Sunset - Stephen King - E-Book

Sunset E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Wenn die Sonne untergeht, erwacht das Grauen ...

Was, wenn tödlicher Horror über einen hereinbricht oder Besessenheit und Gelüste alle Vernunft besiegen? Wozu der vermeintlich normale Mensch fähig ist, wenn sein Leben plötzlich eine unerwartete Wendung nimmt: Stephen King zeigt uns das, wie nur er es kann – in dreizehn neuen unheimlichen Geschichten, erstmals in einem Band gesammelt.

Dreizehn phantastische Geschichten über Menschen wie du und ich, deren gewohntes Leben urplötzlich auf den Kopf gestellt wird:

Richard wird der eigene Hometrainer zum Verhängnis. Anne bekommt einen Anruf von ihrem Mann – auf dessen eigener Totenfeier. Emily will nach einer Fehlgeburt vor dem Leben davonlaufen – und rennt buchstäblich in ihr Verderben. Monette erzählt einem »Taubstummen«, dass er die eigene Frau, weil sie ihn betrügt, am liebsten umbringen würde – was dieser offenbar wörtlich nimmt. Curtis wird von seinem rachsüchtigen Nachbarn in einem Plastikkabinenklo lebendig begraben. Bei Scott tauchen immer wieder Dinge von Opfern der Anschläge vom 11. September auf, Dinge, die er einfach nicht loswird. John wird Zeuge, wie in einer Raststättentoilette eine Frau verprügelt wird – und greift viel brutaler ein, als er es sich selbst zugetraut hätte.

Der »Handwerker des Schreckens« (»Süddeutsche Zeitung«) hat wieder alle Register seines Könnens gezogen. Wie bei seinen Romanen beweist Stephen King auch hier, dass er ein unnachahmlicher Geschichtenerzähler ist – ein wahrer Meister der Kurzgeschichte.

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Seitenzahl: 733

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DAS BUCH

Was, wenn tödlicher Horror über einen hereinbricht oder Besessenheit und Gelüste alle Vernunft besiegen? Wozu der vermeintlich normale Mensch fähig ist, wenn sein Leben plötzlich eine unerwartete Wendung nimmt: Stephen King zeigt uns das, wie nur er es kann – in dreizehn neuen unheimlichen Geschichten, erstmals in einem Band gesammelt:

Richard wird der eigene Hometrainer zum Verhängnis. Anne bekommt einen Anruf von ihrem Mann – auf dessen eigener Totenfeier. Emily will nach einer Fehlgeburt vor dem Leben davonlaufen – und rennt buchstäblich in ihr Verderben. Monette erzählt einem »Taubstummen«, dass er die eigene Frau, weil sie ihn betrügt, am liebsten umbringen würde – was dieser offenbar wörtlich nimmt. Curtis wird von seinem rachsüchtigen Nachbarn in einem Plastikkabinenklo lebendig begraben. Bei Scott tauchen immer wieder Dinge von Opfern der Anschläge vom 11. September auf, Dinge, die er einfach nicht loswird. John wird Zeuge, wie in einer Raststättentoilette eine Frau verprügelt wird – und greift brutaler ein, als er es sich selbst zugetraut hätte …

DER AUTOR

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Bei Heyne erschien zuletzt sein Bestsellerroman Revival.

Im Anhang an den Roman findet sich ein ausführliches Werkverzeichnis des Autors.

Für Heidi Pitlor

»Ich weiß wahrscheinlich, was Sie gesehen haben. Ja, es istschrecklich genug, aber schließlich und endlich ist es einealte Geschichte, ein altes Mysterium … Solche Kräfte sind nichtbenennbar, sind unaussprechlich, bleiben unvorstellbar ohneSchleier und Symbol – ein Symbol, das den meisten unter unsals dichterische Erfindung von seltsamem Reiz erscheint undmanchen als alberne, törichte Fabel. Aber Sie und ich haben jedenfallsetwas von dem Schrecken begriffen, der am geheimen Ortdes Lebens wohnen und sich unter menschlicher Fleischeshüllezeigen kann: dass das, was keine Form besitzt, eine Form annimmt.Oh, Austin, wie kann das sein? Wie ist es möglich, dass dieSonne sich nicht beim Anblick dieses Dings verdunkelt, dass diefeste Erde nicht schmilzt und brodelt unter solch einer Last?«

ARTHUR MACHEN · »Der große Pan«

Inhaltsverzeichnis

Kurzbiographie des AutorsWidmungVorwortWilla Das Pfefferkuchen-Mädchen Harveys Traum Der Rastplatz Der Hometrainer Hinterlassenschaften Abschlusstag N. Die Höllenkatze Die New York Times zum Vorzugspreis Stumm Ayana In der Klemme Anmerkungen Bonusmaterial Über den Autor Die Bücher
1. Romane
Brennen muss Salem (Salem’s Lot) Dead Zone (Dead Zone) Cujo (Cujo) Feuerkind (Firestarter) Christine (Christine) Friedhof der Kuscheltiere (Pet Sematary) Es (It) Die Augen des Drachen (The Eyes of the Dragon) Sie (Misery) Das Monstrum – Tommyknockers (Tommyknockers) Stark – The Dark Half (The Dark Half) Needful Things – In einer kleinen Stadt (Needful Things) Dolores (Dolores Claiborne) Das Spiel (Gerald’s Game) Schlaflos – Insomnia (Insomnia) Das Bild – Rose Madder (Rose Madder) Desperation (Desperation) Sara (Bag of Bones) Der Sturm des Jahrhunderts (Storm of the Century) Atlantis (Hearts in Atlantis) Puls (Cell) Love (Lisey’s Story) Wahn (Duma Key) Die Arena (Under the Dome)
2. Kurzromane und Erzählungen
Frühling, Sommer, Herbst und Tod (Different Seasons) Im Morgengrauen (aus: Skeleton Crew) Gesang der Toten (aus: Skeleton Crew) Der Fornit (aus: Skeleton Crew) Blut (Skeleton Crew) Nachts (aus: Four Past Midnight) Langoliers (aus: Four Past Midnight) Alpträume (Nightmares and Dreamscapes) Sunset (Just After Sunset)
3. Der Dunkle Turm (Serie)
Band I: Schwarz (The Dark Tower – Gunslinger) Band II: Drei (The Dark Tower – The Drawing of the Three) Band III: tot. (The Dark Tower – The Waste Lands) Band IV: Glas (The Dark Tower – Wizard and Glass) Band V: Wolfsmond (The Dark Tower – Wolves of the Calla) Band VI: Susannah (The Dark Tower – Song of Susannah) Band VII: Der Turm (The Dark Tower – The Dark Tower)
Zusatzmaterial zu dieser Serie:
Der Dunkle Turm Graphic Novel
4. Autobiografie
Das Leben und das Schreiben (On Writing)
5. Unter dem Pseudonym Richard Bachman sind erschienen:
Amok (Rage) Todesmarsch (The Long Walk) Sprengstoff (Roadwork) Menschenjagd (The Running Man) Der Fluch (Thinner) Regulator (Regulators) Qual (Blaze)
6. Gemeinsam mit Peter Straub:
Der Talisman (The Talisman) Das schwarze Haus (Black House)
Copyright

VORWORT

Im Jahr 1972 kam ich eines Tages nach Hause, da saß meine Frau mit einer Gartenschere am Küchentisch. Sie lächelte, was darauf schließen ließ, dass mich nicht allzu viel Ärger erwartete; andererseits verlangte sie die Herausgabe meiner Geldbörse. Das klang nicht gut.

Trotzdem gab ich sie ihr. Sie wühlte meine Tankkreditkarte von Texaco heraus – damals wie heute bekamen Jungverheiratete solches Zeug routinemäßig unverlangt zugeschickt – und zerschnitt sie prompt in drei große Stücke. Als ich protestierte, die Karte sei sehr praktisch gewesen und wir hätten am Monatsende immer wenigstens die Mindestzahlung geleistet (manchmal mehr), schüttelte sie nur den Kopf und erklärte mir, die Kreditzinsen seien mehr, als unser fragiles Familienunternehmen tragen könne.

»Lieber die Versuchung abschaffen«, sagte sie. »Meine habe ich schon zerschnitten.«

Und das war’s dann. In den folgenden zwei Jahren besaß keiner von uns beiden mehr eine Kreditkarte.

Es war richtig, es war clever gewesen, das zu tun, denn damals waren wir Anfang zwanzig und hatten zwei Kinder zu versorgen; finanziell schafften wir es so eben, uns über Wasser zu halten. Ich unterrichtete Englisch an einer Highschool und arbeitete im Sommer in einer Großwäscherei, wusch Motelbettwäsche und fuhr sie gelegentlich mit einem Lieferwagen zu diesen Motels. Tabby versorgte tagsüber die Kinder, schrieb Gedichte, während die ihren Mittagsschlaf hielten, und arbeitete eine volle Schicht bei Dunkin’ Donuts, sobald ich aus der Schule heimkam. Unser gemeinsames Einkommen genügte, um die Miete zu zahlen, Lebensmittel zu kaufen und unseren kleinen Sohn mit Windeln zu versorgen, aber es reichte nicht für ein Telefon; das schafften wir ebenso ab wie die Texaco-Karte. Die Versuchung, mit jemandem ein Ferngespräch zu führen, wäre zu groß gewesen. Wir behielten genug übrig, um gelegentlich Bücher zu kaufen – keiner von uns konnte ohne sie leben – und meine schlechten Angewohnheiten (Bier und Zigaretten) zu bezahlen, aber kaum mehr als das. Ganz sicher hatten wir nicht das Geld, um für das Vorrecht, dieses praktische, aber letztlich gefährliche Plastikkärtchen zu besitzen, Kreditzinsen bezahlen zu können.

Was wir an überschüssigem Einkommen hatten, ging meistens für Dinge wie Autoreparaturen, Arztrechnungen oder Sachen drauf, die Tabby und ich »Kinderscheiß« nannten: Spielzeug, einen Laufstall aus zweiter Hand, ein paar dieser ärgerlichen Richard-Scarry-Bücher. Und dieses bisschen zusätzliche Geld kam oft durch die Kurzgeschichten herein, die ich Herrenmagazinen wie Cavalier, Dude und Adam verkaufen konnte. In jenen Tagen ging es nie darum, Literatur zu schreiben, und jede Diskussion über den »bleibenden Wert« meines Zeugs wäre ein ebenso großer Luxus wie diese Texaco-Karte gewesen. Wenn die Storys sich verkauften (was sie nicht immer taten), bedeuteten sie einfach ein willkommenes kleines Zusatzeinkommen. Ich betrachtete sie als eine Reihe Piñatas, an die ich statt mit einem Stock mit einer Schreibmaschine schlug. Manchmal platzten sie und ließen ein paar Hundert Dollar herabregnen. Ein andermal taten sie es nicht.

Zum Glück für mich – man glaube mir, dass ich in mehr als nur dieser Beziehung ein äußerst glückliches Leben geführt habe – war meine Arbeit auch mein Vergnügen. Ich amüsierte mich bei den meisten dieser Storys, hatte einen Riesenspaß dabei. Sie kamen eine nach der anderen wie die Hits des Rock-Senders auf Mittelwelle, der in der Kombination aus Arbeitszimmer und Wäscheraum, in dem ich sie schrieb, ständig lief.

Ich schrieb sie schnell und zügig, sah sie mir nach dem zweiten Umschreiben kaum jemals wieder an und kam nie auf den Gedanken, mich etwa zu fragen, woher sie kamen, wie die Struktur einer guten Kurzgeschichte sich von der eines Romans unterschied oder wie man Dinge wie Personenentwicklung, Rückblenden und Zeitrahmen managte. Ich flog lediglich nach Gefühl, hatte nichts als meine Intuition und jugendliches Selbstvertrauen. Mich kümmerte nur, dass der Strom nicht versiegte. Das war alles, was mich zu kümmern brauchte. Jedenfalls kam ich niemals auf die Idee, das Schreiben von Kurzgeschichten sei eine delikate Kunst, die man vergessen könne, wenn man sie nicht fast ständig übe. Damals kam sie mir keineswegs delikat vor. Die meisten dieser Storys kamen mir wie Planierraupen vor.

Viele amerikanische Bestsellerautoren schreiben keine Kurzgeschichten. Ich bezweifle, dass das eine Geldfrage ist; Bestsellerautoren brauchen über diesen Aspekt nicht nachzudenken. Vielleicht setzt eine Art kreative Klaustrophobie ein, sobald die Welt eines hauptberuflichen Schriftstellers auf sagen wir unter 280 Seiten schrumpft.Vielleicht ist es auch nur das Talent zur Miniaturisierung, das irgendwann verlorengeht. Bei vielem im Leben mag es sich wie mit dem Fahrradfahren verhalten, aber das Schreiben von Kurzgeschichten gehört nicht dazu. Man kann vergessen, wie man es macht.

In den späten achtziger und neunziger Jahren schrieb ich immer weniger Storys, und diejenigen, die ich zu Papier brachte, wurden immer länger (einige davon sind in diesem Band versammelt). Das war in Ordnung. Aber es gab auch Kurzgeschichten, die ich nicht schrieb, weil ich irgendeinen Roman zu beenden hatte, und das war weniger in Ordnung – ich konnte hören, wie diese Ideen im Hinterkopf darum bettelten, aufgeschrieben zu werden. Manche kamen irgendwann dran; andere starben leider und wurden wie Staub weggeblasen.

Am schlimmsten war, dass es Kurzgeschichten gab, die ich nicht mehr schreiben konnte, und das war bestürzend. Ich wusste, dass ich sie damals im Wäscheraum auf Tabbys kleiner Reiseschreibmaschine von Olivetti hätte schreiben können, aber als älterem Mann – selbst mit ausgefeilter Schreibtechnik und viel kostspieligerem Handwerkszeug wie dem Macintosh, auf dem ich heute Abend schreibe – fielen mir solche Geschichten nicht mehr ein. Ich weiß noch, wie ich eine vermurkste und mir einen alternden Schwertfeger vorstellte, der ratlos eine edle Damaszenerklinge betrachtet und denkt: Irgendwie hab ich früher doch gewusst, wie man dieses Zeug macht.

Dann bekam ich eines Tages vor drei oder vier Jahren einen Brief von Katrina Kenison, Herausgeberin der jährlich erscheinenden Best American Short Stories (ihre Nachfolgerin ist inzwischen Heidi Pitlor, der dieses Buch gewidmet ist). Ms. Kenison fragte an, ob ich Interesse daran hätte, den Jahrgang 2006 herauszugeben. Ich brauchte nicht darüber zu schlafen oder mir die Sache auch nur bei einem Nachmittagsspaziergang zu überlegen. Ich sagte sofort zu. Aus allen möglichen Gründen, von denen einige sogar altruistisch waren. Aber ich wäre ein schlimmer Lügner, wenn ich nicht zugäbe, dass auch Eigeninteresse eine Rolle spielte. Ich dachte, wenn ich genügend Kurzgeschichten läse, in das Beste eintauchte, was die amerikanischen Literaturzeitschriften zu bieten hatten, könnte ich vielleicht etwas von der Mühelosigkeit zurückgewinnen, die mir verlorengegangen war. Nicht weil ich diese Honorarschecks brauchte – klein, aber sehr willkommen, wenn man erst anfängt –, um einen neuen Auspuff für einen Gebrauchtwagen oder ein Geburtstagsgeschenk für meine Frau zu kaufen, sondern weil ich es für keinen fairen Tausch hielt, meine Fähigkeit, Kurzgeschichten zu schreiben, gegen eine ganze Geldbörse voller Kreditkarten einzutauschen.

In meinem Jahr als Gastherausgeber habe ich Hunderte von Storys gelesen, aber darauf will ich hier nicht eingehen; wen es interessiert, der kaufe sich das Buch und lese die Einführung (außerdem gönnt man sich damit zwanzig klasse Kurzgeschichten, was auch nicht übel ist). Wichtig hinsichtlich der hier folgenden Storys ist die Tatsache, dass die alte Erregung zurückkam und ich wieder wie früher zu schreiben begann. Darauf hatte ich gehofft, aber kaum zu glauben gewagt, dass es so kommen würde. Die erste dieser »neuen« Storys war »Willa«, die auch die erste Geschichte des vorliegenden Bandes ist.

Taugen diese Storys etwas? Ja, ich finde schon. Sind sie Literatur? Das weiß ich nicht, und mich interessiert es auch nicht besonders; wen es interessiert, der frage einen Kritiker. Können sie einem einen langweiligen Flug (wenn man liest) oder eine lange Autofahrt (wenn man die Hörbücher hört) verkürzen? Das hoffe ich doch. Wenn das geschieht, ereignet sich nämlich eine Art Zauber.

Es hat mir Spaß gemacht, sie zu schreiben, das weiß ich. Und ich hoffe, dass sie den Lesern gefallen, dass sie von ihnen davongetragen werden. Und solange ich weiß, wie man’s macht, werde ich weiterschreiben.

Oh, und noch etwas. Ich weiß, dass manche Leser gern etwas darüber hören, wie oder weshalb bestimmte Storys geschrieben wurden.Wer zu diesen Leuten gehört, findet hinten meine »Liner Notes«. Aber man schäme sich, dort nachzuschlagen, bevor man die Geschichten gelesen hat.

Und jetzt will ich zusehen, dass ich niemandem länger im Weg stehe. Doch bevor ich gehe, möchte ich Ihnen danken, dass Sie hergekommen sind. Würde ich ohne Sie weiterschreiben? Ja, das täte ich wohl. Weil es mich glücklich macht, wenn die Worte Zeilen bilden und das Bild hervortritt und meine Fantasiegestalten Dinge tun, die mich begeistern. Aber mit Ihnen, treuer Leser, ist es mir lieber.

Mit Ihnen ist es mir immer lieber.

WILLA

Du siehst nicht mal, was du direkt vor Augen hast, hatte sie gesagt, aber manchmal sah er es doch.Wahrscheinlich war ihre Häme nicht ganz unverdient, aber völlig blind war er auch nicht. Und während das Abendrot über der Wind River Range zu bitterem Orange verglomm, blickte David im Bahnhof umher und sah, dass Willa fort war. Er sagte sich, dass er sich da nicht sicher sein konnte, aber das war nur sein Kopf – das flaue Gefühl im Magen war sich sicher genug.

Er machte sich auf die Suche nach Lander, der sie ein bisschen mochte; der gemeint hatte, sie habe Mumm, als Willa sagte, es sei eine Sauerei von Amtrak, die Leute hier so hängenzulassen. Viele von ihnen konnten sie nicht leiden, ob Amtrak sie nun hängenließ oder nicht.

»Hier riecht’s nach feuchtem Keks!«, rief Helen Palmer ihm zu, als David vorbeikam. Sie hatte zu der Bank in der Ecke gefunden, wie sie es schließlich immer tat. Die Rhinehart wachte im Moment über sie, was dem Ehemann eine kleine Atempause verschaffte, und sie lächelte David zu.

»Haben Sie Willa gesehen?«, fragte David.

Die Rhinehart schüttelte den Kopf, immer noch lächelnd.

»Es gibt Fisch zum Abendessen!«, schimpfte Mrs. Palmer. Ein Kranz blauer Adern pochte an ihrer Schläfe. »Auch das noch!«

»Pscht, Helen«, sagte die Rhinehart.Vielleicht hieß sie Sally, aber an so einen Namen, dachte David, hätte er sich erinnert; es gab heutzutage zu wenig Sallys. Jetzt gehörte die Welt den Ambers, Ashleys und Tiffanys. Willa war auch so eine aussterbende Spezies, und allein schon bei dem Gedanken wurde ihm wieder flau im Magen.

»Feuchter Keks!«, fauchte Helen. »Dreckige alte Penner!«

Henry Lander saß auf einer Bank unter der Uhr. Er hatte den Arm um seine Frau gelegt. Er blickte auf und schüttelte den Kopf, noch ehe David fragen konnte. »Sie ist nicht hier. Tut mir leid. Nur mal eben in die Stadt gegangen, wenn Sie Glück haben. Endgültig auf und davon, wenn nicht.« Er mimte eine Anhaltergeste.

David glaubte nicht, dass seine Verlobte auf eigene Faust gen Westen trampen würde – absurde Vorstellung –, aber dass sie nicht hier war, das glaubte er wohl. Hatte es eigentlich schon gewusst, bevor er die Anwesenden zählte, und eine Verszeile aus einem alten Wintergedicht kam ihm in den Sinn: ein Schrei der Trennung, Abwesenheit im Herzen.

Der Bahnhof war eine enge hölzerne Kehle, in der die Leute entweder ziellos auf und ab wanderten oder auf den Bänken unter den Neonlampen saßen. Die Schultern derer, die saßen, wiesen jene typische Schlaffheit auf, die man nur an Orten wie diesem sah, wo die Leute darauf warteten, dass das, was auch immer schiefgegangen war, wieder in Ordnung kam, damit die unterbrochene Reise fortgesetzt werden konnte. Nicht viele Leute begaben sich absichtlich an Orte wie Crowheart Springs,Wyoming.

»Laufen Sie ihr bloß nicht hinterher, David«, sagte Ruth Lander. »Es wird schon dunkel, und da draußen gibt’s jede Menge Viechzeugs. Und nicht nur Kojoten. Dieser Buchhändler mit dem Hinkebein sagt, dass er auf der anderen Seite der Gleise Wölfe gesehen hat, drüben bei den Güterwagen.«

»Biggers«, sagte Henry. »So heißt er.«

»Von mir aus kann er Jack D. Ripper heißen«, sagte Ruth. »Ich meine nur, wir sind hier nicht mehr in Kansas, David.«

»Aber wenn sie doch …«

»Sie ist weg, als es noch hell war«, sagte Henry Lander, als würde das Tageslicht einen Wolf (oder einen Bären) davon abhalten, eine einzelne Frau anzufallen. Konnte ja sein, was wusste David schon. Er war Investmentbanker, nicht Wildhüter. Ein junger Investmentbanker obendrein.

»Wenn der Ersatzzug kommt und sie nicht da ist, wird sie ihn verpassen.« Dieses simple Faktum schien ihnen nicht in den Kopf zu wollen. Es griff einfach nicht, wie es in dem gängigen Jargon seines Büros in Chicago heißen würde.

Henry hob die Augenbrauen. »Meinen Sie, dass es irgendwie besser ist, wenn Sie ihn beide verpassen?«

Wenn sie ihn beide verpassten, könnten sie entweder einen Bus nehmen oder zusammen auf den nächsten Zug warten. Das mussten Henry und Ruth Lander doch einsehen. Oder vielleicht auch nicht.Was David vor allem sah, wenn er sie anblickte – was er direkt vor Augen hatte –, war jene seltsame Mattigkeit, die mitten im Nirgendwo festsitzenden Leuten vorbehalten war. Und wer machte sich schon etwas aus Willa? Wer außer David Sanderson würde auch nur einen Gedanken an sie verschwenden, wenn sie hier in der Pampa verschwand? Sie war sogar regelrecht verhasst. Diese Ziege Ursula Davis hatte mal gesagt: »Willas Mutter hätte das a am Ende ihres Namens gleich weglassen können, das wäre viel passender gewesen.«

»Ich werde in die Stadt gehen und sie suchen«, sagte er.

Henry seufzte. »Das ist sehr unvernünftig, mein Sohn.«

»Wir können nicht in San Francisco getraut werden, wenn sie in Crowheart Springs zurückbleibt«, sagte er, um die Sache ins Scherzhafte zu ziehen.

Dudley kam vorbei. David konnte nicht sagen, ob Dudley sein Vor- oder Nachname war, nur dass er eine leitende Stellung bei Staples-Bürobedarf innehatte und auf dem Weg nach Missoula zu irgendeiner Regionalversammlung gewesen war. Er war normalerweise sehr still, weshalb das wiehernde Lachen, das er in die wachsenden Schatten aussandte, nicht nur überraschend, sondern geradezu schockierend wirkte. »Wenn der Zug kommt und Sie ihn verpassen«, sagte er, »können Sie einen Friedensrichter ausfindig machen und sich hier an Ort und Stelle trauen lassen. Und wenn Sie dann zurück im Osten sind, erzählen Sie Ihren ganzen Freunden, dass Sie eine Blitzheirat im echten Western-Stil hatten.Yippie, Cowboy.«

»Tun Sie’s nicht«, sagte Henry. »Wir bleiben hier nicht mehr lange.«

»Ja, soll ich sie denn im Stich lassen? Das ist doch Schwachsinn.«

Er ging weiter, ehe Lander oder seine Frau noch etwas erwidern konnten. Georgia Andreeson saß auf einer Bank nahebei und sah ihrem Töchterchen zu, das in einem roten Reisekleid über den schmutzigen Fliesenboden hüpfte. Pammy Andreeson schien nie müde zu werden. David versuchte sich zu erinnern, ob er sie irgendwann hatte schlafen sehen, seit der Zug am Wind-River-Knotenpunkt entgleist war und sie wie ein vergessenes Päckchen in einem toten Briefkasten hier gelandet waren. Einmal vielleicht, mit dem Kopf auf dem Schoß der Mutter. Aber das bildete er sich möglicherweise nur ein, im Glauben, dass Fünfjährige eine Menge Schlaf brauchten.

Pammy hopste von Fliese zu Fliese. Der leibhaftige Schabernack, benutzte sie die Vierecke als riesiges Hüpfspiel. Das rote Kleid wippte um ihre pummeligen Knie. »Ich kenne einen, der heißt Jo«, deklamierte sie in einem monotonen Singsang, so schrill, dass David die Plomben wehtaten. »Er stolpert und fällt auf den Po. Ich kenne einen, der heißt David. Er stolpert und fällt auf den Bavid.« Sie kicherte und zeigte auf David.

»Hör auf, Pammy«, sagte Georgia Andreeson. Sie lächelte David zu und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Die Geste erschien ihm unsäglich erschöpft, und er dachte, dass ihr noch ein langer Weg mit der quirligen Pammy bevorstand, vor allem ohne einen Mr. Andreeson in Sicht.

»Haben Sie Willa gesehen?«, fragte er.

»Ist gegangen«, sagte sie und deutete auf die Tür mit dem Schild ZU BUS, TAXI, TELEFON – ERKUNDIGEN SIE SICH IM VORAUS NACH FREIEN HOTELZIMMERN darüber.

Jetzt kam Biggers auf ihn zugehumpelt. »Ich würde mich nicht ins Freie wagen, außer mit einem Schnellschussgewehr. Da draußen gibt es Wölfe. Ich habe welche gesehen.«

»Ich kenne eine, die heißt Willa«, sang Pammy. »Die hat Kopfweh und nimmt ’ne Pilla.« Sie schmiss sich hin und brüllte vor Lachen.

Biggers, der Handlungsreisende, hatte keine Antwort abgewartet. Er humpelte quer durch den Bahnhof zurück. Sein Schatten wurde lang, verkürzte sich im Schein der hängenden Leuchtstoffröhren, wurde wieder lang.

Phil Palmer lehnte im Türrahmen unter dem Schild. Er war Versicherungsvertreter im Ruhestand. Er und seine Frau waren auf dem Weg nach Portland. Sie hatten vor, eine Weile bei ihrem ältesten Sohn und dessen Frau zu bleiben, aber Palmer hatte David und Willa im Vertrauen erzählt, dass Helen wohl nie mehr in den Osten zurückkommen würde. Sie hatte Krebs und außerdem Alzheimer.Willa nannte das einen Doppelpack. Als David meinte, das sei ein wenig grausam, hatte Willa ihn angesehen, zu einer Entgegnung angesetzt und dann nur den Kopf geschüttelt.

Nun fragte Palmer, wie er es immer tat: »He, Kumpel – haste mal ’ne Kippe?«

Worauf David wie immer antwortete: »Ich rauche nicht, Mr. Palmer.«

Und Palmer sagte zum Abschluss: »War nur ’n kleiner Test, Junge.«

Als David auf den Bahnsteig hinaustrat, wo Ankömmlinge auf den Pendelbus nach Crowheart Springs warteten, runzelte Palmer die Stirn. »Keine gute Idee, mein junger Freund.«

Irgendetwas – vielleicht ein großer Hund, vielleicht aber auch nicht – erhob ein Geheul von der anderen Seite des Bahnhofs her, wo das Gestrüpp fast bis zu den Gleisen wucherte. Eine zweite Stimme fiel ein, was eine gewisse Harmonie erzeugte. Sie verebbten im Einklang.

»Siehste, was ich meine?« Palmer lächelte, als hätte er das Geheul heraufbeschworen, nur um zu beweisen, dass er Recht hatte.

David wandte sich um, und seine leichte Jacke flatterte in dem scharfen Wind. Eilig stieg er die Stufen hinab, bevor er es sich anders überlegen konnte. Nur die erste Stufe kostete ihn echte Überwindung, danach dachte er bloß noch an Willa.

»David«, sagte Palmer, jetzt ganz ohne Frotzelei. »Tu’s nicht.«

»Warum nicht? Sie hat’s ja auch getan. Außerdem sind die Wölfe doch da drüben.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter. »Falls es überhaupt welche sind.«

»Natürlich sind es welche. Gut, wahrscheinlich werden sie nicht auf dich losgehen – zu dieser Jahreszeit sind sie wohl nicht so hungrig. Aber ihr müsst doch nicht alle beide noch Gott weiß wie lange in dieser Einöde herumlungern, nur weil sie die Lichter der Stadt vermisst hat.«

»Sie scheinen einfach es nicht zu begreifen – sie ist mein Mädchen.«

»Ich will dir mal was sagen, mein Freund: Wenn sie sich wirklich für dein Mädchen halten würde, wäre sie gar nicht erst losgezogen. Meinst du nicht auch?«

Zuerst gab David keine Antwort, weil er sich nicht sicher war, was genau er meinte. Vielleicht, weil er oft nicht sah, was er direkt vor Augen hatte, wie Willa ihm vorwarf. Doch schließlich drehte er sich zu Phil Palmer um, der über ihm am Türrahmen lehnte. »Ich meine, dass man seine Verlobte nicht allein in der Einöde zurücklässt. Das meine ich.«

Palmer seufzte. »Fast hoffe ich, dass eins dieser streunenden Viecher beschließt, dich in deinen feinen Städterarsch zu beißen. Vielleicht bringt dich das zur Vernunft. Die kleine Willa Stuart schert sich um keinen als sich selbst, und alle sehen das, außer dir.«

»Wenn ich an einem Kiosk oder Laden vorbeikomme, soll ich Ihnen dann eine Schachtel Zigaretten mitbringen?«

»Ja, verdammt, warum nicht?«, sagte Palmer, und dann, als David das auf die leere, randsteinlose Straße gemalte TAXISTAND PARKVERBOT überquerte: »David!«

David drehte sich um.

»Der Pendelbus fährt erst morgen wieder, und es sind drei Meilen bis in die Stadt, steht am Informationsstand angeschrieben. Das macht sechs Meilen hin und zurück. Zu Fuß. Dafür brauchst du zwei Stunden, ohne die Zeit zu rechnen, die es dauern kann, sie ausfindig zu machen.«

David hob die Hand, um zu zeigen, dass er ihn gehört hatte, ging aber weiter. Der Wind wehte kalt von den Bergen her, aber er mochte es, wie er ihm durch die Kleider fuhr und das Haar zurückkämmte. Zuerst hielt er am Straßenrand nach Wölfen Ausschau, doch als er keine sah, kehrten seine Gedanken zu Willa zurück. Überhaupt hatte er kaum noch etwas anderes im Sinn, seit er das zweite oder dritte Mal mit ihr zusammen gewesen war.

Sie hatte die Lichter der Stadt vermisst; was das betraf, mochte Palmer Recht haben, aber David glaubte nicht, dass sie sich um keinen scherte als sich selbst. Sie hatte es einfach nur satt gehabt, mit einem Haufen armseliger alter Säcke herumzuhängen, die darüber jammerten, dass sie nun da und dort zu spät kommen würden. Die Stadt dort hinten gab wahrscheinlich nicht viel her, aber Willa hatte sich wohl irgendwelche Zerstreuung davon versprochen, und das hatte schwerer gewogen als die Möglichkeit, dass Amtrak einen Sonderzug schickte, um die Leute abzuholen, während sie fort war.

Und wo genau würde sie nach Zerstreuung suchen?

Bestimmt gab es keine Nachtclubs in Crowheart Springs, wo der Bahnhof nur ein langer grüner Schuppen war, auf dem in Rot, Weiß und Blau WYOMING und »DER GLEICHHEITSSTAAT« aufgemalt stand. Keine Nachtclubs, keine Discos, aber zweifellos Kneipen. Wenn sie nicht tanzen gehen konnte, würde sie sich halt mit einer Jukebox begnügen.

Die Nacht brach an, und die Sterne entrollten sich wie ein Glitzerteppich von Ost nach West über dem Himmel. Zwischen zwei Gipfeln stieg ein Halbmond auf und tauchte die Straße und das offene Land zu beiden Seiten in kränkliches Licht. Der Wind pfiff unter den Dachbalken des Bahnhofs, doch hier draußen brachte er ein seltsam monotones Summen hervor, das ihn an Pammy Andreesons Hüpfgesang erinnerte.

Im Gehen horchte er darauf, ob hinter ihm ein Zug herankam. Er hörte keinen; was er hörte, als der Wind abflaute, war ein leises, aber klar vernehmliches Klick-klick-klick. Er drehte sich um und sah etwa zwanzig Schritte hinter sich auf dem gestrichelten Mittelstreifen der Route 26 einen Wolf. Er war fast so groß wie ein Kalb, das Fell zottig wie eine Russenmütze. Im schütteren Sternenlicht wirkte das Fell schwarz, die Augen glommen in dunklem Uringelb. Er sah, wie David sich umschaute, und blieb stehen. Sein Maul klappte zu einem Grinsen auf, und er fing an zu hecheln, ein Geräusch wie eine kleine Dampflok.

Für Angst blieb keine Zeit. David tat einen Schritt auf ihn zu, klatschte in die Hände und rief: »Hau ab! Mach, dass du wegkommst!«

Der Wolf machte kehrt und floh. Er hinterließ nur einen dampfenden Kothaufen auf der Route 26. David grinste, schaffte es aber, nicht laut herauszulachen; das hieße, die Götter herauszufordern, fand er. Er fühlte sich zugleich von Angst und absurder, vollkommener Ruhe erfüllt. Er dachte daran, seinen Namen von David Sanderson zu Wolf Bezwinger zu ändern. Der optimale Name für einen Investmentbanker.

Dann lachte er doch ein bisschen – er konnte es sich nicht verkneifen – und wandte sich wieder in Richtung Crowheart Springs. Diesmal sah er sich im Gehen auch nach hinten über die Schulter um, nicht nur nach beiden Seiten, aber der Wolf kam nicht zurück. Was kam, war die Gewissheit, dass er den Pfiff des Sonderzugs hören würde, der die anderen abholen kam; der Teil ihres Zuges, der noch auf den Gleisen stand, würde mittlerweile vom Knotenpunkt geräumt worden sein, und bald würden die Leute, die im Bahnhof warteten, ihren Weg fortsetzen – die Palmers, die Landers, der hinkende Biggers, die hüpfende Pammy und all die Übrigen.

Aber was machte das schon? Amtrak würde ihr Gepäck in San Francisco aufbewahren; bestimmt konnte man ihnen wenigstens das zutrauen. Er und Willa könnten den Überlandbus nehmen. Der Greyhound fuhr doch wohl auch durch Wyoming.

Er stieß auf eine Budweiser-Dose und trat sie eine Weile vor sich her. Dann kickte er sie schräg ins Gestrüpp, und während er noch überlegte, ob er sie wieder rausholen sollte, hörte er schwach Musik: den Bass und das Klagen einer Pedal-Steel-Gitarre, das sich für ihn immer wie metallische Tränen anhörte. Sogar bei fröhlichen Songs.

Sie war dort, wo diese Musik spielte. Nicht weil es das nächstgelegene Tanzlokal war, sondern die richtige Sorte. Das wusste er. Also ließ er die Bierdose liegen und ging dem Gitarrenklang nach; mit den Turnschuhen wirbelte er Staub auf, den der Wind davonwehte. Alsbald kamen auch Schlagzeuglaute dazu, und dann ein roter Neonpfeil unter einem Schild, auf dem nur 26 stand. Na ja, das war hier schließlich die Route 26, für einen Honky-Tonk-Schuppen also ein völlig logischer Name.

Das Lokal hatte zwei Parkplätze. Der vordere, gepflasterte war vollgestellt mit Pick-ups und Pkws, meist amerikanische Marken und mindestens fünf Jahre alt. Der Parkplatz zur Linken war gekiest. Hier standen Reihen von Lastwagen unter bläulich gleißenden Bogenlampen. Inzwischen konnte David auch die Rhythmus- und Leadgitarren heraushören und das auf der Marquise über der Tür Geschriebene lesen: NUR HEUTE ABEND THE DERAILERS 5 $ KOSTENBEITRAG SORRY.

The Derailers: die Entgleiser. Na, da hatte sie ja genau die richtige Band gefunden.

David hatte einen Fünfdollarschein in der Brieftasche, aber der Vorraum des Lokals war leer. Der große Tanzboden dahinter war voller schwofender Paare. Die meisten trugen Jeans und Cowboystiefel und hielten sich gegenseitig am Hintern umklammert, während die Band sich mit »Wasted Days and Wasted Nights« ins Zeug legte. Es war laut, weinerlich und – soweit David Sanderson das beurteilen konnte – Note für Note perfekt gespielt. Der Dunst aus Bier, Schweiß, penetrantem Rasierwasser und billigem Parfüm traf ihn wie ein Faustschlag auf die Nase. Das Gelächter und das Stimmengewirr – sogar ein enthemmter Jodler von der anderen Seite der Tanzfläche – waren wie Geräusche in einem Traum, den man immer wieder in kritischen Momenten seines Lebens träumte: der Traum, unvorbereitet im Examen zu hocken, der Traum, nackt in der Öffentlichkeit zu stehen, der Traum, aus großer Höhe zu fallen, der Traum, durch eine fremde Stadt zu hasten, überzeugt, hinter der nächsten Ecke seinem Schicksal zu begegnen.

David überlegte, ob er seinen Fünfer wieder einstecken sollte, lehnte sich dann aber über den Kartenschalter und warf ihn dort auf den Tisch, der bis auf eine Schachtel Lucky Strike auf einem Danielle-Steel-Schmöker leer war. Dann mischte er sich unter das Gewühl im Hauptraum.

Die Derailers legten an Tempo zu, und die jüngeren Gäste tanzten nun Pogo wie bei einem Punkkonzert. Zu Davids Linken bildeten zwei Dutzend der älteren Paare einen zweireihigen Line-Dance. Als er genauer hinsah, fiel ihm auf, dass es doch nur eine Reihe gab. Die hintere Wand war verspiegelt, so dass die Tanzfläche doppelt so groß wirkte, wie sie eigentlich war.

Ein Glas zersplitterte. »Du gibst einen aus, Partner!«, rief der Sänger, während die Band zum Instrumentalteil überging, und die Tänzer johlten über seinen Witz, der vermutlich zündend genug wirkte, sagte sich David, wenn man reichlich Tequila intus hatte.

Der Tresen war ein Hufeisen mit einer Neon-Silhouette der Wild River Range darüber. Sie war rot-weiß-blau; in Wyoming schienen sie ihr Rot-Weiß-Blau ja wirklich zu lieben. Ein Neonschild in den gleichen Farben verkündete: DU BIST IN GOTTES LAND, PARTNER. Es wurde vom Budweiser-Logo zur Linken und vom Coors-Logo zur Rechten flankiert. Die Menge, die darauf wartete, bedient zu werden, stand dicht an dicht. Ein Barkeeper-Trio in weißem Hemd und roter Weste jonglierte mit Shakern wie mit blitzenden Revolvern.

Das Lokal war riesig wie eine Scheune – gut fünfhundert Leute machten hier einen drauf –, aber er sorgte sich nicht darum, ob er Willa hier fand. Meine Wünschelrute funktioniert, dachte er, während er eine Abkürzung über den Tanzboden nahm, fast selbst tanzend, um den wirbelnden Cowboys und Cowgirls auszuweichen.

Hinter dem Tresen und der Tanzfläche gab es eine schummerige kleine Lounge mit hochlehnigen Sitzecken. In den meisten tummelten sich Vierergruppen, mit etlichen Krügen zur Stärkung, und die Spiegelwand machte jeden Vierer zu einem Achter. Nur eine der Nischen war nicht voll besetzt. Willa saß allein da. Ihr braves Blümchenkleid fiel zwischen all den Jeanshosen, Jeansröcken und Hemden mit Perlmuttknöpfen ziemlich aus dem Rahmen. Auch hatte sie sich nichts zu trinken oder zu essen bestellt – der Tisch war leer.

Sie sah ihn zunächst nicht. Sie beobachtete die Tänzer. Ihre Wangen waren gerötet, und in den Mundwinkeln saßen tiefe Grübchen. Sie wirkte hier gänzlich fehl am Platz, aber er hatte sie nie mehr geliebt als gerade jetzt. Willa, am Rande eines Lächelns.

»Hi, David«, sagte sie, als er neben sie auf die Bank schlüpfte. »Ich hab gehofft, dass du kommst. Hab’s mir fast gedacht. Ist die Band nicht toll? So schön laut!« Sie musste fast schreien, damit er sie hörte, aber er sah ihr an, dass sie auch das genoss. Nach dem ersten Blick zu ihm hin wandte sie sich wieder den Tänzern zu.

»Die sind wirklich gut«, sagte er. Und das waren sie auch. Er spürte, wie der Sound ihn packte, trotz der Unruhe, die zurückgekehrt war. Nun, da er Willa endlich gefunden hatte, machte er sich wieder Sorgen darum, diesen verdammten Ersatzzug zu verpassen. »Der Sänger klingt wie Buck Owens.«

»Ehrlich?« Sie sah ihn lächelnd an. »Wer ist Buck Owens?«

»Egal. Schauen wir lieber, dass wir zum Bahnhof zurückkommen. Außer, du willst hier noch einen weiteren Tag hängenbleiben.«

»Das wär doch nicht das Schlechteste. Irgendwie mag ich diesen Ort – he, Achtung!«

Ein Glas flog in hohem Bogen über die Tanzfläche, schillerte kurz grün und golden im Licht der Bühnenspots und zerschellte dann irgendwo außer Sichtweite. Es gab johlenden Applaus – Willa klatschte ebenfalls –, aber David sah zwei Muskelprotze mit RUHE und SICHERHEIT in breiten Lettern auf den T-Shirts zielstrebig in Richtung der Abwurfstelle steuern.

»Das ist so ’n Laden, wo man schon vor elf Uhr mit vier Schlägereien auf dem Parkplatz rechnen kann«, sagte er, »und oft noch kurz vor der Sperrstunde mit einer Massenschlägerei drinnen.«

Sie lachte und richtete die Zeigefinger wie Revolverläufe auf ihn. »Super! Das will ich sehen!«

»Und ich will zurück zum Bahnhof«, sagte er. »Wenn du in San Francisco schwofen gehen willst, dann machen wir das, versprochen.«

Sie zog einen Flunsch und schüttelte ihr rotblondes Haar zurück. »Das wär nicht dasselbe, das weißt du genau. In San Francisco trinken sie wahrscheinlich … keine Ahnung … makrobiotisches Bier.«

Das brachte ihn zum Lachen. Wie bei der Vorstellung von einem Investmentbanker, der Wolf Bezwinger hieß, war die Vorstellung von makrobiotischem Bier einfach zu komisch. Doch bei aller Heiterkeit blieb die Unruhe; fachte sie die Heiterkeit nicht sogar noch an?

»Wir machen eine kurze Pause und sind gleich wieder da«, sagte der Sänger und wischte sich über die Stirn. »Kippt jetzt alle schön einen, und vergesst nicht – ich bin Toni Villanueva, und wir sind The Derailers.«

»Das ist unser Stichwort, in unsere gläsernen Schühchen zu schlüpfen und abzuzwitschern«, sagte David und ergriff ihre Hand. Er stand auf, aber sie machte keine Anstalten, es ihm gleichzutun. Sie ließ allerdings auch seine Hand nicht los, also setzte er sich mit einem leichten Anflug von Panik wieder. Jetzt wusste er, sagte er sich, wie es einem Fisch ging, wenn er merkte, dass er den Haken nicht mehr los wurde, dass er festhing und am Ufer landen würde, wo alles Zappeln umsonst war. Sie sah ihn mit diesen mörderisch blauen Augen und ihren tiefen Grübchen an: Willa am Rande eines Lächelns, seine zukünftige Frau, die vormittags Romane und abends Gedichte las und die Fernsehnachrichten – wie war das nochmal? – als Eintagsfliegen bezeichnete.

»Schau uns an«, sagte sie und wandte den Kopf von ihm ab.

Er blickte in die Spiegelwand zu ihrer Linken. Dort sah er ein nettes junges Pärchen von der Ostküste, das in Wyoming festsaß. In ihrem geblümten Kleid sah sie besser aus als er, aber er nahm an, dass dies immer der Fall sein würde. Fragend blickte er von der Spiegel-Willa zur echten zurück.

»Nein, schau nochmal hin«, sagte sie. Die Grübchen waren noch da, aber sie wirkte jetzt ernst – so ernst jedenfalls, wie sie es in dieser Partystimmung sein konnte. »Und denk dran, was ich dir gesagt habe.«

Es lag ihm auf der Zunge zu erwidern, du hast mir vieles gesagt, und ich denke ständig darüber nach, aber das war die Antwort eines Liebenden, nett und im Grunde belanglos. Und weil er wusste, worauf sie anspielte, blickte er noch einmal in den Spiegel, ohne etwas zu sagen. Diesmal sah er wirklich hin, und im Spiegel war niemand. Er blickte auf die einzige leere Nische im 26. Er wandte sich zu Willa um, entgeistert … aber irgendwie nicht überrascht.

»Hast du dich denn nicht gewundert, wie ein vorzeigbares Frauenzimmer hier ganz unbehelligt sitzen kann, wenn alle rundrum saufen, was das Zeug hält?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Nein, hatte er nicht. Er hatte sich manches nicht überlegt, zumindest bis jetzt. Wann er zum Beispiel das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken hatte. Oder wie spät es war, oder wann es zuletzt Tag gewesen war. Er wusste nicht einmal genau, was ihnen überhaupt zugestoßen war. Nur dass der Northern Flyer aus den Gleisen gesprungen war und sie durch irgendeinen Zufall nun hier saßen und einer Country-Gruppe zuhörten …

»Ich hab eine Bierdose vor mir hergekickt«, sagte er, »vorhin auf der Straße.«

»Ja«, sagte sie, »und du hast uns im Spiegel gesehen, als du das erste Mal hingeschaut hast, oder? Wahrnehmung ist nicht alles, aber Wahrnehmung gepaart mit Erwartung?« Sie zwinkerte und beugte sich zu ihm vor. Ihre Brust drückte gegen seinen Oberarm, als sie ihn auf die Wange küsste, und das Gefühl war höchst angenehm – so konnte sich doch nur lebendiges Fleisch anfühlen. »Armer David. Es tut mir leid. Aber es war mutig von dir herzukommen. Ehrlich, ich hab’s dir gar nicht zugetraut.«

»Wir müssen zurück und es den anderen sagen.«

Sie kniff die Lippen zusammen. »Wieso?«

»Weil …«

Zwei Männer mit Cowboyhut geleiteten zwei lachende Frauen mit Pferdeschwanz auf ihre Nische zu. Als sie näher kamen, zeigten ihre Mienen auf einmal alle den gleichen verwirrten Ausdruck – es war nicht richtig Angst –, und sie kehrten zum Tresen zurück. Sie spüren uns, dachte David. Wie ein kalter Luftzug, der sie vertreibt – das sind wir jetzt.

»Weil es das Richtige ist.«

Willa lachte. Es klang müde. »Du erinnerst mich an den alten Knaben aus der Fernsehwerbung für Haferflocken.«

»Schatz, sie glauben, dass sie auf einen Zug warten, der sie abholen kommt!«

»Na, vielleicht kommt ja einer!« Ihre plötzliche Heftigkeit ängstigte ihn fast. »Vielleicht der, von dem sie immer singen, der Gospelzug, der Zug ins Heil, der keine Zocker und Rocker mitnimmt …«

»Ich glaube kaum, dass Amtrak eine Endstation im Himmel hat.« David wollte sie zum Lachen bringen, aber sie blickte nur bedrückt auf ihre Hände hinab, und da hatte er eine Eingebung. »Gibt es sonst noch was, was wir ihnen sagen sollten? Du weißt noch mehr, oder?«

»Ich weiß nicht, wozu wir uns die Mühe machen sollen, wenn wir genauso gut hierbleiben können«, sagte sie. Klang da etwas Zickiges in ihrer Stimme durch? Es schien fast so. Dies war eine Willa, von der er nichts geahnt hatte. »Du bist vielleicht ein bisschen kurzsichtig, David, aber wenigstens bist du gekommen. Dafür liebe ich dich.« Sie küsste ihn wieder.

»Da war sogar ein Wolf«, sagte er. »Ich hab in die Hände geklatscht und ihn verscheucht. Ich überlege, ob ich mich nicht in Wolf Bezwinger umbenennen soll.«

Sie starrte ihn einen Moment mit offenem Mund an, und David hatte Zeit zu denken: Ich musste warten, bis wir tot sind, um die Frau, die ich liebe, zu überraschen. Dann ließ sie sich an die gepolsterte Lehne zurückfallen und kreischte vor Lachen. Eine zufällig vorbeikommende Kellnerin ließ ein Tablett voller Biere fallen und fluchte unflätig.

»Wolf Bezwinger!«, rief Willa. »So möchte ich dich im Bett nennen! ›Oh, oh, Wolf Bezwinger, bist du aber groß! Bist du aber haarig!‹«

Die Kellnerin starrte auf die schäumende Schweinerei hinab und fluchte noch immer wie ein Matrose auf Landgang. Die ganze Zeit aber hielt sie vorsichtig Abstand zu der einen leeren Nische.

»Meinst du, das können wir noch?«, sagte David. »Miteinander schlafen, meine ich?«

Willa wischte sich die tränenden Augen. »Wahrnehmung und Erwartung, schon vergessen? Zusammen können sie Berge versetzen.« Sie griff wieder nach seiner Hand. »Ich liebe dich noch, und du liebst mich noch, oder?«

»Bin ich nicht der Wolf Bezwinger?«, entgegnete er. Er konnte scherzen, weil seine Nerven nicht glaubten, dass er tot war. Er blickte an ihr vorbei in den Spiegel und sah sie beide. Dann nur noch sich mit einer Hand, die nichts hielt. Dann waren sie beide weg. Und doch … atmete er, roch Bier und Whiskey und Parfüm.

Ein Hilfskellner war aufgetaucht und machte sich daran, die Bierlache aufzuwischen. »Da war plötzlich so was wie ’ne Stufe«, hörte David die Kellnerin sagen. War das die Art von Dingen, die man im Jenseits hörte?

»Ich geh dann wohl mit dir zurück«, sagte Willa, »aber ich denk gar nicht dran, in dem langweiligen Bahnhof bei den langweiligen Leuten zu bleiben, wo es diesen Schuppen hier gibt.«

»Okay«, sagte er.

»Wer ist Buck Owens?«

»Ich werd dir alles über ihn erzählen«, sagte David. »Und auch über Roy Clark. Aber erst erzähl du mir, was du sonst noch weißt.«

»Die meisten kann ich nicht leiden«, sagte sie, »aber Henry Lander ist nett, und seine Frau auch.«

»Phil Palmer ist doch auch nicht so schlimm.«

Sie rümpfte die Nase. »Phil das Brechmittel.«

»Was weißt du, Willa?«

»Du wirst es schon selber merken, wenn du richtig hinschaust.«

»Wäre es nicht besser, wenn du einfach …«

Anscheinend nicht. Sie stemmte sich hoch, bis die Schenkel gegen die Tischkante drückten, und deutete zur Bühne. »Sieh mal! Da ist die Band wieder!«

Der Mond stand hoch, als er und Willa Händchen haltend zur Straße zurückgingen. David verstand nicht so recht, wie das zugehen konnte – sie hatten sich nur noch die ersten zwei Songs des nächsten Sets angehört –, aber da war er und schwebte hoch oben in der sterngespickten Schwärze. Das war zwar beunruhigend, aber etwas anderes beunruhigte ihn noch mehr.

»Willa«, sagte er, »welches Jahr haben wir?«

Sie überlegte. Der Wind wehte ihr das Kleid um die Beine wie bei jeder lebendigen Frau. »Ich erinnere mich nicht genau«, sagte sie schließlich. »Ist das nicht sonderbar?«

»So sonderbar nun auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass ich mich nicht mal mehr erinnern kann, wann ich das letzte Mal was gegessen oder ein Glas Wasser getrunken habe. Wenn du raten müsstest, was würdest du sagen? Schnell, ohne nachzudenken.«

»Neunzehn … achtundachtzig?«

Er nickte. Er hätte auf 1987 getippt. »Da drin war ein Mädchen mit einem T-Shirt, auf dem CROWHEART SPRINGS HIGHSCHOOL 2003 stand. Und wenn sie alt genug war, um in so ein Lokal gelassen zu werden …«

»Dann muss 2003 mindestens drei Jahre her sein.«

»Genau das hab ich mir auch gedacht.« Er blieb stehen. »Aber es kann doch unmöglich 2006 sein,Willa, oder? Ich meine, das 21. Jahrhundert?«

Noch ehe sie antworten konnte, vernahmen sie das Klick-klick-klick von Krallen auf dem Asphalt. Diesmal war es mehr als nur ein Pfotenpaar; diesmal befanden sich vier Wölfe hinter ihnen auf der Straße. Der größte, der vor den anderen stand, war der, der auf dem Hinweg hinter David aufgetaucht war. Dieses zottige schwarze Fell war ganz unverkennbar. Die Augen leuchteten jetzt heller. In beiden schwamm wie ein versunkener Lampendocht ein Halbmond.

»Sie sehen uns!«, rief Willa aufgeregt. »David, sie sehen uns!« Sie sank auf dem weißen Mittelstreifen in die Knie und streckte die Hand aus, schnalzte mit der Zunge und sagte: »Komm her, Junge! Na komm schon!«

»Willa, ich finde das keine so gute Idee.«

Sie achtete nicht auf ihn, was typisch für sie war. Willa hatte eben ihren eigenen Kopf. Sie war es, die mit dem Zug von Chicago nach San Francisco hatte fahren wollen – weil sie, wie sie sagte, wissen wolle, wie es sich anfühle, im Zug zu vögeln. Besonders in einem, der schnell fuhr und ein bisschen schaukelte.

»Komm her, Dicker, komm zu Mama!«

Der große Wolf kam näher, gefolgt von seinem Weibchen und ihren beiden … nannte man sie Jährlinge? Als er die Schnauze (und all diese schimmernden Zähne) nach der schmalen ausgestreckten Hand reckte, füllte der Mond die Augen des Tiers einen Moment lang mit Silberglanz aus. Doch kurz bevor die lange Schnauze ihre Haut berührte, jaulte der Wolf gellend auf und scheute so plötzlich zurück, dass er auf die Hinterbeine stieg, mit den Vorderläufen strampelte und dabei das plüschige weiße Bauchfell entblößte. Die anderen stoben auseinander. Der große Wolf vollführte eine Pirouette in der Luft und floh dann, immer noch jaulend, mit eingeklemmtem Schwanz nach rechts ins Dickicht. Die anderen rannten hinterher.

Willa stand auf und sah David mit so trauervoller Miene an, dass er es nicht ertragen konnte. Er senkte die Augen. »Hast du mich dafür von der Musik weg in die Dunkelheit rausgeschleppt?«, fragte sie. »Um mir zu zeigen, was ich jetzt bin? Als ob ich das nicht wüsste!«

»Es tut mir leid, Willa.«

»Es wird dir noch viel mehr leidtun.« Sie fasste wieder nach seiner Hand. »Komm, David.«

Jetzt riskierte er einen Blick. »Du bist nicht sauer auf mich?«

»Doch, schon, ein bisschen – aber du bist alles, was ich noch habe, und ich lass dich nicht mehr los.«

Kurz nachdem sie den Wölfen begegnet waren, entdeckte David am Straßenrand eine Budweiser-Dose. Er war sich fast sicher, dass es die war, die er vor sich hergekickt hatte, bis sie ins Gestrüpp geflogen war. Nun lag sie hier wieder am ursprünglichen Fleck … weil er sie natürlich nie wegbefördert hatte. Wahrnehmung ist nicht alles, hatte Willa gesagt, aber Wahrnehmung gepaart mit Erwartung? Zusammen ergaben sie die perfekte Mischung: im Kopf.

Er kickte die Dose ins Dickicht, und als sie an der Stelle vorbeigingen, blickte er sich um und, siehe da, sie lag immer noch genau dort, wo irgendein Cowboy – vielleicht auf dem Weg zum 26 – sie aus dem Fenster seines Pick-ups geschmissen hatte. In der alten Fernsehshow Hee-Haw mit Buck Owens und Roy Clark, erinnerte er sich, hatten sie die Pick-ups immer »Cowboy-Cadillacs« genannt.

»Worüber grinst du denn so?«, fragte Willa.

»Erzähl ich dir später. Wie’s aussieht, haben wir ’ne Menge Zeit vor uns.«

Sie standen vor dem Bahnhof von Crowheart Springs und hielten sich bei den Händen wie Hänsel und Gretel vor dem Pfefferkuchenhaus. Im Mondlicht wirkte der grüne Anstrich des langen Gebäudes aschgrau, und obwohl David wusste, dass WYOMING und »DER GLEICHHEITSSTAAT« in Rot-weiß-blau daraufgepinselt waren, hätte es auch jede andere Farbe sein können. Ein Blatt Papier, durch eine Plastikhülle vor den Elementen geschützt, war an einen der Pfosten gepinnt, die die breite Treppe vor dem Eingang flankierten. Phil Palmer lehnte noch immer dort.

»He, Kumpel!«, rief Palmer herab. »Haste ’ne Kippe?«

»Tut mir leid, Mr. Palmer«, sagte David.

»Ich dachte, du wolltest mir ’ne Schachtel mitbringen.«

»Ich bin an keinem Laden vorbeigekommen«, sagte David.

»Gab’s da keine Zigaretten, wo du gewesen bist, Puppe?«, fragte Palmer. Er war einer von denen, die alle Frauen eines gewissen Alters Puppe nannten; man sah es ihm förmlich an, so wie man ihm auch ansah, dass er an einem schwülen Augustnachmittag seinen Hut zurückschieben, sich über die Stirn wischen und verkünden würde, es sei nicht die Hitze, sondern die Feuchtigkeit.

»Doch, bestimmt«, sagte Willa, »aber ich hätte Schwierigkeiten gehabt, welche zu kaufen.«

»Sagst du mir auch, warum, Schätzchen?«

»Was glauben Sie denn?«

Palmer verschränkte jedoch nur die Arme vor der mageren Brust und antwortete nicht. Von drinnen rief seine Frau: »Es gibt Fisch zum Abendessen! Auch das noch! Ich hasse diesen Mief hier! Alter Keks!«

»Wir sind tot, Phil«, sagte David. »Darum. Geister können keine Zigaretten kaufen.«

Palmer blickte ihn ein paar Sekunden lang reglos an, und ehe er auflachte, sah David, dass Palmer ihm nicht nur glaubte, nein, Palmer hatte es die ganze Zeit gewusst. »Ich habe schon viele Ausreden dafür gehört, dass man jemandem nicht mitbringt, worum er gebeten hat«, sagte er, »aber ich möchte meinen, das ist ja wohl die dreisteste.«

»Phil …«

Von drinnen: »Fisch zum Abendessen! Gottverdammmich!«

»Entschuldigt mich, Kinder«, sagte Palmer. »Die Pflicht ruft.« Und weg war er. David wandte sich zu Willa um, im Glauben, sie würde ihn fragen, was er denn erwartet habe, aber Willa musterte nur den Anschlag neben der Treppe.

»Schau mal«, sagte sie. »Sag mir, was du siehst.«

Zuerst sah er nichts, weil der Mond auf die Schutzhülle schien. Er trat näher und schob Willa beiseite, um von schräg links zu gucken.

»Oben steht BELÄSTIGEN VERBOTEN PER ANORDNUNG DES SHERIFFS VON SUBLETTE COUNTY, dann was Kleingedrucktes – bla, bla, bla – und weiter unten …«

Sie versetzte ihm einen Rippenstoß. »Red keinen Scheiß und sieh genau hin, David. Ich will hier nicht die ganze Nacht rumstehen.«

Du siehst nicht mal, was du direkt vor Augen hast.

Er drehte sich vom Bahnhof weg und starrte auf die Gleise, die ihm Mondlicht glänzten. Jenseits davon ragte eine breites Felsplateau auf – das ist eine Mesa, Cowboy, wie in den alten John-Ford-Western.

Dann blickte er wieder auf den Anschlag und fragte sich, wie er BETRETEN mit BELÄSTIGEN verwechselt haben konnte, ein großer böser Investmentbanker wie Wolf Bezwinger Sanderson.

»Da steht BETRETEN VERBOTEN PER ANORDNUNG DES SHERIFFS VON SUBLETTE COUNTY«, sagte er.

»Sehr gut. Und unter dem Blabla, was steht da?«

Zuerst konnte er die beiden unteren Zeilen überhaupt nicht entziffern; zuerst waren diese beiden Zeilen nur unverständliche Hieroglyphen, möglicherweise weil sein Verstand, der es einfach nicht glauben wollte, keine unverfängliche Übersetzung finden konnte. Also blickte er noch einmal zu den Gleisen hinüber und war eigentlich nicht überrascht, dass sie nicht mehr im Mondlicht glänzten; jetzt war der Stahl verrostet, und zwischen den Schwellen wucherte Unkraut. Als er sich wieder umsah, war der Bahnhof eine verfallene Ruine mit vernagelten Fenstern und löcherigem Dach. PARKEN VERBOTEN TAXISTAND war vom Asphalt verschwunden, der nur noch aus Rissen und Schlaglöchern bestand. Noch immer konnte er WYOMING und »DER GLEICHHEITSSTAAT« an dem Gebäude lesen, aber die Wörter waren jetzt Geister. Wie wir, dachte er.

»Weiter«, sagte Willa – Willa, die ihren eigenen Kopf hatte, Willa, die sah, was sie vor Augen hatte, und wollte, dass man es auch sah, auch wenn das Sehen grausam war. »Das ist deine letzte Prüfung. Lies die zwei unteren Zeilen, und dann können wir endlich aufbrechen.«

Er seufzte. »Da steht DIESES GEBÄUDE IST ABBRUCHREIF. Und dann noch DER ABRISS ERFOLGT IM JUNI 2007.«

»Sehr gut, du kriegst eine Eins. Jetzt schauen wir mal, ob noch jemand in die Stadt mitkommen und die Derailers hören will. Ich werd Palmer sagen, er soll es positiv sehen – wir können zwar keine Zigaretten kaufen, aber dafür brauchen Leute wie wir auch keinen Eintritt zu zahlen.«

Nur wollte niemand mit in die Stadt.

»Was soll das heißen, wir sind tot? Wieso sagt sie denn so was Schreckliches?«, beklagte Ruth Lander sich bei David, und was ihn schier umbrachte (in gewisser Weise), war nicht der Vorwurf in ihrer Stimme, sondern der Ausdruck in ihren Augen, ehe sie das Gesicht an der Schulter von Henrys Cordjacke verbarg.Weil sie es ebenfalls wusste.

»Ruth«, sagte er, »ich will Ihnen ja keinen Kummer machen …«

»Dann schweigen Sie doch!«, rief sie mit erstickter Stimme.

David sah, dass alle außer Helen Palmer ihn voller Zorn und Feindseligkeit anblickten. Helen nickte und brabbelte zwischen ihrem Mann und der Rhinehart, deren Vorname wahrscheinlich Sally war. Sie standen in kleinen Grüppchen unter den Neonleuchten … sobald er allerdings blinzelte, waren die Neonleuchten verschwunden. Dann waren die festsitzenden Passagiere nur verschwommene Figuren in dem spärlichen Mondlicht, das sich durch die Ritzen der verrammelten Fenster stahl. Die Landers saßen nicht auf einer Bank; sie saßen auf dem staubigen Boden neben einem Haufen leerer Crack-Röhrchen – ja, anscheinend war Crack sogar bis ins John-Ford-Land vorgedrungen –, und an der Wand in der Nähe der Ecke, wo Helen Palmer hockte und brabbelte, hob sich ein verblichener Kreis ab. David blinzelte abermals, und die Neonleuchten waren wieder da. Ebenso die große Uhr, die den verblichenen Kreis verbarg.

Henry Lander sagte: »Schätze, ihr geht jetzt mal lieber, David.«

»Hören Sie doch kurz zu, Henry«, sagte Willa.

Henry wandte den Blick zu ihr, und David hatte keine Mühe, die Abneigung darin zu erkennen. Von der Sympathie, die Henry einst für Willa Stuart empfunden haben mochte, war jetzt nichts mehr übrig.

»Ich will aber nicht zuhören«, sagte Henry. »Ihr regt mir bloß meine Frau auf.«

»Genau«, sagte ein dicker junger Mann mit einer Seattle-Mariners-Kappe. David meinte sich zu erinnern, dass er O’Casey hieß. Auf jeden Fall etwas Irisches mit Apostroph. »Halt deinen Rand, Kleine.«

Willa beugte sich zu Henry vor, und Henry wich ein bisschen zurück, so als hätte sie Mundgeruch. »Der einzige Grund, weshalb ich mich von David hab zurückschleppen lassen, ist der, dass das Gebäude hier abgerissen werden soll! Schon mal das Wort Abrissbirne gehört, Henry? Sie sind doch wohl helle genug, dass Sie sich darunter was vorstellen können.«

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe JUST AFTER SUNSET erschien bei Scribner, New York.

Zitat des Mottos aus: Arthur Machen, Der große Pan. Erzählungen. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. München, 1994.

3. Auflage Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 08/2010 Copyright © 2008 by Stephen King Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

eISBN: 978-3-641-02531-1V002

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