Stille Tage in Chatsi - Peer Millauer - E-Book

Stille Tage in Chatsi E-Book

Peer Millauer

4,9

Beschreibung

Stille Tage in Chatsi - Kleine Geschichten aus einem griechischen Bergdorf Begegnungen mit Einheimischen, Erlebnisse am Rande, Gedanken über Land und Leute - der Autor beschreibt aus der Sichtweise eines Wahlgriechen Begebenheiten, die sich so im Laufe von 25 Jahren in einem typischen, kleinen Bergdorf abgespielt haben. Chatsi, das Dorf mit dem unaussprechlichen Namen, entwickelt sich und verändert sich, die Einwohnerzahl nimmt zu, Deutsche und Schweizer renovieren die alten Steinhäuser des Ortes. Typenbeschreibungen und historische Rückblicke, aber auch kleine Ereignisse, die auf ihre Art skurril und zugleich komisch sind, manchmal eben typisch griechisch, prägen den Charakter des Büchleins. Die Kapitel werden umrahmt mit thematischen passenden, farbigen Fotografien und einer Fotoserie des Autors zum Thema "Türen in Chatsi".

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 99

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Gaby, meine Fee

Ein typisches Dorfgespräch:

Για

Για

Καλα;

Καλα

Που ρας;

Σπιτη

Κ’εγο

Τα λεμμε

Για

Inhalt

Aigio, Hellas ohne Filter

Gedanken am Fluss

To Avlaki

Nikos

Kalavrita

Steingeschichten

Ausgrabungen

Thomas

Kurzschluss

Fastenzeit

Griechische Akzente

Totale Stille

Danke

Hinweise

Χατζη

Als ich 1993 zum ersten Mal in unser Dorf mit dem unaussprechlichen Namen kam, war es ein Geisterort. Was mir gleich auffiel, war, dass sich die Geister eine ausgesprochen schöne Lage zum Wohnen ausgesucht hatten. Von den 20 Häusern rund um die Kirche mit den 6 riesigen Pinien waren 4 von Griechen bewohnt, 6 standen leer und 10 waren mehr oder weniger im Verfall begriffen. Nicht, dass deshalb keine Geister drin wohnen könnten. Das Dorf liegt auf einer kleinen Kuppe oberhalb des Flusses und hat sowohl eine fantastische Sicht auf die Berge des Panachaikos, als auch nach der anderen Seite einen herrlichen Blick auf den Golf von Korinth und die dahinter liegenden Gipfel der Giona.

Ich war durch Zufall hierher geraten. Ein Besuch bei Freunden in Aigio und deren Idee, einen Spaziergang zu machen lenkten meine Schritte zum ersten Mal in diese Gegend, die ich nunmehr seit fast 25 Jahren meine zweite Heimat nenne. Wie so oft im Leben war es der Zufall, der entschied, wo und mit wem ich glücklich werden sollte. Denn es war , das kann ich heute sagen, eine ausgesprochen glückliche Fügung.

Wir hatten uns damals auf den Kirchplatz unter die Pinien gesetzt zum Ausruhen. Über uns das grüne Schirmdach der Bäume, durch das hier und da der blaue Himmel durchschien, hinter uns die kühle Wand des Kirchenschiffs, vor uns ein kleines, altes Steinhaus, unbewohnt. Und – Stille. Nur ein leichter Wind bewegte die Äste der Pinien und führte zu dem von mir so geliebten Rauschen, bei dem ich heute immer noch am besten einschlafen kann. Ein tiefes Gefühl der Ruhe und der Zufriedenheit nahm damals von mir Besitz. Irgendwie war ich angekommen, ich wusste es nur noch nicht.

Heute, 24 Jahre , 2 Hauskäufe und –renovierungen und einige persönlichen Turbulenzen später, hat sich das Bild von Χατζη geändert. Manche sagen zum Schlechten, ich sage: Zum Guten. Bis auf 2 Häuser stehen keine mehr leer, viele der Ruinen wurden im alten Stil wieder aufgebaut zu schmucken Wohnhäusern, viele neue Häuser kamen dazu. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre und zu Anfang des neuen Jahrtausends gab es einen regelrechten Kauf-, Bau- und Renovierungsboom. Χατζη war kein Dornröschenschloss mehr, viele Prinzen kamen, um die Prinzessin wach zu küssen. Manche fanden ihr Glück, andere scheiterten, viele Geister verschwanden, neue kamen hinzu. Χατζη wurde zum Begriff für eine gelungene Dorfsanierung, aber auch für den Ausverkauf von griechischem Grundbesitz an Ausländer, zumeist Deutsche. 80% der Häuser sind in deutscher oder schweizer Hand, die Mehrzahl der Dorfbewohner spricht Deutsch. Das Dorfbild ist jedoch, unbestritten, ansehnlicher, hübscher und auch sauberer geworden, letzteres wohl verursacht von der importierten Kehrwoche.

Wer vermutet hat, dass mit dem demographischen Wechsel sich die Atmosphäre verschlechtern würde, den muss ich enttäuschen. Die Ausländer pflegen durchweg einen guten Kontakt zu den weiter ansässigen Griechen, es ist ein Geben und Nehmen, neudeutsch wohl Winwinsituation genannt. Und das nicht nur, weil durch die Bautätigkeiten auch Jobs für die Griechen vor Ort entstanden sind.

Natürlich hat sich auch in Χατζη im Laufe von einem Vierteljahrhundert einiges verändert. Der Burgfrieden des Dornröschenschlosses ist Vergangenheit, die Dorfstraße wurde geteert, der Verkehr hat zugenommen, Telefon, Kanalisation und Internet haben Einzug gehalten. Im Fluss werden Steine gebrochen für den Bau der neuen Autobahn, auch das trägt mit zu einer neuen Geräuschkulisse bei. Die Rufe der Eulenvögel des nachts sind weniger geworden, das Bellen der Hunde dagegen häufiger. verfügt mittlerweile über eine der höchsten Hundedichten der umliegenden Gemeinden, welches nicht zuletzt der Tierliebe einiger Neubürger zu verdanken ist.

Dennoch empfinde ich, wenn ich in Χατζη bin, immer noch diese Aura der Ruhe und des Friedens, die es einem ermöglicht, die Seele baumeln zu lassen. Es gibt sie trotzalledem hier noch, diese absolute Stille, wo man nichts hört außer dem Rauschen in den Ohren, insbesondere nachts. Ich wache hier oftmals auf aus tiefstem Schlaf und weiss im ersten Moment nicht wo ich bin. Der Lebensrhythmus ist ein anderer. Das Leben verläuft langsamer, entschleunigter. Es gibt Tage, da passiert überhaupt nichts, man ist alleine mit sich und seinen Gedanken, kann sich im Nichtstun üben. Und es gibt Tage, da passiert alles auf einmal. Feuer , Überschwemmung, Unfall, Streit und Versöhnung, Geburt und Tod. Das tägliche Leben ist nicht kalkulierbar – am wenigsten in Χατζη. Und das ist gut so. Deshalb bin ich immer wieder gerne hier in meinem griechischen Bergdorf, meiner griechischen Heimat.

Zum Schluss eine kleine Hilfestellung zur Aussprache dieses Ortsnamens: Χατζη. Für fremde Ohren ein Zungenbrecher, für Griechen normal. Ich habe in diesem Büchlein die Schreibweise geändert, damit nicht jedesmal wieder ein Bruch beim Lesen entsteht. Für Χατζη schreibe ich: Chatsi. Ein tief im Rachen ausgesprochenes «ch» , ein weiches «s» und die Betonung liegt auf dem «i». Versuchen Sie es doch mal, es ist gar nicht so schwer!

Aigio – Hellas ohne Filter

Die meisten fahren vorbei an ihr - dieser Stadt, lassen sie links oder rechts liegen auf dem Weg nach Patras oder nach Athen. Manche bewusst, weil sie nichts mit diesem Bauern und Hirtennest zu tun haben wollen - meistens die Intellektuellen aus Patras oder Athen - oder unbewusst, weil sie gar nicht wissen, was sie verpassen. Touristen machen nur selten Station hier. Mal tanken oben an der Shell beim Krankenhaus und dann wieder weiter, oder wenn man die romantische Abkürzung nimmt mit der Fähre von der anderen Seite. Aber dann schnell, schnell weiter und raus aus der Stadt. Korinth, Olympia, Delphi, Mykene - die alten Steine rufen.

Mich hat es zum ersten Mal vor dreißig Jahren hier her verschlagen. Auch nur per Zufall. Freunde hatten sich ausgerechnet diese Stadt ausgesucht, um aus dem hektischen Deutschland zu fliehen und hier in der Aigialeia ihre Seele wieder auszubalancieren. Die Stadt hatte damals schon - und sie hat es heute noch - einen gewissen bäuerlichen Charme - eigentlich in sich schon ein Widerspruch. Nichts von der Aufgeschlossenheit von Patras, keine geschichtsträchtigen Kastelle, eigentlich überhaupt keine Kultur - sieht man mal ab von dem Starfighterdenkmal am westlichen Ortseingang und von dem Versuch der Errichtung einer kulturellen Begegnungsstätte. Aigio ist der Marktplatz für die Bauern aus den umliegenden Bergen, der Ort, wo die Ziegenhirten ihre Ziegen verkaufen, sich mit Neuigkeiten und Proviant versorgen. Die Stadt ist den Bergen, dem Panachaikos zugewandt, nicht nur äußerlich, sondern auch von ihrer Seele her. Hat eine Stadt eine Seele? Ja, sie hat! Eine zerfurchte, eine spröde Haut, eine schwielige - genauso wie die Hand eines Bauern, der oben in einem der vielen kleinen Bergdörfern seine Oliven und Korinthen erntet. Die Stadt ist einsilbig, manchmal mürrisch, scheint nichts Liebliches zu haben, und doch erscheint sie unter ihrer harten Schale einen weichen Kern zu besitzen. Ihn zu entdecken ist nicht einfach. Das geht nicht mal so eben im Vorüberfahren. Um zu Aigios Seele vorzudringen, muss man hier leben , muss man sich auf seine Derbheit, seine grobe Sprache, seine raue Umgangsart einlassen und auch zulassen, dass man dabei ziemlich vor den Kopf gestoßen werden kann. Griechen können Geduld aufbringen, etwas aussitzen - ihre Geschichte hat sie dies gelehrt. In den Jahrhunderten der Besetzung durch Türken, Italiener und auch Deutschen blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Zeit für sich arbeiten zu lassen. In Aigio ist es ähnlich. Schnell und spontan geht hier nichts vonstatten. Nur, wer Geduld hat und Hartnäckigkeit kann daran denken, hier zur Kenntnis genommen zu werden. Zur Kenntnis heißt noch nicht akzeptiert. Dahin ist es noch ein langer Weg. Griechenland hat viele Fremde kommen und gehen sehen in seiner Geschichte. Auch in Aigio gab es neue Gesichter, die jedoch bald wieder von der Bildfläche verschwanden. Einige jedoch blieben und fanden eine Tür ins Gedächtnis der Aigioten. Als Xenos ist es schwer, hier in Aigio diese Tür aufzustoßen. Man muss dazu die Sprache lernen, also nicht nur Griechisch, sondern auch das Bauerngriechisch - Gestik und Mimik inbegriffen. Und man muss lernen, wann man zu schweigen hat und wann man seinen Mund aufmacht. Aigioten merken, wann es einem ernst ist. Körpersprache ist international. Augenblicke des Abtastens, Momente des Verständnisses. Als Xenos wird man nie wirklich Aigiot. Wenn man Glück hat, dann erreicht man das Stadium der “wohlwollenden Duldung“. Immer wird einem bewusst gemacht, dass man nicht aus aigialischer Erde stammt und auch nicht dorthin zurückkehren wird. Oftmals ein schmerzhafter Prozess. Gerade wenn es einem Ernst ist mit dem Bleiben. Doch immer , wenn eine Tür in Aigio aufgeht, ein unverhofftes Lachen das Gesicht erhellt, ein Klaps auf die Schulter das Gemüt erheitert - dann macht sich wieder ein Stückchen neue Heimat auf und man fühlt , wie eine kleine neue Wurzel wächst in die aigialische Erde...

Gedanken am Fluss

Das Rauschen des Flusses ist für mich wie ein Schlafmittel – also drehe ich mich noch mal um und verlängere meinen Nachmittagsschlaf um ein paar Minuten. Wie schön, diesem Geräusch zu lauschen – fließendes, rauschendes Wasser. Im Halbschlaf stelle ich mir vor, wie der Meganistis, so heißt unser Fluss, dort unten in seinem Bett talabwärts zieht – dem Meer entgegen.

Jedes Jahr findet er einen neuen Weg, nie ist sein Bett das gleiche, er ist ein unsteter Wanderer, ein Zigeuner der Berge. Im Sommer nur ein Rinnsal, das man locker trockenen Fußes überqueren kann, von Stein zu Stein eine Furt suchend, im Frühjahr ein reißender Gebirgsfluss, gefüllt mit den Wassern desschmelzenden Schnees vom Panachaikos und vom Klokos .

Sein Bett ist breit – breit genug um darin eine Autobahn bauen zu können . Doch da sei Zeus davor – es reicht schon , dass die ganzen Hänge zwischen Korinth und Patras zerfurcht und durchlöchert werden für die neue Intercitytrasse und den vierspurigen Ausbau der Nationalstraße. Der Fluss baut sich seine eigene Wasserbahn und windet sich so wie er will in seinem breiten Bett.

Weiter oben im Tal , wo die Bergwände schroffer und steiler werden, muss auch er sich mit weniger Platz begnügen, riesige Felsbrocken muss er umfließen, oftmals stürzt er sich mit lautem Tosen mehrere Meter talabwärts , heraus aus dem Tal, das weiter oben zum Pass nach Rakita ansteigt.

Schon oft bin ich seinem Lauf gefolgt, zu Fuß , zuerst mit leichten, dann mit immer schwieriger werdenden Kletterpassagen, bis ich endlich nicht weiter kann – eine Mauer aus Macchia und Felsen versperrt den Weg zu seinem Ursprung.

Hier , unterhalb des Hatschinger Horns, bin ich oft auf einem Felsen gesessen und habe auf mein geliebtes Flusstal herab geblickt. Rechts und links gesäumt von Olivenhainen und Korinthenplantagen. In der Ferne der Golf von Korinth und der markante Berg auf der anderen Seite, dem ich den Namen „Belchen“ gegeben habe, weil er so ähnlich aussieht wie sein Namensvetter im Schwarzwald, meiner anderen Heimat. Heimat – ein emotionales Wort und ein Name, der Emotionen weckt. Heimat ist dort, wo man zu Hause ist. Oder sich zu Hause fühlt. Ich fühle mich hier zu Hause. Es ist eine von meinen beiden Heimaten. Meine griechische. Vor einiger Zeit musste ich feststellen, dass ich zwei Heimaten habe. Kann man das überhaupt? Zwei Heimaten haben? Gibt es mehr als nur eine Heimat? So einfach lässt sich das nicht beantworten. Ich jedenfalls habe zwei . Besser, als gar keine zu haben.

Die Berge und das Meer. In meiner anderen Heimat gibt es das nicht – das Meer. Oft habe ich mir versucht vorzustellen, dass dort , wo der Rhein fließt , das Meer sein müsste. Nach Westen ein unendlicher Horizont, Strände im Markgräfler Land, kleine Buchten am Kaiserstuhl, Pinienwälder in der Ortenau. Und der Heimathafen meines Schiffes – wahrscheinlich Sasbach oder Breisach. Ein utopischer Gedanke. Aber lustig, sich das vorzustellen.