Gott neu lernen - Hermann-Josef Frisch - E-Book

Gott neu lernen E-Book

Hermann-Josef Frisch

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Beschreibung

Gott neu lernen Mein Weg mit den Religionen der Welt Im Welthaus der Religionen habe ich immer wieder das Zimmer meines Christentums verlassen und mich in den Zimmern anderer Religionen aufgehalten. Dabei konnte ich vielfältige Impulse aufnehmen und meinen persönlichen Glauben an Gott bereichern. Dieses Buch ist die Bilanz eines lebenslangen Lernprozesses mit je neuen und oft überraschenden Aspekten des Glaubens an Gott, den transzendenten Urgrund, den All-Einen mit seinen vielen »Gesichtern« und Erscheinungsformen. Diese gesammelten Erfahrungen sind nicht nur das Fazit meines Lebens, sondern auch eine Perspektive für die religiöse Situation unserer Zeit, nicht nur Rückblick also, sondern auch Ausblick und Anregung. Der Rundgang durch die verschiedenen Zimmer der großen Religionen mit ihrer Suche nach dem Absoluten bereichert zu einer weiteren Sicht.

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Man muss sich

auf das Fremde einlassen,

um sich selbst zu entdecken.

Navid Kermani

Inhalt

Vorwort

Das Auge Gottes – Kindheit: traditionelles Umfeld

Gott und Menschen – Jugend: die Welt entdecken

Alles ist anders – Studium: die Kritik der Theologie

Wo ist Gott? – Biafra: die Frage nach dem Leid

Mitten in der Gemeinde – Beruf: Vielfältige Gottesbilder

Der Weg in die Weite – Begegnung mit Hinduismus und Buddhismus

Gott ist barmherzig – Begegnung mit dem Islam und dem Koran

Der Gott der Liebe – Tibet: Bodhisattva des Mitleids

Das weibliche Gesicht Gottes – Guanyin und Devi: eine kritische Anfrage

Die Himmelsleiter – Daoismus: der Weg auf den Heiligen Berg

Die vielen Gesichter Gottes – Noch einmal Indien: 33 Millionen Götter

Das Nichthörbare hören – Die Trommeln des Shinto: der Weg der Schamanen

Das Nichtsagbare sagen – Das Gottesgeheimnis: unsagbar

Das Nichtdenkbare denken – Das Gottesmosaik: Gott hinter allen Religionen

Nachwort

Buchliste

Vorwort

»Gott neu lernen« – das ist die Bilanz eines lebenslangen Lernprozesses, der mir je neue, oft überraschende, immer aber bereichernde Aspekte eines Glaubens an Gott geoffenbart hat. »Gott neu lernen« – das ist nicht nur das Fazit eines über 70-Jährigen, sondern auch eine Perspektive für die religiöse Situation unserer Zeit, nicht nur Rückblick also, sondern auch Ausblick und Anregung.

Alle Religionen stellen sich – auf jeweils unterschiedliche Weise, aber doch durchaus vergleichbar – den wichtigen Fragen der Menschheit nach dem Woher, Wozu und Wohin: Woher kommen wir? Wozu leben wir? Wohin gehen wir? Diese Fragestellungen führen die Religionen der Welt in ihren jeweils eigenen Weisen zur entscheidendsten Frage – der nach einem letzten Sinn von allem, nach einem Urgrund, einem Fundament, das alles Leben, den ganzen Kosmos trägt, nach einem Absoluten, das über die konkrete Alltagserfahrung mit dieser Welt hinausgeht.

Die Religionen benennen dieses Absolute unterschiedlich als Gott, die Götter, das eine Göttliche, das Alleine und Allganze – doch die Namen sind zweitrangig. Schon Mahatma Gandhi (1869–1948) schrieb in der Zeitschrift »Young India« (1925): »Für mich ist Gott Wahrheit und Liebe ... die Quelle des Lichtes und des Lebens. Doch er ist über und hinter all diesem ... In der Tat denken wir alle das Undenkbare, beschreiben das Unbeschreibbare, suchen das Unbekannte ... Und deshalb nennen wir alle den einen Gott unterschiedlich als Shiva, Vishnu, Rama, Allah, Hormuzda, JHWH, Gott und noch mit einer unendlichen Vielzahl von Namen.«

Und der Dalai Lama drückt die gemeinsame Suche nach dem Absoluten wie folgt aus: »Das Herz aller Religionen ist eins. – Sie sind wie die Finger an einer Hand.«

Erfahrungen, die die unterschiedliche, doch auf das gleiche Ziel ausgerichtete Suche der Religionen nach dem Urgrund des Lebens wiedergeben, haben mich das ganze Leben hindurch begleitet. Sie haben meinem Lernprozess »Gott« jeweils neue Impulse gegeben, mich an die anderen Ufer zunächst fremder Denkweisen, Begriffe, Vorstellungen und Gottesbilder geführt und dadurch in einer für mich faszinierenden Weise meine eigene Sicht beeinflusst, ergänzt, erweitert und bereichert. Davon wird in diesem Buch berichtet.

Was können Menschen über Gott aussagen, woher nehmen sie ihre Vorstellungen vom Göttlichen, vom Urgrund des Kosmos, der auch das Fundament ihres eigenen Lebens ist? Drei Impulsgeber sind zu nennen:

Zum einen sind dies die Impulse der

Religionsstifter

, der prophetischen, charismatischen und lehrenden Persönlichkeiten, die – sofern man dies aus historischer Sicht überhaupt sagen kann – am Beginn einer neuen religiösen Tradition stehen. Es sind herausragende Gestalten wie der Buddha, wie Mose, wie Jesus, wie Mohammed, wie Laozi (sofern es diesen in der berichteten Form gegeben hat). Sie haben Impulse gegeben, die von ihrem Volk, ihrem Schülerkreis, ihrer Jüngerschaft aufgegriffen und – meist modifiziert – weitergegeben wurden. Sie stellen aber – auch unabhängig von der soziologischen Religionsform, die durch sie entstanden oder von ihnen herkünftig ist – gleichsam Leuchttürme der Menschheit dar. Der Hindu Mahatma Gandhi etwa war von der Person und der Botschaft des Juden Jesus fasziniert. Und all diese Gestalten stellen sich auf unterschiedliche Weise der Frage nach Gott, den Göttern, dem Alleinen. Von ihnen erhalten wir Impulse für unseren persönlichen Prozess »Gott neu lernen«.

Ein zweiter Impulsgeber sind die

Heiligen Schriften

der Religionen wie die Tora der Juden, die Bibel der Christen, der Koran der Muslime, die Bhagavadgita der Hindus, der Tripitaka der (Theravada-)Buddhisten. Diese Schriften fußen in der Regel auf den Erfahrungen, die die großen Religionsstifter mit dem Absoluten gemacht haben – einem Mohammed wird der Koran vom Boten Gottes Gabriel unmittelbar eingegeben, so glauben die Muslime. Aber auch die anderen Religionen haben ein Verständnis von in Heiligen Schriften niedergelegten Offenbarungen. Darin spiegeln sich sowohl die Gotteserfahrungen der Stifterpersönlichkeiten wie auch (etwa in den vielen Schriften der Bibel) die Erfahrungen einer nicht messbare Zahl von Menschen mit der göttlichen Kraft, die ihr Leben beeinflusst und prägt.

Dies führt unmittelbar zum dritten Impulsgeber für das jeweils neue »Lernen von Gott«. Was in den Heiligen Schriften aufgezeichnet ist, ist der

Erfahrungshorizont von Menschen

, die früher gelebt haben; in diesen Schriften spiegeln sich natürlich auch die kulturellen, geografischen und religiösen Lebensbedingungen dieser Menschen. Ebenso aber machen auch Menschen unserer Zeit, unserer Kulturen und Gesellschaften, unserer heutigen religiösen Situation in der Welt immer wieder neue Erfahrungen mit Gott, die nicht weniger authentisch sind als die der Menschen früherer Zeiten. Meist sind solche Erfahrungen nicht tiefer reflektiert, sondern ergeben in der langen Lebensgeschichte eines Menschen ein Konglomerat von Gedankensplittern. Oder anders ausgedrückt: Es ergeben sich Mosaiksteine eines je persönlichen Verständnisses von Gott, dem Göttlichen, dem tiefsten Sinn von allem. Manchmal allerdings – und das ist eigentliche Aufgabe der Theologen, Lehrer, Weisen und Gurus der Religionen – werden die heutigen Gotteserfahrungen kritisch-produktiv reflektiert und systematisiert, sodass nicht nur einzelne Mosaiksteine vorhanden sind, sondern sich ein Gesamtbild ergibt.

Genau dies möchte dieser Band auch erreichen. Allerdings steht bei ihm keine systematische Gotteslehre im Vordergrund, wie sie in theologischen Handbüchern zu finden ist. Hier ist der Ausgangspunkt jeweils ein Abschnitt meiner persönlichen Biografie; ich stelle mein eigenes, einmaliges und unverwechselbares Leben mit der Botschaft nicht nur des christlichen Glaubens, sondern mit den vielfältigen Botschaften der Weltreligionen in eine fruchtbare Korrelation und berichte davon. Denn ich habe immer wieder in Europa und vor allem auf meinen vielen Reisen nach Asien (dem Hotspot aller Religionen – alle heutigen Weltreligionen sind in Asien entstanden) erfahren, wie mich die Gotteserfahrungen anderer Menschen vorangebracht haben auf meiner eigenen, immer noch unvollkommenen Suche nach Gott.

Auch dies muss am Anfang gesagt werden: Wir Menschen bleiben Suchende, so viel wir auch immer gelernt haben und wissen mögen. Niemand hat endgültige Antworten, auch nicht die »Oberhäupter« einer konkreten Religion. Die Suche nach Gott, so sagte es Franz Kafka, ist »eine ungeheure Reise« – wir bleiben unterwegs. Wie Gott in sich ist, wissen wir mit unserem begrenzten Verstand nicht, wir können noch nicht einmal einen unwiderlegbaren Beweis seiner Existenz führen. Wohl können wir stammelnde und bruchstückhafte Erfahrungen sammeln, eigene wie fremde. Wir können und sollten uns über solche Erfahrungen mit dem Absoluten austauschen. Dieser Band ist ein Beitrag dazu aus meiner persönlichen Perspektive. Er ist ein Weg, »Gott neu zu lernen«, der von der christlichen Tradition ausgeht, aber darüber hinausschaut auf die anderen religiösen Traditionen, obwohl er weiterhin in der christlichen Tradition beheimatet ist. Christliche Theologie kann und darf heute nur im Blick auf die unterschiedlichen Erfahrungen und auf den Dia log der Religionen geschehen.

Der Theologe Paul Knitter spricht in diesem Zusammenhang vom »Welthaus« der Religionen, das aus den »Zimmern« der unterschiedlichen Religionen zusammengesetzt ist. Machen wir uns bei einem Rundgang durch die verschiedenen Zimmer der großen Religionen auf die Suche nach dem Absoluten, um dann nachdenklich und vielleicht bereichert in unser eigenes Zimmer zurückzukehren.

Hermann-Josef Frisch

Das Auge Gottes, Cao-Dai-Tempel, Tay Ninh, Vietnam

Das Auge Gottes –

Kindheit: traditionelles Umfeld

Im Jahr 1996 komme ich zum ersten Mal in die südvietnamesische Stadt Tay Ninh, nicht weit von der vietnamesisch-kambodschanischen Grenze entfernt. Es ist eine Tagesfahrt von Ho-Chi-Minh-Stadt aus, der früher Saigon genannten Metropole. Mein Ziel ist der Tempel der Cao-Dai-Religion, genauer der »Heilige Stuhl« dieser noch nicht einmal hundert Jahre alten Mischreligion. Dort möchte ich an der gottesdienstlichen Zeremonie um 12 Uhr teilnehmen und im Zentrum dieser Religion mein Wissen über die Cao Dai vertiefen, deren Tempel ich bereits vorab an einigen anderen Orten besucht habe.

Die Cao-Dai-Religion wurde 1927 vom Vietnamesen Le Van Trung in Tay Ninh gegründet. Le Van Trung benennt den obersten Gott und Erlöser der Menschen mit dem Namen Cao Dai (vietnamesisch »Hoher Altar«). Trung will aus Elementen des jüdischchristlichen Glaubens (ihm über die damalige Kolonial macht Frankreich vermittelt) und den älteren örtlichen Traditionen des Mahayana-Buddhismus, Konfuzianismus, Daoismus eine neue – alle bisherigen religiösen Erfahrungen integrierende – Religion schaffen: »die Lehre des Mose ist die Knospe, die Lehre Christi die Blüte, die Lehre des Cao Dai die Frucht«. Und so wird Jesus ebenso von den Cai Dai verehrt wie Buddha, Laozi und Kongzi (Konfuzius), zudem historische Gestalten aus allen Kulturen: der französische Dichter Victor Hugo und der vietnamesische Philosoph Nguyen Binh Khiem, die französische Jeanne d’Arc und Winston Churchill, Louis Pasteur und Wladimir Lenin – eine eigenartige und zuerst einmal befremdliche, wenn nicht sogar skurrile Mischung.

Ich sitze auf der seitlichen Empore des lang gezogenen Kirchenschiffes und verfolge das einstündige Mittagsritual mit Rezitationen, gesungenen Gebeten, Verehrung mit Weihrauch – eine intensive Gebetsatmosphäre ohne jede Störung von außen. Das Kirchenschiff, auf dessen Boden sich Gläubige und Würdenträger an genau festgelegten Stellen zum gemeinsamen Gebet niedergelassen haben, steigt in neun Stufen leicht zum Altarraum hin an – die neun Stufen des Erlösungsweges hin zur himmlischen Herrlichkeit sind hier symbolisch wiedergegeben. Vorn im Altarraum sind ein achteckiger Altar, dazu prachtvoll geschnitzte Stühle für die höchsten Repräsentanten dieser Religion. Die leuchtend bunten und mit kosmischen Drachen geschmückten Säulen, die Fahnen und Standarten, die Kerzenständer und Blumengebinde – alles in einer barocken Pracht und Farbenvielfalt – verdecken fast das Eigentliche, das Zentrum dieses Raumes, die – symbolisch – innerste Mitte von Kirchenraum, Gottesdienst und Glauben der Cao Dai: eine gewaltige grüne »Weltkugel«, auf der eine zentrale Ellipse ein schwarzes Auge auf rosafarbener Haut zeigt.

Dieses Auge war mir bereits außen am Eingang der Cao-Dai-Kirche über dem Portal aufgefallen; auch war es auf den vielen Fahnen zu sehen, die rund um das riesige Gotteshaus aufgestellt sind. Von diesem Auge gehen leuchtende Strahlen in alle Richtungen. Was ist mit diesem Auge?

Das »Alles-sehende-Auge« der Cao Dai steht für Gott selbst (den »Hohen Altar«), der von den Menschen zu verehren ist. Es steht für einen Gott, der unmittelbar mit der Welt zu tun hat, der nicht fern von ihr ist, sondern der über allem steht und alles sieht. Er ist der Allgegenwärtige, der Allsehende, der Allmächtige, der den Menschen überwacht, prüft und beurteilt.

Das »Auge Gottes« im Cao Dai weckt in mir Kindheitserinnerungen. Da gab es immer wieder Sprüche wie: »Der liebe Gott sieht alles.« Und ein wenig rätselhafter, aber für ein Kind deshalb umso bedrohlicher war der bekannte Reim:

»Ein Auge ist᾽s, das alles sieht,

auch wenn᾽s in dunkler Nacht geschieht.«

In meiner eigenen Familie wurde zum Glück zwar selten so geredet, aber im Gesamtumfeld von Verwandtschaft, Nachbarschaft, Kindergarten und Grundschule (damals Volksschule), zudem auch im kirchlichen Bereich tauchten solche Gedanken häufig auf. Dies entsprach der damals üblichen Kindererziehung, die nicht nur auf Zuwendung, sondern auch auf Disziplinierung setzte und zwischen diesen beiden Polen auch die Drohung mit dem allmächtigen Auge manipulativ einsetzte.

Denn aus der Sicht von Kindern – so habe ich es damals auch empfunden – war dies schon eine Drohung. Wenn das »göttliche Auge« alles sieht, selbst das, was im Verborgenen geschieht, wenn es demnach keinerlei Geheimnis mehr geben kann, wenn somit auch kindliches Fehlverhalten sofort und überall (auch dort, wo Eltern und andere Erzieher nicht anwesend sind) wahrgenommen wird, dann ist dies eine Bedrohung durch den »big brother« im Himmel, durch einen Voyeur-Gott, der kleinlich alles Geschehene bemerkt, sogar das nur Gedachte.

Zu dieser Vorstellung kam eine weitere: Dieser alles sehende Gott im Himmel vergaß nichts. Denn alles wurde von ihm oder von einem seiner Mitstreiter, etwa dem Erzengel Michael, in einem Buch notiert und für ewig festgehalten. Nach dem Tod, so die oft angedeutete, selten explizit ausgesprochene Drohung würde dieses Buch dann die Grundlage für Gottes allmächtige und nicht zu hinterfragende Entscheidung sein, den Täter in den Himmel zu lassen oder ins ewige Feuer der Hölle zu verdammen – eine Entscheidung also über Heil oder Unheil, über Leben oder Tod. Das Buch, das der Nikolaus aus seinem Sack zog und aus dem er damals meist das Fehlverhalten eines Kindes öffentlich bekannt machte, war gleichsam ein Vorgeschmack auf kommende »Herrlichkeit« und kommendes Urteil und Unheil.

Wenn alles so vom alles sehenden Auge wahrgenommen und dann auch präzise in das alles umfassende Buch aufgeschrieben wird, dann gibt es letztlich kein Entrinnen. Zwar wurde ab dem Kommunionkurs im dritten Schuljahr die regelmäßige Beichte als Heilmittel gegen das drohende Urteil im Jenseits propagiert, aber sicher konnte man sich dabei nicht fühlen. Denn – was war, wenn man auch nur eine Sünde beim Beichten vergessen hatte oder nicht aufrichtig bereut oder die auferlegte Buße nicht sorgfältig verrichtet hatte? Dann war doch alles vergebens und die Verdammung und das Feuer der Hölle drohten.

Das »Allsehende Auge« Gottes war unheimlich, es schuf eine große Unsicherheit; es wurde aber von den Erziehern, gleich ob von Eltern, Lehrern und Kindergärtnerinnen oder auch den Geistlichen, häufig als Erziehungsmittel eingesetzt, besser gesagt als Druckmittel. Gott als Disziplinierungsinstanz – welches Gottesbild musste dadurch wachsen. Ein Gott, der kleinlich auf die Menschen sieht, dessen Hauptaufgabe zu sein scheint, die Gedanken und das Handeln der Menschen zu überwachen und anschließend zu beurteilen. Ein Gott, der als Bedrohung wahrgenommen werden musste, dessen Liebe und Erbarmen nicht im Vordergrund stehen, sondern dessen Strenge und Gericht. Ein Gott, der ihm Nichtgefallendes auch im Dunkeln wahrnimmt, der ins Herz und unter die Bettdecke schauen kann, der einen wie ein Schatten begleitet.

In diesen Zusammenhang passte auch die von vielen Predigern häufig ausgesprochene Mahnung und Drohung mit den Qualen im Jenseits, wenn man nicht den Geboten Gottes und zudem den Geboten der Kirche entspricht. Es gab natürlich auch andere Verkündiger, die wie Jesus von Gott als gutem und liebevollen Vater sprachen; aber meist war die Frohbotschaft des Evangeliums Jesu Christi gewandelt in eine Drohbotschaft, die Angst und Schrecken verbreitete und auch verbreiten sollte. Denn natürlich – dies muss man ganz realistisch sehen – ging es bei all dem auch (oder sogar vorrangig?) um die Macht der Kirche und ihrer Amtsträger, die gleichsam als Stellvertreter Gottes auf Erden erschienen und durch ihr Wissen aus der Beichte ja fast ebenso allwissend wie Gott selber waren, klerikal-schwarz gekleidete, manchmal unnahbare Autoritäten, die man ehrfurchtsvoll (oder furchtvoll) grüßte, zu denen man aber nur in Ausnahmefällen ein vertrauensvolles Verhältnis aufbaute.

Das Wissen über das Tun und Lassen eines Menschen und eine Beurteilung darüber in der Beichte war eine wichtige Grundlage kirchlicher Bedeutung in einer damals geschlossen christentümlichen Gesellschaft. Zwar waren in meiner Heimatstadt Solingen zwei Drittel der Einwohner evangelisch, nur ein Drittel katholisch, Konfessionslose oder Zeugen Jehovas gab es fast gar nicht (sie wurden, wo sie vereinzelt auftraten, eher als exotische Gestalten bestaunt als abgelehnt). Muslime waren damals erst recht nicht sichtbar. Die katholischen Gemeinden der Stadt waren relativ geschlossene Gemeinschaften, man schickte seine Kinder natürlich in den katholischen Kindergarten (ich war eine Ausnahme, weil ich in den nahegelegenen evangelischen Kindergarten gehen durfte, ein katholischer war zu weit weg) und dann auch in die katholische Grundschule, wo immer das möglich war. Erst auf den weiterführenden Schulen kam es so zur Begegnung mit Jungen anderer Konfession (die Mädchen hatten ein eigenes Gymnasium, Koedukation gab es nur auf den als »minderwertig« angesehenen Volksschulen). Doch auch in den Gymnasialklassen war zumindest in den Anfangsjahren das Bewusstsein der wenigen katholischen Schüler so, dass sie eine eigene Gruppe innerhalb der Klasse bildeten. Dieses Bewusstsein wurde durch den geistlichen Studienrat, der den Religionsunterricht erteilte, in hohem Maß bestärkt: »Wir Katholiken sind die eigentliche Kirche, die richtigen Christen, und müssen deshalb zusammenhalten. Und katholische Jungen an diesem Gymnasium sind deshalb auch selbstverständlich Mitglieder des nach dem ersten Weltkrieg gegründeten katholischen Jugendbundes »Neudeutschland«.

Diese Gruppe Neudeutschland hatte – nicht weit vom Gymnasium entfernt – einen eigenen Raum in einem städtischen »Haus der Jugend«, doch an den anderen Angeboten dieser säkularen Jugendeinrichtung nahmen wir nicht teil. Wir hatten unser eigenes, von anderen abgeschirmtes Programm – Verbändekatholizismus in reiner Form. Auch zu Christen anderer Konfession hielt man Abstand, sie mussten ja erst zur katholischen Kirche zurückkehren, um von Gott gerettet zu werden. Und so sang man damals bei der Stadtprozession am Fronleichnamstag genau dann, wenn man an der evangelischen Stadtkirche vorbeizog, mit Inbrunst: »Wir sind im wahren Christentum, o Gott, wir danken dir!«

Eine Ausnahme dieser konfessionellen Trennung und Abgrenzung bildete mein Heimatpfarrer, ein überaus gütiger und pastoraler Mensch, dem auch die volksreligiöse Disziplinierung mit dem alles sehenden Auge Gottes zuwider war. Er war – seiner Zeit weit voraus – ökumenisch aufgeschlossen und traf sich mit seinem nahebei wohnenden evangelischen Kollegen häufig zu Gespräch und Kartenspiel. Dieser Pfarrer, Peter Rademacher (1913–1975), Neffe des bedeutenden Bonner Priesters und Fundamentaltheologen Arnold Rademacher (1873–1939, auch Rektor der Bonner Universität) war von einer herzlichen Menschlichkeit. Von manchen seiner Kollegen wurde er nicht ernst genommen, mit den Ellenbogen setzte er sich nicht durch. Auch war die kleine Engelbert-Gemeinde, die er leitete und zu der ich gehörte, ohne Bedeutung im Gefüge der Stadtpfarreien.

Doch ich habe durch ihn einen Zugang zu christlichem Glauben gefunden, der sich ein gutes Stück von dem absetzte, das andere Propagandisten christlichen Glaubens in unserer Stadt verkündeten. In kindlichem Verständnis nämlich musste ja der unsichtbare Gott so sein wie seine sichtbaren Vertreter auf Erden. Waren diese streng, scharf urteilend, alles überwachend wie später mein geistlicher Studienrat am Gymnasium, so musste auch Gott diese Charakterzüge haben. Wenn diese kirchlichen Vertreter nichts großzügig durchgehen ließen, sondern jedes reale oder auch nur angebliche Fehlverhalten sanktionierten, dann war das doch nichts anderes als der deutliche Hinweis darauf, dass der von ihnen verkündete Gott in gleicher Weise handeln muss. Gott also nicht menschenfreundlich, nicht von Großmut und Vergebung bestimmt, sondern streng und strafend – eine Quelle der Angst und Bedrohung.

Ein Gott also, der alle Fäden in der Hand hält und mit dem man sich gut stellen muss – bereits aus Selbstschutz und mit Berechnung, um spätere Strafen zu vermeiden. Im Psalm 7,12 heißt es: »Gott ist ein gerechter Richter, ein Gott, der täglich strafen kann.« Beim Bundesschluss am Sinai (Exodus 34,7) wird Gott als der jenige beschrieben, der »Tausenden Huld bewahrt, den Sünder aber nicht ungestraft lässt«. Und wer kann schon von sich behaupten, dass er nicht in irgendeiner Weise das Gebot Gottes übertritt und sündigt, damit aber der »gerechten« Strafe Gottes unterliegt.

»Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort!« – das war die gängige Redeweise, die man im damaligen Alltag häufig hörte. Und anders als heute, wo sie eher spöttisch anlässlich einer Ungeschicklichkeit ausgesprochen wird, war sie damals durchaus ernst gemeint: Jedes Fehlverhalten wird von Gott gesehen, beurteilt und sanktioniert. Damit nicht zu viel aufläuft – im Sinne also einer göttlichen Effizienz, vielleicht auch Mahnung – richtet Gott über kleinere Vergehen sofort und lässt den Menschen durch Schmerzen, Verlusterfahrung und anderes Leid seine Macht spüren. Gott also als einer, der dem Menschen durchaus Leidvolles zufügen kann – so wie er es als zynisches Spiel beim biblischen Ijob durch seine Wette mit dem Teufel tut. Ein solcher Gott ist keiner, dem man mit Liebe begegnet, sondern einer, vor dem man sich aus Angst vor Strafe duckt und klein macht. Und natürlich macht man sich damit auch klein vor den Vertretern dieses Gottes auf Erden, den Priestern und den höheren Chargen in der Kirche. Um diesen Gott zufrieden zu stellen und damit – was nicht die kleinen, sondern die großen Sünden angeht – einer bedrohlichen ewigen Verdammnis zu entgehen, ist es dann natürlich auch unbedingt und ohne Ausnahme verpflichtend, den Geboten Gottes und der Kirche nachzukommen, das tägliche Gebet zu verrichten, am sonntäglichen Gottesdienst teilzunehmen, möglichst immer »brav« zu sein, was damals hieß, den Erwartungen und Anforderungen der Erwachsenen in der eigenen Familie und darüber hinaus zu entsprechen. Ein Leben als also »Kind Gottes«, nicht des Teufels.

Ein Leben durchaus auch eingebettet in eine klar vorgebene Ordnung, aus der man nicht ausbrechen kann oder zumindest dann nicht, wenn man schwere Sanktionen relevanter Menschen des eigenen Umfelds vermeiden möchte. Hier spielten dann auch Religion und Kirche mit Gesellschaft, Politik, Erziehung und Bildung zusammen. Eine Gesellschaft, allgemein wie kirchlich, die von einer klaren Hierarchie und nicht hinterfragbaren Autoritäten bestimmt war. Oberste Autorität war für Katholiken natürlich der Papst in Rom (nicht der janusköpfige, doppelgesichtige Gott mit Vaterliebe und Gerichtsstrenge und auch nicht der ebenso ferne Christus als Weltenrichter über den Wolken). Papst Pius XII. (1876–1958), mit vergeistigtem Blick ins Jenseits und auf dem würdevollen Thronsessel der Sedia gestatoria in den Petersdom getragen – wer wollte an dieser schon fast göttlichen Gestalt und seiner Autorität zweifeln, den Stellvertreter nicht des Petrus, sondern sogar Christi? In Köln hatten wir zu dieser Zeit mit Joseph Frings (1987–1978, Erzbischof von Köln von 1942–1969) zwar einen durchaus mit Humor und Bauernschläue begabten Oberhirten (über oder unter dem Hirten Jesus?), der aber die kirchliche Autorität in traditionellem Stil hoch hielt und als Kirchenfürst von großer Bedeutung angesehen wurde. Erst später, im Zweiten Vatikanischen Konzil, wuchs er über diese traditionelle Rolle hinaus und wagte es, sich vehement gegen die Römische Kurie zu stellen und auf einen Neuaufbruch der Kirche zu pochen – dazu später mehr.

Klare kirchliche Verhältnisse, eine damals noch ungebrochene Volksfrömmigkeit und dies in Übereinstimmung mit einem Gottesbild, das selbst im Neuen Testament, sogar bei Paulus (!), beschrieben werden kann: »Lasst Raum für den Zorn Gottes, denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr« (Römerbrief 12,19, eine Anspielung auf Deuteronomium 21,35.41, aber auch auf andere Stellen der Hebräischen Bibel). Den Zorn Gottes vermeiden, in allem und jedem nach dem Willen Gottes leben, das war das Glaubensprogramm, das vermittelt wurde – denn »das Auge Gottes sieht alles, überall und jederzeit.«

Dabei ist das Bild des Auge Gottes keineswegs auf das Christentum beschränkt, auch andere Religionen kennen eine solche Deutung der Beziehung von Gott und Mensch. Die Cao Dai sind dabei nur ein erstes Beispiel.