Supernatural Band 1: Das Herz des Drachens - Keith R. A. DeCandido - E-Book

Supernatural Band 1: Das Herz des Drachens E-Book

Keith R. A. DeCandido

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Beschreibung

Vor 27 Jahren verloren Sam und Dean Winchester ihre Mutter an einen übermächtigen dämonischen Feind. In den darauffolgenden Jahren wurden die beiden Brüder von ihrem Vater, John Winchester, darin geschult, das übernatürliche Böse in Amerikas Straßen aufzuspüren und zu töten. Als der abtrünnige Engel Castiel die beiden Winchesterbrüder über ausgesprochen brutale Mordfälle in San Franciscos Chinatown informiert, wird Sam und Dean schnell klar, dass das Herz des Drachens zurückgekehrt ist. Dabei handelt es sich um einen furchterregenden Geist, den ihre Familie bereits in der Vergangenheit mehrfach bekämpfen musste. Werden die beiden Brüder den Schrecken besiegen, der schon ihre Eltern und Großeltern auf die Knie zwang?

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Das Herz des Drachen

Keith R. A. DeCandido

Basierend auf der TV-Serie SUPERNATURALvon Eric Kripke

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

SUPERNATURAL TM & © 2011 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.

Englischsprachige Originalausgabe: „SUPERNATURAL: Heart of the Dragon“ by Keith R.A. DeCandido, published by Titan Books, A division of Titan Publishing Group Ltd., London, February 2010.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).

Übersetzung: Susanne Döpke

Lektorat: Jürgen Zahn, John Schmitt-Weigand

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Dieses Buch ist Shihan Paul und allen anderen im Dojo gewidmet.

Ich habe dieses Buch geschrieben, während ich mich auf die Prüfung für den ersten Schwarzen Gürtel vorbereitet habe. Ich betrachte ihn als eine der großen Leistungen meines Lebens. Das Erlernen von Karate hat sich als eine erleuchtende und wunderbare Erfahrung herausgestellt und ich werde meinen Karateka immer für ihre Ermutigungen, Weisheiten und Einstellungen dankbar sein.

Osu, shihan; osu senpais; osu, meine lieben Freunde.

Anmerkung

1859

Eins

Der Regen hatte seit fast einer Stunde kaum nachgelassen.

Yoshio Nakadai kniete in einem Schuppen neben der Straße in der seiza-Position – Knie und Schienbeine auf der Erde, die Füße unter den Hinterbacken gekreuzt – und wartete, dass es aufhörte zu regnen. Der Unterstand war ausschließlich dafür gebaut worden, Reisende vor Regenschauern zu schützen. Der wiederkehrende Rhythmus des prasselnden Regens auf dem Dach half ihm, sich auf seine Meditation zu konzentrieren.

Eine Konzentration, die er in letzter Zeit nur schwer aufbringen konnte. Auch jetzt schien es nahezu unmöglich, seinen Geist zu leeren.

Einst hätte ein Samurai wie Nakadai Seppuku – rituellen Selbstmord – begangen, wenn die Besitztümer seines Herren erobert, dessen Ländereien eingenommen und er seines Titels enthoben worden wäre. Aber diese Tage lagen in der Vergangenheit. Keiner kannte mehr den Weg der Ehre. Der Kodex des Bushi war zu einem Ammenmärchen geworden, das man Kindern am Lagerfeuer erzählte und nicht wie damals ein Lebensstil.

Jetzt war Nakadai nur noch einer von vielen herrenlosen Ronin, die im Land umherzogen, in der Hoffnung, dass ihnen ihre Fähigkeiten das Überleben ermöglichten. Ein Jahr war vergangen, seit sein Herr in Edo in Ungnade gefallen war. Seitdem hatte Nakadai gegen Bezahlung Menschen und Karawanen mit seinem Schwert beschützt. Er hatte als Detektiv gearbeitet, als Schlichter einen Disput zwischen zwei Kaufleuten beigelegt und als Lehrer dem Sohn eines wohlhabenden Mannes beigebracht, sich selbst zu verteidigen.

Sein Ruf hatte ihm gute Dienste geleistet, besonders in den Städten nahe Edo. Anders als andere Ronin handelte Nakadai immer ehrenhaft. Er konnte gar nicht anders. Außerdem war es wahrscheinlicher, dass man ihn erneut anheuerte, wenn er seine Arbeit gewissenhaft und gut ausführte.

Obwohl es Nakadai gelungen war, genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, fehlte ihm die Befriedigung, nach der er sich sehnte. Hätte er tatsächlich Seppuku begangen, so wie die Tradition es verlangt, hätte er vielleicht Frieden gefunden. Aber sollte man aus Loyalität zu einem unehrenhaften Mann sterben?

Nakadai fühlte keine besondere Liebe zum Shogunat. Aber in diesem Fall hatten sie Recht daran getan, seinen Herren abzusetzen, der sich als Feigling und Dieb erwiesen hatte. Die Unehrenhaftigkeit lag bei seinem Herrn und nicht bei Nakadai.

Es gab keinen Grund für Leute seines Schlags, zu sterben.

Trotzdem verlangte es die Ehre von ihm. Er hatte den Lehnseid geschworen und die Tatsache, dass sein Herr dieser Ehre nicht wert war, änderte nichts daran, dass er sein Wort gegeben hatte.

Dieses Rätsel plagte ihn unentwegt. Sein Geist wollte sich nicht leeren.

Der Rhythmus des Regens wurde plötzlich von im Matsch platschenden Schritten unterbrochen.

Nakadai öffnete die Augen und spähte durch den trüben Regenschleier. Er sah einen kleinen Mann auf den Unterstand zulaufen. Sobald er angekommen war, wischte er sich vergebens den Regen aus dem Gesicht und von den Kleidern. Als er sich letztendlich in seinen durchweichten Zustand ergeben hatte, lachte der Neuankömmling und sprach:

„Seid gegrüßt, ich hoffe, es macht Euch nichts aus, wenn ich den Schuppen mit Euch teile.“

„Natürlich nicht“, antwortete Nakadai leise. Dann schloss er erneut die Augen, in der Hoffnung, der Mann würde verstehen, dass er nicht gestört werden wollte.

Allerdings schien dies nicht der Fall zu sein.

„Ich habe eigentlich erwartet, dass der Regen bis jetzt weitergezogen wäre“, fuhr der Mann fort und steckte seinen Kopf unter der Ecke des Daches hervor. „Ich habe mir gesagt, ‚Cho, du musst nur noch eine Stunde bis zur nächsten Stadt gehen, du schaffst es, bevor der Regen zu stark wird.‘ Stattdessen wurde es ein richtiger Wolkenbruch!“ Der Mann, der sich Cho nannte, drehte sich wieder zu seinem Mitinsassen um und betrachtete ihn näher.

„Hey, Sie kommen mir bekannt vor.“

Nakadai seufzte und öffnete die Augen. Ganz sicher würde er keinen meditativen Zustand erreichen, solange diese Cho-Person anwesend war. Nicht, dass er etwa ohne ihn in diese Verlegenheit gekommen wäre.

Er stand auf und ging am Rande der Hütte entlang, um das Gefühl in seinen Beinen wiederzuerlangen. Der Raum war so klein, dass er den Neuankömmling mehr als einmal umrunden musste.

„Gehen Sie auch in die Stadt?“, fragte der Mann und folgte Nakadai mit den Blicken. „Ich glaube, Sie sind ein Ronin, nicht wahr?“ Dann schüttelte er den Kopf. „Okay, das war nicht schwer zu erraten, weil Sie ein schönes Katana besitzen und wirken, als könnten Sie mich mit einem Blick vernichten. Aber Ihre Kleider haben schon bessere Zeiten gesehen. Bitte nehmen Sie mir nicht übel, was ich jetzt frage. Hoffen Sie, Arbeit zu finden?“

„Ja.“

Nakadai setzte seine Besichtigung des Unterstands fort, ohne Augenkontakt aufzunehmen. Von Zeit zu Zeit blickte er gen Himmel, um nach einem Zeichen zu suchen, dass sich der Sturm verziehen würde.

Trotz seiner sehnlichsten Wünsche sprach sein Begleiter erneut.

„Wissen Sie, Sie kommen mir wirklich bekannt vor. Ich bin ein Bote, wissen Sie, und ich komme viel herum. Ich wäre gern ein Samurai oder sogar ein Ronin geworden, aber Sie sollten mich mal mit einem Schwert sehen. Oder, ich denke, das sollten Sie nicht, weil ich sehr schlecht bin. Ich habe immer noch eine Narbe.“

Endlich wandte Nakadai seinen Blick Cho zu und musste feststellen, dass er nicht sonderlich beeindruckt war. Der Bote hatte muskulöse Beine, wie es sein Beruf wohl verlangte, aber er hatte auch riesige Augenbrauen, schlechte Zähne, schwache Arme und seine Kleider hingen schlampig am Oberkörper herunter. Letzteres konnte man zumindest dem Sturm zuschreiben. Aber das andere …

Einer von seinen schlaffen Armen, der linke, wies eine lange Narbe vom Ellenbogen bis zum Handgelenk auf.

„Ziemlich traurig, huh? Aber ich konnte mich schon immer schnell bewegen und so wurde ich Läufer. Sehr bald heuerten mich Leute an, um Botschaften zu überbringen. Das ist gut – ich kann in andere Städte reisen und treffe eine Menge Leute.

„Wissen Sie, ich bin mir einfach sicher, dass ich Sie von irgendwoher kenne“, sagte er wieder.

Nakadai drehte sich weg. Die Narbe war alt, verheilt und ziemlich gerade. Sie rührte wahrscheinlich von einem Unfall her – vielleicht war er mit dem Schwert in der Hand gestolpert und hatte sich im Fallen geschnitten.

„Jetzt habe ich’s!“, rief Cho aus und zeigte auf ihn.

„Sie sind Doragon Kokoro, nicht wahr?“

Nakadai zuckte zusammen.

„Mein Name ist Yoshio Nakadai.“ Er hatte diesen Spitznamen nie gemocht. Der Samurai, der im Handumdrehen sieben Banditen getötet hatte. Sie hatten die Karawane seines Herrn angegriffen, während sie auf dem Weg nach Edo zu einer Audienz beim Shogun gewesen waren. Die Banditen waren nicht sehr geschickt und außerdem betrunken. Sogar ein schlecht trainierter Affe hätte sie schnell ausschalten können. Aber sein Herr hatte eher auf die Quantität als auf die Qualität der Angreifer geachtet und Nakadais Verteidigung zu einem löwenartigen Akt hochstilisiert. Als sie in Edo ankamen, sprach er von Nakadai als dem Mann mit dem Herz eines Drachen und der Spitzname Doragon Kokoro war seither an ihm hängen geblieben.

Cho schüttelte den Kopf und grinste schief, dann verbeugte er sich formell.

„Es ist mir eine Ehre, Euch zu treffen.“

„Danke“, sagte Nakadai aus Höflichkeit. Wenn Cho sich geehrt fühlte, bitte schön. Er starrte in den Himmel und sah, dass der Schauer sich lichtete und der Horizont sich blau färbte.

„Der Regen wird bald aufhören“, stellte er fest.

„Ausgezeichnet“, antwortete Cho, aber sein Gesicht verzog sich. „Oder vielleicht nicht. Sehen Sie, während ich normalerweise sehr stolz auf meine Arbeit als Bote bin, muss ich heute schlechte Nachrichten überbringen.“

„Das ist beklagenswert“, sagte Nakadai beiläufig. Er hatte kein Interesse an den privaten Nachrichten anderer.

„Sehr bedauernswert. Ich komme vom örtlichen Daimyo mit Neuigkeiten, die den Leuten, die ich repräsentiere, nicht gefallen werden.

„Sehen Sie“, fuhr Cho trotz Nakadais Bestreben, die Privatsphäre von Sender und Empfänger zu wahren, fort. „Da gibt es zwei Jungfrauen, deren Schicksal nicht entschieden ist.“

Nakadai drehte sich um und sah den Boten an.

„Was meinen Sie?“

„Ein Mann namens Kimota hat seinen Sohn zwei verschiedenen Bewerbern versprochen. Die Väter beider Jungfrauen haben den Brautpreis gezahlt. Bevor der Disput wie auch immer beigelegt werden konnte, wurde Kimota krank und starb.“

„Warum hat der Sohn nicht einfach einen der Väter ausgezahlt?“, fragte Nakadai. „Oder beide und sich eine andere Frau zum Weibe genommen?“

„Unglücklicherweise hat Kimota diesen Betrug angezettelt, weil er Wettschulden zahlen musste“, erklärte Cho. „Das Geld war lange ausgegeben und der junge Mann ist jetzt beiden Frauen verpflichtet.“

„Das ist ein schwieriges Problem“, stimmte Nakadai kopfschüttelnd zu. „Ich nehme an, Sie wurden zum Daimyo gesandt, um einen Richterspruch zu erhalten.“

„Genau“, sagte Cho mit einem Seufzer. „Aber der Daimyo hat sich geweigert, Recht in dieser Sache zu sprechen. Er hat es als unter seiner Würde betrachtet, den Disput eines Spielers zu entscheiden.“

Nakadai rieb sich das Kinn. Das Plätschern des Regens verringerte sich und in einer oder zwei Minuten würde es draußen hell genug sein, damit sie ihre jeweiligen Reisen fortsetzen konnten.

Deswegen ergriff er das Wort.

„Ich habe von Zeit zu Zeit“, sagte er langsam, „als Vermittler in solcherlei Disputen fungiert. Solche, die zu sensibel – oder zu gering – für den Daimyo waren. Vielleicht kann ich von Nutzen sein.“

Chos Miene hellte sich auf.

„Vielleicht“, sagte er. „Beide Väter hatten erwartet, dass der Daimyo alle ihre Probleme lösen würde.“

Nakadai gestattete sich ein kleines Lächeln.

„Meiner Erfahrung nach löst ein Daimyo kein einziges Problem außer seinen eigenen.“

Cho lachte laut.

„Sehr wahr“, stimmte er zu. Dann richtete er sich auf und blickte den gefallenen Samurai direkt an. „Wir würden uns geehrt fühlen, wenn das Herz des Drachen als Vermittler fungieren würde.“

Nakadai zuckte beim Klang seines Spitznamens zusammen und ging aus dem Unterstand.

„Sollen wir dann?“ Er drehte sich um und ging die Straße mit zügigen Schritten hinunter.

„Sicherlich“, antwortete Cho enthusiastisch und rannte los, um zu dem Ronin aufzuschließen und ihn zu überholen, bis er ihm vorausging.

Während der Bote vorbeiging, dachte Nakadai, er habe einen merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht seines neuen Reisegefährten gesehen. Das wechselnde Licht hatte seine Augen pechschwarz erscheinen lassen.

Aber er tat den Gedanken schnell als eine spontane Illusion ab.

Der Streit erwies sich als zu schwierig für Nakadai, um ihn zu schlichten. Beide Frauen bestanden darauf, dass sie Kimotas Sohn versprochen waren – einem verwirrten Jungen namens Shiro.

Zuerst sprach er mit einer von Shiros zukünftigen Bräuten namens Keiko.

„Der Daimyo ist ein elender Wurm!“, wetterte sie schrill. „Wie wagt er es, meine Zukunft als etwas so Unbedeutendes anzusehen! Was ist das für ein Daimyo, der uns einfach links liegen lässt? Ich sage Euch, man sollte ihn aufhängen! Oder wenigstens seiner Position entheben. Er ist fast so schlimm wie Kimota, der uns ausgenutzt hat.“

„Ihr seid Samurai, Ihr solltet etwas dagegen tun!“

Nakadai lauschte geduldig Keikos Geschrei, das immer lauter wurde, je länger sie fortfuhr. Dann dankte er ihr und sprach mit der anderen Frau namens Akemi.

Unglücklicherweise tat Akemi nichts, außer zu weinen. Nakadai versuchte, ihr Fragen zu stellen – etwas, das bei Keiko unnötig gewesen war, weil sie ohne Fragen von allein sprach. Aber jede Frage bekam nur ein weiteres Schluchzen zur Antwort.

Als Nächstes sprach Nakadai mit den Vätern. Er war besorgt, dass es böses Blut zwischen ihnen geben könnte, doch die gemeinsame Misere hatte sie anscheinend wie Kameraden zusammengeschweißt.

„Kimota hat mich überzeugt“, begann Keikos Vater, „die Verlobung bis zum Erntedanktag geheim zu halten.“

Akemis Vater fuhr fort. „Er hat mich um das Gleiche gebeten. Es war ein schlechtes Jahr für Getreide, wissen Sie?“

„Kimota hat erklärt, dass die Nachricht von einer bevorstehenden Hochzeit die Leute aufheitern würde. Wir wussten ja, dass die Ernte schlecht wird“, beendete Keikos Vater.

Nakadai nickte. Er fragte sich, wie es Kimota gelungen war, die beiden Verlobungen in einer so kleinen Stadt geheim zu halten. Normalerweise wusste jeder so ziemlich über die Angelegenheiten der anderen Bewohner Bescheid.

Zuletzt sprach Nakadai dann mit Shiro.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, klagte der junge Mann. Er saß mit gebeugtem Kopf da und starrte mehr auf seine Sandalen, als er Nakadai ansah. „Beide Frauen wären würdige Ehefrauen, selbstverständlich, und ich würde mit jeder von ihnen glücklich. Ich habe es ehrlich nie erwartet, eine so vornehme Frau wie Akemi oder Keiko zu heiraten. Aber mein Vater hat mir nie etwas von alledem gesagt. Das erste Mal habe ich von einer Verlobung erfahren, als Keikos und Akemis Väter mich beide nach der Beerdigung meines Vaters ansprachen.“

Wenn Nakadai eine solche Verhandlung führte, zeigte sich normalerweise irgendwo eine entscheidende Tatsache, die bisher verborgen geblieben war und das weitere Vorgehen vorzeichnete. Aber in diesem Fall hatte er alles, was er herausfinden konnte, bereits von Cho im Schuppen erfahren. Kimota hatte die beiden Männer dazu gebracht, einen Brautpreis für Shiro zu bezahlen. Weil Shiro nur eine heiraten konnte, wäre er verpflichtet, dem anderen Vater das Geld zurückzuzahlen. Das würde ihn und seine Braut allerdings vollkommen mittellos machen.

Das erste Mal, seit sein Herr entehrt worden war, wusste Nakadai nicht genau, was er machen sollte.

In der Stadt befand sich ein bescheidenes Wirtshaus und in seiner dritten Nacht dort saß Nakadai bei Kerzenlicht und reinigte sein Katana. Der Rhythmus, in dem er das Tuch auf der gebogenen Klinge auf- und abbewegte half ihm, seine Gedanken zu ordnen.

Er hörte Schritte auf der Hauptstraße. Um diese Zeit schlief der Großteil der Bevölkerung tief und fest, darum hallten die Schritte laut durch die Nacht.

Sie kamen zudem immer näher an das Wirtshaus heran.

Innerhalb weniger Momente fiel der Schatten einer verhüllten Frauengestalt, beleuchtet von einer flackernden Kerze, auf die Papiertür, die zu Nakadais Zimmer führte. Der Arm des Schattens bewegte sich nach vorne und schob die Tür zur Seite.

Es war Akemi. Sie fiel auf die Knie.

„Vergebt mein Eindringen, Doragon Kokoro, aber ich muss mit Euch sprechen.“

Nakadai biss die Zähne zusammen. Cho hatte ihn der Stadtbevölkerung als das Herz des Drachen vorgestellt und er schätzte es nicht, dass dieser Name haften geblieben war. Ganz zu schweigen davon, dass er es nicht schätzte, wenn Leute unangemeldet in sein Zimmer kamen.

Trotzdem musste er Akemi zuhören, weil dies die ersten Worte waren, die sie tatsächlich in seiner Anwesenheit sprach. Also nickte er und steckte sein Schwert in die Scheide.

Sie erhob sich, schloss die Tür, kam auf ihn zu, kniete sich erneut vor ihn hin und verbeugte sich tief.

„Ich bitte Euch inständig, zugunsten meines Vaters zu entscheiden.“

„Euch ist beiden gleiches Unrecht angetan worden“, antwortete er. „Warum sollte Keiko leiden und Ihr profitieren?“

Plötzlich veränderten sich Akemis Augen von blassblau zu pechschwarz.

„Weil, oh mächtiges Herz des Drachen, ich Euch keine Wahl lasse.“ Ihre Stimme klang jetzt seltsam guttural.

Sofort sprang Nakadai auf die Füße und zog sein Schwert. Zusammen mit der Transformation ihrer Augen veränderte sich ihr Gesicht. Es verformte sich in etwas nicht Menschliches.

„Was bist du?“, fragte er fordernd.

„Eigentlich? Nur ein Dämon, der versucht die Leute der Stadt gegeneinander aufzuhetzen. Nur zum Spaß, eigentlich. Menschen gegen andere Menschen, denen sie vertrauen, aufzubringen – das nenne ich ein Fest.“

Akemis Kopf schleuderte vor und zurück. „Aber diese Bauern wollen nicht mitmachen. Statt darum zu kämpfen, wer diese kleine, langweilige Ratte Shiro heiraten darf, laufen sie jammernd zum Daimyo und betteln um Hilfe.“

„Aber dann habe ich dich gefunden.“

Jetzt zeigte sich auf Akemis Gesicht ein Ausdruck, den man kaum ein Lächeln nennen konnte.

„Und jetzt komme ich zu etwas, das mir sehr viel mehr als bloße Unterhaltung bieten wird.“

Nakadai verharrte in einer defensiven Stellung und widerstand der Versuchung, sich auf den Eindringling zu stürzen.

„Ich werde niemals einer Kreatur wie dir helfen, Dämon, wenn es das ist, was du wirklich bist.“

„Wirklich? Was passiert als Nächstes?“, schnurrte der Dämon mit einer Stimme wie Schotter. „Du greifst mich an? Wenn du das machst, wirst du die arme, wehrlose Akemi verletzen – und die Bauern verdammen dich als den Mörder einer unschuldigen Frau.“

Nakadai wusste, dass das Monster die Wahrheit sprach – aber er konnte auch nicht tatenlos zusehen.

Also hielt er seine Position und ließ den Dämon weitersprechen.

„Weißt du“, sagte der mit einer Spur von Akemis Stimme, „eines Tages werde ich dich brauchen. Nicht heute, nicht einmal bald, aber wenn der Tag für diese Aufgabe kommt, wird es das Opfer eines Helden erfordern.“ Die schwarzen Augen starrten Nakadai direkt an. „Weißt du, wie schwer es ist, einen Helden zu finden, besonders in dieser erbärmlichen Zeit?

Während ich Besitz von Cho ergriffen hatte – auf der Suche nach einem Zeitvertreib – und vorgab, zum Daimyo zu gehen, hatte ich die Hoffnung beinahe aufgegeben, je wieder einen tugendhaften Mann zu treffen. Aber dann sah ich dich in dem Unterstand und mir wurde klar, ich habe meinen Helden. Dann musste ich dich nur noch herlocken, und das war das Leichteste von der Welt.“

„Ich werde keinesfalls bei einem deiner Pläne helfen.“

„Deine Kooperation ist weder erforderlich noch nötig“, sagte das Ding, das Akemi kontrollierte, schmunzelnd.

Bevor der erstaunte Ronin reagieren konnte, begann der Dämon Akemis Kleider zu zerreißen und ihren Kopf gegen einen Stützbalken der Wirtschaft zu schlagen.

Dann schrie sie.

Sie schrie weiter und Nakadai verließ der Mut, als er erkannte, dass es keine Verteidigung gab. Er wusste, dass er nur ein paar Sekunden Zeit hatte, bevor jemand auf ihre Schreie reagierte. Seine einzige Möglichkeit war es, zu erklären, was passiert war. Die andere Alternative war es, den Weg des Feiglings zu gehen und zu fliehen.

Die Ehre erlaubte keine Flucht.

Schritte klapperten auf der Straße, mischten sich mit den Schreien der Frau und brachen die Stille. Die Tür zum Gasthaus wurde aufgestoßen und ein halbes Dutzend Männer starrte entsetzt auf Nakadai mit seinem gezogenen Schwert und Akemi, die sich nackt und blutend auf dem Boden wand.

Einer der Männer war Akemis Vater. Er rief den Namen seiner Tochter, kniete sich neben sie, nahm sie in die Arme und wischte ihr das Blut aus den Augen.

„Was hat er dir angetan, meine teure Tochter?“

Wimmernd antwortete der Dämon, dessen Augen jetzt wieder normal aussahen, mit Akemis Stimme: „Ich habe ihn angefleht, für uns zu entscheiden, und er hat mich angegriffen!“ Sie hob ihren Kopf und starrte Nakadai bösartig an. „Sagte, ich wäre nicht würdig, eine Braut zu sein und wenn er mit mir fertig wäre, würde ich es nie mehr sein!“

Akemis Vater fuhr zu ihm herum.

„Ihr wagt es, meiner Tochter Gewalt anzutun?“

Ein weiterer Stadtbewohner erhob das Wort.

„Wir dachten, Doragon Kokoro wäre ein Mann von Ehre! Aber er ist nur ein weiterer schmutziger Ronin!“

„Ich habe Eure Tochter nicht angefasst“, sagte Nakadai und wusste, dass es vergebens war. „Sie ist von einem Dämon besessen!

Akemis Stimme zerschnitt die Nachtluft.

„Er lügt!“

„Natürlich lügt er“, sagte ihr Vater. Dann wandte er sich an die Männer in der Tür. „Ergreift ihn!“

Nakadai hätte mit größter Leichtigkeit Widerstand leisten können. Das waren immerhin Bauern. Er hätte alle sechs – und Akemi dazu – ohne Schwierigkeiten töten und entkommen können.

Aber sein Katana hatte noch nie das Blut eines Unschuldigen gefordert. Das würde es auch jetzt nicht, selbst wenn es Nakadais Tod bedeutete.

Nein, er wusste, dass sein Schicksal besiegelt war, als der Dämon in Akemis Gestalt den Raum betrat. Oder vielleicht in dem Moment, als er Schutz vor dem Regen gesucht hatte.

Also ließ er sich festnehmen, sich das Schwert nehmen, fesseln und auf den Marktplatz bringen. Mehr Dorfbewohner gesellten sich auf dem Weg zu ihnen. Sie waren von dem Aufruhr angezogen worden. Er wurde an einen Pfahl gebunden und Wachen wurden beauftragt, ihn zu bewachen. Aber sie hätten sich die Mühe sparen können – er würde den Sonnenaufgang mit Würde erwarten.

Bei Sonnenaufgang hatte sich die gesamte Stadt versammelt, um Recht zu sprechen. Akemis Vater erzählte allen, was Doragon Kokoro seiner Tochter angetan hatte und spuckte währenddessen in den Staub.

„Spricht jemand zur Verteidigung des Ronin?“, sagte er herausfordernd.

Niemand sagte etwas.

Während das Seil beißend in seine Handgelenke auf seinem Rücken schnitt, betrachtete Nakadai die Menge, die sich vor ihm versammelt hatte. In ihren Augen erkannte er Abscheu vor dem, was sie glaubten, das er Akemi angetan hatte. Enttäuschung, dass das Herz des Drachen offenbar nicht so gut war wie sein Ruf. Es drängte ihn, die Wahrheit zu sagen, aber er wusste, dass das nichts ändern würde.

Akemis Vater drehte sich zu ihm um. Seine Augen färbten sich schwarz.

Also ist der Dämon in einen anderen Körper geschlüpft, dachte Nakadai.

„Es scheint, als wärt Ihr verdammt, Ronin“, sagte er ohne ein Anzeichen der gutturalen Stimme. „Ihr hättet Euer Vergnügen lieber im Hurenhaus anstatt bei meiner Tochter suchen sollen, Bastard.“ Er spuckte erneut vor Nakadais Füße.

Von Cho und Akemi konnte der Gefangene keine Spur erkennen. Er fragte sich, was aus denen, die der Dämon besessen hatte, wurde, nachdem er sie verlassen hatte. Er vermutete, dass der Dämon keinen Gedanken daran verschwendete.

Seine Augen wechselten zurück zu ihrem normalen Aussehen und Akemis Vater drehte sich wieder zu der Menge um.

„Yoshio Nakadai, das sogenannte Herz des Drachen, wird für seine Verbrechen verbrannt!“

Die Menge jubelte vor Begeisterung und beschimpfte ihn.

Nakadai war entsetzt.

„Ich verlange das Recht des Seppuku!“, rief er.

Während er sich wieder umdrehte, schnarrte der Dämon mit der Stimme von Akemis Vater.

„Du hast meine Tochter entehrt! Du bist nicht in der Position etwas zu ‚verlangen‘, Ronin-Abschaum!“

Nakadai bewegte sich, um zu protestieren und verstummte dann. Einem Samurai, selbst einem Ronin, einen ehrenhaften Tod zu verweigern, davon hatte man noch nie gehört. Aber er wusste auch, dass weiterer Widerspruch fruchtlos wäre.

Einige der Stadtbewohner rammten einen Bambuspfahl in ausreichendem Abstand zu ihren Behausungen in den Boden, während andere ihn dorthin zerrten und festbanden. Sie vergewisserten sich, dass die Fesseln fest saßen, während sie Reisig von seinen Füßen bis zu den Knien aufhäuften.

Akemis Vater ging und kehrte mit einer Fackel in der Hand zurück.

Die Städter wichen zurück.

„Heute stirbst du für deine Verbrechen, Doragon Kokoro“, rief der Dämon laut genug, damit es alle hören konnten. Ein amüsiertes Grinsen verzog kurz seinen Mund.

Er beugte sich vor und warf die Fackel in das Reisig. Währenddessen flüsterte er in einer Sprache, die Nakadai nicht kannte und die nur der Ronin hören konnte.

Er konnte nichts Gutes im Sinn haben. Als die Flammen seine Beine umzüngelten und seine abgetragenen Kleider Feuer fingen, konnte er noch nicht erraten, was es war.

Obwohl die Flammen dem Herzen des Drachen bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen brannten, starb der Ronin ohne zu schreien, während die gesamte Stadtbevölkerung seinen Tod bejubelte.

Der Dämon beobachtete durch die Augen von Akemis Vater, wie Yoshio Nakadai verbrannte. Während die Flammen den Körper des Ronin verschlangen, fraß ein anderes Feuer seine Seele.

Die Kreatur war mit sich zufrieden. So viele seiner Art befassten sich mit schnellen Lösungen – eine Seele hier, etwas politischer Einfluss dort. Solcherlei Dinge waren so – trivial.

Nein, der Dämon zog es vor, um größere Einsätze zu spielen.

Nicht, dass die kleinen Spiele nicht auch ihren Reiz hatten. Er sah sich unter den Leuten der Stadt um, die Kimota so einfach hatte manipulieren können. Damit hatte der Dämon nichts zu tun – eigentlich waren es sogar Kimotas Manipulationen gewesen, die seine Aufmerksamkeit auf diese eigentlich unbedeutende Stadt gelenkt hatten.

Solche entzückenden Machenschaften zogen ihn an wie ein Misthaufen eine Fliege.

Als der Dämon erst einmal verstanden hatte, was hier los war, hatte er sich entschieden, hier etwas Spaß zu haben. Er hatte Kimota eine tödliche Krankheit geschenkt, die Leute noch mehr gegeneinander aufgebracht und dann den Stadtboten eingenommen, um zu garantieren, dass vom Daimyo keine Hilfe kommen würde – was die Leute noch wütender machte.

Die Wut, die Rage – das machte Spaß. Aber in der Lage zu sein, eine noble Seele in die Stadt zu locken, das war Kunst. Und es war ebenfalls Kunst, dass der Ronin noch lange nach diesem köstlichen Moment weiterleben würde.

Während er keine Ahnung hatte, wie lange das sein würde, war sich der Dämon bewusst, dass eines Tages die Dämonen und Engel gegeneinander in den Krieg ziehen würden. Luzifers und Gottes Anhänger würden eine letzte, epische Schlacht schlagen.

Die meisten Dämonen wären nichts anderes als Fußsoldaten und mit ihrem Schicksal zufrieden. Aber dieser Dämon hatte Pläne. Es war ihm dank eines gelangweilten Mannes, der im Besitz einer Schriftrolle war und den Wert seiner Seele nicht besonders hoch schätzte, gelungen, aus der Hölle zu entkommen. Seit diesem Tag streifte er auf der Erde umher und bereitete sich auf den großen Knall vor.

Er war sich nicht sicher, wie lange es noch dauern würde, aber als unsterblicher Dämon konnte er sich Geduld erlauben.

Die unheimlichen Flammen, die er durch einen geflüsterten Zauberspruch beschworen hatte, umschlangen das Herz des Drachen. Sie schwärzten seine Reinheit und seine Ehre weiter, selbst als die physischen Flammen sein Fleisch, die Muskeln und Knochen schmelzen ließen.

Wenn die Zeit gekommen war, würde Yoshio Nakadai eine Waffe von unvorstellbarer Macht in den Händen der Dämonen sein: Eine edle Seele würde für einen unedlen Zweck missbraucht werden.

2009

Zwei

Dean Winchester starrte den Mann mit dem weißen Spitzbart auf der anderen Seite des Tisches seelenruhig an.

Sie waren die beiden letzten verbliebenen Spieler einer Pokerpartie, die die ganze Nacht gedauert hatte. Dean hatte einen ansehnlichen Stapel Chips vor sich aufgebaut. Der weiße Ziegenbart hatte noch einhundert Dollar in Chips übrig und betrachtete seine Karten nervös, während er bereits die zwölfte Zigarre paffte. Dass er das unter einem roten RAUCHENVERBOTEN Schild tat, hatte zu Beginn des Spiels für Lacher gesorgt, aber jetzt war es nur noch ermüdend.

Dean bezweifelte, dass er jemals den Geruch von billigen Zigarren aus seiner Lederjacke bekommen würde, aber diesen Preis musste er zahlen – und die sechshundert Dollar, die er sich von Bobby Singer geliehen hatte, um sich in das Spiel einzukaufen. Er und sein Bruder Sam waren geradezu mittellos, was bedeutete, dass sie einen großen Gewinn brauchten. Jedenfalls, wenn sie solche Sachen wie Essen und Benzin für Deans 1967 Chevrolet Impala bezahlen wollten. Schließlich waren verhungern und auf der Straße liegen bleiben zusätzliche Unannehmlichkeiten, wenn man gerade versuchte, die Apokalypse zu verhindern.

Der weiße Ziegenbart starrte auf Deans vier aufgedeckte Karten: eine Herzzwei, Kreuzdrei, Herzvier und eine Piksechs. Er selbst hatte drei Asse offen liegen und eine Karovier. Dean hatte die ganze Zeit die Erhöhungen seines Gegners gehalten, aber nie selbst erhöht. Er konnte es sich leisten, großzügig zu sein, wenn man den monstermäßigen Haufen Chips betrachtete und wusste, dass der weiße Ziegenbart in den letzten Zügen lag.

Ich sollte mir wirklich den Namen dieses Typen merken, dachte Dean.

Dann überlegte er es sich anders. Nee, warum auch?

Ziegenbarts Problem war es, dass er nicht wusste, ob Dean einfach nur zum Spaß mitging oder nicht. Immerhin war es Dean möglich, bei allen seinen Einsätzen mitzugehen, auch wenn er nur Schrott auf der Hand hatte. Seine aufgedeckten Karten deuteten eventuell auf eine Straße hin, vielleicht aber auch auf zwei Paare oder einen Dreier.

Andererseits konnte Ziegenbart leicht ein Full House oder sogar vier Asse auf der Hand haben. Unwahrscheinlich, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.

Was Ziegenbart beschäftigte, dachte Dean, war, dass sein Stapel Chips sich im Laufe der Nacht langsam aber sicher bis zum Morgen erhöht hatte. Das war kein Zufall. Die anderen fünf Spieler waren ausgestiegen und der Großteil ihres Geldes wurde jetzt von tönernen Scheiben verkörpert, die entweder vor Dean aufgestapelt oder mitten auf dem Tisch lagen.

Auf mannigfaltige Weise erschien es ihm lächerlich, Poker zu spielen, während der Weltuntergang bevorstand, aber sie mussten irgendwie an Bargeld kommen. Außerdem war es ebenso lächerlich, so sachlich über das Ende der Welt nachzudenken.

Trotzdem war es unausweichlich. Sam war von einem Dämon namens Ruby manipuliert worden, Luzifer aus der Hölle zu befreien. Die Engel und Dämonen rüsteten sich und die Menschheit würde den Preis dafür zahlen müssen.

Die Engel bestanden darauf, dass Dean das Gefäß für den Erzengel Michael war, und die Dämonen waren genauso davon überzeugt, dass es Sams Schicksal war, als Gefäß für Luzifer zu dienen. Ihnen war gesagt worden, dass das unvermeidbar war und dass sie ihr Schicksal akzeptieren sollten.

Beide weigerten sich auch nur eine verdammte Sache zu akzeptieren. Sozusagen.

Sie hatten keine Ahnung, wie sie diesen Kampf gewinnen sollten, wollten es aber versuchen oder kämpfend untergehen.

Aber zurück zu naheliegenderen Dingen.

„Kommen Sie schon, Colonel Sanders“, sagte Dean und brach das Schweigen so plötzlich, dass alle im Raum aufschreckten. „Einsatz oder Passen?“

Der Ziegenbart seufzte.

„Lässt mir keine Wahl, oder?“ Er schob all seine Chips in die Mitte des Tischs. „Hunnert.“

Dean warf lässig zwei Fünfzig-Dollar-Chips.

„Ich halte.“

Grinsend drehte der Ziegenbart sein Herzass neben den drei andern um.

„Vierer.“

Dean stieß einen langen Atemzug aus und drehte die Herzsechs um. Dann die Herzvier.

Der Ziegenbart dachte, dass Dean nur zwei Paare – Sechsen und Vieren – hatte, und begann nach den Chips zu greifen. Dann drehte Dean die dritte Karte um: Die Herzfünf.

Er hatte die Herzzwei, -drei, -vier, -fünf und -sechs: Einen Straight Flush, die einzige Hand, die einen Vierer übertrumpfen konnte.

Er grinste wie eine Katze, die einen Kanarienvogel verschluckt hatte.

„Oh, verdammt, nein!“, brüllte der Ziegenbart.

Hinter Dean begannen drei Männer zu lachen. Einer war der Barkeeper, der das Spiel veranstaltete. Die anderen beiden waren die einzigen Spieler, die dageblieben waren, nachdem sie ihr Geld verzockt hatten. Sie waren neugierig, wie das Spiel ausgehen würde.

Der Barkeeper konnte es sich leisten, zu lachen. Einhundert Dollar der Einkaufssumme wanderten für die Benutzung seiner Halle direkt in seine Tasche. Nachdem Dean Bobby ausgezahlt hatte, blieben ihm drei Riesen. Und es war so gut wie sicher, dass Bobby ihn die sechshundert behalten ließ.

Oder vielleicht auch nicht. Bobby war in letzter Zeit nicht gerade in wohltätiger Stimmung. Das passiert, wenn man im Rollstuhl sitzt.

„Es war mir ein Vergnügen, Gentlemen“, sagte Dean, während er seinen Stuhl zurückschob. Er ging zur Bar, um seinen Gewinn und sein Handy abzuholen.

Missmutig sank der Mann mit dem weißen Ziegenbart in seinem Stuhl zusammen.

„Das Vergnügen liegt ganz bei dir, Junge“, brummte er.

Schmunzelnd zählte der Barkeeper einen Stapel Geldscheine.

„Mach dir keine Gedanken um Hal, Sohn“, sagte er, als er fertig war. „Er ist es einfach nicht gewöhnt, zu verlieren.“

„Überrascht mich nicht“, kommentierte Dean. „Er ist gut“, dann grinste er breit. „Aber ich bin besser.“

Die beiden verbliebenen Spieler rollten mit den Augen. Einer von ihnen sprach.

„Komm das nächste Mal wieder her, wenn du in der Stadt bist. Ich denke, ich kann für uns alle sprechen, wenn ich sage, wir wüssten eine Revanche zu schätzen.“

„Da wette ich drauf“, antwortete Dean fröhlich. Dann ging er zum Ausgang und ignorierte, dass ihm Hal hinter einer Wolke aus Zigarrenrauch messerscharfe Blicke zuwarf.

Als er die Tür öffnete, zuckte Dean zusammen, als die aufgehende Sonne ihm direkt in die Augen schien. Aus irgendeinem Grund hatte er gedacht, dass die Sonne frühestens in einer Stunde aufgehen würde.

Er ging über den Parkplatz, griff in die Jackentasche, um sein Handy herauszunehmen, und schaltete es ein. Zwei Nachrichten warteten auf ihn.

Eine war Wie geht’s euch von Ellen Harvelle, die sich seit des Vorfalls in River Pass mit religiösem Eifer nach den Winchesters erkundigte.

Die andere war von Sam und ließ ihn wissen, dass es sich bei dem Omen, von dem sie geglaubt hatten, dass es sich in East Brady, Pennsylvania, manifestierte, lediglich um einen verrückten alten Mann mit einem Hang zur Brandstiftung handelte.

Als er die Nachrichten abgehört hatte, war er beim Impala angekommen, der zwischen einem SUV und einem Pick-up geparkt war.

Er steckte das Telefon weg und startete den Wagen, sah in den Rückspiegel –

– und fuhr fast aus der Haut vor Schreck, als er plötzlich Castiels mit Bartstoppeln bedecktes, ausdrucksloses Gesicht auf dem Beifahrersitz entdeckte.

„Was zur Hölle, Cass?“

„Sam und Bobby haben gesagt, dass du hier bist. Bobby wollte mich nicht im Haus haben.“

Dean setzte den Impala von seinem Parkplatz zurück und sah über die Schulter.

„Wie oft muss ich dich noch an meine Privatsphäre erinnern, Cass, hä?“

Trotz des Moments der Panik, den er durchgemacht hatte, fiel es Dean schwer, sauer auf Castiel zu sein. Er war ein Engel, der gegen seine Kameraden rebellierte, weil er glaubte, dass sie nicht wahrhaft den Wünschen Gottes folgten.

Die Engel hatten Castiel für seine Taten getötet, er war aber aus einem nicht erkennbaren Grund wiederauferstanden. Cass glaubte, dass Gott dafür verantwortlich war. Die anderen Engel dachten, es wäre Luzifers Werk, ein Versuch, die Saat des Unfriedens innerhalb der himmlischen Heerscharen zu säen.

Dean gab einen Scheiß darauf – er wollte nur, dass Engel und Dämonen verschwanden.

Cass war ein Freund und Alliierter der Winchesters geworden. Auch wenn er einige seiner Fähigkeiten verloren hatte – etwa die, andere zu heilen –, hatte er immer noch genug Engel-Mojo, um Sam und Dean eine große Hilfe zu sein, wenn sie ihn brauchten.

„Ich möchte, dass du und Sam nach San Francisco fahrt“, fuhr Castiel fort, ohne Deans Frage Beachtung zu schenken, während der auf die Straße einbog. „Das Herz des Drachen ist wiederauferstanden.“

„Ah, okay“, antwortete Dean, während er auf die leere Straße fuhr. „Und was soll das genau heißen? Dass da ein Drache in San Francisco ist?“

„Nein, aber ein Geist kehrt auf diese Ebene zurück – einer, den die Dämonenhorden in ihrem Kampf gegen die Engel benutzen können. Es hat schon Tote gegeben.“

„Okay, dann.“ Jetzt war er auch nicht viel schlauer als vorher.

„Ich weiß, es ist weit, Dean. Aber es ist wichtig.“

Dean seufzte.

„Ich muss zuerst mit Sam und Bobby reden, Cass.“

„Sam weiß schon Bescheid und hat die ganze Nacht recherchiert.“

„Schön, dass du uns eine Wahl lässt“, antwortete Dean wütend. Er umklammerte fest das Steuer und stieß einen weiteren tiefen Seufzer aus. „In Ordnung, in Ordnung, lass mich einfach den Impala auftanken und wir fahren …“

„Ich kann euch auch einfach hinsenden“, schlug Cass vor.

„Nein“, sagte Dean nachdrücklich.

„Es sind 1500 Meilen von hier bis San Francisco, Dean. Ihr werdet allein einen Tag für die Fahrt brauchen …“

„Ich habe es dir schon einmal gesagt, Cass, wenn du das machst, verdreht es mir den Schließmuskel.“ Er fühlte sich schon bei dem Gedanken daran elend.

„Nein, ich passe.“

Castiel schüttelte den Kopf.

„Sehr gut. Sam hat die beiden vorherigen Manifestationen des Herzens des Drachen recherchiert.“

Dean bog rechts ab und man konnte den Singer-Schrottplatz sehen. Bobby wird es nicht gefallen, Cass hier zu sehen, dachte er verbissen. Und als hätte der Engel seine Gedanken gelesen, sah er Castiel leicht zusammenzucken.

„Alles klar, Cass?“

Castiel schluckte und räusperte sich.

„Bobby mag es nicht, wenn ich bei ihm zu Hause bin. Er ist immer noch sehr … wütend über seinen Zustand und meine Unfähigkeit, ihn zu heilen. Ich glaube nicht, dass er mich sehen will.“

„Cass, ich bin sicher, er wird sich daran …“

„Ich überlasse euch jetzt euch selbst“, unterbrach ihn Castiel und verschwand.

Plötzlich wünschte sich Dean, er hätte einen Drink, aber er schüttelte den Kopf und fuhr weiter.

In einem Moment war Castiel da, im nächsten wieder nicht. Egal, wie oft das passierte, er fand es noch immer verstörend. Deshalb wollte er keinesfalls mit dabei sein. Nicht, wenn es kein absoluter Notfall war. Es hatte sich bewährt, um von Zachariah wegzukommen.

In diesen Fall nicht.

Er bog in die Einfahrt ein und parkte den Impala neben einem Schrottauto, an dem Bobby vor seiner Verletzung gearbeitet hatte. Seither stand es unberührt da. Es war immer noch eine offene Frage, ob er je wieder würde laufen können. Auch wenn es immer noch möglich war, einen Schrottplatz vom Rollstuhl aus zu betreiben, wusste Dean, dass Bobby nicht gerade glücklich darüber war.

Kann ihm deswegen keinen Vorwurf machen.

Und wenn die vier die Welt nicht davor retten konnten, in Flammen aufzugehen, dann war das auch egal.

Drinnen saß Sam mit einem dampfenden Becher Kaffee am Küchentisch. Ein Blick zur Kaffeemaschine sagte Dean, dass gerade eine frische Runde gemacht wurde und die Kanne fast voll war.

„Hey“, sagte Sam ohne von den Papierbergen aufzusehen, die er durchsah. Sie kamen wahrscheinlich alle gerade frisch aus Bobbys Laserdrucker. „Wie ist es gelaufen?“

„Nun, Sprit, Essen und Unterkunft werden für eine Weile kein Problem sein“, antwortete er und ging zur Anrichte herüber. „Cass hat mir von der Frisco-Sache erzählt.“

Nickend blickte Sam jetzt hoch.

„Ja, basierend auf dem, was er mir erzählt hat, habe ich mal nachgeschaut. Dieser Geist ist im Dezember 1969 erschienen und erneut im Dezember 1989.“

„Alle zwanzig Jahre also? Dann ist es keine Überraschung, dass er zurück ist“, sagte Dean, nahm sich einen Becher von Bobbys Spüle und schenkte sich einen Kaffee ein. „Cass hat gesagt, dass es kein richtiger Drache ist.“

„Nun, ich bin mir da nicht so sicher“, sagte Sam und reichte ihm einige Papiere. „Wir haben aufgeschlitzte Leichen und welche, die kross gebraten wurden.“

„Ja, aber Drachen?“, fragte Dean und nahm die Papiere.

„Ich meine, komm schon! Das stammt doch direkt aus einem Märchen.“

„Dean, du warst in der Hölle, ich habe die Apokalypse ausgelöst und wir sollten eigentlich von einem Erzengel und dem Teufel besessen sein. Und jetzt wirst du skeptisch?“

„Ja, eigentlich …“ Dean blickte auf den Ausdruck, der oben auf dem Stapel lag.

Dann zündete der Gedanke.

„Verdammterschweinehund …“

Sam runzelte die Stirn.

„Was?“

Dean hielt seinem Bruder den Ausdruck unter die Nase. Es war die Kopie eines Artikels des San Francisco Chronicle von 1969, mit allen Fotografien. Er zeigte mit dem Finger auf jemanden, der bei den Aufnahmen in der Menge stand.

„Schau dir den Kerl an.“

Sam kniff die Augen zusammen.

„Ich kann ihn nicht …“ Dann sah er näher hin. „Sorry, ich erkenne ihn nicht.“

„Oh. Nein, das dachte ich auch nicht.“ Dean nahm den Ausdruck und begann zu lesen. Die Geschichte handelte zur Hälfte von einem Pärchen, das in der Nähe des Winterland Ballroom ums Leben gekommen war – dort hatten in den sechziger und siebziger Jahren große Konzerte stattgefunden. Und die Person, auf die er gezeigt hatte, war ein glatzköpfiger Mann mit einem sehr düsteren Gesichtsausdruck.