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Woher kommt der Judenhass? Warum ist er überhaupt in der Welt? Welchen Anteil hat das paulinisch geprägte Christentum an der Entstehung und dem Fortwirken dieses uralten Konfliktes? Warum besteht eine ständige Ambivalenz zwischen dem Hass auf die Juden und der Angst vor den Juden? Eine schier unermessliche Materialfülle ist zu diesem Thema bereits veröffentlicht worden. Trotzdem wird der Antisemitismus selbst bisher kaum verstanden. Die Vorstellungen davon, wie er entsteht und funktioniert, wie er zu analysieren ist, bleiben trotz vieler Versuche unterentwickelt. Es sollte aber möglich sein, einzelne Ursachen für dieses Phänomen zu erkennen und zu beschreiben.
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Seitenzahl: 206
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Hermann Schröder
Sündenbock und Heiliger Henker
Das Judentum als Zerrbild im Spiegel der christlichen Religions-Mythologie
© 2021 Hermann Schröder
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-20498-0
Hardcover:
978-3-347-20499-7
e-Book:
978-3-347-20500-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Hermann Schröder
Sündenbock und Heiliger Henker
Das Judentum als Zerrbild im Spiegel der christlichen Religions-Mythologie
Westoverledingen im August 2021
Inhalt
Vorwort und Einleitung
Das Bild von den Juden
• Herkunft und Ableitung des Namens
• Bedeutung der Alphabetschrift
• Gründung des Judentums
• Antisemitismus und Christentum
• Basismythos der Religionen
• Grundlagen der pharisäischen Lehre
• Auswirkungen der römischen Besatzung
• Einfluß der hellenistischen Götterwelt
• Apokalyptische Vorstellungen
• Hintergrund der Opferrituale
• Hintergrund des christlichen Mythos
• Auswirkungen auf die Moderne
• Antisemitismus in der Kultur
Jesus - Fakten und Legenden
Ahasver – der ewige Jude
Antisemitismus aus rabbinischer Sicht
Ausblick
Anmerkungen und Literatur
Glossar
2015 wurde der ehemalige Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Schimon Peres von einer Studentin an der Hebräischen Universität wie folgt befragt: „Verehrter Schimon Peres, was wird uns die Zukunft bringen?“
„Die Zukunft“, sagte Peres, „ist wie ein Kampf zweier Wölfe. Der eine ist das Böse, ist Gewalt, Furcht und Unterdrückung. Der andere ist das Gute, ist Frieden Hoffnung und Gerechtigkeit.“ Die junge Studentin fragte zurück: „Und – wer gewinnt?“ Peres lächelte und sagte: „Der, den Du fütterst.“
Vorwort und Einleitung
Die nachstehende Ausarbeitung ist ein Versuch, zu den Ursachen und zu einzelnen Wurzeln des Antisemitismus vorzudringen. Ein wesentliches Merkmal dabei ist, daß der Antisemitismus keine Grenzen hat und „dem Juden“ verschiedene und sich zum Teil widersprechende Eigenschaften zuschreibt. Der Jude ist Kapitalist und Bolschewik – er ist kastriert und gefährlich potent. Diese Unbestimmbarkeit ist einerseits bedrohlich und erschreckend, andererseits erlaubt sie es aber auch, ihn in jeden gewünschten Zusammenhang einzupassen.
Ein großes Problem ist die schier unermeßliche Materialfülle, die zu diesem Thema bereits veröffentlicht wurde. Deshalb handelt es sich hier bewußt nicht um einen ganzheitlichen Ansatz, sondern um das Hervorheben von christlich-religiösen Einzelthemen und Weltanschauungen, die als eine der wesentlichen Ursachen für das Entstehen und Fortdauern des Judenhasses im Verlauf der Geschichte angesehen werden können.
Der Antisemitismus selbst wird bisher kaum verstanden. Die Vorstellungen davon, wie er entsteht und funktioniert, wie er zu analysieren ist, bleiben trotz vieler Versuche unterentwickelt. Es sollte aber möglich sein, die Ursachen für dieses Phänomen zu erkennen und zu beschreiben.
Ein erster Ansatz ist die historische christliche Betrachtungsweise. Den Juden wurde vorgeworfen, die sittliche Ordnung der Welt zu verletzten. Weil sie Jesus verleugneten und angeblich getötet hatten, stellten die Juden sich in einen offenen Gegensatz zur allgemein akzeptierten Vorstellung von Gott und den Menschen. Alles, was heilig war, setzten sie durch ihre bloße Existenz herab.
Sie präsentierten das Übel der Welt nicht nur, sondern schienen in den Augen der Christen mit dem Bösen identisch. Sie wurden zum freiwilligen Werkzeug des Bösen. Alle Begriffe, mit denen die Antisemiten Juden belegten, waren mit der moralischen Weltordnung verknüpft. Juden mit dem Bösen gleichzusetzen bedeutete, sie zu dämonisieren und in dieser Gestalt in das Leben des Antisemiten zu integrieren.
Damit gefährden die Juden durch ihre bloße Existenz den sittlichen Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Interpretation, daß Juden die moralische Ordnung zerstören, kann religiös oder rassisch motiviert sein. Ersteres gilt für das Christentum, letzteres für das NS-Deutschland.
Der Antisemitismus speist sich also in erster Linie aus kulturellen Quellen, die unabhängig von Wesen und Handlungen der Juden sind. Er ist in der Gesellschaft latent oder offen immer vorhanden. Es spielt überhaupt keine Rolle, was die Juden konkret tun, die Quelle des Vorurteils ist die Person (die Gesellschaft) die davon besessen ist. In theologisch geprägten Zeiten bezieht sich der Antisemitismus eher auf die religiösen Glaubensansätze, in säkularen Zeiten wird er sich eher rassisch artikulieren.
Er gleicht sich aber immer dem herrschenden kulturellen Modell an und wird niemals insgesamt verschwinden. Man sollte sich immer davor hüten, die Ursache des Antisemitismus im Verhalten der Juden zu suchen und damit Ursache und Symptom zu vertauschen. Beispielsweise ist der oft zitierte wirtschaftliche Neid bereits die Konsequenz einer latent bestehenden Antipathie gegen Juden.
Juden werden von Antisemiten nicht als Persönlichkeiten anerkannt, sondern nur als „Juden“ und dieses Etikett machen sie zum bestimmenden Merkmal anstatt sie als Mitbürger zu akzeptieren.
Ein überzeugender Beweis dafür, daß Antisemitismus nichts mit dem Handeln der Juden und ihren tatsächlichen Charaktereigenschaften zu tun hat, ist der, daß Judenfeindschaft auch dort auftaucht, wo es gar keine Juden gibt und der Antisemitismus von Menschen vertreten wird, die nie einem Juden begegnet sind. Antisemitismus ohne Juden war im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa die Regel und damit ein dauerhaftes Charakteristikum des Abendlandes.
Aus historischer Sicht bedeutsam ist die Tatsache, daß sich das von christlichen Theologen geschaffene Stereotyp des Juden über die Jahrhunderte hinweg hielt und bis heute weiterwirkt. Dabei interessieren keine Zahlen, Fakten und andere rationale Argumente. Auch daß viele Juden einen Nobelpreis erhielten (und damit zum internationalen Ansehen Deutschlands erheblich beitrugen), beeindruckt nicht. Juden wurden instinktiv nicht gemocht, man betrachtete sie nicht als einen integrativen Teil des eigenen Volkes und man hegte schwerwiegende Verdächtigungen gegen sie. Der russische Arzt Leon Pinsker hat nach anfänglichem Optimismus 1882 resigniert erklärt, daß die Juden ein eigenes unterscheidbares Element unter den Völkern bildeten und sich daher weder assimilieren noch in anderen Völkern aufgehen könnten. Juden wurden abgelehnt, wenn sie schwach waren und wenn sie stark waren, wenn sie sich um Assimilation bemühten und wenn sie an ihrer traditionellen Religion und Lebensweise festhielten.
Die Notwendigkeit, schlecht von Juden zu denken, sie zu hassen, ist direkt mit dem Christentum verwoben. Alle Vorwürfe gegen die Juden werden damit plausibel. Wenn die Juden schon Jesus ermordeten und seine Lehren ablehnen, wovor sollten sie dann noch zurückschrecken?
Darüber hinaus verfügt der Antisemitismus über eine außergewöhnliche Anpassungs- und Modernisierungsfähigkeit. Wenn die Existenz des Teufels immer weniger Menschen bewegt, muß der Jude nicht länger zum Werkzeug des Teufels gestempelt werden. Er tritt nun in säkularer Kleidung auf, bleibt aber ebenso gefährlich und bösartig wie sein Vorgänger. So kann innerhalb einer Gruppe jedes Wahngebilde zu einer sozialen Macht werden.
Was den Einzelnen nur blamieren würde, macht die Gemeinschaft stark. In diesem Sinne wirkt auch die Lüge – sie schließt die Reihen nach innen und wirkt nach außen als Drohung. Es ist sinnlos, gegen solche Konstrukte mit Argumenten zu arbeiten. Der Antisemit hat ja gar nicht die Absicht zu sagen was ist. Er sagt, was sein müßte, damit gerechtfertigt wird, was er bereits plant.
Offensichtlich ist die Bestimmung einer christlichen Moralordnung, in die die Juden als eingeschworene Feinde eingebunden wurden, die mächtigste Einzelursache für den Antisemitismus der christlichen Welt. Vor diesem Hintergrund bedeutet die Aufgabe des Antisemitismus auch eine äußerst unbequeme Neugestaltung der christlichen Gesellschaftsordnung. Die christliche Religion hat einen Gruppenhass hervorgebracht, der keiner anderen Diskriminierung in der abendländischen Geschichte gleichkommt.
Von vielen Wissenschaftlern wird angenommen, daß dieser Antisemitismus abebbt oder gar verschwindet. Diese Darstellung ist falsch. Nicht der Antisemitismus selbst nimmt zu oder ab, es sind vielmehr nur seine Ausdrucksformen, die sich ändern. Der Hass selbst bleibt latent in der Gesellschaft. Eine temporäre Abnahme antisemitischer Handlungen bedeutet keineswegs den Rückgang antisemitischer Auffassungen.
Die Einschätzung (und Wertschätzung) der jüdischen Religion durch die Christen erfolgt in der Regel aus einem Gefühl der verinnerlichten Wahrheit. Der Christ geht davon aus, daß er auf einem stabilen Fundament von Argumenten und Glaubensrichtlinien steht, die sich in dem Jesuswort „Dein Reich komme“ zusammenfassen lassen. Von dieser Position aus diskutiert er mit dem Juden. Durch Aufklärung, Erziehung und toleranter Glaubenslehre wird der moderne Christ versuchen, die Nächstenliebe umzusetzen und den Juden als seinen Nächsten anzusehen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch bei den sog. „Philosemiten“ ein warmes Gefühl von Verständnis, der Anerkennung des Anderen und ein bewußter Verzicht auf alle Aggressivität.
Diese positive Einstellung gilt aber nur solange, wie das angeblich so sichere christlich-religiöse Fundament existiert. Die argumentative Sicherheit in dieser fundamentalen Wagenburg ist die Voraussetzung für die Toleranz des modernen Christen. Wenn dieser moderne Christ aber erkennt, daß die Fundamente seines Glaubens angegriffen werden und dem Druck der gegnerischen Argumente nicht mehr standhalten, kehrt sich die vordergründige Akzeptanz der jüdischen Religion als „Bruderreligion“ um in Aggressivität und in der Fortsetzung dieser Tendenz in einen latenten oder sogar in einen öffentlichen Antisemitismus.
Der Antisemitismus ist eine Begleiterscheinung des Christentums. Seit der Festigung der Herrschaft der Christen im Römischen Reich predigen ihre Führer gegen die Juden. Denn solange die Juden die Offenbarung Jesu ablehnten, forderten Sie, ohne es zu wollen, das christliche Vertrauen in diese Offenbarung heraus.
Seit die Kirche Macht gewonnen hat, verfolgt sie die Juden. Den rettenden Satz „Die Juden sind Menschen und daher Kinder Gottes“ hat bis heute kein Papst ausgesprochen. Er dürfte ihn auch vom Standpunkt der katholischen Theologie niemals aussprechen. Wenn Ungetaufte ebenfalls ewige Seligkeit erlangen können, ist jede Mission sinnlos. Damit fiele ein Grundpfeiler der kirchlichen Macht für immer in sich zusammen. Das Problem wird auch dadurch verstärkt, daß das Volk Israel bereits im Buch Exodus nicht nur als ein Volk, sondern bereits als Gottes „besonderes Volk“ definiert wird. Dort heißt es: ein Königtum von Priestern und ein heiliges Volk. Zu den anderen Völkern sollten sich die Israeliten verhalten wie die Priester zu den Profanen. Heiligkeit bedeutet Absonderung, Abgrenzung aus der profanen Welt. Durch den Gottesbund wird Israel (von dem Gott spricht: Mein erstgeborener Sohn ist Israel) zu einem „Volk, das sich abseits hält und sich nicht zu den Völkern rechnet.“ (Num. 23,9). Diese Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern ist in der Innensicht vollkommen gewaltfrei und unpolemisch. Es ist ein Akt der Selbstausgrenzung, der den anderen jedes Recht lässt, nach eigenen Gesetzen zu leben und eigene Götter anzubeten. Von außen gesehen hat aber gerade diese Abgrenzung zahlreiche judenfeindliche Reaktionen hervorgerufen und die Entstehung des antiken Antisemitismus gefördert. Zum Problem wird diese gewollte Ausgrenzung allerdings für eine Kirche mit dem Anspruch auf die „Weltmission“, die auf der ihr fremden Philosophie einer anderen Religion gründet.
Wenn die Juden, als das Volk Gottes, Jesus als Messias ablehnten, dann stimmte etwas nicht. Entweder ist Jesus nicht der Messias oder das jüdische Volk war vom Weg abgekommen und der Versuchung durch den Teufel erlegen. Da ersteres für die Christen nicht vorstellbar war, blieb nur die zweite Möglichkeit. Die psychologische Wirkung dieses Gegensatzes wurde durch weitere Motive verstärkt. Nach christlichem Verständnis war das Christentum gleichbedeutend mit der Überwindung des Judentums.
Trotz aller positiven Entwicklungen der letzten 50 Jahren herrscht bei den christlichen Lehrern (Priestern, Pastoren und Religionslehrern) oft nur ein sehr rudimentäres Wissen über das Judentum. Es wird eine jüdische Welt dargestellt, die monolithisch wie ein Steinblock ist. Ohne echten geistigen Tiefgang.
Damit tappen fast alle christlichen Interpreten am Ende in dieselbe Falle und tragen dazu bei, daß antijüdische Lehren weitergetragen und aufrechterhalten werden. Dabei sollte man wenigstens wissen: die jüdische Welt der Zeit von Jesus ist nicht die Welt des heutigen Judentums und sie ist auch nicht die Welt des Alten Testaments. Nicht verstanden wird oft auch die Komplexität des Judentums.
Dazu der jüdische Rabbiner und Philosoph Mordechai Kaplan: „Das Judentum ist weit mehr als eine Religion. Es ist eine Verbindung von Geschichte, Literatur, Sprache, Gesellschaftsordnung, Folklore, Verhaltensweisen, sozialen und geistlichen Idealen und ästhetischen Werten. All das zusammen bildet eine ganze Zivilisation.“
Diese Zivilisation gründet auch auf die frühe Vermittlung von Lesen und Schreiben. Im Judentum wird die Grundlage für diese Fähigkeiten bereits im Alter von drei bis vier Jahren gelegt. Bereits jetzt beginnen die Übungen zum Lesen mit den biblischen Texten. Das alles verbunden mit einem Abstraktionsvermögen, das in der geistigen Auseinandersetzung mit den Aussagen der Hebräischen Bibel geübt wird, das heißt, das Austauschen von Pro und Contra der biblischen Aussagen in der Tradition des Talmuds, um Argumentation und Dialektik zu vermitteln.
Christen werden dagegen in Gehorsam und Demut, Konformität und Unselbständigkeit erzogen. Sie lernen, Dogmen zu akzeptieren, von anerkannten Autoritäten getätigte Aussagen möglichst nicht zu hinterfragen und sich anzupassen. Dagegen gelten im Judentum die Prinzipien der individuellen Freiheit, der sozialen Verantwortung, der Gleichwertigkeit aller Menschen, der Selbständigkeit in beruflicher und intellektueller Hinsicht und die andauernde geistige Auseinandersetzung mit der Welt.
In der hier vorliegenden Ausarbeitung wird der christlichen Religion bzw. der christlichen Theologie ein wesentlich größeres Gewicht eingeräumt, als es christliche Theologen und Neuzeithistoriker in einer bemerkenswerten Allianz ihr zugestehen wollen. Wer die Frage nach den Ursachen der Schoah und der Massenvernichtung von jüdischen Menschen im 20. Jahrhundert beantwortet haben will, muß sich zwangläufig kritisch mit der Religions-Geschichte, und hier speziell mit dem Christentum, auseinandersetzen.
Die meisten Gräueltaten, die im Laufe der Jahrhunderte von der christlichen Kirche und ihren fanatischen Anhängern begangen wurden, lassen sich unmittelbar aus dem oft immer noch gültigen literalistischen Denken ableiten. Diese wörtliche Auslegung der alten Texte ist eine Ursache für den ganzen verlogenen religiösen Antisemitismus, der die Geschichte des Christentums fast von Anfang an geprägt hat und seinen Höhepunkt in der Schoah fand. Natürlich hat die Kirche selbst nicht die sechs Millionen Juden umgebracht. Aber die jahrhundertelange literalistische Auslegung der Passionsgeschichte (insbesondere die Worte „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“) hat zusammen mit den antijüdischen Lehren christlicher Theologen dieses Verbrechen erst möglich gemacht. So lange dieser Literalismus die christliche Religion beherrscht, wird auch der Antisemitismus weiterhin bestehen bleiben.
Ein Kapitel widmet sich dem Thema des „Ewigen Juden.“ Einer Legende, die sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte zieht. In ihr werden die angebliche jüdische Schuld, das „ewige Leben“ und die alles erlösende tiefe Reue des Juden und seiner letztlich herbeigesehnten Bekehrung zum Christentum wie unter einem Brennglas in immer neuen Formen dargestellt. Ein Bogen, der in der Volksliteratur, auch unter dem maßgeblichen Einfluß der Kirche, immer wieder neu gespannt und aktualisiert wurde.
Ein weiterer Ansatz ist der Versuch, auch eine jüdische Sicht auf den Antisemitismus zu berücksichtigen. Dabei stellt sich die provokante Frage, ob der Judenhass evtl. bereits in der Thora oder im Hebräischen Testament angesprochen und begründet wird.
Das Bild von den Juden
Ein Antisemit ist jemand, der Juden noch weniger mag, als es allgemein üblich ist. Antisemitismus ist ein „Weltkulturerbe.“ Beides sind Zitate von Henryk Broder. Und Kurt Tucholsky wusste: „Der Kleinbürger hat drei echte Leidenschaften: Bier, Klatsch und Antisemitismus.“ Man kann alles als Satire oder ironische Aussagen kommentieren, aber sie enthalten die Essenz des Antisemitismus. Diese feine Ironie findet sich auch bei Erasmus, der sagte: „Wenn es wirklich christlich ist, die Juden zu hassen, dann sind wir alle hervorragende Christen.“
Jeder macht sich ein Bild von den Juden. Meist sind es Idealbilder oder Zerrbilder, selten aber entsprechen sie der Realität. Vor diesem Hintergrund gewinnt die alttestamentliche Aussage „Du sollst dir kein Bildnis machen“ eine ganz neue Dynamik. Denn dieses Bilderverbot gilt nicht nur bezogen auf Gott, sondern nicht zuletzt auch auf alle Menschen.
Im Allgemeinen bedeutet Antisemitismus einfach Hass auf die Juden. Es ist kein Hass auf die Semiten. Hitler war kein „Antisemit“ – er war einfach ein Judenhasser. Der Begriff „Antisemitismus“ ist aber in der Welt. Mit diesem Ausdruck wurde dem Judenhass ein pseudowissenschaftlicher genetischer oder rassistischer Anstrich gegeben.
Adorno nannte den Antisemitismus »das Gerücht über die Juden«, und Jahrhunderte lang lieferte dieses Gerücht in Europa den Vorwand für deren Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung. Der neue Antisemitismus ist das Gerücht über Israel. Wenn die UNO Israel öfter verurteilt als den Rest der Welt zusammen, dann streut sie ein antisemitisches Gerücht. Wenn Medien und Politiker Israel dämonisieren und mit anderen Standards messen als andere Staaten, streuen sie ein antisemitisches Gerücht. Wer die Existenz des jüdischen Staates anficht, ficht die Existenz des gesamten Judentums an.
Was wir aus der Vergangenheit gelernt haben, zeigt sich nicht daran, wie oft wir der toten Juden gedenken, sondern ob wir den lebenden beistehen – auch und vor allem jenen in Israel.
Herkunft und Ableitung des Namens
Juden nennen sich auch „Israeliten.“ Das ist verständlich. Daß sich die Juden „Juden“ nennen, ist eher seltsam, wenn man die religiöse Legitimationsgrundlage der Juden betrachtet, die Hebräische Bibel. „Abrahamiten“ könnten sich die Juden ebenfalls nennen, denn ihr erster Stammvater war Abraham, Israel beziehungsweise Jakob nur der dritte. Abrahams Nachwuchs war allerdings einzig beziehungsweise winzig. Abraham und Sara hatten bekanntlich nur einen Sohn, Isaak. Für den Stammvater einer Stammesgemeinschaft deutlich zu wenig. Das gilt auch für Isaak, den Vater von Esau, dem erstgeborenen Zwilling, der sein Erstgeburtsrecht dem zweitgeborenen Bruder, Jakob, verkaufte.
Für einen namensstiftenden Stammvater war der biblische Isaak zu blass und ungeprägt. Ganz anders Jakob, später „Israel“ genannt, der „Gottesstreiter.“ Er war eine Mischung aus Feinfühligkeit, Schlitzohrigkeit und Kraftfülle, anders als sein Bruder Esau, nicht nur Kraftprotz, sondern auch geistig kraftvoll und (entscheidend) gottesfürchtig. Mit Ausnahme seines Bruders fürchtete er keinen Menschen, und sogar den Kampf mit Gott oder dessen Engel nahm er auf.
Juda war einer der zwölf Söhne Jakobs - nicht einmal der Erstgeborene. Das war Ruben. Juda, hebräisch „Jehuda“, war Jakobs vierter Sohn. Seine Mutter war nicht die von Jakob heißgeliebte Rachel, sondern Lea, Jakobs zweite Wahl, die er wegen der List seines hinterhältigen Schwiegervaters Laban zuerst heiraten mußte. Genesis 29,35: „Abermals wurde sie schwanger und gebar einen Sohn. Da sagte sie: „Diesmal will ich dem Herrn danken. Darum nannte sie ihn Juda (Dank). Dann bekam sie keine Kinder mehr.“ heißt es in der Einheitsübersetzung.
Wie so oft wurde nicht ganz richtig übersetzt, denn „Dank“ heißt auf Hebräisch „Toda“. Für „Gott“ steht in diesem Text das Tetragramm JHWH, also „Jehova.“ Aus Jehova plus den „Wurzelbuchstaben“ des Wortes „Dank“ („Toda“) wird „Jehuda“. Ganz genau: Aus Leas Worten „Hapaam odeh et JHWH“ entsteht der Name „Jehuda“. Jetzt muß man sich allerdings fragen, wie und warum aus dem vierten Sohn der Frau zweiter Wahl der erste, der Hauptname der Juden wurde.
Dazu die folgenden Geschichtsdaten: Der Großteil der alttestamentlichen Texte wurde ungefähr zwischen 500 und 300 vdZ. verfasst. Sie basierten oft auf älteren Überlieferungen. Zu diesen dürfte die Genealogie Jakobs gehört haben. Hier war Juda beziehungsweise Jehuda die Nummer vier. Von 721 bis 586 vdZ. gab es nicht mehr zwölf jüdische Stämme in zwei jüdischen Königreichen, Israel und Judäa (plus Benjamin), sondern nur noch eines: Das Königreich Jehuda beziehungsweise „Judäa“. 586 vdZ. zerstörte Babylons König Nebukadnezar sowohl Judäa als auch den Ersten, den Salomonischen Tempel. Das erste Exil folgte. 518 vdZ. hatten die Perser und Kyros Babylon besiegt und den „Juden“ die Rückkehr nach „Zion“ erlaubt. Zion, das war ungefähr identisch mit Jerusalem und dem Rest des einstigen Königreiches Judäa.
Seit 721 vdZ. war also der Stamm des viertgeborenen Jakob-Sohnes Juda der einzig verbliebene der einstigen Zwölferschar. Auf dem Weg vom Mythos zur jüdischen Geschichte blieb von zwölf Söhnen und Stämmen nur noch einer, Juda/Jehuda. Immer wieder wird in den Legenden auf die „10 verlorenen Stämme“ hingewiesen. Tatsache ist allerdings, daß sich die Spur für die Mehrzahl der israelitischen Stämme im Exil in Assyrien verliert. Außer dem Stamm Juda umfassten die „Juden“ jetzt nur noch Teile vom Stamm Benjamin und vom Priesterstamm Levi. Dazu die Nachfahren von Aahron – die Kohanim.
Nur diese „Juden“ wurden später ins Exil nach Babylon verbracht und durften im Jahr 516 vdZ. zurückkehren. Erst nach dieser Rückkehr wird unter Esra eine republikanische Theokratie errichtet. Grundlage wird das Gesetz Moses, ausgelegt von Schriftgelehrten und Priestern. Juda – Judäa, das ist von nun an alles Jüdische, alles, was Juden und Judentum ist und betrifft. Aus zwölf wird eins. Juda genießt das Monopol und wird sozusagen zum Erstgeborenen.
Eine Kollektivdeutung ist im Prinzip schon angelegt durch den Namen, wie man ihn auch im zweiten Jesaja-Buch findet, der wird mit Jakob identifiziert und Jakob erhält in der Situation, in der er mit einem nächtlichen Wesen gekämpft hat, den Namen Israel. Jakob wird mit Israel identisch, also ein Einzelner bekommt den Volksnamen. Das ist natürlich theologisch voller Absicht. In dem Moment, wo das Volk zusammensteht und sich um die Gebote des Ewigen schart, da wird sozusagen aus den vielen einer - Jakob/Israel wird Knecht des Ewigen. Deswegen ist das Kollektiv für die jüdische Tradition von elementarer Bedeutung und Wichtigkeit.
Zusätzlich spielt bei der Namensgebung die positive Persönlichkeitsveränderung (die Teschuwa) von Juda eine große Rolle. Aus dem kühl kalkulierenden und gefühlskalten Menschen, der sogar seinen eigenen Bruder Josef zugunsten der eigenen Vorteile verkauft, wird später der mitfühlende und mitleidende Bruder, der bereit ist, für seinen jüngsten Bruder Benjamin ins Gefängnis zu gehen. Juda ist jetzt ein Mensch, der in der Lage ist, sein verkehrtes Handeln zu bereuen und den Weg der Teschuwa (der Umkehr) anzutreten. Und erst jetzt wird aus dem individuellen Egoisten, Israel - das Gottesvolk. Höhepunkt des ebenso historischen wie theologischen Legitimierungsweges ist der Jakobssegen in Genesis 49,8 ff.: „Juda, dir jubeln die Brüder zu, deine Hand hast du am Genick deiner Feinde. Deines Vaters Söhne fallen vor dir nieder … Nie weicht von Juda das Zepter, der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der kommt, dem er gehört, dem der Gehorsam der Völker gebührt.“ Das kann, im Sinne der Propheten, allein Gott sein.
Das Gesetz zum Zusammenleben dieses Volkes nur als Religion darzustellen, ist eine Verkürzung seiner komplexen Lebensrealität, die ihren Ursprung in der Antike hat, genauer gesagt in der Zeit nach der Rückkehr einer judäischen Oberschicht aus dem babylonischen Exil. Dafür, was wir heute unter Religion verstehen, kennen weder Griechen noch Hebräer ein eigenes Wort. In seiner Studie „The Beginnings of Jewishness schreibt Shaye J. D. Cohen: „Die Juden (Judäer) der Antike bildeten ein Ethnos, eine ethnische Gruppe. Sie waren eine mit einem Namen, der mit einem spezifischen Territorium verbunden war, bezeichnete Gruppe. Ihre Mitglieder teilten ein Gefühl gemeinsamer Ursprünge, erhoben Anspruch auf eine gemeinsame und besondere Geschichte bzw. Schicksal, besaßen ein oder mehrere besondere Charakteristika und ein Gefühl kollektiver Einzigkeit und Solidarität. Die Summe dieser besonderen Charakteristika wurde mit dem griechischen
Wort Ioudaismos bezeichnet… Die eigentümlichste Besonderheit der Juden war die Art, in der sie ihren Gott verehrten, was wir heute ihre Religion nennen würden. Aber der Begriff Ioudaismos, der Vorläufer des englischen Wortes Judaism, bedeutet mehr als nur Religion. Für die antiken Griechen ist „Religion“ nur eine von vielen Einzelheiten, die eine Kultur oder eine Gruppe unterscheidbar machen.“
Bedeutung der Alphabetschrift
Um zu verstehen, warum die Semiten von den sie umgebenden Völkern als ein „Abgesondertes Volk“ angesehen wurden, muß man weit in die Genealogie zurückgehen. Viele Menschen, darunter auch akademisch Gebildete, glauben immer noch, Semiten wären eine Rasse. Daraus wird dann oft der Schluss gezogen, daß Araber gar keine Antisemiten sein könnten, weil sie ja selber Semiten wären.
Tatsächlich ist Sem, einer der Söhne Noahs, aber ein mythologischer Vorfahre. Er ist ein Vorfahr von Abraham und war tatsächlich jemand mit außerordentlichen Fähigkeiten. Er ist der erste, der ein Lehrhaus gründete. Ein Lehrhaus, in dem in einer Alphabetschrift Religion und Recht gelehrt wurde. Teilnehmen konnten alle Menschen, die bei ihm lernen wollten.
Sem ist also der Schöpfer einer Schriftkultur, in der jeder Mensch, jede Frau und jeder Mann lesen und schreiben lernen konnte. Auch das Recht wurde verschriftet und zwar in der Alphabetschrift, die allen Menschen zugänglich war. Vorher gab es zwar schon Hieroglyphen, Keilschriften und andere Bilderschriften, aber die neue Alphabetschrift hatte einen entscheidenden Vorteil. Mit den bis zu 30 Einzelbuchstaben sorgte sie für den entscheidenden Durchbruch bei der Lese- und Schreibfähigkeit aller Schüler. Die vorher bekannten Schreib- und Lesesysteme bestanden oft aus hunderten oder tausenden von Schriftzeichen, zu denen der Großteil der Bevölkerung keinen Zugang fand.
Die Menschenrechtserklärungen, das Grundgesetz, alle unsere anderen Texte, die ganze Kultur und die Wissenschaft wären ohne dieses Schriftsystem nicht in der gleichen Weise möglich gewesen. Die geniale Erfindung einer einfachen Schrift hat die gesamte Kultur erst ermöglicht.
Die elementare Bedeutung dieser Schrift wurde übrigens von den Nationalsozialisten klar erkannt und es wurde alles versucht, Gegenargumente aufzubauen. Die Lösung war der „Arier-Mythos“. Die Definitionen als „Arier“ oder „Jude“ in den Rassegesetzen der Nationalsozialisten waren keine rassischen Kriterien oder biologische Merkmale – dieser offizielle Bezug hatte ausschließlich propagandistische Gründe. Das einzige Kriterium für die Einstufung war die Zugehörigkeit zur Religion, und zwar nicht die eigene, sondern die der Vorfahren. In diesem Zusammenhang wurde dann die von Friedrich Schlegel am Anfang des 19. Jahrhunderts entstandene Behauptung populär gemacht, die indische Sprache sei älter als alle europäischen Sprachen und vor Urzeiten nach Europa gekommen. Nicht das Hebräische sei die „Ursprache“, sondern das Indische bzw. das Indogermanische. Damit wurde die jüdische Abstammung des ganzen Menschheitsgeschlechtes verneint und durch die Konstruktion eines anderen Ursprunges ersetzt.
Gründung des Judentums
Für die Herausbildung des Judentums mit seinen strikten Religionsgesetzen ist die Zeit der „Babylonischen Gefangenschaft“ maßgeblich. Diese währte für die Bevölkerung aus Judäa insgesamt 47 Jahre (von 586 bis 539 vdZ.). Ein Großteil der Bewohner Israels wurde dagegen bereits ab 721 vdZ. zwangsumgesiedelt. Die Deportation der Oberschichten war eine übliche Methode antiker Großreiche, um eroberte Länder zu befrieden.