Symbole und Rituale der Weltreligionen - Hermann-Josef Frisch - E-Book

Symbole und Rituale der Weltreligionen E-Book

Hermann-Josef Frisch

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Beschreibung

Die Weltreligionen nutzen für ihre Botschaften viele Symbole und haben Rituale für Alltag wie Feste entwickelt, mit denen sie Menschen zusammenführen. Solche Symbole und Rituale sind über die Religionen hinweg oft sehr ähnlich. Auch Verehrungsformen, sakrale Räume und Zeiten, heilige Orte und Zeichen, Bräuche zu den Lebens­wenden und vieles andere mehr weisen Gemeinsamkeiten auf. Dieser Band ist eine faszinierende Entdeckungsreise in die Welt der Religionen, deren Ziel bei allem ist: dem Unendlichen auf vielfache Weise zu begegnen. Themen u.a.: Religion (er-)leben: Gebet, Stille, Meditation, Gottesdienst, Rituale, Magie, Wunder, Pilgerfahrt, Pilgern, Wallfahrt und Prozession, Fasten und Askese, Aus dem Glauben leben, Segen Symbole und Zeichen: Licht, Sonne, Mond und Sterne, Feuer, Wasser, Kosmos, Himmelsleiter, Weltenberg, Weltenbaum, Brücke, Tür, Regenbogen, Weg, Lebensweg, Haus und Stadt, Kreis und Mitte, Spirale und Labyrinth, Wind, Hand, Fuß, Herz, Brot, Wein, Vater, Mutter, Das göttliche Kind, Dualität, Trinität, Die Zahlenwelt der Religionen, Die Farbenwelt der Religionen, Attribute der Götter, Attribute der Heiligen, Die Gaben der Menschen, Die Opfer der Menschen Heilige Orte und Bauten: Heilige Quellen, Heilige Flüsse, Heilige Berge, Heilige Wege, Heilige Orte, Heilige Bauten, Himmel, Hölle Heilige Personen: Religionsstifter, Propheten, Heilige, Mönche, Nonnen, Eremiten, Priester, Gurus, Lehrer, Sadhus, Weise, Schamanen, Heiler, Medien, Das Volk, Engel und Geister, Teufel und Dämonen Lebenswenden und Feste: Geburt und Initiation, Pubertät und Initiation, Eheschließung und Ehe, Sexualität und Fruchtbarkeit, Erwachsensein und Verantwortung, Krankheit und Heilung, Sterben und Tod, Übergang ins Jenseits, Feste der Religionsstifter und Götter, Jahreskreis, Feste im Jahreskreis, Feste der Gemeinschaft, Ton und Rhythmus, Musik und Tanz, Gastfreundschaft und Mahlgemeinschaft

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Cover vorn: großes Bild:

Lichter im Tsug Lakhang (Dalai-Lama-Tempel), Dharamshala, Indien kleine Bilder:

Yin und Yang, Laoshan, Qingdao, China

Osterbrot, Kloster Geghard, Armenien

Shinto-Torii, Ashi-See am Fujiyama, Japan

betende Pilger, Tirta Empul, Bali, Indonesien

Cover hinten: großes Bild:

Detail des Apsismosaiks, Dom von Cefalu, Sizilien, Italien kleine Bilder:

Engel (verschiedene Rassen), Franziskanerkirche, Krakau, Polen

badende Pilger in der Quelle von Tirta Empul, Bali, Indonesien

japanischer Pilger, Kotahira-Schrein, Shikoku, Japan

Rad, Suryatempel (Sonnentempel), Konark, Odisha, Indien

Räucherstäbchen in einer Höhle der Marmorberge, Danang, Vietnam

Seite 3:

Fujin (Windgott), Kennin-ji, Kyoto, Japan

Tautaus (Figuren der Ahnen), Lemo (Torajaland), Sulawesi, Indonesien

Dämon, Naksansa, Korea

Shinto-Priester an Trommel, Tsurugaoka-Schrein, Kamakura, Japan

Inhalt

Das Welthaus der Religionen

Religionen

Menschen – Einheit in Vielfalt

Religionen – Himmel und Erde verbinden

Glauben und Leben

Religion (er)leben

Gebet – Hingabe an Gott

Gebet – Orientierung für das Leben

Stille – Raum der Begegnung

Meditation – der Weg in die Tiefe

Gottesdienst – Erfahrung des Göttlichen

Gottesdienst – Erfahrung von Gemeinschaft

Rituale – Gliederung von Zeit und Raum

Rituale – Einheit von Leib und Seele

Magie – das Geheimnis beherrschen

Wunder – Staunen über das Außergewöhnliche

Pilgerfahrt – der Lebensweg

Pilgern – dem Göttlichen begegnen

Wallfahrt und Prozession – miteinander auf dem Weg

Fasten und Askese – sich beschränken

Aus dem Glauben leben – Solidarität

Segen – unter dem Schutz Gottes

Symbole und Zeichen

Licht – das Göttliche über uns

Sonne – Licht und Leben

Mond und Sterne – Tag und Nacht

Feuer – Rettung und Zerstörung

Wasser – das Leben

Kosmos – Himmel und Erde

Himmelsleiter – Abstieg und Aufstieg

Weltenberg – Achse des Kosmos

Weltenbaum – Verbindung von Himmel und Erde

Brücke – Verbindung von Diesseits und Jenseits

Tür – Durchgang in eine neue Welt

Regenbogen – Zeichen des Bundes

Weg – unterwegs sein

Lebensweg – von der Geburt bis zum Tod

Haus und Stadt

Kreis und Mitte

Spirale und Labyrinth

Wind – Sturm und Hauch

Hand – helfen oder schaden

Fuß – der Abdruck des Göttlichen

Herz – Zuwendung und Güte

Brot – Leben für jeden Tag

Wein – Freude und Segen

Vater – Patriarch und Erbarmer

Mutter – Lebenspenderin

Das göttliche Kind – Heilsbringer

Dualität – Überwindung der Gegensätze

Trinität – das göttliche Dreieck

Die Zahlenwelt der Religionen

Die Farbenwelt der Religionen

Attribute der Götter

Attribute der Heiligen

Die Gaben der Menschen

Die Opfer der Menschen

Heilige Orte und Bauten

Heilige Quellen

Heilige Flüsse

Heilige Berge

Heilige Wege

Heilige Orte

Heilige Bauten

Himmel – Ort der Vollendung

Hölle – Ort des Unheils

Heilige Personen

Religionsstifter – Menschensöhne

Religionsstifter – Gottessöhne

Propheten – Boten des Göttlichen

Heilige – Vorbilder des Glaubens

Heilige – Vorbilder der Nächstenliebe

Mönche – auf der Suche nach dem Göttlichen

Nonnen – ein anderer Lebensstil

Eremiten – Gott finden in der Einsamkeit

Priester – Herrscher über das Heilige

Gurus – Lehrer der Weisheit

Lehrer – vom Unendlichen künden

Sadhus – gegen alle Konventionen

Weise – dem Geheimnis auf der Spur

Schamanen – Mittler zum Jenseits

Heiler – ganzheitliches Leben

Medien – in beiden Welten

Das Volk – auf dem Weg

Engel und Geister – Personifikationen des Guten

Teufel und Dämonen – Personifikationen des Bösen

Lebenswenden und Feste

Geburt und Initiation

Pubertät und Initiation

Eheschließung und Ehe

Sexualität und Fruchtbarkeit

Erwachsensein und Verantwortung

Krankheit und Heilung

Sterben und Tod

Übergang ins Jenseits

Feste der Religionsstifter und Götter

Jahreskreis – Zyklus des Lebens

Feste im Jahreskreis

Feste der Gemeinschaft

Ton und Rhythmus

Musik und Tanz

Gastfreundschaft und Mahlgemeinschaft

Religion ist menschlich

Bildnachweis

Beter in Tirta Empul (Tempel der Heiligen Quelle), Bali, Indonesien

Das Welthaus der Religionen

»Religion ist Ehrfurcht vor dem Unendlichen«, so sagt der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768–1834). »Geboren werden und sterben sind Punkte, bei deren Wahrnehmung es uns nicht entgehen kann, wie unser eigenes Ich überall vom Unendlichen umgeben ist.« In seinem Werk »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799) führt Schleiermacher weiter aus: »Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.«

In diesem Punkt kommen die Religionen der Welt trotz all ihrer Unterschiedlichkeit zusammen. Sie verweisen den einzelnen Menschen, aber auch menschliche Gemeinschaften auf das Unendliche, gleich wie sie es konkret benennen, ob sie es Gott, das Göttliche, die Götter, das Absolute, Brahman, den Himmel, Nirvana, Shunyata oder wie auch immer nennen. Religionen sind Wegweiser zum Unendlichen, sie zeigen Wege auf, wie der Mensch sein irdisches Dasein überschreiten, wie er Transzendenz mitten in diesem Leben erfahren kann. Religionen binden Diesseits und Jenseits aneinander, Erde und Himmel, den Menschen und das tiefste Geheimnis von allem, den Urgrund des Lebens. Religionen öffnen Türen in eine andere, eine größere Wirklichkeit.

Dabei erscheinen die vielen Religionen der Welt wie ein undurchdringlicher Dschungel. Jede der großen Religionen trägt eine lange Geschichte mit sich, in der sich vielfältige Glaubensaussagen, Rituale, Bräuche und Symbole entwickelt haben. Bereits für die Anhänger einer Religion ist es oft schwierig, sich in allen Dingen der eigenen Religion auszukennen. Umso schwieriger wird es, sich auch mit anderen religiösen Strömungen dieser Welt vertraut zu machen, mit anderen Lebensweisen und Traditionen, die sich in den fremden Religionen widerspiegeln. Erstaunt sind aber umgekehrt viele Menschen auch, wenn sie erkennen, wie viel Gemeinsames es zwischen den Religionen gibt, wie viel an gleichen Riten, Gebets- und Verehrungsformen, an Grundgedanken, an Vorstellungen für den Bau und die Ausschmückung von heiligen Räumen, an Zeichen und Symbolen. Erstaunlich auch, wie ähnlich sich die großen Gestalten der Religionen sind, die Religionsstifter, Propheten und Weisen.

Man kann die Grundaussagen der großen Religionen vergleichend gegenübergestellen, auf ihre sehr unterschiedlichen Botschaften und Lehren in einem Überblick eingehen. Dies kann – wie meist – dadurch geschehen, dass jede Religion einzeln dargestellt wird. Man kann auch – dies habe ich in meinem 2014 erschienenen Werk »Der Glaube der Weltreligionen« versucht – in Querschnitten zu bestimmten Themen der großen Religionen (etwa Gottesbild oder Jenseitsvorstellungen) deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausstellen. Dann geht es um die Inhalte der Verkündigung – eine durchaus bunte Vielfalt von menschlichen Erfahrungen mit dem Absoluten, mit dem Unendlichen.

In diesem Band erfolgt ein anderer Ansatz. Nun geht es mehr um die Weise, wie die Menschen ihre Erfahrung mit dem Unendlichen in konkrete Handlungsweisen, Rituale, Symbole und Ausdrucksweisen umsetzen, in Bauten und Baukunst gestalten. Es geht auch um einen Vergleich der heiligen Orte und Personen und darum, wie die einzelnen Religionen die Lebenswenden und ihre Feste gestalten. Es geht damit um gelebte Religion eher unabhängig von den konkreten Glaubensinhalten, Dogmen und inhaltlichen Traditionen.

Um es mit einem Bildwort auszudrücken: Im Welthaus der Religionen gibt es viele Zimmer – das sind die einzelnen Religionen. Jeder Mensch ist – sofern er religiös gebunden ist – in der Regel in seinem Zimmer »geborgen«, in der Religion nämlich, in der er aufgewachsen ist. Er kann aber von einem Zimmer zum nächsten gehen, andere Religionen kennenlernen und vielleicht bereichert in sein Zimmer zurückkehren – der Dialog der Religionen versucht diesen Weg. Wenn die Weltreligionen durch den Blick auf ihre Lehre dargestellt werden, wie sie sich in den unterschiedlichen Traditionen an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten zeigt, beschreibt man gleichsam die einzelnen Zimmer dieser Glaubensrichtungen.

Doch in diesem Band geht es darum, die »Einrichtungsgegenstände« in den Zimmern der einzelnen Religionen kennenzulernen, das bedeutet die von den Anhängern der jeweiligen Glaubensrichtung praktizierte Religion. Dabei ist festzustellen, dass – bei aller unterschiedlichen Tradition, bei unterschiedlichen Lehrgebäuden, bei aller Fremdheit der Ausdrucksweisen und religiösen Sprache – viele »Einrichtungsgegenstände« in den Zimmern des Welthauses der Religionen sich ähneln oder sogar gleich sind.

Solche Gemeinsamkeit gilt natürlich in besonderer Weise für die Ursymbole menschlichen Lebens (etwa Licht, Wasser ...), die in allen Religionen verwandt werden. Es gilt aber auch für viele andere Dinge, für die Gebetshaltungen etwa, für Gottesdienstformen, für religiöse Architektur (Türme als Verbindung von Himmel und Erde). Schauen wir uns um in den Zimmern des Welthauses der Religionen. Es gibt viel Überraschendes zu entdecken: Gemeinsamkeiten über alle Kulturen und Religionen hinweg, aber auch Unterschiedliches, das nicht als trennend oder gar bedrohlich erfahren werden muss, sondern als eine Bereicherung der eigenen Sicht verstanden werden darf.

Insofern verstehe ich diesen Band auch als einen bescheidenen Beitrag zum Dialog der Religionen. Denn jeder interreligiöse Dialog, der angesichts der Globalisierung und heute vielfältigen Vernetzung unserer Welt dringender denn je ist, bedarf zuerst einmal der sachgemäßen und angemessen Information. Durch seine Bilder und Texte möchte dieser Band zu einer die Religionen übergreifenden Sicht des Religiösen in der Menschheit beitragen.

Machen wir uns auf eine Spurensuche in der Welt der Glaubensrichtungen. Betreten wir die Zimmer der anderen Religionen, sammeln uns Neues und Fremdes und kehren wir dann bereichert zurück in das Zimmer unserer eigenen Religion. Lassen Sie sich ein auf eine faszinierende Reise.

Hermann-Josef Frisch

Religionen

Der Ausgangspunkt aller Religionen ist die Frage nach dem Menschen: Was ist der Mensch? Was unterscheidet ihn von anderen Lebewesen? Was ist der Sinn menschlichen Lebens? Die Frage nach dem Menschen führt in drei Richtungen – es sind die drei Grundfragen jeden menschlichen Lebens, damit auch jeder Weltanschauung, Kultur und Religion:

• Woher kommen wir?

Was war der Anfang von Kosmos und Welt, was prägt damit durch grundlegende Bestimmungen auch die Ordnung und den Weg von allem?

• Wozu leben wir?

Welchen Sinn hat das Leben und wie ist es verantwortungsvoll zu gestalten? Wie kann das Leben für den Einzelnen und für die Gemeinschaft gelingen?

• Wohin gehen wir?

Was ist die Perspektive über den Tod hinaus, wie können Leid und Tod im Letzten überwunden werden, welche Hoffnung darf der Mensch haben? Was ist der Mensch? Das ist die Grundfrage jeder Religion. Doch die Antworten der Religionen sind nicht identisch – vieles erscheint ähnlich und doch wieder anders. Die Religionen binden – auf je eigene und durch Kultur und Geschichte bedingte Art und Weise – den Menschen mit seinem Glück und Leid und das Andere, Jenseitige zusammen, das den Menschen übersteigt, das ihn aber auch, so glauben und hoffen die Religionen, trägt und hält. Religionen wollen durch ihre Botschaften Halt und Zuversicht geben in guten und schlechten Stunden.

Religion und Religionen mit ihren Fragen und ihren Antwortversuchen, mit ihrer Botschaft und Hoffnung gehören wesentlich zum Menschen: Er ist, wenn auch in geschichtlich und regional sehr unterschiedlicher Gestalt, bleibend religiös. Dies mag bei vielen aus vielerlei Gründen überdeckt sein, doch die Fragen nach dem Sinn und Ziel des Lebens bleiben. Somit auch ist unsere heutige, hochtechnisierte Welt nach wie vor voller Religionen und voller Religionsausübung in den unterschiedlichsten Formen. Der Mensch strebt nach einem sinnerfüllten Leben, er sucht nach Orientierung auf dem Lebensweg, er will das Leben umfassend deuten. Die Religionen können ihm dabei Wegweiser zum Unendlichen sein.

Beterin, Kuan Yim Tempel, Chinatown, Bangkok,Thailand

Menschen – Einheit in Vielfalt

Der Gründer der im 19. Jahrhundert entstandenen Bahá’í-Religion, Bahá’u’llah (1817–1892), hat gesagt: »Es rühme sich nicht, wer die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger ... die ganze Welt ist des Menschen Vaterstadt. « Und er sagte weiter: »Betrachtet Euch nicht als Fremde. Ihr seid die Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges. Ihr seid die Tropfen eines Meeres, die Glieder eines Leibes«

In unserer Zeit einer zunehmenden Globalisierung und der schnellen Kommunikation und Reisemöglichkeit über alle Kontinente hinweg wächst bei vielen Menschen das Bewusstsein, zu einer Menschheitsfamilie zu gehören. Nur wenn sich die Menschheit als eine Familie betrachtet, können in gemeinsamer Anstrengung auch die Herausforderungen unserer Zeit bewältigt werden, was weltumfassender Friede, eine völkerübergreifende Gerechtigkeit und der Schutz der Umwelt betrifft. Gewiss, in manchen Regionen, auch bei uns, hat in den letzten Jahren eine abgrenzende Nationalisierung und das Ausgrenzen «fremder« Menschen wieder deutlich zugenommen. Doch lässt sich das Zusammenwachsen der Menschheit nicht mehr rückgängig machen. Es bleibt allerdings die Aufgabe aller, diese wachsende Einheit so zu gestalten, dass sie allen dient.

Viele Religionen, wie Christentum, Islam, Buddhismus und Bahá’í, haben eine völkerübergreifende Einheit in ihrem Programm; sie verstehen die Gemeinschaft ihrer Gläubigen als weltumfassende Gemeinschaft. Andere Religionen, wie Judentum und Hinduismus, verstehen sich eher als Heilsweg für ein einziges Volk – dies kann dann verbunden sein mit der Abgrenzung gegenüber anderen.

Gegen Ängste vor Fremdem und gegen die Abgrenzung von Menschen mit anderen Lebensentwürfen, Kulturen und Religionen hilft die Einsicht, dass die Einheit der Menschheit keine Einheitlichkeit und Uniformität bedeutet und auch nicht bedeuten darf. Es geht um den Reichtum einer Vielfalt, bei dem es vielerlei und sehr unterschiedliche Wege gibt, Sinn und Glück im Leben zu erreichen – wie immer man diese Ziele konkret definiert. Es geht um Respekt vor den Auffassungen der anderen und um die Toleranz, auch die Formen von Lebensentwürfen, Kulturen und Religionen zuzulassen, die anders sind als die eigenen – selbst im unmittelbaren Umfeld.

Es geht aber mehr noch um die Erkenntnis, dass sich die unterschiedlichen Auffassungen, Werte und auch religiösen Sichten gegenseitig befruchten und bereichern können und sollen. Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani hat gesagt: »Man muss sich auf das Fremde einlassen, um sich selbst zu entdecken.«

Wo sich die Religionen auf einen solchen Weg einlassen, die »anderen« nicht nur zu akzeptieren, weil es sie halt gibt, sondern sie als Chance zu verstehen, das Eigene besser zu verstehen, kritischproduktiv zu überprüfen und schließlich verantwortungsvoll zu leben, da werden Wege beschritten zu einem dauerhaften Frieden und einer ausgleichenden Gerechtigkeit weltweit. Der Theologe Hans Küng hat zu Beginn seines Islam-Buches diesen Auftrag formuliert:

»Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. Kein Dialog zwischen den Religionen ohne Grundlagenforschung in den Religionen.«

Diesem Auftrag eines zwar kritischen, aber dennoch wohlwollenden Blicks auf die religiöse Welt in ihrer bunten Vielfalt und gegenseitigen Bereicherung ist dieses Buch verpflichtet.

Junge Frau in Hama, Syrien

Mädchen in Erer, Äthiopien

Religionen – Himmel und Erde verbinden

Was ist Religion? Der Mensch drängt mit seinem Suchen und Forschen nach Antworten auf die Grundfragen menschlichen Lebens hinaus in eine neue, ihn übersteigende und ungeahnte Dimension des Lebens. Er durchbricht die Schale des ihn Umgebenden, das er mit seinen Sinnen erfassen, mit naturwissenschaftlicher Forschung ergründen und mit seinem Verstand einordnen kann. Er sucht vielmehr darüber hinaus nach einem Tieferen, Größeren, ihn Übersteigenden, er versucht sich am Urgrund von allem zu orientieren und sich in das Gesamt des Kosmos einzuordnen.

Das lateinische Wort religio bedeutet Zurückbindung, Anbindung, auch Hingabe an etwas Größeres oder einen Größeren, dazu auch sorgfältiges Beachten, Ehrfurcht vor etwas Größerem. Die Religionen sind also mit ihren verschiedenen Wegen unterschiedliche Formen einer Rückbindung des Menschen an eine höhere, absolute Macht, gleich wie sie konkret in den Religionen benannt wird, ob als Gott, das Göttliche, die Götter, die Geister, die Mächte.

Allahturm, Mausoleum Schah Ismails, Ardabil, Iran – die blauen Ziegel bedeuten jeweils »Allah« – »Gott«.

Die Rückbindung des Menschen geschieht dabei durch Gebet und Meditation, durch Stille und Gottesdienst, durch Rituale und Bewegung in Wallfahrten, Prozessionen und Pilgerfahrten (vgl. dazu das Kapitel »Religion erleben« ab Seite →). Diese Rückbindung erfolgt ebenso durch vielfältige Symbole und Zeichen, die in überraschender Weise in allen Religionen nahezu identische Bedeutung haben (vgl. dazu ab Seite →). Die Rückbindung erfolgt weiterhin durch sakrale Bauten und heilige Orte (vgl. dazu ab Seite →).

Diese Rückbindung des Menschen an das Göttliche, den Gott, die Götter, die geistlichen Mächte erfolgt durch jeden Einzelnen, aber ebenso in den Gruppen Gleichgesinnter, in den Gemeinschaften der großen Weltreligionen oder der vielen kleineren Religionen, in formellen wie informellen Gruppen und Zusammenkünften.

Religionen sind wie Brücken in eine andere, den Menschen übersteigende Welt (vgl. Seite →f.). Sie führen den Menschen vom Ufer eines Lebens auf dieser Erde zum anderen Ufer einer nicht näher beschreibbaren Wirklichkeit, die von den Religionen unterschiedlich benannt wird: Reich Gottes, Paradies, Jenseits, Paradies, moksha/mukti (hinduistisch für Befreiung vom Leid und Erlösung), nirvana (buddhistisch für Verwehen, Erlöschen des Leides und des Todes), schalom (umfassender Friede und umfassendes Heil für alle), Harmonie von Himmel und Erde (daoistisch). Das Symbol Brücke kann – wie im Buddhismus – auch durch das Symbol des Floßes oder des Schiffes ersetzt werden, mit dem der nach Erleuchtung suchende Mensch von diesem leiderfüllten Ufer an das andere, leidfreie, übersetzen kann.

Religionen verbinden somit Himmel und Erde, die Menschen mit dem Göttlichen, gleich wie es in der jeweiligen religiösen Tradition konkret verstanden wird. Ihre Funktion kann mit dem Bildwort der Himmelsleiter ausgedrückt werden (vgl. Seite →f.), einem Symbol, das sich in vielen Religionen findet. Es hat seinen Ausdruck auch in Orten der Natur gefunden, etwa in herausragenden Bergen, die als Heilige Berge den Aufstieg zum Göttlichen symbolisieren und als »Weltenberg« und Achse des gesamten Kosmos verstanden werden (vgl. Seite →). Ähnliche Bedeutung hat der »Weltenbaum«, auch er findet sich in unterschiedlicher Gestalt in vielen Religionen (vgl. Seite →). Aber auch von Menschenhand gemachte Himmelsleitern schaffen diese Verbindung von Unten und Oben, von Welt und Göttlichem: christliche Kirchtürme ebenso wie muslimische Minarette, buddhistische Pagoden ebenso wie hinduistische Tempeltürme.

All solche Bildworte zeigen den Auftrag der Religionen und ihr letztes Ziel: Die Religionen propagieren ihren Mitgliedern die Verantwortung für diese Welt und ein friedliches und gerechtes Zusammenleben aller. Doch darüber hinaus richten sie sich – in vergleichbarer Weise – auf das Ziel aus, Menschen und Göttliches zu verbinden. Sie tun dies in vielen Gestalten und Ausdrucksformen, im bunten Reigen religiösen Tuns und religiöser Rituale, in der reichen Bilderwelt religiöser Sprache und Symbolik.

Glauben und Leben

Die Religionen – gleich ob weltumspannend oder sich auf eine kleine Volksgruppe oder Gemeinschaft beschränkend – zeigen jeweils ein doppeltes Gesicht:

Da ist zum einen das

Lehrgebäude

einer Religion, eine Theologie und Anthropologie, die meist auf einer heiligen Schrift (oder mehreren) beruht und in der Regel in für alle Anhänger verbindliche Aussagen mündet, in Glaubensbekenntnisse, die eine Gemeinschaft der Glaubenden zusammenbringen, und in Dogmen, die eher abgrenzend gegenüber anderen Lehren und theologischen Meinungen formuliert werden.

Da ist zum anderen die

Volksreligiosität,

die sich vom verpflichtenden Lehrgebäude manchmal entfernt, die aber das Leben der meisten Mitglieder einer Religion mehr prägt als die offiziellen und verpflichtenden Dogmen. Die Volksreligiosität äußert sich im alltäglichen Vollzug einer Religion, in ihren Ritualen und Symbolen, in der Gestaltung ihrer Frömmigkeitsorte und vielem mehr. Die Volksreligiosität ist auch der Bereich, der einem Außenstehenden zuerst begegnet.

Die Differenz zwischen Lehrgebäude und Volksreligiosität zeigt sich in einem Beispiel der christlichen Tradition: Das christliche Bekenntnis zum einen und einzigen Gott, der sich aber dem Menschen in drei Personen zuwendet, in Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger-Geist, ist nach ersten Ansätzen im Neuen Testament vor allem unter Zuhilfenahme der griechisch-philosophischen Begrifflichkeit auf den Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts festgelegt worden. In der Volksfrömmigkeit dagegen wird neben Gott-Vater und Jesus vor allem Maria verehrt, der Heilige Geist spielt nahezu keine Rolle. Das führte zum Irrtum des frühen Islam, der behauptete, die Christen würden drei Götter anbeten: Gott selbst, den Propheten Isa (Jesus) und Maryam, seine Mutter. Das christliche Lehrgebäude wurde mit dieser muslimischen Kritik letztlich nicht getroffen, wohl aber konnte sich diese Ablehnung auf die religiöse Praxis einer intensiven Marienverehrung vieler Christen stützen – und diese gibt es in der orthodoxen und katholischen Kirche teilweise heute noch.

Dieser Band behandelt nicht das Lehrgebäude der Religionen der Welt – darauf bin ich in verschiedenen anderen Publikationen eingegangen. Hier geht es um die Volksreligiosität, die man nicht in Büchern, sondern nur vor Ort kennen lernen kann, an den unterschiedlichen heiligen Orten, in den unterschiedlichen heiligen Gebäuden, durch die unterschiedlichen Rituale der Religionen, in ihren Symbolen und ihrer Zeichensprache, in ihren Bildern und Statuen, ihren Personen und Festen.

Beter in der Ambasthala-Dagoba, Minhintale, Sri Lanka

Dabei ist der Ansatz wichtig, wie eine Religion das Leben der Menschen in den unterschiedlichen Kulturen konkret beeinflusst. Wie erfahren die Menschen in ihrem Alltag das Göttliche, wie antworten sie auf diese Erfahrungen? Durch eine Vielzahl von Beobachtungen, die in die Themen dieses Buches einfließen, werden spezifische Eigenheiten der einzelnen Religionen sichtbar, die auch durch das jeweilige Lehrgebäude (etwa durch das Gottesbild oder die Jenseitsvorstellungen) beeinflusst sind, aber oft ein Eigenleben entwickeln. So wird z. B. der Buddha (der historische Siddhartha Gautama) im Theravada-Buddhismus nicht als Gott angesehen, in der Volksfrömmigkeit in Sri Lanka, Myanmar oder Thailand aber durchaus mit Ritualen einer Gottesverehrung (Räucherstäbchen, Blumen, Verneigungen ...) gewürdigt.

Glauben und Leben jeder Religion bilden eine Symbiose, eine Korrelation, in der sie aufeinander einwirken und sich auch verändern – dies ist eine produktive Wechselwirkung des offiziellen »Glaubensschatzes« mit der religiösen Praxis der einzelnen Glaubenden.

Religionen (er)leben

Religionen verbinden Himmel und Erde, Gott, das Göttliche, die Götter mit dem Menschen. Das Streben der Religionen nach einer Beziehung zum Absoluten, zum Urgrund, zum All-Einen, zu einer Transzendenz, die dem Menschen als Du gegenübersteht, geschieht auf vielfache Weise. Immer aber sind dabei Körper und Geist, Leib und Seele, Physis und Psyche eingebunden, wie immer man auch die verschiedenen, letztlich nicht zu trennenden Aspekte des Menschen benennen will. Religion geschieht immer als ein ganzheitliches Geschehen, das Verstand und Gefühl, Denken und Emotion anspricht. Vieles in den Religionen kann und muss man mit dem Verstand kritisch und wissenschaftlich betrachten, eine historisch-kritische Untersuchung der heiligen Schriften und schriftlichen Traditionen etwa ist unerlässlich. Aber vieles in den Religionen verweigert sich einem solchen Zugriff der Ratio. Der religiöse Weg hin zu einem Jenseitigen oder umgekehrt hin zu einer inneren Tiefe liegt auf einer anderen Ebene als die Ebene von (Natur-)Wissenschaft und Vernunft – ist aber dennoch nicht weniger wahr und für den Menschen und seine Suche nach Sinn und Heil notwendig.

Insofern haben in den Religionen der Welt zum einen die Propheten und Weisen Platz, die kritisch Gesellschaft und Religion betrachten und Wege zu einem durch Religion motivierten gerechten Zusammenleben der Menschen weisen (vgl. etwa Amos oder Konfuzius). Ebenso aber haben in den Religionen auch die Mystiker und spirituellen Führer ihren je eigenen Raum, die zu einer inneren Erkenntnis und Erleuchtung gelangt sind und danach ihren Weg ebenso propagieren und weitergeben (vgl. etwa der Sufi Rumi oder Siddhartha Gautama, der Buddha). Und weiterhin haben in den Religionen jene Großen ihren Platz, die Gottes- und Nächstenliebe im aktiven Tun miteinander verbinden und so im Mühen um Solidarität mit allen Menschen Religion und Welt aneinander binden (vgl. Seite →).

Religion (er)leben geschieht deshalb in einem großen Reichtum, oft auch in Widersprüchen und Akzentsetzungen, die nicht zu harmonisieren sind. Dem ist nicht mit Misstrauen zu begegnen, sondern mit dem Bewusstsein, dass sich durch unterschiedliche Ansätze und Erfahrungen ein spiritueller Reichtum ergibt, von dem alle profitieren können. Die Vielfalt der Religionen und ihrer Erscheinungsbilder stellt einen ungeheuren Reichtum der Menschheit dar – Religionen sind ein Menschheitsschatz.

Im Longshan-Tempel (Drachenberg-Tempel, buddhistisch), Taipeh,Taiwan

Gebet – Hingabe an Gott

In den heiligen Schriften ebenso wie durch ihre Lehrer, Weisen und Propheten werden den Religionen Offenbarungen des Göttlichen mitgeteilt – Gott kommt den Menschen dadurch entgegen. Beim Gebet – gleich in welcher Form – geht es nun um die Antwort des Menschen und menschlicher Gemeinschaften auf solche Erfahrung Gottes.

Dabei unterscheiden sich die religiösen Wege nach ihrer Art des Gottesverständnisses: Wo die Beziehung zu einem als Person verstandenen Gott (oder auch mehreren Göttern) im Vordergrund steht, da folgt dem zuvorkommenden Wort Gottes eine dazu passende Antwort: Wo sich der Mensch als von Gott angesprochen versteht, da antwortet er ebenso im Wort des Gebetes und im Ritual von Gottesdiensten.

Wo dagegen der religiöse Weg als ein Weg in die Tiefe verstanden wird, ins Innere, da ist die Antwort des Menschen nicht das Wort, sondern das Schweigen (vgl. Seite →), nicht das Gebet, sondern die Meditation (vgl. Seite →f.). Vereinfacht gesagt: Das Verständnis Gottes als gegenüberstehende »Person« führt zum Sprechen nach »oben«, hin zur Transzendenz, zum je Größeren. Das Verständnis eines Urgrunds und All-Einen, in dem alles geborgen ist, führt zum mystischen Weg ins Innere. Meist wird der erste Weg mit den drei vorderorientalischen Religionen Judentum, Christentum und Islam verbunden, der Weg der Meditation mit den östlichen Religionen, etwa Hinduismus und Buddhismus. Doch es gibt immer auch Gegenbeispiele und Nebenströmungen in den Weltreligionen: die christliche Mystik und die islamischen Sufis etwa auf der einen Seite, die Verehrung des Gottes Krishna im Hinduismus oder des Buddha Amida im japanischen Mahayana-Buddhismus auf der anderen.

Das Gebet stellt in den Weltreligionen – anders als das Sprechen der Theologie – ein Sprechen nicht nur über Gott, sondern ein Sprechen mit Gott dar. Ein solches Sprechen, durch das sich der Mensch in eine Beziehung zu Gott stellt, zeigt sich in vielen verschiedenen Formen. Es gibt die geformten Gebete der religiösen Traditionen wie etwa das jüdische Sch’ma Jisrael, das christliche Vaterunser, das muslimische Sprechen der Sure 1. Es gibt das freie Beten, das stärker auf die individuelle Situation des Beters eingehen kann, in dem er sein Leben in Dank und Bitte, Lob und Klage vor Gott trägt.

Wo der Mensch sich in seinem Inneren angesprochen fühlt, wo er sich als vor Gott stehend erkennt, da versucht er, die Erfahrung Gottes in Worte zu fassen. Beten erwächst aus der Begegnung mit und aus der Hingabe (arabisch islam) an Gott. Das Gebet als Kommunikation mit Gott geschieht aus der Haltung des Vertrauens. Der Mensch glaubt daran, dass Gott es gut mit ihm meint, dass er ein Gott für die Menschen ist, der »Ich-bin-da-für-euch«.

Jüdische Beter an der Klagemauer, Jerusalem, Israel

Buddhistin mit Gebetsmühle, Thanza, Bhutan

Beter bei der Eröffnungsfeier der Lotoslaternenparade, Seoul, Korea

Gebet – Orientierung für das Leben

Das Beten erwächst aus der Ergriffenheit durch Gott: Der Mensch erkennt seinen Stand vor Gott und ordnet sich ein in das Netz des Lebens, das von Gott gehalten wird. Lob und Preis, Dank und Verehrung folgen daraus als Motive des Betens. Ebenso aber sind auch Bitte und Klage Konsequenzen aus der Beziehung zu Gott, der Mensch bleibt angesichts von Leid und Tod Fragender und nach Sinn Suchender. Im Gebet trägt der Mensch vor Gott, was sein Leben reich, schön und wertvoll macht, aber ebenso auch das Rätselhafte, das Unheimliche, das Bedrohliche, Freude und Leid, Hoffnung und Enttäuschung, Glück und Trauer.

Auch wenn der Mensch im Gebet Gott anspricht, sich ihm in der Haltung eines unbedingten Vertrauens nähert, so geht es im Gebet doch vorrangig um den Menschen selbst. Nicht Gott soll sich durch das Gebet ändern, sondern der Mensch ändert sich durch sein Beten. Er erhält eine Orientierung für sein Leben – Rechtleitung nennt der Koran dies.

Das Gebet also ist nichts von der Welt Abgehobenes, sondern es bleibt zutiefst mit dem Leben der Menschen verknüpft. So verweist nicht nur Psalm 1, sondern auch Sure 1 des Korans auf die zwei Wege, zwischen denen sich der Mensch entscheiden muss: den Weg des Gerechten und den Weg dessen, der irregeht. Aus der im Gebet stattfindenden Begegnung mit Gott erwächst eine Haltung, die das Leben prägen soll. Der Buddha sagt dazu (Suttanipata 149): »Lasst eure Gedanken der grenzenlosen Güte die ganze Welt durchdringen.« Das Gebet ermuntert also nicht nur zur Hingabe an Gott, zur Gottesliebe, sondern auch zu einem Ethos der Menschenliebe, bei dem religiöses Tun zu Solidarität der Menschheitsfamilie führt (vgl. Seite →)

Eine solche Solidarität wird unter anderem dann deutlich, wenn sich die Betenden nicht nur einzeln vor Gott stellen, sondern in eine Gebetsgemeinschaft, in der jeder gleichberechtigt vor Gott steht – die muslimische Umma zeigt sich in dieser Weise etwa beim Freitagsgebet. Ebenso fordern christlicher und jüdischer Gottesdienst, aber auch manche Gebetsformen der östlichen Religionen eine solche Solidarität: Die Menschen verstehen sich im Gebet als Geschwister unter dem einen Gott – gleich ob sie ihn wie die Christen dann mit dem Bildwort »Vater« benennen oder nicht.

Das Gebet bereichert Menschen, weil es über den Alltag hinausweist auf eine übergreifende und transzendente Perspektive, auf das je größere Göttliche, in dem alle geborgen sind.

Stille – Raum der Begegnung

Das rechte Beten wird jede Oberflächlichkeit vermeiden, jedes belanglose und geschäftige Reden von Gott und mit Gott. Es wird vielmehr aus der Tiefe erwachsen, aus einer inneren Ergriffenheit, aus der Betroffenheit, dass das Geheimnis Gottes den Menschen unbedingt betrifft und den Grund seiner Existenz ausmacht. Diese Erkenntnis aber ist ein Weg in die Stille und zum Schweigen vor Gott. Es ist der Weg der Erkenntnis, der Erleuchtung, der Mystik, in sich in unterschiedlicher Weise in allen Religionen zeigt.

Nicht um Wort, Gestus oder gar um Ritual und Opfer geht es hier, nicht um die Verehrung eines Götterbildes und dadurch eines bestimmten Gottes oder des Göttlichen überhaupt. Es geht vielmehr um Versenkung, um einen Weg in die Tiefe des eigenen Lebens und dadurch zur mystischen Einigung mit Gott, dem göttlichen Urgrund. Solche Tiefenerfahrungen werden aus allen Religionen berichtet: Der Weg in die Tiefe ist ein Weg der Absonderung von der Welt (etwa bei christlichen oder buddhistischen Mönchen), ein Weg der Stille fernab der unruhigen Städte (etwa bei hinduistischen Sadhus oder daoistischen Weisen). Es ist ein Weg der Atemregulierung, um sich dadurch einzustimmen auf den gesamten Kosmos, dessen Urlaut im hinduistischen und buddhistischen OM (eigentlich A-U-M) erklingt. Es ist der Weg der Körperbeherrschung, der im religiös einzuordnenden Yoga Indiens zu finden ist, auch der Weg der Askese in vielerlei Formen: das Unwichtige weglassen, um zum Eigentlichen zu kommen.

Ziel dieses Wegs in die Stille ist die innere Konzentration, eine tiefere Erkenntnis des Lebens und schließlich die Erleuchtung als Erfahrung der Einheit mit dem Göttlichen: Der Hinduismus bekennt die untrennbare Einheit von brahman, dem Göttlichen, dem Urgrund von allem, dem All-Einen, und atman, dem individuellen Selbst, der konkreten Person. Diese Einheit ist nie verlorengegangen, aber sie muss immer wieder neu bewusst werden, neu erkannt werden – und dies geschieht allein durch den Weg in die Stille.

Auch die westlichen Religionen kennen die Stille als Weg zur Erfahrung des Göttlichen. Doch ist hier in der Regel eine Besinnung gegenständlicher Art vorherrschend: Einer der hundert (islamischen) Namen Gottes, ein Wort der Bibel, ein Bildwerk oder anderes gibt den Impuls, sich auf den Weg in die Tiefe und zur Begegnung mit Gott zu machen. Diese Stille ist nicht »leer«, sondern gefüllt mit einem Impuls, der zur Besinnung führen kann.

Meditierender Sikh im Gurudwara Bangh Sahib, Dehli, Indien

Meditation – der Weg in die Tiefe

Meditation (lateinisch »Nachdenken, Vorbereitung, Vorübung«) bezeichnet in vielen Religionen das Bemühen, sich in eine tiefe Versenkung zu versetzen und so zu einem nicht allein durch den Verstand bestimmten Verstehen von religiösen Wahrheiten und/oder zu einer intensiveren Beziehung zu Gott zu kommen. Wo das Gebet zum Gespräch mit Gott führt und dabei von einer persönlichen Beziehung durch Wort und Antwort ausgeht (vgl. Seite →f.), richtet sich die Meditation auf die innere Einheit von Mensch, Kosmos und Gottheit, die nicht im Äußeren, sondern nur im Inneren zu erkennen und zu verstehen ist. Dies stellt die Erkenntnis von »Nicht-Zweiheit« (Sanskrit advaita) dar, das Erkennen einer Einheit von brahman und atman, die nicht nur eine Bezogenheit aufeinander bedeutet wie bei der personalen Beziehung des Gebetes, sondern ein Verschmelzen ineinander: Der Mensch (atman)