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Für den Indienreisenden ist zugleich faszinierend und befremdend, die bunte Vielfalt der Tempel und der darin verehrten Götter wahrzunehmen. Diese bunte Vielfalt aber erschwert in erheblichem Maß einen Zugang zum Verständnis: Was fängt man mit einer solchen Fülle von Gottheiten an? In diesem Band geht es um einen kompakten, verständlichen und informativen Überblick über die Götterwelt Indiens. Es geht um einen Zugang zu einer uns fremden Denkweise und um Hilfen, in der Vielfalt hinduistischer Traditionen das Eine und Verbindende zu entdecken, welches sich wie folgt ausdrücken lässt: »Der Alleine in vielen Gesichtern«. So mag sich für den Indienreisenden ein besseres Verständnis dessen ergeben, was er auf seiner Reise zu sehen bekommt. Doch zugleich ist diesen Band als ein - bescheidener - Beitrag zum Dialog der Religionen zu verstehen. Die vielfältige Götterwelt Indiens ist ein faszinierendes Mosaik von Vorstellungen und Traditionen innerhalb eines Gesamtkonzeptes lebendiger Religion. Durch markante und mehrheitlich farbige Bilder - fast alle aus dem Archiv des Autors - und fundierte, aber kompakte Erläuterungen zu einzelnen Gottheiten und zur religiösen Praxis Indiens erfolgt ein Einstieg in die bunte Welt des Hinduismus und seiner Götter und Göttinnen, hinter denen sich der Urgrund des Kosmos, der Alleine, befindet.
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Seitenzahl: 213
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OM Sri Ganeshaya Namah!«
»OM, verehrt sei der Name Ganeshas!«
(vgl. Seite →)
Indien und seine Götter
Die Suche nach Gott
Die Religionen
Leiter und Brunnen – der Weg nach oben und in die Tiefe
Das Floß – der Weg ans andere Ufer
Gott oder das Göttliche
Indien und seine Religionen
Der Hinduismus
Ein Dach über vielen Religionen
Grundbegriffe des Hinduismus
Gott – Götter – der Alleine
Götter mit Frauen und Kindern
Jay Deva – Religion im Alltag
Heilige Orte und Wallfahrten
Die Götterwelt des Hinduismus – ein Überblick
Die alten Götter
Die Feuerriten der Brahmanen
Indra – der Mächtige
Surya – die Sonne
Agni – das Feuer
Chandra und die Planetengötter
Varuna – der Allumfassende
Yama – der Gott des Todes
Kubera – der Reichtumsgott
Große Vielfalt – andere Götter
Soma – Gott und Lebenselexier
Purusha – der göttliche Urmensch
Shiva und seine Familie
Trimurti – Dreigesicht
Rudra – der wilde Jäger
Pashupati – der Herr der Tiere
Shiva Shankar – der Asket auf dem Berg
Shiva Nataraja – der Herr des Tanzes
Shiva Tryambaka – der Dreiäugige
Shiva Bhairava – der Schädelträger
Shivas Trishula – magischer Dreizack
Shiva Ardhanarishvara – Gott und Göttin in eins
Harihara – Shiva und Vishnu in eins
Lingam und Yoni – Gott und Göttin
Lingam – Symbol des Siegers
Die zwölf Jyotirlingam
Shivas Familie
Parvati – die Gattin
Parvati – die Tochter der Berge
Trommel – Tanz – Ekstase
Nandi – die Reittiere der Götter
Karttikeya – der Kriegsgott
Skanda, Subrahmanya, Murugan, Kataragama, Kumara
Ganesha – der elefantenköpfige Gott
Ganesha – der Gott der Weisheit
Ganesha – der Gott des Wohlstands
Ganesha mit Buddhi, Siddhi und Ratte
Devi – die Göttin
Shakti – die weibliche Kraft
Von Shakti zu Devi in vielen Formen
Durga – die Unnahbare
Mahishasuramardini und Chamunda
Meenakshi – die Gefährtin Shivas
Kali – die Schwarze
Die zehn Mahavidyas – zehn Avataras der Mahadevi
Saptamatrikas – sieben Muttergottheiten
Annapurna – die an Nahrung Reiche
Ganga – das Wasser des Lebens
Maya – die Göttin der Illusion
Vishnu und seine Avatara
Vishnu – der Ursprung der Schöpfung
Vishnu – der Weltenerhalter
Vishnu – Bhagvan und Narayana
Sri Lakshmi – Göttin der Schönheit und des Wohlstand
Garuda – der Himmelsvogel
Die zehn Avatara von Vishnu
1. Avatara – Matsya (Fisch)
2. Avatara – Kurma (Schildkröte)
3. Avatara – Varaha (Eber)
4. Avatara – Narasimha (Mann-Löwe)
5. Avatara – Vamana (Zwerg)
6. Avatara – Parashurama (Mann mit Axt)
7. Avatara – Rama, der Prinz
Das Ramayana – die Geschichte von Rama und Sita
8. Avatara – Krishna als Kind
Krishna – die Rettung des göttlichen Kindes
Krishna und die Gopis
Krishna und Radha – das Liebespaar
Krishna und Arjuna – der Wagenlenker
Das Mahabharata und die Bhagavadgita
9. Avatara – der Buddha
10. Avatara – der Reiter Kalki(n)
Brahma und andere Götter
Brahma – der Schöpfer
Pushkar-Mela – die Verehrung Brahmas
Sarasvati – Göttin der Weisheit
Hanuman – der Affengott und Wächter
Dorfgottheiten überall
Die Heilige Kuh Surabhi
Der eine Gott in vielen Gesichtern
Gayatri – das Mantra der Götter
Gandhi – das Unbekannte suchen
Sadhus – das Unermessliche finden
Gurus – das Unbeschreibliche lehren
Pujas – den Unbegreiflichen ehren
Gott – der Alleine und Allganze
Gott neu lernen
Karten
Register
Bildnachweis
Gopuram (Torturm), Kapalishvara-Tempel, Chennai, Tamil Nadu
Wer nach Indien kommt, den erwartet ein anstrengendes Reisen: die Menschenmassen in den Städten und auch in manchen ländlichen Gebieten, der ständige Lärm, oft Dreck und Unrat auf den Straßen, dazu nach wie vor erhebliche Probleme mit der Infrastruktur – dies alles und manches mehr macht Reisen in Indien nicht leicht. Umgekehrt aber wird solche Anstrengung belohnt durch eine unfassbare Fülle von teils sehr alter und bedeutender Kultur: Einem Weltkulturerbe folgt schon in unmittelbarer Nähe ein weiteres, überall im Land sind bunte Tempelanlagen, riesige Maharaja-Paläste, faszinierende Mausoleen, rätselhafte Badeghats mit ihren Treppen zum Wasser der heiligen Flüsse. Dazu kommt eine bunte Vielzahl von Menschen der verschiedenen indischen Bundesstaaten mit insgesamt über 1,4 Milliarden Menschen – Indien ist inzwischen der bevölkerungsreichste Staat der Welt noch vor China. Indien ist zudem ein Vielvölkerstaat mit über 22 offiziell anerkannten Hauptsprachen (dazu noch Englisch) und unzähligen Dialekten. Zudem werden diese Sprachen – und das macht alles noch komplizierter – in sehr unterschiedlichen Schriftsystemen geschrieben.
Auch im Bereich der Religionen ist Indien ein Land mit vielen Traditionen (vgl. Seite →.): In Indien sind Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und Sikhismus entstanden. Von Westen sind zudem die beiden Weltreligionen Islam und Christentum eingewandert. Zudem gibt es kleinere Religionsformen, etwa die der Parsen in Mumbai (Bombay) oder der indigenen Bevölkerung, der Adivasi. Die wenigen Juden (etwa in Kochi in Kerala) wanderten nach der Gründung des Staates Israel meist dorthin aus.
Für den Indienreisenden stehen in der Regel Hinduismus (ca. 80 % der Bevölkerung) und Islam (ca. 15 % der Bevölkerung) im Vordergrund, weil ihre Bauwerke und ihre Religionsausübung den Alltag Indiens prägen. Hinzu kommen in manchen Gebieten der Jainismus und der Sikhismus – etwa der Goldene Tempel der Sikhs in Amritsar (Bundesstaat Punjab) oder die beeindruckenden Bauten der Jains in Gujarat (Tempel auf dem Berg Palitana) und Rajasthan (die grandiose Tempelanlage von Ranakpur). Vor allem im hinduistischen Bereich sind die Pujas (»verehrende Rituale«) beeindruckend.
In diesem Band »Die Götter Indiens« beschränken wir uns allerdings auf die Religion des Hinduismus. Es geht um die »Götter Indiens«, wie sie in den unterschiedlichen hinduistischen Religions-formen aufscheinen, es geht um den »Alleinen in vielen Gesichtern« (vgl. Seite →.: Ein Dach über vielen Religionen). Wir beschränken uns dabei auch auf den heute in den Bundesstaaten Indiens gelebten und erfahrbaren Hinduismus. Andere hinduistische Regionen wie der Großteil von Nepal, Teile von Sri Lanka, das indonesische Bali, aber auch die indischen Viertel in Großstädten wie Singapore und Bangkok können hier nicht behandelt werden – wohl aber gibt es im Bildteil das ein oder andere Foto aus solchen außerindischen, aber hinduistisch geprägten Regionen.
Für den Indienreisenden ist es zugleich faszinierend und befremdend, die bunte Vielfalt der Tempel und der darin verehrten Götter wahrzunehmen. Diese bunte Vielfalt aber erschwert in erheblichem Maß einen Zugang zum Verständnis: Was fängt man mit einer solchen Fülle von Gottheiten an? Wie stehen sie zueinander in Beziehung? Wo gibt es gemeinsame Grundgedanken in allen Religionsformen des Hinduismus?
Gewiss, den ein oder anderen Gott wird man schon bald erkennen können: den Shiva-Lingam etwa oder die Göttin Durga auf ihrem charakteristischen Löwen und erst recht den elefantenköpfigen Gott Ganesha (Ganapati). Aber bei anderen Skulpturen und Bildern in den oft überreich geschmückten Tempeln fällt die Identifizierung schwer und benötigt viel Erfahrung. Auf einer ersten Indienreise ist dies nur anfanghaft zu schaffen, aber selbst der erfahrene Indien reisende kann immer wieder Neues, Erstaunliches und auch Befremdliches entdecken.
Hinzu kommt, dass es nicht allein ganz Indien übergreifende Traditionen gibt, etwa Avatara, die Erscheinungsformen des Gottes Vishnus, besonders die beiden großen Gestalten Rama und Krishna. Überall gibt es – auch zu den großen Göttern – regionale und lokale Traditionen, die ihre ganz eigenen Geschichten erzählen. Auch die Namensgebung wechselt von Bundesstaat zu Bundesstaat, teilweise sogar innerhalb einer Region. So kann Shivas und Parvatis sechsköpfiger Sohn Karttikeya, der Kriegsgott, im Bundesstaat Tamil Nadu auch Murugan heißen; dazu kommen in anderen Regionen Indiens weitere Namen wie Subrahmanya, Skanda, Kumara, Kataragama (dieser im Süden von Sri Lanka). Eine verwirrende Vielfalt regionaler und lokaler Mythen und Legenden zu den einzelnen Gottheiten schließt sich an, die das bunte Götterbild Indiens noch verwirrender machen. Diese Vielfalt von oft sehr speziellen Traditionen kann in diesem Band nur exemplarisch aufscheinen; zu jedem der großen Götter (etwa zu Shiva, zu Devi, der Göttin, zu Vishnu, zu Krishna und anderen) ließe sich ein eigenes Werk erstellen, die Fachliteratur bietet dafür genügend Beispiele.
Hier geht es aber um einen kompakten, verständlichen und informativen Überblick über die Götterwelt Indiens. Es geht um einen Zugang zu einer uns fremden Denkweise und um Hilfen, in der Vielfalt hinduistischer Traditionen das Eine und Verbindende zu entdecken – wiederum: »Der Alleine in vielen Gesichtern«. So mag sich für den Indienreisenden ein besseres Verständnis dessen ergeben, was er auf seiner Reise zu sehen und zu hören bekommt. Doch zugleich verstehen wir diesen Band als einen – bescheidenen – Beitrag zum Dialog der Religionen. Denn jeder interreligiöse Dialog, der angesichts der Globalisierung und heute vielfältigen Vernetzung unserer Welt dringender denn je ist, bedarf zuerst einmal der sachgemäßen und angemessenen Information über die andere Seite. Wer nur redet, ohne auf gründlichem Wissen aufzubauen, kann den Dialog nicht fruchtbar werden lassen.
Die vielfältige Götterwelt Indiens ist ein faszinierendes Mosaik von Vorstellungen und Traditionen innerhalb eines Gesamtkonzeptes lebendiger Religion. Lassen Sie sich ein auf eine Reise in die Götterwelt des Hinduismus.
Hermann-Josef Frisch
Gott in vielen Aspekten, Gopuram im Meenakshi-Tempel, Madurai, Tamil Nadu
Seit jeher fragen die Menschen nach dem Sinn des Lebens, Menschen suchen nach ihren Wurzeln. Doch dies ist ein langer und beschwerlicher Weg, »eine ungeheure Reise« (Franz Kafka). Die Sinnsuche führt viele Menschen zur Suche nach »Gott«, wie immer sie ihn auch benennen. Wenn sie nämlich das Tiefste in ihrem Leben suchen, das, was sie letztlich trägt und hält, gelangen sie zur Frage nach einem Unbedingten, Absoluten, Unendlichen, nach dem, was alles übersteigt, nach dem letzten Geheimnis des Lebens. Dies nennen sie Gott, die Götter, den Urgrund, Geist, Kraft, Brahman, Nirvana und mit vielen anderen Namen, die sich mit Erfahrungen der Menschen verbinden. Die Frage nach Gott bedeutet letztlich nichts anderes als: »Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?«
So kann Gott verstanden werden als persönliches Gegenüber, als jemand, der dem Menschen begegnet und ihn anspricht. Gott kann verstanden werden als geheimnisvolle Kraft, welche die Welt und menschliches Leben durchwirkt, die aber nicht näher zu bestimmen ist. Gott kann verstanden werden als guter Freund, auf den man sich in aller Not verlassen kann, oder als unerbittlicher Richter, vor dessen Strafe man Angst haben muss. Gott kann verstanden werden als Schöpfer des Anfangs, der den Prozess der Welt und des Lebens in Gang setzt. Gott kann verstanden werden als die Ordnung des Kosmos. Er kann gedeutet werden als das Göttliche, als die Summe geheimnisvoller Mächte, die auf je unterschiedliche Weise in das Leben der Menschen eingreifen. Das Wort »Gott« ist nicht eindeutig. Ihre Erfahrungen mit dem Göttlichen, mit Gott, den Göttern, dem Alleinen drücken Menschen in Sprachbildern aus, doch sind solche Bildworte nur Sprach- und Erfahrungssplitter. Gott, das Göttliche, der Urgrund selbst bleibt unfassbar und unsagbar. Menschen können sich ihm nur sehr bedingt nähern und ihre Erfahrungen austauschen. Die bunte Götterwelt Indiens, hinter der die Erfahrung des Alleinen steht, zeigt in vielfältigen Aspekten (die 33 Millionen Götter Indiens) vielfältige »Gesichter« des göttlichen Urgrunds auf. Doch Worte umfassen nie alles, Gott kann nur in der Tiefe erfahren werden.
Die Suche der Menschen nach dem transzendenten Urgrund, nach Gott, dem Göttlichen, dem Alleinen geschieht auf zweierlei Weisen:
Zum einen wird dieser Urgrund eher
personal
verstanden, Gott erhebt sich dann weit über den Menschen. Eine Begegnung kann dadurch erfolgen, dass Gott auf den Menschen zukommt: Offenbarung im Wort (heilige Schriften wie Bibel, Koran, Veden) oder in Personen (Propheten, Jesus …). Oder der Mensch versucht, durch Gebet, Opfer, Ritual und anderes mehr, sich dem Göttlichen zu nähern. Für beide Bemühungen, den Abstieg der Gottheit zu den Menschen oder den Aufstieg des Menschen hin zum Göttlichen, gibt es in vielen Religionen das Bild der
Leiter
– Bewegung herab oder hinauf.
Zum anderen wird der Urgrund des Lebens eher
transpersonal
verstanden, als Geist, Kraft, Leben, Ordnung des Kosmos … Hier ist für den Menschen der Weg in die Tiefe erforderlich, aus dem Äußeren des Lebens in den inneren Kern. Meditationswege haben dies zum Ziel und versuchen, stufenförmig einen Zugang zum Göttlichen zu finden. Hierzu gibt es auch in vielen Religionen das Bild des
Brunnens
– hinunter zur Quelle des Lebens.
Der Weg nach oben: Himmelsleiter (zu Genesis 28,10–17), Uhre Kidane, Tanasee, Äthiopien
Mit Indien und dem Hinduismus verbinden westliche Menschen eher den Weg in die Tiefe. Es wird noch deutlich werden, dass dies durch die Grundbegriffe indischer Religiosität durchaus stimmig ist: dem einen Göttlichen hinter oder besser dem Alleinen in allen verschiedenen Göttergestalten ist nur durch den Weg nach innen, in die Tiefe zu begegnen: Brunnen. Dennoch findet sich in der alltäglichen Ausübung der verschiedenen Religionsformen innerhalb des Hinduismus (vgl. ab Seite →) auch das Bemühen, die Transzendenz, den einen Gott, den man persönlich verehrt, oder auch die vielen Götter, die auf dem Lebensweg bedeutsam waren und sind, durch eigene Anstrengung zu erreichen: Leiter hinauf. Oder man vertraut darauf, dass sich das Göttliche in seinen vielfältigen Erscheinungsweisen dem Glaubenden und Vertrauenden zeigt, offenbart, begegnet: Leiter hinunter.
Der Weg in die Tiefe: Stufenbrunnen, Hampi, Karnataka,
Die Religionen der Welt sind wie Leitern, die Himmel und Erde, Oben und Unten, Gott und die Menschen verbinden. Religionen tragen Erfahrungen zusammen, die Menschen mit dem Göttlichen gemacht haben. Sie formen aus solchen Erfahrungen heilige Texte, Rituale, Symbole, Mythen und Bräuche und tradieren all dies an nachfolgende Generationen. Die Religionen der Welt sind ebenso wie Stufenbrunnen Wege in die Tiefe, die Mitte von allem, den Urgrund der Menschen und des Kosmos. Religionen bewahren und vermitteln ein Menschheitswissen von einem letzten Sinn, einem letzten Urgrund, von einem Absoluten, das menschliches Denken übersteigt, jedes menschliche Sprechen transzendiert und im Letzten nicht fassbar und aussprechbar ist. Religionen sind Berührungen des Diesseits mit dem Jenseits in beiden Richtungen. Den Religionen – und dies gilt in besonderer Weise für die Religionen Indiens – geht es um die Erfahrung der Einheit von Mensch, Welt und dem Göttlichen.
Was ist Religion? Der Mensch drängt mit seinem Suchen und Forschen nach Antworten auf die Grundfragen menschlichen Lebens hinaus in eine neue, ihn übersteigende und ungeahnte Dimension des Lebens. Er durchbricht die Schale des ihn Umgebenden, das er mit seinen Sinnen erfassen, mit naturwissenschaftlicher Forschung ergründen und mit seinem Verstand einordnen kann. Er sucht vielmehr darüber hinaus nach einem Tieferen, Größeren, ihn Übersteigenden, er versucht, sich am Urgrund von allem zu orientieren und sich in das Gesamt des Kosmos einzuordnen.
Das lateinische Wort religio bedeutet Zurückbindung, Anbindung, auch Hingabe an etwas Größeres oder einen Größeren, dazu auch sorgfältiges Beachten, Ehrfurcht vor etwas Größerem. Die Religionen sind also mit ihren verschiedenen Wegen unterschiedliche Formen einer Rückbindung des Menschen an eine höhere, absolute Macht, gleich wie sie konkret in den Religionen benannt wird, ob als Gott, das Göttliche, die Götter, die Geister, die Mächte.
Diese Bewegung einer Rückbindung und einer Beziehungsaufnahme von Diesseits und Jenseits, von Welt und den Kosmos übersteigender Transzendenz, kann nur durch eine bildhafte Sprache beschrieben werden. Dazu zwei Beispiele:
Die Religionen gleichen einem
Floß
, mit dem man von einem zum anderen Ufer übersetzt. Dieses Bildwort geht auf ein Gleichnis des Buddha zurück, das etwa wie folgt erzählt: »Ein Wanderer kommt zu einem Fluss. Das Ufer, auf dem er steht, ist voller Gefahren und Leid, voller Hunger, Krankheit und Tod. Das andere Ufer kann er nicht deutlich sehen; doch er weiß im Innersten, dass es dort sicher und schön ist, dass dort alles Leid ein Ende hat, umfassender Friede herrscht und alle Sehnsucht sich erfüllt. Der Wanderer denkt darüber nach, wie er an das andere Ufer kommen kann. Dann baut er sich aus Ästen, Zweigen und Schilfgras ein Floß und wagt sich in die reißenden Wasser des Flusses – immer das Ziel vor Augen, das andere Ufer.« Religionen sind solche Flöße, mit denen man an das andere Ufer gelangen kann.Mit einem solchen FLoß (oder auch Schiff) kann man eine neue Dimension gewinnen, es kann der nach Erleuchtung und Erlösung vom Leid suchende Mensch von diesem leiderfüllten Ufer an das andere, leidfreie übersetzen kann.
Religionen sind wie
Brücken
in eine andere, den Menschen übersteigende Welt. Sie führen den Menschen vom Ufer eines leiderfüllten und todbedrohten Lebens auf dieser Erde zum anderen Ufer einer nicht näher beschreibbaren Wirklichkeit, die von den Religionen unterschiedlich benannt wird: Reich Gottes, Paradies, Jenseits, Paradies,
moksha/mukti
(hinduistisch für Befreiung vom Leid und Erlösung),
nirvana
(buddhistisch für Verwehen, Erlöschen des Leides und des Todes),
schalom/salam
(semitisch für umfassender Friede und umfassendes Heil für alle), Harmonie von Himmel und Erde (daoistisch).
Solche und ähnliche Bildworte zeigen den Auftrag der Religionen und ihr letztes Ziel: Die Religionen propagieren ihren Mitgliedern die Verantwortung für diese Welt und ein friedliches und gerechtes Zusammenleben aller. Sie rufen zu Nächstenliebe, liebende Güte, metta (buddhistisch), Empathie auf. Doch das ist nur die eine Seite. Vor allem richten sie sich auf das Ziel aus, Menschen und Göttliches zu verbinden. Sie tun dies in vielen Gestalten und Ausdrucksformen, im bunten Reigen religiösen Tuns und religiöser Rituale, in der reichen Bilderwelt religiöser Sprache und Symbolik.
Floß auf dem Li-Fluss, Guilin, Guangxi, China
Die Suche nach Gott in den Religionen eröffnet dem Menschen eine völlig andere Perspektive, sie zeigt ihm ein Lebensziel, auf das hin er sich ausrichten kann. Es tut sich ein weiter Horizont auf, durch den der Mensch Orientierung inmitten einer nahezu unüberschaubaren Welt dadurch erhält, dass er einen festen Halt gewinnt – die Religionen ermuntern zum Vertrauen in das Leben und eine gelingende Zukunft. Sie drücken aus, dass das Leben gut ist, weil es einen letzten Sinn hat, weil Anfang und Ende in Gott, dem Göttlichen, dem Absoluten geborgen sind. Wer nach Gott fragt, erkennt, dass es im Leben Größeres gibt, als man verstehen kann, Tieferes, als man ahnen kann. Er erlebt das letzte und unbedingte Geheimnis unserer Existenz.
So unterschiedlich die äußeren Formen von Religion in den verschiedenen Kulturen, Völkern und religiösen Traditionen sind, so unterschiedlich sind auch die Erfahrungen, die Menschen mit dem Geheimnis ihres Lebens machen, und damit auch die Bilder, mit denen sie versuchen, ihre Erfahrungen wiederzugeben und in Worte zu fassen. Sie sprechen von Jahwe, Gott, Allah, Dao, Shiva, Krishna, Kali, Amida, Wakan Tanka (Großer Geist), geben dem Göttlichen viele Namen. Nicht nur im Götterpantheon der verschiedenen antiken Kulturen (etwa Ägypten, Mesopotamien, Griechenland, Mittelamerika …), sondern auch heute im hinduistischen, vajrayana-buddhistischen, daoistischen oder shintoistischen (Kami) Raum findet sich eine bunte Göttervielfalt, oft ohne Wertung nebeneinander gestellt – ein Markt von Göttern zur Auswahl, so scheint es (doch vgl. Seite →.)
Dahinter stehen sehr verschiedene Erfahrungen, die Menschen mit Gott, den Göttern, dem Göttlichen machen, und sehr unterschiedliche Sprechweisen, wie sie ihre Erfahrungen sprachlich, bildhaft, metaphorisch auszudrücken versuchen. Zwei Hauptlinien lassen sich wahrnehmen:
Der Glaube an einen personalen Gott:
Hier wird Gott als Person (die Götter als Personen) verstanden, zu dem man eine Beziehung aufnehmen kann, bzw. der selbst zu den Menschen eine Beziehung aufnimmt. Ihn kann man mit Du ansprechen, zu ihm beten in Lob und Klage, in Dank und Bitte. Oft wird ein solcher persönlicher Gott mit anthropomorphen (menschengestaltigen) Bildworten bezeichnet – dann ist er König oder Hirte, Herrscher oder Freund, Vater oder Mutter, Geliebter oder Tyrann. Dieser Gott wendet sich als strenger Richter oder schützender Helfer den Menschen zu. Er kann in Inkarnationen, Avatara, Manifestationen, Offenbarungen dem Menschen nahekommen und so die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits überwinden. Der Glaube an den persönlichen Gott gliedert sich in den Ein-Gott-Glauben (Monotheismus) und den Viel-Gott-Glauben (Polytheismus).
Der Glaube an das Göttliche als eine transpersonale Macht:
Das Göttliche wird als alles durchwebende Kraft und Energie verstanden, die jegliches Leben durchzieht, als ein göttlicher Urgrund, der alles trägt, als göttlicher Geist, der nicht fassbar oder benennbar ist, den man somit nicht im Gebet mit »Du« anreden kann, sondern dem man sich durch Meditation nähert: Dann erkennt man die grundsätzliche Einheit von allem – der eigenen Person, dem Selbst, dem Kosmos mit allem Leben und dem Göttlichen. Das Göttliche ist der Alleine, der Allganze, die alles beherrschende Kraft.
In den drei vorderorientalischen Religionen Judentum, Christentum und Islam herrscht der Glaube an einen einzigen und persönlich verstandenen Gott vor; die Vorstellungen von Gott als einer unpersönlichen Kraft, die der Urgrund von allem ist, findet sich auch, aber eher am Rande in Kabbala, Mystik, Sufismus. Im Hinduismus stehen die beiden Grundvorstellungen zu Gott nebeneinander: personales und transpersonales Gottesbild, dazu das personale aufgespalten in vielerlei Götter und Götterfamilien.
Der Hinduismus kennt:
ein
personales
Gottesbild, das sich in einen Ein-Gott-Glauben und in einen Viel-Gott-Glauben aufspaltet,
ein
transpersonales
Gottesbild, welches das Göttliche als unpersönlichen Urgrund von allem versteht.
Beter im Durga-Tempel, Varanasi, Uttar Pradesh
In diesem Band liegt das transpersonale Gottesbild weithin im Hintergrund (vgl. explizit Seite →.), in der Hauptsache geht es darum, die verschiedenen personalen Gottesvorstellungen der indischen Religionen in Bild und Text vorzustellen und anschaulich zu machen.
Der Hinduismus ist mit über einer Milliarde Anhängern nach Christentum und Islam die drittgrößte Religion. Seine Verbreitung erstreckt sich hauptsächlich über Indien und teilweise die Nachbarländer Indiens (Tamilen in Sri Lanka, 80 % in Nepal, zudem wenige Hindus in Bangladesh und Pakistan). In Südostasien und im südöstlichen Afrika gibt es Stadtviertel mit indischen Händlern. Auf der indonesischen Insel Bali existiert eine eigene Form des Hinduismus.
Die Namen Hinduismus, Hindus, aber auch Indien, Inder entspringen der Sicht der aus dem Westen kommenden muslimischen Eroberer, die damit Völker und Religionen jenseits des Flusses Indus bezeichneten. Als offizieller Name Indiens wird heute meist Bharat genannt. Dies stammt von der Sanskrit-Bezeichnung Bharata ab, die »(Land) des Bharata« bedeutet und auf einen mythischen Herrscher des Epos Mahabharata (vgl. Seite →.) verweist.
In Indien werden weit über 100 verschiedene Sprachen gesprochen, die vier verschiedenen Sprachfamilien angehören. Neben den beiden überregionalen Amtssprachen Hindi und Englisch erkennt die indische Verfassung 21 weitere Sprachen an. In letzter Zeit gab es Versuche, den Gebrauch des Sanskrit wiederzubeleben. Sanskrit ist die Heilige Sprache des Hinduismus, die in Indien einen ähnlichen Stellenwert besitzt wie das Lateinische in Europa. Doch wird Sanskrit heute nicht mehr als Erst- oder Muttersprache verwendet.
Die Religionen in Indien ergeben nach dem Zensus von 2011 folgendes Bild: Hinduismus 79,8 %; Islam 14,2 %; Christentum 2,3 %, Sikhismus 1,7 %; Buddhismus 0,7 %; Jainismus 0,4 %, andere 0,9 % (Parsen in Mumbai, 5000 Juden in Mumbai, Stammesreligionen in den östlichen Bundesstaaten). In diesem Band behandeln wir im Folgenden ausschließlich den Hinduismus, doch hier einige Hinweise zum nicht so bekannten Sikhismus und Jainismus:
Sikhismus: Die vor allem in Nordwest-Indien beheimateten Sikhs glauben an einen Gott, den sie Sat Guru nennen, »den wahren Lehrer« der Menschheit. Der Sikhismus geht auf Guru Nanak (1469–1539) zurück, der die religiöse Trennung in Hindus und Muslime überwinden und alle zur Verehrung des einen Gottes führen wollte. Für Sikhs ist Gott in jedem Menschen anwesend und erfüllt ihn mit Liebe und Hingabe. Neun weitere Gurus folgten auf Nanak; der zehnte ernannte keinen Nachfolger, sondern verfügte, dass allein die inzwischen aus vielen Hymnen gebildete Heilige Schrift der Sikhs, der Guru Granth Sahib, Maßstab des Sikhismus sein sollte. Sikh-Tempel werden als Gurdwaras bezeichnet – sie sind Orte des Gottesdienstes und Gemeindezentren der ca. 25 Millionen Sikhs.
Sikhs vor Goldenem Tempel in Amritsar, Punjab
Ein Thirtankara, Jain-Tempel in Jaisalmer, Rajasthan
Der Hinduismus zeigt sich nicht als eine einzige und einheitliche Religion, sondern (anders als bei christlichen oder muslimischen Konfessionen) als eine Vielzahl unterschiedlicher Religionen und Religionsformen, die mit dem Begriff Hinduismus dadurch verbunden werden, dass sie alle ihre geografische Heimat in Indien haben. Der Hinduismus ist deshalb eher als ein Dach zu verstehen, das sich über sehr unterschiedliche Religionen und Philosophien erstreckt:
primitive Rituale mit Tieropfern,
hochgeistige philosophische Lehren,