«
Mit großer Geste deutete sie auf den Ausgang. »Ich werde dich nicht daran hindern.«
–
»Bring ihn schnell ins Trockene.« Mit sichtlichem Widerwillen drückte die pausbäckige Mitarbeiterin des Dog’s Heart-Shelters Pilgrim in Yul Debarras Arme. »Das ist kein Wetter, bei dem sich ein Hund draußen aufhalten sollte.«
Yul brummte seine Zustimmung. Für ihn interessierte sich die Tierschützerin offensichtlich nicht. Ihr Mitgefühl beschränkte sich auf Lebewesen, die sich auf vier Pfoten bewegten. Aber Yul wollte sich nicht beschweren. Das Dog’s Heart lag in Nachbarschaft zum Lizzard’s Den, und hier war nicht nur die Unterbringung, sondern auch das Hundefutter kostenlos. Für das Wohl der Tiere fanden sich immer reiche Spender.
Die Pflegerin zog die Brauen zusammen. Vielleicht wollte sie Yul daran erinnern, dass auch der strömende Regen das Shelter nicht zu einer Unterkunft für menschliche Taugenichtse machte. Oder ihr missfiel, wie überschwänglich Pilgrim sein Herrchen begrüßte. Unablässig leckte die kleine Zunge über Yuls Wangen.
Er nickte der Frau zu, drehte sich um und trat auf die Straße. Jenseits des Vordachs fiel der Regen so dicht, dass die Neonreklamen der Stadt verschwammen. Dies war nicht die beste Gegend, die Wassermassen überforderten Rinnen und Gullys. Die Straße war ein zehn Zentimeter tiefer Bach, der an den Stellen, wo der Bordstein gebrochen war, über die Ufer trat und den Bürgersteig überflutete. Einen Junkie schien das nicht zu stören, er lag in seinem Schlafsack an eine Hauswand gedrückt. Vielleicht war er tot.
Pilgrim ruckte in Yuls Armen.
»Willst du wirklich auf eigenen Beinen gehen, alter Freund?«
Im Gegensatz zum Fell seines Abbilds in Yuls Wunschwelt ergraute Pilgrims Haar zusehends. Dennoch regte sich die Leidenschaft für Wasser noch mit der gleichen Energie wie in Welpenjahren.
»Ist ja gut.« Lächelnd ging Yul in die Hocke und setzte seinen vierbeinigen Freund ab.
Sofort rannte Pilgrim auf die Straße, wo ihm das Wasser bis zum Bauch reichte, und sprang umher. Sein fröhliches Bellen ging beinahe im Prasseln und Plätschern des Regens unter.
»Libreville ist wirklich die richtige Stadt für dich.« Yul aktivierte das Regenschutzfeld. Projektoren in den Schultern seines Jacketts leiteten den Niederschlag glockenförmig ab. Allerdings nur, wenn er sich nicht zu rasch bewegte; auch diese Apparaturen waren kostengünstig gewählt. Auf Bodenhöhe waren sie ohnehin nutzlos. Yul war froh über seine zwar klobigen, aber robusten und wasserdichten Schuhe.
Er blickte hinüber zum Lizzard’s Den mit seiner Leuchtreklame, auf der sich eine krokodilartige Echse schützend um ein Gelege aus Traumalkoven wand. Yul hoffte, Lizz nicht dauerhaft verärgert zu haben. Sie hatte beinahe ein Pfund Rhodium-Äquivalent an ihm verdient. Woanders wäre es schwieriger, an Traumzeit zu gelangen. Und jedes Milligramm, das er dafür ausgeben musste, fehlte ihm, um einen Codemonger seine Wunschwelt ausbauen zu lassen. Nicht zum ersten Mal überlegte er, ob es besser wäre, selbst Programmieren zu lernen. Aber das war Ionas Domäne gewesen. Sie hatte es geliebt, Silizium zu analysieren, während seine Stärke darin lag, das komplexe Zusammenspiel zu erfassen, das ein Herz schlagen und eine Lunge atmen ließ.
Er lächelte freudlos. Ein Arzt führte einen Kampf, der von Beginn an verloren war. Am Ende starb jeder. Man konnte die Niederlage lediglich ein wenig hinauszögern. Oft noch nicht einmal das.
Yul spürte die Leere im Magen. Obwohl ein Traumalkoven seinen Gast mit allem Lebensnotwendigen versorgte, fühlte sich der Körper unwohl, wenn der Verdauungstrakt nichts zu tun hatte. Die Instinkte des Savannenjägers erwiesen sich als dem Wissen des Stadtbewohners überlegen.
»Willst du auch etwas mampfen, Kumpel?«
Pilgrim freute sich am Regen. Er sprang im Kreis herum und wedelte mit dem Schwanz.
»Na los. Der Appetit kommt beim Essen.«
Sie wanderten zwischen den Wolkenkratzern hindurch, die davon zeugten, dass auch dieses Viertel einmal lohnend für Investoren gewesen war. Dass nur noch die oberen Stockwerke gleichmäßig beleuchtet und mit Neonreklamen versehen waren, bewies, dass diese Phase der Stadtentwicklung schon ein Jahrzehnt zurücklag. Dort oben wanden sich die transparenten Schlangen der Röhrenbahn um die Bauwerke, als wären sie Fesseln für die Beine gefangener Rehe, deren Körper sich in der Dunkelheit der Wolken verloren. Wer sich ein Apartment oberhalb des fünfzehnten Stocks leisten konnte, verfiel nur dann auf den Gedanken, sich auf das Straßenniveau hinabzubegeben, wenn ihn Abenteuerlust packte. Deswegen konnten sich hier unten Läden wie das Lizzard’s Den und das Dog’s Heart einmieten. Oder das Noodlempire, das Yul ansteuerte.
–
Die Suppenküche öffnete, kurz bevor die Spätschicht in den meisten Fabriken endete, und schloss erst nach Ende der Nachtschicht. »Nudelbox mit Hühnchen«, bestellte Yul Debarra.
Während Ulumba ihm den Chipleser an die Stirn hielt, zogen ihre abgebrochenen Schneidezähne wieder einmal seinen Blick an. »Da solltest du wirklich etwas machen lassen.« Er gestikulierte vor seinem eigenen Mund. »Ist nicht gut, wenn die Kanten offen liegen.«
»Na klar. Wenn du jeden Tag zehnmal zum Essen kommst, kann ich mir das Überkronen vielleicht leisten.«
Er fragte sich, ob er ihr raten sollte, die Stümpfe auszureißen. Aber er wusste nicht, welche Drogen sie nahm. Das grüne Schimmern in ihren Augen deutete auf Ghost-Zero hin, und das hemmte die Gerinnung. Da konnten ein paar ausgerissene Zähne dazu führen, dass man durch den Mund verblutete. Er behielt seinen Ratschlag für sich und bestätigte mit einem Daumenabdruck, dass fünf Milligramm von seinem Guthaben abgebucht wurden.
Ulumba gab Öl in eine Pfanne und warf eine Handvoll Nudeln hinein. Gegarte Fleischstückchen, von denen Yul hoffte, dass sie wirklich von Hühnern stammten, lagen auf einem heißen Herdblech.
Von hinten sah Ulumba schön aus, vor allem der Rücken, den ihr bunt bedrucktes Hemd freiließ. Man konnte sie für eine junge Frau halten, Mitte zwanzig vielleicht. Diese Schätzung verdoppelte sich, sobald sie sich umdrehte und einen ansah.
Ihre Tochter Xanna war acht Jahre alt. Zu jung für einen Balancechip, in ihrer Stirn leuchtete keine Raute, das System hatte sie noch nicht erfasst. Das Mädchen mit den zu Schnecken gedrehten Zöpfen unterhielt sich lieber mit den Gästen als die Besitzerin der Suppenküche. Yul wunderte sich nicht, es auch mitten in der Nacht noch auf dem Plastikstuhl in der Ecke vor dem Glücksspielautomaten sitzen zu sehen.
»Wann fliegst du wieder zu den Sternen, Yul?«, fragte Xanna.
Er lächelte schief. »Heute nicht.« Das antwortete er immer.
Sie sprang auf und ging zur offen stehenden Eingangstür. Zwischen den Hochhäusern, hinter dem Regen, der allmählich nachließ, blinkten die Positionslichter einiger Frachtkabinen, die an den Weltraumfahrstühlen in den Orbit fuhren oder von dort die Ladung der Sternenschiffe herunterholten.
Früher hatten Gold und Holz den Reichtum dieser Weltengegend begründet, heute war es die Lage am Äquator. Sie ermöglichte, Streckgewichte in 35 786 Kilometern Höhe so zu positionieren, dass sie die Erde stationär umkreisten. Sie bewegten sich dort draußen im All mit exakt der richtigen Geschwindigkeit, um von der Erdoberfläche aus betrachtet lotrecht über einem fixen Punkt in Äquatornähe zu stehen. Wie etwa Libreville. Der Raumhafen bestand aus einer Bodenstation, Hochlast-Stahlkabeln, die diese mit den Streckgewichten verbanden, und Liegeplätzen für die Raumschiffe in einer Höhe zwischen sechshundert und achthundert Kilometern. Dadurch blieb den Raumern die Landung erspart, die oftmals wegen des Fehlens jeglicher Aerodynamik der Schiffshülle ohnehin unmöglich gewesen wäre. Auch der enorme Energieverbrauch eines erneuten Starts fiel weg. Lediglich die Kabinen pendelten unablässig auf und ab, eine knappe Stunde pro Strecke. Für Spezialfracht und exzentrische Passagiere gab es Landeplattformen draußen im Atlantik, wo Fähren niedergehen konnten.
»Ich heuere bei den Kolonialtruppen an, wenn ich groß bin!«, rief Xanna entschlossen. »Bei Zoramma Incorporated.«
»Wieso bei denen?«, fragte Yul, um dem Mädchen Gelegenheit zu geben, seine Begeisterung mitzuteilen.
Erwartungsgemäß wirbelte Xanna mit strahlendem Gesicht zu ihm herum. »Die haben leuchtend rote Uniformen.«
Yul nickte mit ernster Miene. »Eine gute Wahl.«
Der Arbeitgeber, für den er zu den Sternen geflogen war, hätte dem nicht zugestimmt. Zoramma war einer der größten Konkurrenten der StarsilverCorporation. Die roten Schocktruppen hatten Starsilver mehrere lukrative Minen in verschiedenen Planetensystemen abgenommen. Aber man musste ihnen lassen, dass sie sich stets an die Regeln der Konzernkriegsführung hielten und neben Vermögenswerten auch Menschenleben schonten, sofern das kommerziell vertretbar war.
»Du musst mir alles beibringen, was man über das Reisen zwischen den Sternen wissen kann!«, forderte Xanna.
»Ein andermal«, versprach Yul.
»Ich würde mir wünschen, dass meine Kleine die Erde hinter sich lässt.« Ulumba reichte ihm die Schachtel mit seinem Essen. »Bis sie groß ist, wird das hier endgültig eine einzige Müllhalde sein.«
»Ich schaffe es bestimmt«, sagte Xanna.
»Ja, bestimmt.« Yul fand, dass sie zu jung war, um sie davor zu warnen, dass es weit schwieriger war, Träume zu bewahren, als sie zu erreichen. Das Glück war ein Zugvogel.
Gemeinsam mit Pilgrim machte Yul sich auf den Heimweg. Die Schachtel mit den Nudeln wärmte seine Hände. Er warf seinem Begleiter ein Stück Hühnchen zu, aber der Hund kaute nur probeweise darauf herum und ließ es dann auf der überspülten Straße liegen. Im Dog’s Heart mussten sie ihn gut gefüttert haben. Erstaunlich, dass er sich dennoch immer so freute, wenn Yul ihn wieder abholte. Pilgrims Treue kannte keine Bedingungen.
–
Dass die drei Ärger bedeuteten, war Yul Debarra in dem Moment klar, als er sie sah. Eine junge Frau, zwei Männer im besten Alter für überschießendes Balzverhalten. Die Hälfte ihrer Kleidung bestand aus Nieten und Stacheln. Einer der Jungs mühte sich mit einem Nagel am Schloss eines Rolltors ab, das einen Elektronikladen schützte. Die beiden anderen standen neben ihm an der Hauswand, deren Windschatten den Regen immerhin ein wenig abhielt. Sie sahen gelangweilt aus, was eine gefährliche Kombination mit der Frustration darüber, dass ihr Kumpel nicht mit dem Schloss fertigwurde, bilden konnte. Dass Pilgrim vor ihnen sein Fell ausschüttelte und sie in einem Sprühregen badete, veranlasste den Burschen, zu einem Tritt auszuholen.
»He, lass das, Bran!« Die Frau drückte ihn mit beiden Händen zur Seite.
»Blöder Köter!«
»Der ist doch süß.«
Vor allem war Pilgrim zutraulich. Er sah sie schwanzwedelnd an, während sie sich hinhockte und ihn aufnahm. Über das Gesicht leckte er sie allerdings nicht. Stattdessen sah er zu Yul.
Der junge Mann, den die Frau Bran genannt hatte, spähte herüber.
Dunkelheit und Regen machten es wohl schwierig, Yul zu erkennen, aber es hatte keinen Sinn, sich zu verstecken. Ruhig ging er weiter.
»Hat sich da jemand beim Gassigehen verlaufen?«, höhnte Bran. »In dieser Gegend führt man doch keinen Hund aus.«
»Ich glaube, dieser Schatz fühlt sich hier wohl.« Die Frau zupfte ein paar Locken auf Pilgrims Kopf zurecht. Mit dem Schlossknacker ging sie weniger zartfühlend um. Sie versetzte ihm einen Tritt. »Wir haben Gesellschaft, Ron!«
Brans Balancechip leuchtete hellblau, ebenso wie der in der Stirn der Frau. Sie hatte ihr Haar im vorderen Bereich passend gefärbt, zum Hinterkopf ging es in Weiß über, was wenigstens ein Minimum an Geschmack verriet. Yul hätte gewettet, dass auch der zweite Mann, der jetzt vom Schloss abließ und sich aufrichtete, einen hellblauen Chip hatte, obwohl ein ledernes Stirnband ihn verdeckte.
Die Farbe verriet, dass sie Geringqualifizierte waren. Sie hatten noch nicht einmal den einfachsten Bildungsabschluss geschafft, geschweige denn spezielle Zertifikate erworben, die sie für die Konzerne interessant gemacht hätten. Man würde sie nur für simpelste körperliche Arbeiten einstellen, etwa beim Verladen schwerer Fracht am Raumhafen oder der Reinigung der ständig verstopften Kanalisationsröhren. Wer mit sechzehn einen hellblauen Balancechip hatte, bekam vielleicht noch eine zweite Chance, aber die drei waren bestimmt schon zwanzig.
Ron stellte sich vor die Frau und spuckte in das Wasser, das über die abschüssige Straße strömte. »Der hat ein Regenschutzfeld. Das hätte ich gern.«
»Wer sich solche Schulterprojektoren leisten kann, trägt doch auch sicher hübschen Schmuck«, überlegte Bran laut. »Ich finde, wir haben uns etwas Hübsches verdient, dafür, dass wir seinen Hund gefunden haben.«
»Den Süßen behalte ich«, sagte die Frau mit quietschender Stimme und rieb eine Wange am nassen Fell.
»Willst du den etwa braten?«, schnappte Ron. »Oder wie kriegen wir sonst etwas in den Magen?«
Yul vermutete, dass sie mindestens eine Mahlzeit zusammenbekämen, wenn sie ihre Nieten und Stacheln bei einem Eisenhändler versetzen würden. Aber dieser Vorschlag würde sicherlich nicht wohlwollend aufgenommen.
Ein paar Meter vor ihnen blieb er stehen. Immerhin erkannte er im Licht der Neonreklamen keine Waffen.
Yul zeigte seine leeren Handflächen, um zu verdeutlichen, dass von ihm keine Gefahr ausging. »Ich habe nichts von Wert. Gebt mir bitte meinen Hund zurück.«
»Nein, ich will ihn behalten«, nörgelte die Frau.
»Du siehst, dass Sarra die Trennung schwerfallen würde.« Bran grinste. »Du wirst uns etwas geben müssen, das sie tröstet. Es wäre grausam, ihr den Hund zu nehmen, den sie gerade erst ins Herz geschlossen hat.«
»Ich trage wirklich keinen Schmuck.«
»Aber du hast ein Regenschutzfeld!« Ron rief es wie eine Anklage. »Überhaupt: Das ist ein hübscher Kittel, den du da trägst. Könnte mir passen.«
»Ich glaube, deine Schultern sind dafür etwas schmal.«
»Das werden wir rausfinden!« Mit platschenden Schritten stapfte Ron auf ihn zu. »Lass ihn mich einmal anprobieren!«
Yul schätzte Sarra nur als Zuschauerin ein, er glaubte nicht, dass sie in eine Schlägerei eingreifen würde. Aber die beiden Jungs schienen es gewohnt zu sein, sich mit den Fäusten durchzusetzen. Zwei gegen einen, und Yul war nie ein guter Kämpfer gewesen …
Seufzend zog er das Jackett aus. Er holte den Codekristall aus der Innentasche, bevor er Ron das Kleidungsstück gab. Der Regen traf ihn jetzt ungebremst und durchnässte Yuls violettes Hemd innerhalb von Sekunden.
Mit einem zufriedenen Grinsen nahm Ron das Jackett und reckte es seinen Freunden entgegen.
»Was hat er da rausgenommen?«, wollte Sarra wissen.
»Er hat doch etwas Wertvolles dabei«, meinte Bran.
Ron wirkte verärgert. Er hatte wohl mehr Anerkennung dafür erwartet, das Jackett erbeutet zu haben. »Was hast du in der Hand? Zeig her!«
»Nur einen Speicherkristall«, murmelte Yul. »Der hat keinen Wert für euch.«
»Lass mal sehen!«, verlangte Ron.
Yul schluckte. Auf diesem Kristall befand sich alles, was von seiner Abfindungszahlung geblieben war. Der Rest war für die Nutzung von Traumalkoven draufgegangen. Schlimmer noch: Der Gedanke, seine Erinnerung an Iona zu teilen, löste Panik in Yul aus. Deswegen gab es nur diese eine Kopie, keine Sicherung in einem von den Konzernen kontrollierten Datennetz, und auch bei den Codemongern bestand er darauf, dass sie sein Programm sofort löschten, nachdem sie daran gearbeitet hatten. Er könnte Chrome Castle nicht wiederherstellen lassen und würde auch alle noch nicht umgesetzten Arbeits- und Erinnerungsdaten verlieren, wenn er den Kristall weggäbe.
»Den könnt ihr nicht haben«, sagte er. »Von mir aus gebe ich euch meine Stiefel.«
»Wer will denn deine ausgelatschten Treter?«, blaffte Ron. »Das ist doch einer von diesen Hochleistungsspeichern, oder? Her damit!«
»Ich kann ihn dir nicht geben.«
»Das kannst du nicht?« Ron ballte die Hände zu Fäusten. »Aber ich kann ihn mir nehmen!«
Yul ging einen Schritt zurück. Pilgrim jaulte.
»Gib Ron besser, was er will«, riet Bran. Er stand jetzt im grünen Licht einer unbekleideten Frau auf der Werbetafel für die Alien Bar.
»Du schwitzt häufig, nicht wahr?«, fragte Yul.
Verdutzt sah Bran ihn an.
»Vor allem am Oberkörper«, vermutete Yul. »Als würde man die Feuchtigkeit aus dir herauspressen. Ist es nicht so? Du musst ständig trinken, und trotzdem bekommst du häufig Kopfschmerzen. Oder betäubst du die? Es gibt genug Zeug, das den Druck aus dem Schädel nimmt, aber das Schwitzen bleibt.«
»Woher weißt du das?«
Yul zeigte auf seine linke Seite, den Bereich zwischen Rippen und Hüfte. Brans dürftige Kleidung verhüllte dort nichts, die weiße Äderung in der dunklen Haut war gut zu erkennen. Es sah aus wie eine Flechte oder ein Netz mit zerrissenen Maschen.
»Kerra-Fieber. Eklige Sache, wenn man es sich einmal eingefangen hat. Soll ich dir verraten, wie man es wieder loswird? Halt dich von Alkohol fern, das ist das Erste.«
»Bist du sein Vater oder was?«, blaffte Ron. »Gib mir endlich den Kristall!«
Unwillkürlich krampfte sich Yuls Faust um den Speicher, die Spitze stach in seinen Handteller. »Nein.«
»Moment!«, forderte Bran. »Kein Alkohol … was noch?«
»Der will dich doch verarschen!«, rief Ron. »Wie blöd bist du eigentlich? Glaubst du, ein Arzt stolpert dir mitten in der Nacht in die Arme, während wir einen Bruch versuchen? Und stellt dir eine Diagnose? Umsonst? Was passiert als Nächstes? Er schenkt dir Medizin?«
»Nicht nötig«, sagte Yul. »Was dein Freund braucht, kann er sich selbst besorgen. Zitronensaft, jeden Tag eine ganze Zitrone auspressen und trinken. Den Oberkörper sauber halten, dreimal täglich mit Seife waschen. Anstrengung vermeiden.«
Gehässig lachte Ron auf. »Erzähl das seinem Boss! Bran kann leider keine schweren Teile mehr wuchten. Gibt es auf dem Schrottplatz auch für einen Schöngeist etwas zu tun?«
Yul beobachtete, wie sich Sarra mit Pilgrim auf den Armen mühte. Der Hund wollte zurück in den Regen. Mit ein wenig Glück verlor die Frau das Interesse an ihm.
Aber Ron schien jetzt versessen auf den Speicherkristall zu sein. Fordernd streckte er die Hand vor. »Her damit!«
Yul schüttelte den Kopf. »Du kriegst ihn nicht.«
Ron stürzte sich auf ihn.
Yul wehrte einen Angriff mit dem Unterarm ab, sodass die Faust ihn nur streifte, aber die andere Hand rammte in seinen Bauch. Es tat höllisch weh, vielleicht hatte eines der Stachelarmbänder etwas damit zu tun. Die Nudeln entschieden sich, den Magen sofort wieder zu verlassen. Erbrochenes spritzte aus Yuls Mund und auf den Angreifer. Ein Schwinger traf ihn an der Wange, riss ihn herum und schickte ihn zu Boden. Das dünne Hemd bot keinen Schutz. Bei dem Versuch, sich abzufangen, schlug er sich die Ellbogen auf.
Ron stampfte auf Yuls Handgelenk, bückte sich und bog die Finger auf. »Stell dich nicht so an! Du hast verloren.«
Yul presste die Zähne aufeinander. Schmerzhaft drückte Rons Gewicht auf sein Gelenk. Er lag auf dem Asphalt, mitten im Strom des Regenwassers. Aber er konnte seine Erinnerungen an Iona nicht hergeben. Er konnte nicht!
Mit der freien Hand griff er Rons Schienbein und versuchte, ihn umzureißen. Vergeblich, Yul war zu schwach.
Mit Pilgrim auf dem Arm kam Sarra dazu. »Stell dich nicht so an!« Sie trat dem Wehrlosen in die Seite. Nicht besonders fest, sie wollte wohl nicht riskieren, den Halt auf ihren hohen Absätzen zu verlieren.
»Ich kann dir auch die Finger brechen«, drohte Ron. »Am Ende kriege ich sowieso, was ich will.«
Yuls Magen hatte sich noch nicht von dem Fausthieb erholt. Er würgte weitere Teile der Mahlzeit hervor. Tränen stiegen ihm in die Augen.
Ron wand den Speicherkristall aus Yuls Hand und reckte ihn triumphierend in die Höhe. »Der ist zehn Gramm wert! Darauf wette ich!«
Pilgrim wand sich jetzt in Sarras Armen, aber die Aussicht auf diesen Reichtum interessierte sie wohl mehr als der Hund, wie der ungläubige Blick auf Rons Beute verriet.
Bran massierte seinen Nacken. Er wirkte nachdenklich.
Yul erkannte, dass er jetzt handeln musste. In ein paar Sekunden wären die drei verschwunden. An Pilgrim mochten sie schnell das Interesse verlieren, aber den Kristall würden sie zu einem Schieber bringen, der ihn löschen und weiterverkaufen würde. Die Erinnerung an Iona wäre verloren.
Das durfte nicht geschehen! Yul sprang auf und nutzte Rons breitbeinigen Stand aus, indem er von hinten seine Hoden griff. Die dürftige Bekleidung bot Yuls Hand nur wenig Widerstand, als sie sich um den empfindlichen Körperteil schloss.
Ron schrie auf und versuchte unbeholfen, sich dem Griff zu entwinden.
Yul benutzte den Daumen, um zusätzlichen Druck auszuüben. »Vorsichtig jetzt, oder dein edelstes Stück wird Sarra keine Freude mehr machen!«
Ron schrie wie am Spieß, erstarrte aber.
»Halt die Klappe! Sofort!«
Das Schreien sank zu einem Wimmern herab.
Yul fand es immer wieder erstaunlich, zu welcher Selbstbeherrschung sogar undisziplinierte Menschen imstande waren, wenn es darauf ankam.
»Her mit dem Kristall!«, forderte er.
Ron drehte langsam den Oberkörper und gab ihm den Speicher.
»Wo ist mein Jackett?«, fragte Yul.
Es war beim Handgemenge zu Boden gefallen. Sarra hob es auf und gab es ihm. Unter seinem strengen Blick setzte sie Pilgrim ab.
»Und jetzt verschwindet, ihr zwei«, befahl Yul. »Da lang.« Er zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. »So weit, dass ich euch nicht mehr sehen kann.«
»Lasst mich nicht allein!«, rief Ron.
»Ihr könnt euch gleich um ihn kümmern«, versprach Yul. »Ich will nur einen Vorsprung.«
Ron zitterte in Yuls Griff. »Geht nicht weg!«
Yul schob den Daumen am rechten Hoden entlang. Er wusste, wo es richtig wehtat.
Ron jaulte auf und zuckte so heftig, dass sein Ellbogen Yuls Gesicht traf. Es war schmerzhaft, aber kein gezielter Angriff.
»Lange hält euer Freund das nicht mehr durch«, meinte Yul.
»Komm.« Bran zog Sarra am Ellbogen mit sich.
Sie verschwanden schnell aus dem Licht der Reklametafeln, aber ihre Schritte waren noch länger zu hören, wie Yul zufrieden bemerkte.
»Hast du Lust, durch den Regen zu laufen, mein Freund?«, fragte er Pilgrim.
Ein helles Bellen antwortete ihm.
Yul ließ seinen Gegner los und rannte, so schnell er konnte.
–
»Pa!«, rief Jinna entsetzt. »Wie siehst du denn aus?«
»Das könnte ich dich genauso gut fragen.« Yul Debarra stand erstarrt in der Tür ihrer gemeinsamen Wohnung. Es war offensichtlich, was seine Tochter gerade trieb. Etwas, das zur selben Zeit hundert- und tausendfach in Libreville geschah, mit der Einschränkung, dass sich meist nur zwei und nicht drei Menschen daran beteiligten.
War es das, was Yul schockierte? Er wusste, dass seine Tochter seit einem Monat Sex mit ihrem Freund hatte. Sie war siebzehn, Clarque zehn Jahre älter. Dass er und Yul sich nicht leiden konnten, war schon beim ersten Blick ins Gesicht klar gewesen. Das mochte auch an der goldenen Raute des Balancechips in Clarques Stirn liegen. Ein Karrierist, dem sein Konzern eine Zukunft versprach, die ihn stets von den Niederungen fernhielte, in denen Yul mit seiner Tochter lebte. Er machte auch keinen Hehl daraus, dass Jinna für ihn nur ein Zeitvertreib war. Sie sagte, für sie sei es nichts anderes, aber was gab es Mächtigeres als die Hoffnung eines Mädchens, das gerade zur Frau wurde?
Den zweiten Typen – den Lockenkopf, der hinter Yuls gebückter Tochter gestanden hatte, während diese sich mit Clarques Glied beschäftigt hatte – kannte er nicht. Sein Balancechip war gelb, nicht golden. Er war also ein High Potential, jemand, der möglicherweise in Clarques Liga aufsteigen könnte, wenn er ein paar Dinge für den Konzern erledigte, die man ungern tat. Überstunden bis zur totalen Erschöpfung waren dabei die harmloseste Variante.
Jetzt flüchtete er sich hinter einen Sessel, um seine Blöße zu verbergen. »Ist das ihr Alter?«
»Ja, das ist der Penner.« Clarque wickelte sich ein Tuch um die Hüften. »Weiß noch nicht mal, wie man eine Klingel drückt.«
»Ich wohne hier«, erinnerte Yul und schloss die Tür hinter sich.
Mit hochrotem Gesicht zog sich Jinna einen Bademantel über.
Pilgrim schlich sich in eine Ecke. Der Hund spürte den Streit in der Luft.
»Was ist mit dir passiert?«, fragte Jinna. »Hast du dich geprügelt?«
»Ist das so offensichtlich?« Yul tastete an seiner Wange, zuckte aber sofort zurück. Er musste aussehen wie ein Pavianhintern.
»Warst du im Krankenhaus? Zum Bewerbungsgespräch, meine ich?«
Yul schüttelte den Kopf.
Clarque lachte auf. »Das habe ich dir doch gesagt. Mich wundert nur, dass der sich immer noch hierher traut.«
»Das war die erste Einladung seit acht Monaten.« In Jinnas Stimme mischten sich Tadel, Resignation und Mitleid. »Wir waren uns doch einig, dass du diesmal hingehst.«
»Ich wette, er war wieder in seiner Wunschwelt!«, rief Clarque. »Und dafür hast du ihm die neuen Klamotten spendiert. Wie verdreckt der ist! Blöder Penner.«
»Ich bin Arzt«, sagte Yul mühsam beherrscht.
»Nein, du bist ein Spinner«, warf Clarque ihm vor. »Ein Fantast, der sich in Traumwelten flüchtet, wo er sich einbilden kann, stark zu sein.«
»Für dich bin ich stark genug!« Yul versetzte ihm einen Fausthieb ins Gesicht, dann noch ein paar gegen den Oberkörper.
Es tat gut, das Klatschen der Schläge auf der Haut des selbstgerechten Kerls zu hören, aber sie beeindruckten seinen Gegner nicht. Clarques Bauchmuskeln waren hart wie Holz. Er griff Yul am Hals und am linken Oberschenkel, hob ihn hoch und schmetterte ihn auf den Boden.
Jinna warf sich kreischend dazwischen. »Das ist mein Vater! Hör auf, das ist mein Vater!«
Yul bekam keine Luft mehr. Eine Blockade, ausgelöst vom Aufprall. Er wusste, dass er nur ruhig bleiben und abwarten musste, bis sich die Muskulatur entkrampfte, aber sein Überlebensinstinkt arbeitete dagegen.
Clarque rieb sich die linke Seite des Gesichts. »Wegen eines solchen Stücks Dreck sitze ich morgen mit einer Schwellung im Meeting.«
»Geh zum Kühlschrank und leg Eis darauf«, riet Jinna.
Brummend verzog sich Clarque in die Küche.
Pilgrim leckte Yuls Hand.
Yul hustete. Trotz des Gestanks nach dem Schweiß nackter Leiber und der schmerzenden Rippen tat der erste Atemzug gut.
Jinna hockte neben ihm. Sie brachte ihr Gesicht nah an seins. »Ich will, dass es funktioniert mit Clarque. Verstehst du? Reize ihn nicht.«
»Er ist der Penner, nicht ich. Er ist nie über die Erde hinausgekommen.« Während er sich aufsetzte, dachte er an Ulumbas Prophezeiung, dass der Heimatplanet der Menschheit bald nur noch eine Müllkippe wäre. Von der Hand zu weisen war das nicht. Zehn Milliarden Bewohner produzierten Unmengen von Abfall, dessen gewissenhafte Entsorgung nur kümmerliche Gewinne versprach. Chemikalien verseuchten Böden, Gewässer und die Luft, Teile von Europa taugten inzwischen nur noch als Strafkolonie. »Er hat nie den Kristallregen auf Proxima Delta gesehen. Oder auch nur die fliegenden Städte auf der Venus. Ich habe mitgeholfen, die Impfstoffproduktion im Orbit von Kaideuze zu optimieren. In der Schwerelosigkeit, wo man Mixturen herstellen kann, die sich in der Gravitation niemals verbinden würden.«
Sie stützte ihn beim Aufstehen. Ihr Griff schmerzte an seinem Brustkorb, aber Yul war dennoch dankbar dafür.
»Ich wünschte, du würdest wieder zu den Sternen fliegen, Pa.«
Er sah zu, wie sich der zweite Mann anzog. »Wer bist du?«
»Mein Name ist Maurice.«
»Und was treibst du hier?«
»Ich … deine Tochter …«
»Ist der Penner immer noch da?« Clarque kehrte mit einem Lappen, in den er wohl Eis gewickelt hatte, zurück. Er trug nach wie vor nur ein Tuch um die Hüfte. Widerwillig musste Yul eingestehen, dass er es sich erlauben konnte. Mit seinem Körper hätte er Werbung für einen Fitnesstempel machen können. Entweder er trainierte täglich und achtete auf seine Ernährung, oder er gab mindestens so viele Gramm für einen plastischen Chirurgen aus wie Yul für seine Wunschwelt.
»Du kannst so nicht weitermachen«, drängte Jinna. »Ma ist seit zweieinhalb Jahren tot.«
Er betrachtete ihre lange, schlanke Nase. Das brachte ihn immer ins Träumen. Sie hatte sie von Iona. »Deine Mutter war nur ein Jahr älter als du heute, als sie dich bekam. Wir waren sehr verliebt.«
Ende der Leseprobe