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Mordermitttlung auf schwäbische Art Im Stillen Bach bei Weingarten wird eine männliche Leiche entdeckt. Niemand scheint den Toten zu vermissen, und das Team der Friedrichshafener Kripo um den erst kürzlich aus Ravensburg versetzten Hauptkommissar Maibach steht vor einem Rätsel. Wer war der Tote? Warum musste er sterben? Der entscheidende Hinweis, der die Ermittler schließlich zur Identität des Opfers führt, wirft neue Fragen auf - ist alles anders, als es auf den ersten Blick scheint?
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Seitenzahl: 473
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Regina Riest, Jahrgang 1967, studierte Anglistik und Romanistik und ist Gymnasiallehrerin für Englisch und Französisch. Sie lebt mit ihrer Familie in der Region Bodensee-Oberschwaben. Ihr Romandebüt »Stiller Bach« ist der Gewinnertitel des Bodensee-Oberschwaben-Krimiwettbewerbs, ausgeschrieben von der Schwäbischen Zeitung, der Buchhandlung RavensBuch und dem Emons Verlag.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/Jürgen Wiesler Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-442-1 Originalausgabe
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Für Hans-Anton
EINS
Kindgerecht ist anders, dachte Monika Matthes und unterdrückte ein Gähnen. Das kommt davon, wenn man sich auf seine alten Tage noch mal auf was Neues einlässt…
Sie hätte ihrer inneren Stimme folgen und den Schulausflug der Erstklässler zum Stillen Bach so machen sollen wie die letzten knapp dreißig Jahre lang auch: Fußmarsch von der Grundschule zum Grillplatz im Wald hinter Nessenreben, Vesper und Spielen auf dem Waldspielplatz, dann die selbst gebauten Boote ein bisschen auf dem Stillen Bach schwimmen lassen und schließlich mit einer Horde nasser, müder, aber glücklicher Kinder wieder den Heimweg antreten.
Stattdessen hatte sie sich diesmal von ihrer Referendarin beschwatzen lassen, dass zu einem »runden« Ausflugstag doch auch »ein gewisser pädagogischer Anspruch« gehöre– das hatten sie nämlich erst neulich im Seminar so besprochen– und dass dieser pädagogische Anspruch doch ganz ideal dadurch abgedeckt werden könne, dass man die »Kindgerechte Führung entlang des Wasserbauhistorischen Wanderwegs« buchte, die seit Neuestem vom Weingartener Tourismusbüro angeboten wurde.
Sie hatte keine Lust gehabt, sich vor der jungen, aufstrebenden Kollegin als verstaubtes Fossil zu outen, und hatte ihr angeboten, dass sie das gleich als Übung für künftige Ausflugstage selbstständig organisieren könne, was Frau Holzner-Garibaldi auch bereitwillig übernommen hatte. Wahrscheinlich dachte sie, dass das bei der Schulbeurteilung am Ende des Jahres positiv ins Gewicht fallen würde und die ein oder andere missglückte Lehrprobe ausbügeln könnte. Träum weiter, dachte Monika Matthes. Dazu müsstest du aber jetzt was anderes machen als nur Kaugummi kauen und auf dein Smartphone schielen, während ich mich drum kümmern darf, dass die Kinder bei der Stange bleiben.
Denn genau das fiel selbst ihr bei dem gähnend langweiligen Vortrag der wasserbauhistorischen Wanderführerin zunehmend schwer. Wie sollte es da den sechs- oder siebenjährigen Kindern gehen? Sie konnte es ihnen nicht einmal verübeln, dass sie längst nicht mehr brav in der Gruppe um die Führerin herumstanden, sondern angefangen hatten, ihre Holzboote aus dem Rucksack zu holen und vorauszurennen, um sie an geeigneter Stelle zu Wasser zu lassen.
Der Vortrag der Fremdenführerin war nicht nur wegen seines monotonen Singsangs eine Zumutung. Selbst wenn die Schüler gewollt hätten– und am Anfang hatten sie es tatsächlich brav versucht, denn die1b war eigentlich eine gutwillige Klasse–, hätten sie schon allein inhaltlich nicht mehr folgen können. Da war die Rede von »funktionierenden Kanalsystemen aus nachrömischer Zeit«. Welcher Erstklässler wusste denn, was das bedeutete? Heutzutage kamen ja nicht einmal die mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsenen Kinder mit auch nur annähernd schultauglichem Sprachstand in die Grundschule, und die Lehrer mussten dann schauen, wie sie das in der begrenzten Zeit hinbiegen konnten, die ihnen zur Verfügung stand…
Monika Matthes seufzte leise, während die Führerin ihren vermutlich aus irgendeiner Broschüre auswendig gelernten Text weiter vor sich hin leierte und die Kinder sich mittlerweile vollständig auf ihre Boote konzentrierten. Einige waren in direkter Nähe geblieben, andere waren um die nächste Biegung des kleinen Kanals verschwunden. Es wurde langsam Zeit, ein Machtwort zu sprechen und die Gruppe wieder zu versammeln. Oder sollte sie Frau Holzner-Garibaldi nach vorn schicken, um nach dem Rechten zu sehen? Die musste das schließlich lernen, und außerdem hatte sie ihr diesen Teil des Ausflugs aufs Auge gedrückt. Nur gut, dass im Stillen Bach kein Kind ertrinken konnte– kein Schulkind zumindest. Der Kanal war nur wenige Zentimeter tief und floss so gemächlich dahin, dass man die Bewegung des Wassers kaum sehen konnte. Und geregnet hatte es in den letzten paar Wochen auch nicht.
»Du, Frau Matthes! Kann man im Stillen Bach eigentlich ertrinken?«– »Du, Frau Matthes! Darf man im Stillen Bach eigentlich baden?«
Die aufgeregten Stimmen von Ferdinand und Moritz, die um die Biegung zurückgerannt kamen und beide gleichzeitig auf sie einredeten, rissen Monika Matthes unsanft aus ihren Gedanken.
»Baden? Nein, Kinder, das geht nicht. Erstens habt ihr keine Badesachen an, und zweitens ist der Bach so flach, dass man höchstens die Füße nass machen kann.«
»Der badet ja auch gar nicht, du Doofi.« Ferdinand knuffte seinen Kumpel unsanft in die Seite. »Ich sag dir doch schon die ganze Zeit, der badet nicht, der ist ertrinkt!«
»Ertrunken, meinst du.« Die Korrektur kam ihr ganz automatisch über die Lippen, und erst dann realisierte sie, was der Junge eigentlich gesagt hatte. »Sag mal, Ferdinand, wovon redest du denn da? Hast du gestern zu lange ferngesehen?«
»Doch nicht im Fernsehen, Frau Matthes! Ich mein doch den Mann da vorne im Bach!«
»Ja, der da liegt! Aber der badet vielleicht doch nur.« Moritz war offensichtlich der Optimistischere der beiden. »Der probiert vielleicht aus, wie lange er die Luft anhalten kann. Ich probier das manchmal auch aus, in der Badewanne, und da kann ich’s schon ganz lang! Mindestens…«
Sie würde nie erfahren, wie lange Moritz in der Badewanne die Luft anhalten konnte, denn jetzt endlich drang glasklar zu ihr durch, was die Kinder ihr sagen wollten. Sie fiel Moritz unsanft ins Wort: »Da liegt jemand im Bach? Seid ihr sicher? Wo?«
»Na da vorne, gleich hinter der Kurve! Aber so lange, wie der schon die Nase im Wasser hat, kann keiner die Luft anhalten«, ließ sich nun Ferdinand wieder vernehmen. »Immerhin haben wir ihm schon mindestens fünf Minuten lang zugeguckt, und so lang kann das nicht mal mein großer Bruder, und der ist Rettungsschwimmer!«
Monika Matthes schluckte. Sie musste wohl mal nachschauen, wovon die Kinder da redeten. Aber erst bat sie Frau Holzner-Garibaldi und die Wasserbautante, die Kinder um sich zu scharen und dafür zu sorgen, dass keines ihr folgte. Dann setzte sie sich in Bewegung und steuerte auf die Biegung zu, die den weiteren Verlauf des Kanals vor ihrem Blick verbarg. Noch drei Wochen bis zum Schuljahresende. Drei Wochen bis zu ihrer wohlverdienten Pensionierung. Sie hatte keine Lust auf irgendwelche Komplikationen. Vielleicht lag da im Wasser nur eine Puppe. Oder vielleicht auch gar nichts, und die Kinder hatten sich alles nur ausgedacht. Wäre denkbar. Aber für Ferdinand und Moritz eigentlich nicht typisch– die beiden hatten zwar eine blühende Phantasie, aber ob sie sich so etwas wirklich einfallen lassen würden? Und immerhin hatten sie sich noch darüber gestritten, was sie denn überhaupt gesehen hatten. Irgendetwas musste da also gewesen sein. Nun– es gab leider nur einen Weg, das herauszufinden.
Monika Matthes holte noch einmal tief Luft und marschierte entschlossenen Schrittes um die scharfe Biegung.
***
Die Meldung kam am frühen Nachmittag. Karl Maibach, Erster Kriminalhauptkommissar, war gerade vom Mittagessen am Bodenseeufer zurück in sein Büro gekommen, und eigentlich hatte er für die nun anstehende Verdauungspause ein paar ruhige Stündchen am Schreibtisch eingeplant. E-Mails lesen, Berichte seiner Mitarbeiter durchgehen, Aktenstapel sortieren. Die Schreibtischschublade ausmisten. Den Papierkorb leeren. Obwohl das natürlich auch die Sekretärin tun könnte oder jemand von der abendlichen Putzkolonne. Aber manchmal war es ihm ein Bedürfnis, ganz banale Dinge selber zu erledigen– es gab ihm irgendwie das Gefühl, Herr der Lage zu sein und nicht angewiesen auf andere, die er noch nicht gut genug kannte, um sie richtig einschätzen zu können.
Ein Vierteljahr war es jetzt her, dass er von Ravensburg nach Friedrichshafen gezogen war und hier in der Kriminalpolizeidirektion arbeitete. Eine Kollegin war damals plötzlich ausgefallen, und ihre Stelle musste dringend neu besetzt werden. Und da sich seit der Polizeireform vor ein paar Jahren die Kripoarbeit in Ravensburg sowieso komplett verändert hatte, seine alte Stelle weggefallen und er selber beim Kriminaldauerdienst gelandet war– eine Arbeit, an die er sich einfach nicht gewöhnen konnte–, hatte er die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, hatte sich beworben und war auch sofort, sozusagen mit Kusshand, genommen worden. Seine Ermittlungserfolge aus der Zeit in Ravensburg konnten sich ja auch durchaus sehen lassen, und er war immer ein beliebter Kommissariatsleiter gewesen. Auch privat konnte er durch den Umzug einen Schlussstrich ziehen. Eine neue Wohnung hätte er sich nach der Trennung von Ursula sowieso suchen müssen, und der Bodensee war durchaus eine attraktive Gegend. Dem morgendlichen Pendlerstau konnte er so auch entgehen, und wenn ihm sein geliebtes Ravensburg dann doch einmal fehlte, konnte er abends oder am Wochenende jederzeit hinfahren.
So hatte er sich das jedenfalls gedacht. In Wirklichkeit war er in diesen drei Monaten Exil– wie er es manchmal insgeheim vor sich selber bezeichnete– kaum mehr als zwei- oder dreimal in Ravensburg gewesen. Ihm fehlte die Zeit, die Lust, die Energie. Er hatte schon jetzt so viele Überstunden angehäuft, dass sie bequem für eine Woche Mallorca reichen würden– wenn er darauf auch nur die geringste Lust gehabt hätte. Und so beschränkte er sich meist auf kurze Spaziergänge am Bodenseeufer und verbrachte den Rest seiner knapp bemessenen Freizeit auf dem neu gekauften Sofa in seiner neu gekauften Wohnung, mit einer gutenCD im Hintergrund und einem guten Buch in der Hand. Wenn es ihm nicht nach kurzer Zeit aus derselben fiel, weil ihn die Müdigkeit übermannte…
So wie jetzt. Er musste sich endlich zusammenreißen und die Zeit nutzen, solange mal nicht das Telefon klingelte oder irgendeine Besprechung anstand. Die letzte komplizierte Ermittlung hatte sein Team einige Tage zuvor erfolgreich abgeschlossen, die Akten lagen nun bei der zuständigen Staatsanwältin, und wenn alles archiviert war, was jetzt noch die Tischplatte und die Ablagekörbe vermüllte, konnte er vielleicht ein bisschen durchatmen, bis wieder die nächste größere Sache auf seinem Schreibtisch landete.
Er griff zum obersten Dokument des Stapels zu seiner Rechten und wollte gerade entscheiden, wohin er es abheften sollte, da ertönte hinter dem Stapel das melodiöse Gedudel seines Büroanschlusses. Seine Vorgängerin war wohl ein großer Beethoven-Fan gewesen, und er war immer noch nicht dazu gekommen, sich durch das Einstellungsmenü des Geräts zu klicken und »Für Elise« durch irgendeinen stinknormalen Klingelton zu ersetzen. Was hatten die Leute bloß immer mit diesen bescheuerten Melodien? Warum konnte ein Telefon nicht einfach nur läuten wie– na, wie ein Telefon eben?
»Maibach«, knurrte er in den Hörer und merkte selbst, dass er nicht besonders gut gelaunt klang.
Im Dienstwagen war es heiß. Kein Wunder, denn er hatte seit dem Vormittag in der sengenden Julisonne auf dem Parkplatz hinter der Kriminalpolizeidirektion gestanden, und die Klimaanlage tat zwar hörbar ihr Bestes, würde es aber kaum schaffen, das Wageninnere auf eine erträgliche Temperatur herunterzukühlen, bevor sie Weingarten erreicht hatten. Zum Glück war es noch früh genug am Nachmittag, um nicht schon vor Ravensburg in den Feierabendstau zu geraten. Mit etwas Glück würden sie die Strecke in einer knappen halben Stunde schaffen. Maibach drückte das Gaspedal noch etwas mehr durch, was ihm einen missbilligenden Seitenblick seiner Kollegin auf dem Beifahrersitz einbrachte. Er ignorierte ihn geflissentlich und drehte die Lautstärke des Autoradios hoch, um die Klimaanlage zu übertönen. Auch das schien seiner Begleiterin eher nicht zu gefallen, denn der Blick, mit dem sie ihn nun bedachte, ließ sich kaum noch ignorieren. Maibach seufzte und stellte das Radio aus.
»Wieso beeilen wir uns denn so sehr? Ich denke, der KDD hat die Leiche schon abtransportieren lassen? Und tot bleibt sie eh«, stellte Kriminalkommissarin Ulrike Müller fest.
Wo sie recht hat, hat sie recht, dachte Maibach. Laut sagte er: »Darum geht es nicht. Die Kollegen, die als Erste am Fundort waren, waren welche vom Revier in Weingarten, und die haben nur noch Schicht bis um fünf. Ich will sie noch erwischen und mit ihnen reden, bevor sie Feierabend machen, und dann will ich auch noch an den Stillen Bach, solange es hell genug ist.«
»Hell bleibt’s zurzeit doch ewig. Mindestens bis halb zehn. Aber wieso wollen Sie denn noch zum Fundort? Reichen Ihnen nicht die Fotos der Kriminaltechnik? Ich sollte heute Abend spätestens um acht daheim sein, mein Mann hat dienstags Stammtisch, und ich muss die Kleine ins Bett bringen.«
Maibach schaffte es gerade so, den nächsten in ihm aufsteigenden Seufzer zu unterdrücken. In den drei Monaten an der neuen Dienststelle hatte er eigentlich schon gelernt, dass es keinen Sinn hatte, mit Ulrike Müller zu diskutieren. Trotzdem ertappte er sich immer wieder bei dem Versuch, sie von vorgefassten Meinungen abzubringen. An einen Erfolg seiner Bemühungen glaubte er allerdings immer weniger. Bei der letzten Ermittlung hatte er es sich daher angewöhnt, möglichst andere verfügbare Mitarbeiter auf Außentermine mitzunehmen und Ulrike Müller den Papierkram zu überlassen– den erledigte sie, das musste man ihr lassen, mit großer Akribie und zu seiner vollsten Zufriedenheit. Heute war sie allerdings die Einzige gewesen, die außer ihm im Haus war, als er jemanden brauchte, um dem Anruf aus Weingarten zu folgen.
»Wissen Sie, Frau Müller, ich finde es einfach wichtig, den Leichenfundort mit eigenen Augen zu sehen und nicht nur die Aufnahmen, die der Fotograf gemacht hat. Ich brauche den persönlichen Gesamteindruck– die Atmosphäre, die gesamte Gegend, alles, was mir selber vielleicht auffällt…« Da, er versuchte es ja schon wieder.
Sinnlos wie immer, denn Frau Müller erwiderte nur: »Also ich find die Fotos und die Videos vom Kollegen Birkenmaier immer total gut gelungen. Und im Büro kann man die viel bequemer anschauen und bei Bedarf auch mehrmals. Ich weiß auch gar nicht, ob ich die richtigen Schuhe für so was anhab. Ist es an dem Bach denn arg matschig?«
»Soviel ich weiß, nicht. Ich glaube, da führt ein Kiesweg oder so am Bach entlang. Ich war früher mal da. Sonntagsspaziergang.«
Einer der unzähligen Sonntagsspaziergänge, zu denen ihn Ursula immer gedrängt hatte. Wenn er schon so selten daheim sei, solle er wenigstens am Wochenende was Nettes mit ihr unternehmen, war ihre ständige Forderung gewesen. Er hatte vergeblich dagegengehalten, ein gemütlicher Nachmittag auf dem Sofa sei doch auch was Nettes. Letztendlich war er immer seinem schlechten Gewissen gefolgt und hatte sie brav überallhin begleitet– um den Bad Waldseer Stadtsee herum, in den Wackelwald am Federsee, auf den Pfänder, in den Schussentobel… Es gab wohl kaum eine halbwegs sehenswerte Spazierstrecke im Umkreis von hundert Kilometern, die sie nicht irgendwann im Lauf ihrer zwölfjährigen Ehe entlangmarschiert waren. Wobei »marschiert« noch ein milder Ausdruck für das Tempo war, das Ursula vorgelegt hatte. Nun ja, das hatte immerhin dazu beigetragen, dass er selber trotz der Schreibtischarbeit einigermaßen fit geblieben war.
»Sonntagsspaziergang? Echt? So was machen Sie? Hätt ich gar nicht von Ihnen gedacht!«, kommentierte Ulrike Müller vom Beifahrersitz. »Also ich wär ja froh, wenn mein Mann das mit mir auch mal freiwillig machen würde. Aber der will sonntags immer nur chillen auf dem Sofa! Ich brauch immer ewig, bis er mitkommt– dabei ist Bewegung an der frischen Luft am Wochenende doch so wichtig, gerade wenn man sonst immer im Büro hockt. Und Kinderwagenschieben hält fit, sag ich immer!«
Er überlegte kurz, ob er mit Ulrike Müller die unterschiedlichen Vorstellungen von familiärer Freizeitgestaltung weiter vertiefen wollte, entschied sich aber dagegen. Sie war bestimmt auch auf diesem Gebiet beratungsresistent.
Um kurz vor halb vier parkte Maibach vor dem Weingartener Polizeirevier und stieg aus, froh, endlich aus dem stickigen Wagen zu entkommen. Die Luft, die ihn draußen empfing, war leider nicht viel angenehmer. Es wäre dringend Zeit für ein paar Tage kühleres Wetter, dachte er.
Ulrike Müller ging schon auf den Eingang des Reviers zu und hielt ihm die Tür auf. »Hoffentlich haben die hier eine gute Klimaanlage!«
Aha– da waren sie also ausnahmsweise mal einer Meinung.
Erleichtert stellte er fest, dass es im Gebäude tatsächlich angenehm kühl war. Ein uniformierter Kollege mittleren Alters hatte sie wohl schon erwartet, denn er kam direkt auf ihn zu und stellte sich als Polizeihauptmeister Eugen Müller vor.
»Ich war mit der Kollegin Scheurer als Erster bei der Leiche, nachdem der Notruf der Lehrerin an uns weitergeleitet wurde. Birgit ist gerade noch mal auf Streife unterwegs, aber ich nehme an, es reicht, wenn ich Ihnen alles erzähle.«
Wenn die Kollegen nur nicht immer so viel »annehmen« würden, dachte Maibach missgestimmt. Er hatte am Telefon ausdrücklich darum gebeten, mit beiden Kollegen aus dem Streifenwagen sprechen zu können. Persönliche Eindrücke waren wichtig, und gerade die Eindrücke der Kollegin– wie hieß sie noch mal? Birgit… Schäufele?– hätten vielleicht andere Akzente gesetzt als die des eher prosaisch wirkenden Kollegen Müller. Maibach glaubte sehr an weibliche Intuition– auch wenn Ulrike Müller ihn diesbezüglich enttäuschte. Er hoffte inständig, dass bei ihrem männlichen Namensvetter wenigstens Nomen nicht Omen war.
»Also, Herr Müller. Wo können wir uns hinsetzen und ungestört unterhalten?«, fragte er.
Der Kollege blickte ihn überrascht an, so als hätte er vorgehabt, das Ganze zwischen Tür und Angel hinter sich zu bringen, ging dann aber voraus zu einem kleinen Besprechungsraum am Ende des Ganges. Auch hier war es angenehm kühl.
»Na, dann erzählen Sie mal. Wie war das, als Sie zum Fundort der Leiche kamen?«
»Also, wir wurden ja, wie gesagt, angefordert, nachdem die Lehrerin den Notruf abgesetzt hatte. Wir waren ganz in der Nähe, beim Schwimmbad. Über Nacht hat irgend so ein Möchtegern-Künstler eine Wand des Freibad-Restaurants mit Graffiti beschmiert. Als der neue Einsatzbefehl kam, mussten wir nur die paar hundert Meter weiter bis zum Stillen Bach. Die Lehrerin hatte die Schulkinder mit einer Kollegin und einer Wanderführerin schon zurück zum Spielplatz geschickt. Sie selber stand am Bach und hat uns die Leiche gezeigt. Wir hätten sie aber auch so gefunden. War ja nicht zu übersehen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Der Bach ist ja nur ungefähr zwei Meter breit. Und meiner Schätzung nach höchstens zwanzig Zentimeter tief. Kurz vor der Stelle, wo der Tote lag, macht er eine Biegung, aber dahinter hat man freien Blick auf ein langes, gerades Stück, und da lag er mittendrin. Den konnte keiner übersehen.«
»Um wie viel Uhr hat die Lehrerin denn die Leiche entdeckt?«
»Das muss so gegen neun Uhr gewesen sein. Der Notruf ging um neun Uhr acht in der Leitstelle ein, und wir waren um zwanzig nach neun vor Ort. Übrigens hat genau genommen nicht die Lehrerin die Leiche entdeckt, sondern zwei ihrer Schulkinder.«
Oh je. Kinder. Das machte die Angelegenheit nicht gerade einfacher. »Haben Sie mit denen gesprochen?«
Eugen Müller zögerte kurz. »Na ja, nicht direkt… Wir haben erst mal mit der Lehrerin gesprochen und die Leiche kurz angeschaut, und als klar war, dass das ein Fall für die Kripo ist, haben wir den KDD aus Ravensburg angefordert und eine zweite Streife aus Weingarten. Wir beide haben den Wanderweg vom Waldspielplatz her gesichert, und die Kollegen sind nach hinten zum Parkplatz an der Straße zum Rösslerweiher gefahren und haben vom hinteren Ende her abgesperrt. Zum Glück gibt’s nur diese zwei Zugänge.«
Maibach überlegte kurz. »Ist Ihnen oder den anderen beiden Kollegen am hinteren Ende irgendjemand begegnet?«
»Also uns nicht. Und die Kollegen haben auch nichts erwähnt.«
»Autos auf dem Parkplatz?«
»Nicht dass ich wüsste. Aber da müssten Sie die anderen beiden fragen. Maier und Höferer. Die müssten demnächst hier reinkommen, wenn ihre Schicht zu Ende ist.«
Maibach nahm sich vor, auf jeden Fall auf die beiden zu warten. »Kommt Ihre Kollegin Frau Schäufele auch noch mal rein?«
»Birgit Scheurer meinen Sie? Kann ich nicht sagen– die lässt sich auch manchmal am Ende der Streife gleich am BOB-Bahnhof absetzen. Fährt immer mit dem Zug nach Hause, wohnt in Aulendorf.«
»Noch mal zurück zu den Kindern. Wie war das? Haben Sie jetzt mit denen gesprochen oder nicht?«
»Wir hatten die Gruppe gebeten, auf dem Spielplatz zu warten. Nachdem wir den Zugang zum Waldweg abgesperrt hatten, haben wir die Personalien der Begleitpersonen notiert und die Namen der beiden Kinder, die der Lehrerin den Fund gemeldet hatten. Die Birgit meinte, wir sollten mit den Kindern lieber nicht reden, ohne dass ihre Eltern anwesend wären. Die Birgit hat dann auch noch zwei Leute vom Kriseninterventionsteam organisiert, und die sind mit der Gruppe zurück zur Schule gegangen. Sie meinten, sie würden dort in ihrer gewohnten Umgebung besser über das Erlebte sprechen können. Räumliche Distanz und so. Und wir waren froh, dass die Kinder weg waren, als der Kriminaldauerdienst und die Spurensicherung kamen.«
Maibach wusste nicht so recht, ob er mit dieser Entwicklung glücklich sein sollte oder nicht. Einerseits hatte »die Birgit« wohl alles richtig gemacht– sie hatte sich um psychologische Betreuung gekümmert und nicht versucht, von den vermutlich verstörten Kindern irgendwelche Aussagen zu bekommen, mit denen sie im weiteren Verlauf der Ermittlungen nichts anfangen konnten oder durften. Andererseits befürchtete er, dass die Erinnerungen der Kinder durch das Gespräch mit den Psychologen nun schon verfälscht worden sein konnten oder dass wichtige Details vergessen waren, bis es zum offiziellen Verhör kam. Sie mussten sich unbedingt darum kümmern, dass die Kinder möglichst schnell im Beisein ihrer Eltern befragt wurden. Er holte seine To-do-Liste aus der Hosentasche und machte unter »Einkaufen« und »Michaela anrufen« eine kurze Notiz: »Kinder bald befragen«. Dann wandte er sich nochmals an den Weingartener Kollegen.
»Sie sagten vorhin, es sei Ihnen klar gewesen, dass das ein Fall für die Kripo sei. Sie meinen also, dass ein Unfall beispielsweise nicht in Betracht kommt? Warum?«
»Das konnten wir uns einfach nicht vorstellen. In so einer Pfütze kann keiner ertrinken. Oder Selbstmord begehen. Nein. Wenn Sie mich fragen, dann hat den einer so lange mit dem Gesicht ins Wasser gedrückt, bis er tot war. Oder er war schon tot, und man hat ihn nachträglich in den Bach gelegt.«
»Welches der beiden Szenarien erscheint Ihnen denn wahrscheinlicher? Ganz spontan?«
»Hm. Eher das zweite. Dass er schon tot war, als er im Bach landete. Zumindest waren keinerlei Kampfspuren oder so zu sehen.«
»Hat der Gerichtsmediziner sich schon dazu geäußert, wie lange der Mann im Wasser gelegen hat? Oder zum möglichen Todeszeitpunkt?«
»Tut mir leid, das haben wir alles nicht mehr mitbekommen. Wir haben nur noch auf den KDD und die Spusi gewartet, Bericht erstattet, und dann sind wir weiter. Hatten schon wieder den nächsten Einsatz– ein Betrunkener hat vor dem Kaufland randaliert. Das Übliche. Den sammeln wir mindestens zweimal im Monat dort ein.«
Viel mehr war von dem Kollegen wahrscheinlich nicht zu erfahren. »Gut, Herr Müller. Dann vielen Dank für Ihre Auskunft. Ich nehme an, Sie geben noch einen schriftlichen Bericht zu den Akten?«
Polizeihauptmeister Müller bedachte ihn mit einem etwas säuerlichen Blick. »Ich dachte, wenn ich’s Ihnen alles schon mündlich berichtet habe, dann…«
»Doch, doch, Herr Müller. Bitte unbedingt schriftlich fixieren und weiterleiten. Und sollte Ihnen oder Ihrer Kollegin– äh, Scheurer?– noch was einfallen, bitte sofort melden. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Wissen Sie ja.«
Er warf Ulrike Müller auf dem Stuhl neben ihm einen auffordernden Blick zu. Sie war während des ganzen Gesprächs, das er mit ihrem Namensvetter geführt hatte, so ruhig gewesen, dass er ihre Anwesenheit fast vergessen hatte.
»So, Frau Müller, auf geht’s. Dann machen wir mal eine kleine Wanderung am Stillen Bach. Wird uns guttun.«
Sie sah ihn an, als bezweifelte sie dies, und grummelte: »Wollten Sie nicht noch auf die zweite Streifenwagenbesatzung warten?«
Sieh an, da denkt jemand mit, dachte er verblüfft. »Ja, richtig! Das hätte ich fast vergessen. Vielen Dank, Kollegin– sehen Sie, da war es ja richtig gut, dass ich Sie mitgenommen habe!«
PHM Müller nannte ihm die Mitarbeiter des Kriminaldauerdienstes, die am Fundort den Fall übernommen hatten. Immerhin waren es zwei Kollegen, die er kannte und in guter Erinnerung hatte. Sie hatten bestimmt alles sorgfältig erledigt und würden ihm das ganze Material zügig nach Friedrichshafen weiterleiten.
Von der zweiten Streifenwagenbesatzung, die kurz nach seinem Gespräch mit PHM Müller im Revier eintraf, war nichts Hilfreiches mehr zu erfahren. Fahrzeuge waren auf dem kleinen Parkplatz am hinteren Ende des Wanderwegs nicht abgestellt gewesen, und Wanderer oder Spaziergänger waren ihnen auch keine begegnet.
Eigentlich komisch, dachte Maibach. Er hätte vermutet, dass sich der Weg bei Joggern und Hundebesitzern großer Beliebtheit erfreute, und erwartet, dass außer besagter Schulklasse an so einem schönen Morgen noch andere Naturliebhaber am Bach entlang unterwegs gewesen wären. Vielleicht auch schon vor der Schulklasse. Aber wenn dem so war, warum hatte dann nicht schon früher jemand die Leiche gemeldet? Sie war, mit den Worten des Weingartener Kollegen, nicht zu übersehen gewesen, oder? War sie erst kurz zuvor dort abgelegt worden? Spekulieren half da wenig, tadelte er sich selber. Er musste auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung warten. Aber Warten war nun mal nicht seine Stärke.
Er hatte beschlossen, den Weg am Stillen Bach entlang von der Seite aus zu begehen, von der auch die Schulklasse gekommen war. Also parkte er, wie die Weingartener Kollegen am Vormittag, beim Hofgut Nessenreben und stieg ächzend aus dem Wagen.
Die Hitze hatte noch nicht merklich nachgelassen, obwohl es mittlerweile früher Abend war. Vom nahe gelegenen Freibad drangen gedämpftes Kreischen und Kinderlachen an sein Ohr. Dort war heute bestimmt die Hölle los; ein heißer Tag Anfang Juli, makellos blauer Himmel, Sonnenschein von früh bis spät– das lockte sicher jede Menge Weingartener ins Grüne. Ob das Bad früh am Morgen auch schon geöffnet hatte? Jemand war offensichtlich vor Ort gewesen, um mit den Weingartener Streifenbeamten die graffitiverschmierte Gaststätte zu begutachten; da musste man also auf jeden Fall nachhaken…
»In welche Richtung geht’s denn jetzt zum Bach?«, wollte Ulrike Müller neben ihm wissen. Er hatte wohl etwas zu lange in Gedanken versunken dagestanden, denn in ihrem Tonfall schwang deutlich Ungeduld mit. »Wie gesagt, ich muss spätestens um acht zu Hause sein. Überstunden sind bei mir heute nicht drin, sonst flippt mein Mann aus.«
Obwohl er prinzipiell den Standpunkt vertrat, dass die Mitarbeiter der Kripo jederzeit zu Überstunden bereit sein mussten– Tote hielten sich nicht an Bürozeiten und Mörder noch viel weniger–, konnte er es ihr heute doch nicht ganz verdenken, dass sie nach Hause wollte. Die Ermittlungen, die sein Team in den vergangenen Wochen geführt hatte, waren überaus kräftezehrend und zeitintensiv gewesen. Nicht nur er, sondern auch seine Mitarbeiter hatten jede Menge Überstunden angehäuft, auch Frau Müller, obwohl sie zu Hause eine einjährige Tochter hatte. Sie hatte sich selten beschwert und ihre Arbeit an den Akten hervorragend gemeistert. Bei ihr liefen alle Fäden zusammen, sie hatte stets den Überblick behalten. Nur manchmal hatte sie durchblicken lassen, dass der Ehemann, die Schwiegereltern, die Tagesmutter und die Nachbarin sich doch ab und zu wünschten, auch die Mutter wäre mal für ihr Kind da. Das Kind wünschte sich das vermutlich auch. Falls sich Einjährige schon etwas wünschen konnten. Maibach war sich da nicht so sicher, mit Kindern kannte er sich nicht aus.
»Da vorne geht’s Richtung Waldspielplatz, und von dort aus kommt man auf den Weg zum Bach. Kommen Sie, Frau Müller. Da ist’s wenigstens schattig.«
Sie schlugen ein flottes Sonntagsspaziergangstempo an und gelangten rasch zum Spielplatz. Eine Familie mit drei kleinen Kindern saß an einem Picknicktisch und hatte diverse Schüsseln und Dosen vor sich ausgebreitet. Ein paar Halbwüchsige lungerten an der Grillstelle herum, ohne etwas zu grillen, und eine Mutter stand neben der Rutsche und schaute zu, wie ihr etwa fünfjähriger Sohn fäusteweise Kies und Laub die Rutsche hinunterrieseln ließ.
Von der Polizeiabsperrung des Wanderwegs war nichts mehr zu sehen. Die Spurensicherung musste schon im Laufe des Nachmittags ihre Arbeit beendet haben. Hoffentlich hatten sie irgendetwas Brauchbares entdeckt– aber es würde sicher noch ein paar Tage dauern, bis er ihren Bericht auf dem Tisch hatte.
Sie gingen an den halbstarken Nichtgrillern vorbei Richtung Bach; Maibach schnappte einen Gesprächsfetzen auf– »Doch, Alter! Hab’s doch gesehen, das waren echt Bullen! Mit so weißen Anzügen, wie bei CSI! Die haben da vorne überall rumgestochert!« Aha– sehr lange war die Spusi offenbar doch noch nicht weg.
Durch einen Hohlweg gelangten sie zum Bach. Hohe Laubbäume wuchsen auf der Hangseite bis dicht ans Wasser heran und spendeten wohltuenden Schatten. Der befestigte Weg zwischen dem Kanal und dem zur Talseite steil abfallenden, ebenfalls dicht bewaldeten Abhang war gut und gern zwei Meter breit. Um eine Wegbiegung vor ihnen kam eine Wandergruppe mit Spazierstöcken und Rucksäcken. Dies musste die Stelle sein, hinter der die Kinder am Vormittag den Toten entdeckt hatten.
»Frau Müller, ich glaube, gleich sind wir da.«
»Was, schon? Ich dachte, der Bach wäre kilometerlang.«
»Ist er ja auch. Aber der Kollege hat doch was von einer Biegung gesagt, oder? Und hier kommt eine.«
Die lärmende Wandergruppe zog an ihnen vorbei, manche grüßten freundlich. Maibach grüßte zurück und blieb noch kurz stehen, bis die Gruppe durch den Hohlweg hinter ihnen verschwunden war. Dann ging er weiter um die Kurve herum.
Vor ihnen erstreckte sich ein langes, gerades Stück Weg. Der Bach, dessen Bett zum Wanderweg hin mit Holzbohlen eingefasst war, floss träge dahin, so langsam, dass kaum eine Bewegung zu erkennen war. Maibach dachte an die Beschreibung, die ihnen der Weingartener Beamte gegeben hatte.
»Frau Müller, wo ist denn hier Ihrer Ansicht nach ›mittendrin‹?«
»Was?«
»Der Kollege sagte, die Leiche habe ›mittendrin‹ in dem langen, geraden Kanalstück gelegen. Wo ist das Ihrer Meinung nach?«
Ulrike Müller blieb stehen und musterte den weiteren Verlauf des Baches. »Gehen Sie doch mal ein Stück weiter, Chef. Ich sag dann Stopp, wenn Sie mittendrin sind.«
Maibach setzte sich in Bewegung. Ziemlich genau an der Stelle, die auch ihm wahrscheinlich erschien, rief Frau Müller von hinten »Stopp!«. Er war vielleicht achtzig Meter weit gegangen, und nach etwa derselben Strecke krümmte sich der Kanal ein weiteres Mal und war von hier aus nicht weiter einsehbar.
»Kommen Sie mal her. Sehen Sie was?«
Ulrike Müller stellte sich neben ihn. »Keine Ahnung. Hier sieht doch alles gleich aus.«
In der Tat war an nichts mehr zu erkennen, was sich hier am Morgen abgespielt hatte. Das Bachbett wies keinerlei Spuren auf, die den Leichenfundort gekennzeichnet hätten. Auch am Weg war nichts zu sehen, kein Hinweis auf die Tätigkeit der Kollegen, kein Rest Flatterband, keine Fußspuren. Maibach ging in die Hocke und spähte an den Holzbohlen der Einfassung entlang.
Ein in halsbrecherischem Tempo herannahender Mountainbiker rief ihm zu: »Was verloren?«
»Nein, alles gut«, rief Maibach zurück und stand auf. Der Biker düste weiter, ohne anzuhalten. Von weiter hinten nahte schon der nächste Radler.
»Ziemlich viel los hier, oder?«, sagte Ulrike Müller.
In der Tat, genau wie er gedacht hatte. Hier konnte eine Leiche eigentlich nicht lange liegen, ohne entdeckt zu werden– zumindest nicht am Nachmittag. Ob frühmorgens noch alles ganz ruhig war? Vielleicht war das Gelände doch zu abgelegen, um vor der Arbeit kurz mit dem Hund Gassi zu gehen; da hatten es alle eilig und spazierten eher irgendwo durch die Stadt. Sie mussten auf jeden Fall einen Zeugenaufruf starten, um eventuelle Frühaufsteher zu finden, die schon vor der Schulklasse hier unterwegs gewesen waren. Er zog seine Liste aus der Hosentasche und notierte »Spaziergänger«, zögerte kurz und schrieb dann noch »Freibad« darunter.
»Und, Chef? Haben Sie gesehen, was Sie sehen wollten?«
Gute Frage. Hatte sich dieser Ausflug gelohnt? Er wusste noch nicht einmal, wo genau die Leiche gelegen hatte. Aber immerhin hatte er nun einen Eindruck von dem Gelände, um das es ging.
»Ich denke, ich habe fürs Erste genug gesehen. Jetzt gehen wir noch bis zum Parkplatz am anderen Ende, und dann fahren wir zurück.«
»Nein, also echt jetzt, Chef– wie lange dauert das dann? Und wozu das Ganze? Da ist doch sicher auch nichts zu sehen, und ich muss dringend heim!«
Maibach überlegte kurz. »In Ordnung, Frau Müller. Sie machen jetzt Feierabend, nehmen den Dienstwagen und fahren zurück. Ich mach den Spaziergang allein und fahre dann später mit dem Zug nach Hause.«
»Wirklich? Sind Sie sicher?«
»Jaja, gehen Sie schon. Wir treffen uns morgen wie üblich zur Teambesprechung um acht.«
Er ging zügig weiter bis zum Parkplatz am hinteren Ende des Wanderwegs. Das dauerte gut zwanzig Minuten, in denen ihm immer wieder Spaziergänger mit und ohne Hund, Mountainbiker oder normale Radler begegneten. Als er schließlich an dem schmalen Landsträßchen mit dem kleinen Parkplatz am Seitenstreifen ankam, stand für ihn fest, was er schon vorher vermutet hatte: Falls der Tote schon als Leiche an den Bach transportiert worden war, dann bestimmt nicht vom hinteren Ende her, sondern aus Richtung Waldspielplatz. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand mit einer Leiche im Schlepptau dieses lange Wegstück zurückgelegt hatte. Das Risiko, gesehen zu werden, war viel zu groß.
Allerdings war auch der Spielplatz nicht ohne Risiko. Wenn der Täter mit dem Auto gekommen war, musste er an Nessenreben vorbei. Wohnte dort jemand? War das Hofgut noch bewirtschaftet? Er hatte vorhin keine anderen Autos gesehen, aber es gab einen Bereich mit Tischen und Gartenstühlen, der an eine Gartenwirtschaft erinnerte. Auch das würden sie klären müssen. Vielleicht war die Leiche doch noch keine Leiche gewesen, als sie zum Stillen Bach gekommen war. Mit jemandem einen Spaziergang zu unternehmen, ihn vor Ort zu töten und allein zurückzugehen wäre unauffälliger. Vorausgesetzt, es waren keine Zeugen in der Nähe, die das Kampfgeschehen– denn etwas in der Art musste es dann gegeben haben– beobachten konnten. Würde jemand so eine Tat vorsätzlich planen? Sein Opfer hierherlocken und dann umbringen? Warum ausgerechnet hier? Dieses Rinnsal war nicht gerade das geeignetste aller Gewässer, um jemanden zu ertränken. Im Gegenteil, das musste ziemlich mühsam sein. Allerdings war die Todesursache noch gar nicht klar. Der Mann konnte auch erst erschlagen und dann ins Wasser gelegt worden sein. Oder vergiftet? Oder einen Herzanfall erlitten haben und unglücklich gestürzt sein? Also vielleicht doch kein Mord, sondern ein Unglücksfall?
Maibach merkte, wie seine Gedanken anfingen, sich im Kreis zu drehen. Im Moment kam er so nicht weiter. Er würde wohl oder übel den morgigen Tag abwarten müssen und schauen, was ihm der KDD, die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin an vorläufigen Berichten rüberschicken würden.
Er trat den Rückweg an. Als er am Hofgut Nessenreben vorbeikam, schaute er sich um, klopfte sogar an einige Türen an den Stall- oder Wirtschaftsgebäuden, entdeckte aber keine Anzeichen etwaiger Bewohner.
Der Abend brachte nun endlich langsam die erhoffte Abkühlung. Maibach bog in den Wiesenweg ein, der bergab in Richtung Freibad führte. Es war kurz nach acht, und aus dem Freibadgelände strömten scharenweise Besucher auf den Parkplatz. Maibach ging entgegen dem Strom zum Eingangsbereich. Die Rollläden an den Kassenhäuschen waren schon heruntergelassen, aber durch die Gitterabsperrung konnte er eine junge Frau sehen, die gerade im Begriff war, die Tür zum Verkaufsraum abzuschließen.
»Entschuldigung!«
Die junge Frau drehte sich zu ihm um und hob fragend den Kopf. »Wollten Sie noch rein? Tut mir leid, da müssen Sie morgen wiederkommen. Wir schließen gerade.«
»Ich habe nur ein paar kurze Fragen. Maibach, Kripo Friedrichshafen.«
»Kripo?« Sie kam auf ihn zu und blieb hinter dem Absperrgitter stehen. »Ist was passiert?«
Maibach zog es vor, diese Frage vorerst nicht zu beantworten. Stattdessen fragte er: »Hatten Sie heute Morgen schon Dienst?«
»Nein. Meine Schicht war heute von zwei bis acht. Ist es wegen der Schmierereien am Restaurant? Da gehen Sie am besten rüber zum Seiteneingang. Dann können Sie dort direkt mit dem Chef sprechen.«
»Mich interessiert, ob heute am frühen Morgen jemand von den Mitarbeitern etwas Ungewöhnliches bemerkt hat. Ab wann ist denn jemand vor Ort?«
»Wir öffnen normalerweise um neun. Nur mittwochs haben wir ab sieben geöffnet.«
Heute war Dienstag. »Und ab wann ist im Restaurant jemand da?«
»Auch so um den Dreh rum. Wenn die ersten Badegäste da sind, will der eine oder andere was zum Essen oder Trinken kaufen, und der Mittagsbetrieb muss auch vorbereitet werden.«
»Wer hatte denn heute Morgen an der Schwimmbadkasse Dienst? Wissen Sie das?«
»Jürgen Kipp. Wohnt, glaub ich, in Ravensburg. Soll ich Ihnen seine Adresse geben?«
»Das wäre nett. Hat Ihr Kollege irgendwas erwähnt, das ihm heute Vormittag komisch vorkam?«
»Nicht dass ich wüsste. Er hat nur von den Schmierereien erzählt, aber ich hab das so verstanden, als wäre das eher heute Nacht passiert. Ich glaub nicht, dass er was beobachtet hat.«
Maibach ließ die junge Frau in dem Glauben, dass er auf der Jagd nach dem Graffitikünstler sei, wartete noch, bis sie mit Jürgen Kipps Adresse aus dem Verkaufsraum zurückkam, und wünschte ihr dann einen schönen Abend. An der Bushaltestelle sah er eine größere Gruppe Badegäste stehen und beschloss, sich ihnen anzuschließen und mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Während er wartete, zog er seine To-do-Liste aus der Hosentasche, strich »Freibad« durch und schrieb »Kipp« und »Freibadgaststätte« darunter. Was stand sonst noch an? »Spaziergänger« und »Kinder bald befragen« musste bis morgen warten. »Michaela anrufen«? Hm. Wo er gerade in Weingarten war, könnte er natürlich auch noch einen kurzen persönlichen Abstecher machen. Und »Einkaufen«? Das würde sich dann, wenn er Glück hatte, für heute Abend auch erledigt haben. Hoffte er zumindest, in Anbetracht seines plötzlich ziemlich laut knurrenden Magens. Denn seine Schwester war eine hervorragende Köchin.
***
Schweißgebadet und mit zittrigen Händen ging er ins Badezimmer und hielt den Kopf unter den Wasserhahn. Endlich allein. Er sank auf den Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihm war übel. Speiübel.
Der Tag war die Hölle gewesen. Um keinen Verdacht zu erregen, hatte er sich möglichst normal benehmen müssen. Musste den anderen höflich begegnen, durfte keinem Gespräch ausweichen, sich nicht anmerken lassen, welche Bilder ihn quälten, sobald er vor Erschöpfung einen Moment die Augen schloss.
Nach den Ereignissen der Nacht hatte er bis zum Weckerklingeln wach gelegen. Hatte in die Dunkelheit gestarrt, und immer, wenn er versucht hatte, die Augen zu schließen, hatten ihn die schrecklichen Bilder überfallen, die er jetzt vielleicht für immer mit sich herumtragen würde. Konnte man so etwas jemals wieder loswerden? Und wenn nicht– wie sollte er damit klarkommen? Schon ein einziger Tag hatte ihn so viel Kraft gekostet– wie sollte er das Ende der Woche erreichen? Die kommende Woche, den nächsten Monat, die restlichen Jahre seines Lebens überstehen? Er wusste es nicht.
Die Leiche war bestimmt schon entdeckt worden. Wussten sie schon, wer es war? Wie lange würde es dauern, bis sie es herausfanden? Würden sie eine Verbindung zu ihm herstellen? Er hatte sein Bestes getan, um alle Spuren zu verwischen, aber er machte sich nichts vor. Die polizeilichen Methoden waren heutzutage verdammt gut. Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn verdächtigten.
ZWEI
Schon kurz nach acht, stellte er bei einem Blick zur Wanduhr im Erdgeschoss des Dienstgebäudes fest und beschleunigte seine Schritte auf dem Weg zur Treppe. Mist. Er hatte seine Mitarbeiter in letzter Zeit immer wieder ermahnt, dass das pünktliche Erscheinen zur Dienstbesprechung dasA undO einer guten Zusammenarbeit im Team sei, und nun war ausgerechnet er es, der an diesem Tag zu spät kam, an dem ein neuer Fall auf die Gruppe wartete…
Maibach hatte den gestrigen Abend bei seiner Schwester sehr genossen. Ein leckeres Abendessen, eine Runde »Mensch ärgere dich nicht!« mit den drei Kindern und eine ungezwungene Plauderei mit Michaela hatten ihm sehr gutgetan, genauso wie die berufsbedingte Abwesenheit seines Schwagers, den er noch nie hatte leiden können. Schließlich war er über Nacht geblieben, anstatt zum Bus und dann zum letzten Abendzug von Ravensburg nach Friedrichshafen zu hetzen. Dafür war aber die Hektik heute Morgen umso größer, denn er musste verdammt früh raus, damit er vom Bahnhof noch einen kurzen Abstecher in seine Wohnung machen konnte. Seine Sachen vom Vortag waren verschwitzt, so konnte er unmöglich zum Dienst erscheinen.
Die neuen waren es jetzt allerdings auch schon wieder, dachte er genervt. Wenn nur diese Hitze bald aufhören würde. Schon frühmorgens waren es über zwanzig Grad– das konnte ja wieder heiter werden.
Der Besprechungsraum im ersten Stock war bereits gut gefüllt. Maibach hörte schon auf dem Treppenabsatz das Stimmengewirr, das durch die geöffnete Tür in den Flur drang. Die Klimaanlage der Kriminalpolizeidirektion konnte es leider nicht mit der des Weingartener Reviers aufnehmen, und so hatten er und seine Kollegen es sich in den vergangenen Wochen angewöhnt, alle Fenster und Türen auf Durchzug zu stellen, damit die Temperaturen wenigstens einigermaßen erträglich blieben.
»Wo bleibt er denn, euer Chef?«, ließ sich in diesem Moment eine kräftige Bassstimme hinter der Tür des Besprechungsraums vernehmen. »In Ravensburg hat er immer gesagt, das pünktliche Erscheinen zur Dienstbesprechung sei dasA undO einer guten Zusammenarbeit im Team!«
Halblautes Lachen aus mindestens drei Kehlen folgte dieser Bemerkung, wurde jedoch rasch unterdrückt oder in Husten umgewandelt, als Maibach durch den Türrahmen trat.
»Guten Morgen allerseits! Schön, dass alle pünktlich da sind. Ich entschuldige mich für die vierminütige Verspätung, aber wie ich sehe, hat Kollege Schitterer in meiner Abwesenheit schon mal für gute Stimmung gesorgt.«
»Man tut, was man kann!«, kam es in sonorem Bass zurück. Thomas Schitterer vom KDD Ravensburg grinste ihm entgegen und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Maibach erwiderte den Gruß mit einem Knuff in die Seite seines früheren Lieblingskollegen. »Shitty! Mit dir habe ich heute Morgen eigentlich gar nicht gerechnet.«
»Ich war gerade sowieso in der Nähe. Muss nachher noch was mit den Kollegen vom Friedrichshafener KDD besprechen, und da dachte ich, ich schau mal kurz bei euch vorbei. Immerhin ist die Weingartener Wasserleiche mittlerweile in eure Zuständigkeit übergegangen, hab ich gehört. Und dass du auch hier deine morgendliche Gruppenbesprechung um acht Uhr startest, hab ich einfach mal vermutet.«
Thomas Schitterer war während Maibachs Zeit als Kommissariatsleiter in Ravensburg einer seiner besten Mitarbeiter und engsten Freunde gewesen. Nach der Auflösung ihrer Dienststelle waren sie gemeinsam zum Kriminaldauerdienst gewechselt. Im Gegensatz zu Maibach hatte Schitterer sich dort von Anfang an wohlgefühlt und war mit seiner neuen Stelle sehr zufrieden.
»Apropos Weingartener Wasserleiche«, kam nun eine näselnde Stimme aus dem Hintergrund. »Könnten wir so langsam erfahren, um was es genau geht? Und wieso sind überhaupt wir zuständig für den Fall? Hätten den nicht die Ravensburger übernehmen können? Immerhin ist Weingarten so was wie ein Vorort von Ravensburg, da wären die doch viel näher dran als wir, oder?«
Das mit dem Vorort sollte er besser nicht so laut sagen, wenn jemand aus Weingarten in der Nähe ist, dachte Maibach. Aber hier in seinem Friedrichshafener Team waren die Feinheiten im Verhältnis der beiden Nachbarstädte wohl nicht so relevant, und er ließ die Bemerkung von Kriminalhauptkommissar Rüdiger Wille unkommentiert. Stattdessen informierte er die Kollegen über die Ereignisse des Vortags und erteilte dann Thomas Schitterer das Wort.
»Gut, dann will ich mal zusammenfassen, was sich gestern so getan hat. Ihr kriegt’s natürlich auch noch schriftlich– darauf legst du ja bestimmt immer noch großen Wert, oder?« Schitterer grinste Maibach an, der das Grinsen nur halbherzig erwiderte. Schitterer zog eine Augenbraue hoch und fuhr dann in ernsterem Tonfall fort.
»Es handelt sich um eine männliche Leiche, dem Augenschein nach circa sechzig Jahre alt. Lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser, das an der Stelle– wie überhaupt im ganzen Bach– nur gut zwanzig Zentimeter tief ist. War vollständig bekleidet, und zwar mit einem hellen grauen Anzug, weißem Hemd, dunkelgrauen Socken und schwarzen Glattlederschuhen. Unterwäsche aus weißem Feinripp. Zwei Taschentücher aus Stoff in den Hosentaschen, in der rechten Jackentasche ein einzelner Schlüssel mit einem Anhänger– so ein beschriftbares kleines Täfelchen aus Plastik, das aber nicht beschriftet war. In der linken Jackentasche eine Geldbörse mit etwas Kleingeld und fünfundsiebzig Euro in Scheinen. Keine Bank- oder Kreditkarten. Autoschlüssel, Handy oder Ausweispapiere Fehlanzeige. Bisher haben wir noch keine Hinweise auf die Identität des Toten. Es liegen momentan auch keine passenden Vermisstenanzeigen im Bereich des Präsidiums Konstanz vor. Anfrage an die Nachbarpräsidien ebenfalls negativ, Anfrage nach Vorarlberg und in die Ostschweiz läuft noch. Ich lass dann alles, was noch bei uns eingeht, an euch weiterleiten.«
Im hinteren Teil des Raumes war ein Räuspern zu hören, dann erklang wieder die näselnde Stimme von vorhin. »Ich hab ja schon mal gefragt, aber noch keine Antwort bekommen. Wieso kriegen ausgerechnet wir diese Ermittlung aufgehalst? Ravensburg wär doch viel näher dran!«
Unwillig wandte Maibach sich dem Kollegen zu. »Herr Wille, Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass die Kripo in Ravensburg seit der Polizeireform keine großen Kapazitäten mehr hat. Und die Ravensburger stecken außerdem momentan mitten in einer schwierigen Ermittlung, während wir unsere gerade abgeschlossen haben und noch nichts Neues auf dem Tisch hatten. Da hat es eben uns erwischt. Sie wissen ja– den klassischen Zuständigkeitsbereich…«
»…gibt es nicht mehr, jaja, ich weiß, ich weiß. Das Zitat hab ich jetzt schon oft genug gehört. Besser wird’s dadurch noch lange nicht. Wir hätten nach den stressigen Wochen, die wir hinter uns haben, auch mal eine Verschnaufpause verdient. Und von wegen Kapazitäten! So wahnsinnig üppig sind unsere auch nicht! Und jetzt müssen wir in nächster Zeit wahrscheinlich andauernd nach Weingarten gurken– was da allein an Fahrtzeit wieder auf der Strecke bleibt!«
Zustimmendes Murmeln erfüllte den Raum. Ein Blick in die Gesichter seiner übrigen Mitarbeiter ließ Maibach erahnen, dass Rüdiger Wille beileibe nicht der Einzige im Team war, dem diese Ermittlung gegen den Strich ging. Aber ändern konnten sie daran sowieso nichts, und er hatte jetzt auch keine Lust, sich auf fruchtlose Diskussionen einzulassen.
In ziemlich barschem Ton erwiderte er deshalb: »Schluss jetzt mit dem Gemoser. Konzentrieren wir uns lieber nochmals auf die Ergebnisse von gestern, solange der KDD noch da ist. Shitty, was sagen die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin?«
»Alles natürlich nur vorläufig, du kennst ja die Kollegen. Die Spusi hat am Bach nichts Wesentliches gefunden. Die Gerichtsmedizinerin– das war übrigens die Claudi– meinte, die Leiche könne noch nicht arg lange da gelegen haben. Sah wohl noch ziemlich normal aus, von Wasserleiche im engeren Sinn kann also keine Rede sein. Zur Todesursache wollte sie sich aber noch nicht äußern, obwohl ich mein Bestes versucht hab, was aus ihr rauszukitzeln. Da werdet ihr wohl warten müssen, bis die Ergebnisse der Autopsie vorliegen.«
»Hat sie gesagt, wann das ungefähr sein wird?«
»Nee. Aber sie wird sicher so schnell wie möglich drangehen.«
Davon war Maibach überzeugt. Frau Dr.Claudia Mönch war eine der fähigsten Gerichtsmedizinerinnen, mit denen er je zusammengearbeitet hatte, und sie war bekannt dafür, dass sie zügig, aber gründlich arbeitete. Eigentlich hatte er bisher Glück mit den Leuten, die mit dem Fall befasst waren. Es hätte deutlich schlimmer kommen können. Jetzt musste er es nur noch schaffen, sein eigenes Team zu motivieren…
»Vielen Dank für deinen Bericht, Thomas. Wir werden uns zunächst um die Feststellung der Identität des Toten bemühen müssen. Wille und Loderer, darum kümmern Sie sich bitte. Gehen Sie auch der Sache mit dem Schlüssel nach. Marke, Schlüsselnummer und so weiter– Sie wissen schon.«
Kriminaloberkommissar Stefan Loderer nickte, während Rüdiger Wille nur etwas Unverständliches vor sich hin grummelte. Maibach wandte sich an Kriminaloberkommissarin Katrin Gerber.
»Frau Gerber, Sie nehmen Herrn Kleinschmidt mit, fahren nach Weingarten und nisten sich für ein paar Zeugenbefragungen dort im Revier ein. Vorrangig die Schulkinder– natürlich nur mit Eltern– und deren Begleiter. Dann ein Herr Kipp vom Freibad und die Mitarbeiter des Freibadrestaurants– da war so eine Sache mit Graffiti-Schmierereien, lassen Sie sich das von den Weingartener Kollegen noch mal genauer erklären. Dann machen Sie noch einen Abstecher nach Nessenreben zur Gartenwirtschaft– ich will wissen, wer da wohnt und ob die was gesehen haben. Im Zweifelsfall bitten Sie einfach die Kollegen aus Weingarten um Mithilfe bei den Befragungen, wenn’s Ihnen zu viel wird.«
Ein leichtes Stöhnen aus der Richtung von Kriminalkommissar Jens Kleinschmidt deutete darauf hin, dass dies bereits jetzt der Fall war. Unbeeindruckt fuhr Maibach fort: »Ja, und last, but not least: Frau Müller, wären Sie wieder so freundlich, alle eingehenden Berichte zu verwalten? Das machen Sie ja so exzellent! So, an die Arbeit, meine Damen und Herren. Berichte, wie gesagt, an Frau Müller und spätestens heute Abend um fünf wieder große Runde hier im Besprechungsraum. Frohes Schaffen allerseits!«
»Hast du noch Zeit für einen Kaffee, oder musst du gleich weiter?« Maibach ging mit Schitterer den Gang zu seinem Büro entlang und schloss, ganz gegen seine Gewohnheit, die Tür hinter sich.
»Für einen Kaffee ist immer Zeit. Gibt’s hier einen anständigen?«
»Kann ich nicht so beurteilen. Aber die Kollegen scheinen ihn zu mögen. Der Automat steht vorne im Treppenhaus. Warte, ich hol dir einen. Will nur noch schnell mein Teewasser aufsetzen. Ich hatte heute Morgen zu Hause keine Zeit mehr, mir welchen zu kochen. Aber zum Glück hab ich hier ja meinen Wasserkocher.«
Thomas Schitterer grinste. Über Maibachs Leidenschaft für Earl-Grey-Tee war in Ravensburg oft genug gespottet worden. Bei einigen Kollegen hatte sie ihm sogar zeitweilig den Spitznamen »der graue Graf« eingebracht.
Maibach verließ das Büro und kam kurz darauf mit einem Plastikbecher Kaffee wieder.
Schitterer nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und meinte: »Puh, für einen Automatenkaffee ganz schön heiß! Aber nicht schlecht, gar nicht schlecht…« Er zog den Besucherstuhl vor Maibachs Schreibtisch zu sich her und ließ sich aufatmend darauf nieder. »Und, wie geht’s dir so in letzter Zeit? Hab wenig von dir gehört! Komm doch mal auf ein Bierchen vorbei, wenn du in Ravensburg bist.«
»Gern. Aber da war ich in letzter Zeit selten. Hatte hier ziemlich viel zu tun. Wohnung einrichten und so. Und im Dienst war’s auch ziemlich stressig.«
»Hab ich mir gedacht, ja.« Schitterer fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Sag mal, hab ich mich da verhört, oder bist du mit deinem Team per Sie?«
Maibach goss heißes Wasser über den Teebeutel in seiner Tasse und stieß hörbar die Luft aus. »Immer noch der scharfe Beobachter, was? Ja, ich weiß auch nicht so recht, wie das kam. Irgendwie hab ich’s am ersten Tag hier vergeigt und hab die erste Mitarbeiterin, die mir über den Weg lief, gesiezt. Wenn du’s genau wissen willst: Ich hab sie für die Sekretärin gehalten, und da wollte ich anfangs ganz korrekt sein und ja nicht herablassend wirken. Und in Wirklichkeit war’s halt die Katrin Gerber aus dem Team. Als ich das dann gemerkt hab, war’s schon zu spät– ich musste notgedrungen auch die anderen siezen, sonst wär’s erst recht komisch geworden. Und dabei ist es dann irgendwie geblieben…«
Schitterer betrachtete ihn nachdenklich und schüttelte den Kopf. »Das passt gar nicht zu dir. Wieso hast du’s denn nicht einfach mit einem Lächeln auf den Lippen klargestellt? Du bist doch sonst so locker, das dürfte dir doch nicht schwerfallen…«
»Mein Gott, jetzt reit nicht drauf rum. Ich werd’s schon noch hinbiegen. Ist doch kein Drama.«
»Ein Drama nicht, nein. Aber kurios ist es schon. Ihr seid vermutlich die einzige Dienststelle im Land, in der gesiezt wird. Und überhaupt, wenn wir schon dabei sind: Deinen Ton gegenüber den anderen fand ich vorhin auch ziemlich schroff. Schluss jetzt mit dem Gemoser. So hast du dich früher nie angehört, obwohl wir ja auch den ein oder anderen Nörgler im Team hatten.«
»Bist du jetzt bald fertig? Ich weiß selber, dass ich zurzeit ein bisschen gereizt bin. Das ist das Wetter. Wenn’s wieder abkühlt, geht’s mir auch wieder besser. Aber jetzt erzähl mal von dir. Wie läuft’s in Ravensburg so? Immer noch glücklich und zufrieden?«
Thomas Schitterer ging zum Glück auf den Themenwechsel ein und plauderte noch ein wenig über alte Ravensburger Bekannte, bevor er sich schließlich auf den Weg zu seiner nächsten Besprechung machte. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Wie gesagt– es wäre nett, wenn du mal auf ein Bierchen vorbeikämst. Meld dich mal, okay?«
»Okay, versprochen. Weiß aber noch nicht genau, wann. Mach’s gut und grüß mir die Kollegen.«
Alle seine Mitarbeiter waren unterwegs. Im Flur war alles still. Maibach schaute auf die Uhr. Den Vormittag hatte er damit verbracht, endlich die übrig gebliebenen Akten der letzten Ermittlung wegzuräumen, seine E-Mails zu lesen und zu beantworten und, worauf er besonders stolz war, einen dieser verhassten Statistikbögen auszufüllen, die ihm mit schöner Regelmäßigkeit auf den Schreibtisch flatterten und die er für totale Zeitverschwendung hielt. Normalerweise ließ er sie so lange in seinem Postfach liegen, bis der Abgabetermin längst verstrichen war. Bisher hatte auch noch niemand danach gefragt, was ihn in seiner Annahme bestätigte, dass die Bögen nach ihrer Abgabe sowieso von niemandem gelesen wurden, sondern nur in irgendeinem Postfach vergammelten oder unbearbeitet in einen Aktenordner gesteckt wurden. Egal. Diesmal hatte er wenigstens guten Willen gezeigt. Er legte den Bogen in seinen Postausgang; die Sekretärin würde schon wissen, wohin damit.
Seine Armbanduhr zeigte dreizehn Uhr. Zeit fürs Mittagessen. In Ravensburg waren sie um die Mittagszeit immer in einer größeren Gruppe essen gegangen. Hatten dabei über alles Mögliche geredet, oft natürlich auch über ihre Arbeit, hatten sich ausgetauscht, Ermittlungsergebnisse diskutiert, neue Ideen durchgespielt und wieder verworfen…
Hier in Friedrichshafen war er bisher immer allein unterwegs. Er wusste nicht einmal, wie seine Mitarbeiter ihre Mittagspause gestalteten. Oder ob sie überhaupt eine machten– oft waren sie unterwegs, vielleicht begnügten sie sich tatsächlich alle mit einem Snack vom Bäcker und wurden abends von ihren Liebsten bekocht, wer wusste das schon? Es konnte ihm ja auch egal sein.
Egal? Maibach seufzte. Nein, eigentlich war es ihm nicht egal. Sosehr er bisher versucht hatte, sich einzureden, dass er die Ruhe seiner einsamen Mittagspausen genoss, so sehr verspürte er jetzt plötzlich eine unerwartete Sehnsucht nach der Geselligkeit, der Kollegialität von früher. Ob es etwas mit dem unverhofften Auftauchen von Shitty am Vormittag zu tun hatte? Die Worte seines Ravensburger Kollegen klangen ihm wieder in den Ohren. Das passt gar nicht zu dir. So hast du dich früher nie angehört. Du bist doch sonst so locker.
Er verließ sein Büro, nahm auf der Treppe zwei Stufen auf einmal und trat an die frische Luft. Hatte er zumindest erwartet. Aber die Luft, die ihm draußen entgegenschlug, war alles andere als frisch. Sie erinnerte ihn an Sauna und an schweißgetränkte Tennissocken– beides Dinge, die er nicht ausstehen konnte– und nahm ihm jeglichen Appetit. Er beschloss, dass ein belegtes Brötchen heute reichen würde, und schlug den Weg zum nächstgelegenen Bäcker ein. Während er in der Warteschlange stand, bemerkte er das heutige Sonderangebot: drei Plunderteilchen zum Preis von zwei. Na, wenn das mal kein Wink des Schicksals war? Er bestellte zwölf, eine bunte Mischung, und machte sich mit einer prall gefüllten Tüte in der Hand auf den Rückweg ins Büro.
Während er seinen Computer wieder hochfuhr, griff er zum Telefon. Die Obduktionsergebnisse konnte er nicht vor morgen Abend erwarten, da die Gerichtsmedizinerin hoffnungslos überlastet war, wie sie ihm wortreich erklärte. Der Bericht des KDD hingegen sollte ihm noch am selben Tag vorliegen, und die Fotos vom Fundort der Leiche waren bereits per Mail eingegangen.
Maibach biss in sein Brötchen und öffnete die erste Datei. Offenbar hatte er gestern ziemlich exakt die Stelle gefunden, an der die Leiche entdeckt worden war; er erinnerte sich gut an die etwas verschobenen Holzbohlen der Kanaleinfassung, die nun auf dem Bildschirm erschienen. Der Tote im Bach war aus allen möglichen Perspektiven abgelichtet– für einige der Bilder musste sich der Fotograf wohl nasse Füße geholt haben. Mehr als ein Männerrücken im Anzug und ein von wallendem grauen Haar bedeckter Hinterkopf war jedoch nicht zu erkennen. Maibach klickte sich in rascher Folge durch die Bilder, bis er zu den Aufnahmen kam, auf denen der Tote bereits auf einer Plastikplane neben dem Bachbett lag. Hier war zum ersten Mal sein Gesicht zu sehen. Maibach betrachtete es lange und gründlich. Nasse graue Haarsträhnen klebten über einer hohen Stirn; buschige dunkle Augenbrauen, eine ziemlich ausgeprägte Hakennase und ein kräftiges Kinn erinnerten Maibach an Darstellungen römischer Kaiser in irgendwelchen Geschichtsbüchern. Ein markantes Gesicht. Wer den Mann gekannt hatte, würde ihn zweifellos anhand dieser Fotos identifizieren können.
Maibach schickte sich die beste Aufnahme auf sein Handy und erstellte Ausdrucke einiger Bilder, die er an das Whiteboard im Besprechungsraum heftete. Dann begann er, die Vermisstenmeldungen der letzten Tage durchzugehen. Thomas Schitterer hatte recht– es gab im näheren Umkreis keine Meldung, die auf den Toten passte. Er weitete die Suche nach und nach auf alle Bundesländer aus, dann auf das benachbarte Ausland und auf einen Zeitraum von mehreren Wochen. Doch auch das führte zu keinem Ergebnis.
Kurz vor siebzehn Uhr waren fast alle Mitglieder der Ermittlungsgruppe wieder im Besprechungsraum versammelt. Jemand hatte dankenswerterweise die Rollos an der Fensterfront heruntergelassen; die sengende Nachmittagssonne versuchte dennoch, die Raumtemperatur auf das Niveau eines Hochofens ansteigen zu lassen, und Maibach fand, es gelang ihr ganz gut. Zum Glück hatte er die Bäckertüte nach seiner Rückkehr sofort in den Kühlschrank im Pausenraum gepackt, sonst wären die Teilchen wohl nicht mehr genießbar gewesen.