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Systemische Ansätze eröffnen für die Heilpädagogik eine neue Sicht auf die Praxis. Schließlich verlagern systemische Ansätze die Perspektive weg vom "Defizit" des Individuums hin auf das Wechselspiel sozialer und kommunikativer Interaktion in Familie, KiTa, Schule und Arbeit. Das Buch legt die Schnittstellen heilpädagogischen und systemischen Denkens und Handelns offen. Dabei klärt es über die theoretischen Grundlagen und die Methodenvielfalt auf und macht deutlich, wie sich das gesamte Handlungsfeld Heilpädagogik unter systemischer Perspektive erweitert. Auf diese Weise werden systemische Ansätze als konkretes Werkzeug für die Praxis nutzbar gemacht.
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Seitenzahl: 290
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Die Autorin
Prof. Dr. Heidrun Kiessl, Juristin und Dipl. Heilpädagogin FH, ist zertifizierte systemische Therapeutin und Beraterin (SG). Seit 2011 ist sie Professorin für Heilpädagogik und Beratung an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld unter anderem mit den Schwerpunkten Methoden, internationale Konzepte der Heilpädagogik und Systemische Beratung. Sie forscht zur Lebensqualität in Familien mit einem lebensverkürzend erkrankten Kind. Zuvor arbeitete sie unter anderem mehrere Jahre als Heilpädagogin im heilpädagogischen Fachdienst einer Psychosomatischen Fachklinik für Familienrehabilitation, als wissenschaftliche Referentin im Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht und Kriminologie sowie in verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe.
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1. Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033064-1
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033065-8
epub: ISBN 978-3-17-033066-5
mobi: ISBN 978-3-17-033067-2
1 Einleitung
1.1 Die Entstehungsphase Systemischer Ansätze und Begriffsklärungen
1.2 Systemische Therapie und Systemische Beratung
1.3 Zielsetzung des Buches
1.4 Systemische Ansätze in den Heilpädagogik – Ausgangsüberlegungen
1.4.1 Systemisches Denken und Handeln in der Heilpädagogik
1.4.2 Systemische Ansätze in ihrer Anwendung in der Heilpädagogik
1.5 Die Motivation für dieses Buch
1.6 Gliederung
2 Theoriebasierte Reflektion Systemischer Ansätze zur Orientierung im heilpädagogischen Handeln
2.1 Verschiedene systemtheoretische Konzepte der interdisziplinären Systemtheorie
2.2 Die Kybernetik erster und zweiter Ordnung
2.3 Das Prinzip der Autopoiese lebender, psychischer und sozialer Systeme
2.4 Konstruktivismus: Die Konstruktion menschlicher Erfahrungs- und Wirklichkeitsräume
2.4.1 Radikaler Konstruktivismus
2.4.2 Sozialer Konstruktionismus
2.4.3 Soziologische Systemtheorie nach Niklas Luhmann
2.4.4 Synergetische Systemtheorie
2.5 Zusammenfassung
3 Heilpädagogik im Umgang mit Beeinträchtigung: Die Betrachtung von Problemen unter systemischer Perspektive
3.1 Systemischer Umgang mit Problem und die Schnittstelle zur Heilpädagogik
3.2 Zusammenfassung
4 Schnittstellen heilpädagogischer und systemischer Haltungen
4.1 Heilpädagogisch-systemische Haltungen in der Praxis
4.2 Schnittstellen zwischen Heilpädagogischer Haltung und systemischen Haltungen
4.3 Die Basis systemisch-heilpädagogischer Gesprächsführung und entsprechender Haltungen
4.3.1 Aktives Zuhören, Gewahr Sein, Nachfragen und alle im Blick haben
4.3.2 Fragen Stellen und Neutralität
4.3.3 Neutralität als Haltung und ihre Nutzbarkeit in der Heilpädagogik
4.3.4 Feinfühligkeit
4.3.5 Mentalisieren
4.4 Zusammenfassung
5 Methodenschätze Systemischer Ansätze
5.1 Der Anfang der Beratung
5.1.1 Das Joining
5.1.2 Die Klärung des Kontexts: der Überweisungskontext
5.1.3 Vom Anlass über das Anliegen zum Contracting (Auftragsklärung)
5.2 Prozessorientierung
5.3 Die Magie der Fragen und das systemische Interview
5.3.1 Systemisches Interview und entsprechende Frageformen
5.3.2 Zusammenfassung
5.4 Hypothesen und Hypothetisieren
5.4.1 Hypothetisieren im Beratungsprozess
5.4.2 Intervention
5.4.3 Kritik am Hypothetisieren
5.4.4 Abschließende Empfehlung
5.5 Lösungsfokussierung und Lösungsorientierung
5.5.1 Entstehung der lösungsfokussierten Kurztherapie
5.5.2 Grundlagen der Lösungsfokussierung
5.5.3 Lösungsfokussierte Sprache
5.5.4 Forschung zu Wirksamkeit und Grenzen der SFBT
5.5.5 Lösungsfokussierung und Heilpädagogik
5.6 Ressourcenorientierung
5.7 Geschichten erzählen
5.8 Das Reflecting Team (dt. Reflektierendes Team): Der Vielstimmigkeit einen Ausdruck geben
5.8.1 Entstehung und Umsetzung
5.8.2 Reichweite und Einsatzmöglichkeiten
5.8.3 Offener Dialog und Multilog
5.8.4 Kompetenzen der Unterstützter – Reflecting Team und Mehr
5.9 Genogramm-, Biografie- und Rekonstruktionsarbeit
5.9.1 Genese der Genogramm- und Beziehungsstrukturarbeit
5.9.2 Das Genogramm als grafische Darstellung der Familie
5.9.3 Grundüberlegungen zur Genogrammarbeit
5.9.4 Der Einsatz der Genogrammarbeit
5.10 Systemökologischer Ansatz
5.10.1 Systemökologischer Ansatz in der Heilpädagogik
5.10.2 Der Familienrat
5.10.3 Ökosystemische Therapien
5.10.4 Systemökologischer Ansatz in Bezug zur heilpädagogischen Praxis
5.10.5 Die Heilpädagogin als Netzwerkerin
5.11 Systemisch-gestalterische Methoden (Skulpturen, Malen, Inszenieren)
5.11.1 Relevanz analoger und non-verbaler Methoden und kreative Mittler
5.11.2 Prozessorientierung und der Einsatz gestalterischer Methoden
5.11.3 Abschließende Empfehlung
5.12 Weitere systemische Interventionen
5.12.1 Der Schlüssel zur richtigen Intervention
5.12.2 Das gute Ende finden: Beendigung, Abschlüsse, Abschied in Beratung oder Begleitung
5.12.3 Wirksamkeit Systemischer Ansätze
6 Transfer Systemischer Ansätze in der Heilpädagogik
6.1 Systemische Ansätze als Bereicherung in allen Feldern heilpädagogischen Handelns
6.2 Grundlagen der Systemischen Heilpädagogik
6.2.1 Grenzen der Systemischen Ansätze in der Heilpädagogik
6.2.2 Sprachliche und kognitive Ressourcen
6.2.3 Profession, Kompetenzen, Passungen
7 Fazit und Ausblick
Literatur
Abbildungsverzeichnis
In diesem Kapitel werden die Entstehungsphasen Systemischer Ansätze und der Bezug zu systemischem Denken und Handeln in der Heilpädagogik beschrieben. Dabei werden grundlegende Begriffe geklärt und ein kurzer historischer Überblick gegeben. Die Zielsetzung dieses Buches, die Motivation der Autorin sowie der ›rote Faden‹ in Form einer abschließenden Gliederungsübersicht wird vorgestellt.
Der Systemische Ansatz ist einer der am weitesten verbreiteten Therapie- und Beratungsansätze, der Einzug in vielfältige Arbeitsfelder gefunden hat wie unter anderem in Beratung, Therapie, Supervision, Organisationsentwicklung, Pädagogik oder Pflege. Dahinter steht insbesondere eine bestimmte Art, die Wirklichkeit zu sehen und daraus Herangehensweisen für Beratung oder Therapie abzuleiten, um Kommunikation zu ermöglichen und Lösungsprozesse aus der Selbstorganisation heraus für manifeste Probleme anzustoßen (vgl. Systemische Gesellschaft 2016).
Historisch entstand die systemische »Familientherapie« in der 40er Jahren des 20. Jahrhunderts aus den Bedarfen und Bedürfnissen, die damals psychoanalytisch geprägte und als begrenzt erlebte Psychotherapie aus der Praxis heraus – zunächst ohne Theoriefundierung – zu erweitern (Kriz 2009), die Familie in die Therapie einzubeziehen, um Unsicherheiten zu reduzieren, Kooperation zu erreichen und Veränderungen nachhaltiger zu ermöglichen. Die ursprünglichen Ansätze der Familientherapie – zunächst bezogen auf das spezielle Setting der Beteiligung der Familie im Unterschied zur Einzeltherapie – waren pragmatisch angelegt mit dem Fokus auf praxistaugliche Konzepte und der Entwicklung von Methoden und Techniken.
In Abbildung 1 werden zur Hinführung zwei der Ansätze der frühen Familientherapie beschrieben, auf die im Folgenden an verschiedenen Stellen Bezug genommen wird (Abb. 1).
Methoden beziehen sich im Folgenden auf die Art und Weise des Vorgehens und sind immer bezogen auf ein Regelsystem aufbauendes Verfahren, das zur Erlangung von Erkenntnissen oder praktischen Ergebnissen dient (Duden 2018). Die Gründerväter und Gründermütter der heutigen Systemtherapie hinterließen ein reichhaltiges
Abb. 1: Frühe Ansätze (1970 +), eigene Darstellung
und noch immer aktuelles Erbe an methodischen Schätzen, auf die insbesondere in Kapitel 5 ausführlich Bezug genommen werden wird. Folgende Übersicht dient der ersten Orientierung der ersten Ansätze der systemischen Familientherapie (Abb. 2) unter Bezugnahme auf die Kybernetik erster Ordnung (ausführlich Kap. 2).
Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wandelte sich die Familientherapie begrifflich und inhaltlich hin zur Systemischen Therapie unabhängig vom Setting Familie. So konnte sie zunehmend in unterschiedlichen Systemen, Subsystemen oder Settings mit einer maßgeblich systemischen Herangehensweise, Haltung und Methodik der Therapeutin bezogen auf das zu unterstützende (Klienten-)System und auf die Umwelt eingesetzt werden (Abb. 3). Diese Ansätze beziehen sich in ihrer theoretischen Verortung auf die Kybernetik zweiter Ordnung (ausführlich Kap. 2).
Nach Molter (2016, 23) ist Systemische Therapie »ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt. Dabei werden zusätzlich zu einer Indexperson (identifizierte Person mit ›Diagnose‹ oder Problem) weitere Mitglieder des für den Patienten bedeutsamen sozialen Systems einbezogen«. Im Unterschied zu den traditionellen Schwerpunkten der Familientherapie mit dem Fokus auf der innerfamiliären Interaktion und Beziehungsqualität erschließen sich in der systemischen Therapie darüber hinaus Kontexte wie Gemeinschaft, Gesellschaft, sozio-ökonomischer und kultureller Hintergrund.
Abb. 2: Methodenschätze ausgewählter Systemischer Ansätze (Kybernetik I) (1970 +), eigene Darstellung
Abb. 3: Methodenschätze ausgewählter Systemischer Ansätze (Kybernetik II) (1980 +), eigene Darstellung
Mittels einer Kontextualisierung wird beleuchtet, welche Auswirkungen die nun »weiter gefassten Systeme und der soziale Kontext« auf das Leben der Menschen haben. Einbezogen werden angrenzende Systeme und ihre Ressourcen. Es interessiert die System-Umwelt-Beziehung (Molter 2016, 22). Folgende Abbildung beschreibt exemplarisch aktuellere Weiterentwicklungen Systemischer Ansätze (Abb. 4), auf die in diesem Buch an anderer Stelle noch ausführlicher Bezug genommen wird (Kap. 5).
Abb. 4: Neuere Entwicklungen (1990 +), eigene Darstellung
Systemische Therapie ist Systemische Beratung im besonderen Kontext, nämlich ein Heilverfahren im Gesundheitswesen und in der Psychotherapie. Sobald über diesen Kontext hinaus einzelne oder mehreren Menschen unterstützt werden, Lösungen für von ihnen identifizierte Probleme zu finden, befinden sich diese in Systemischer Beratung (sehr ausführlich Schlippe & Schweitzer 2016, 31).
Systemische Therapie und alle daraus abgeleiteten systemischen Beratungsformate widmen sich Ansatzübergreifend dem »Schaffen von Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse auf allen Systemebenen« (Rufer & Schiepek 2014, 328). Eine Schwierigkeit einer klaren Definition ist gegeben, jedoch auch in anderen Therapieansätzen zu finden (Schiepek 2013, 10). Der Begriff Systemische Therapie beschreibt eine theoretische Orientierung und kein bestimmtes therapeutisches Setting – so gibt es systemische Einzeltherapie, Paartherapie, Gruppentherapie, usw. (Sydow, Beher, Retzlaff & Schweitzer 2006, 14). Unterschiedliche Fachrichtungen (wie zum Beispiel Physik, Biologie, Philosophie, Soziologie, Psychologie, Medizin) speisten und speisen mit ihren interdisziplinären systemwissenschaftlichen Erkenntnissen die Theoriebildung und Fundierung sowie die Entwicklung entsprechend systemisch ausgerichteter Methoden, die mittlerweile nicht nur im therapeutischen Setting, sondern vor allem auch in Beratung und anderen psychosozialen und auch wirtschaftsbezogenen Handlungsfeldern angewendet werden. Neue Sichtweisen und Haltungen konnten sich in diesen Handlungsfeldern daraus etablieren.
Dieses Buch hat das Ziel, professionelles heilpädagogisches Handeln und die heilpädagogische Beratungspraxis in der jeweiligen Vorgehensweise durch Begründungen aus den Systemischen Ansätzen heraus zu legitimieren und Synergien zwischen heilpädagogischem und systemischen Denken und Handeln herzustellen, die sich für die heilpädagogisch-systemische Praxis in unterschiedlichen Handlungsfeldern nutzbar machen lassen. Grundprinzipien wie Feinheiten des systemisch-heilpädagogischen Arbeitens werden illustriert. Gemeinsame Grundlagen, Haltungen, Sichtweisen, Kernkompetenzen, aber auch Grenzen von Methodenintegration genauso wie die Erforderlichkeit von Methodenanpassungen oder Neukreation an der Schnittstelle Systemischer Ansätze an die Heilpädagogik werden diskutiert.
Laut dem Duden ist ein Ansatz technisch betrachtet ein Verlängerungsstück, aber auch ein erstes sichtbares Zeichen, also die Stelle, wo ein Körperteil oder Glied ansetzt, beginnt.
Ein System (griechisch systema = das Gebilde, das Zusammengestellte, das Verbundene) meint einen »Zusammenhang von Teilen, deren Beziehungen untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen Elementen« (Schlippe & Schweitzer 2016, 31). Von seinen Umwelten werden Systeme durch Grenzen unterschieden, das heißt, ein System ist von seiner Umwelt abgegrenzt.
Systemische Denkansätze und systemische Forschung betrachten nicht einzelne Phänomene und deren lineares oder kausales Ursache-Wirkungsverhältnis. Systeme sind aus einzelnen Teilen zusammengesetzte Einheiten, die in Beziehung zueinanderstehen. Sie werden zirkulär betrachtet. Die Stabilität und Funktionalität von Systemen in ihrer evolutionären Entwicklung sowie ihre Verknüpfung mit der Umwelt wird von Systemtheoretikern als Reflexionsfolien betrachtet, die Deutungen zum Verstehen der Eigengesetzlichkeit von Systemen liefern können.
Denken und Handeln mit systemischem Blick, also systemische Praxis, kann Ausgangspunkt für heilpädagogisches Handeln sein. Wo ergänzt es die Heilpädagogik als pädagogische Disziplin und Profession in ihrer Methodenvielfalt sinnvollerweise, ohne zum selbstverständlichen Bestandteil zu werden oder gerade als selbstverständlicher Bestandteil? Wo ›beißt‹ sich das ›Ansetzen‹ möglicherweise?
Beratende Tätigkeit wird in den verschiedenen heilpädagogischen Settings zunehmend als Schlüsselkompetenz und Aufgabe abgerufen. Sie ist dann ein »genuiner Bestandteil« unterschiedlicher Handlungsfelder (Greving & Ondracek 2013, 7). Laut Mutzeck ist Beratung »eine spezifische Interaktions- und Kommunikationsform zwischen einem Ratsuchenden und einem Berater, die strukturiert, planvoll, fachkundig und methodisch geschult durchgeführt wird« (Mutzeck 2007, 39). Beratung erfordert eigene Kompetenz (Speck 2008, 383; Mutzeck 2007) und es kann nicht entsprechende Beratungskompetenz als beruflich-fachliche Kompetenz jeder Heilpädagogin per se zu geschrieben werden (so Häußner 2016). Es ist mit Greving & Ondracek zu hinterfragen, ob Beratung im Kontext des heilpädagogischen Handelns ein eigenständiges Handlungsfeld darstellt (Greving & Ondracek 2013, 22) oder dem jeweiligen Setting als Arbeitsmethode zuzuordnen ist. Beratung kann in der Heilpädagogik zum alltäglichen Handlungsfeld gehören und/oder als spezifische Beratungsdienstleistung angeboten werden.
Bedarfe, Anlässe und Kontexte von Beratung sowie der damit verbundene Aufbau heil- und sozialpädagogischer Beratungsstellen nehmen zu (Wagner 2012, 287). Das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) formuliert unabhängige Teilhabe-Beratung für Menschen mit Behinderung als Dienstleistung zur Unterstützung in der Wahrnehmung eigener Belange, vgl. § 32 SGB IX. Heilpädagoginnen können die Funktion der unabhängigen Teilhabeberatung sehr gut übernehmen und werden auch dazu angefragt. Ferner besteht in diesem Handlungsfeld Beratungsbedarf für Angehörige und Netzwerke der Adressatinnen von Leistungen. Dazu kommt die Beratung und möglichst gelingende Kommunikation an den Schnittstellen Leistungserbringer, Nutzerinnen und Eingliederungshilfeträger.
Heilpädagogisches Handeln vollzieht sich über die gesamte Lebensspanne hinweg und diesbezügliche Beratungsbedarfe erfordern von den professionell agierenden Heilpädagogen den Aufbau von entsprechenden Beratungskompetenzen. Insbesondere im heilpädagogischen Handlungsfeld im Umgang mit Kindern, Jugendlichen und Familien setzen interdisziplinär aufgestellt Profis und ganze Organisationen auf Systemische Ansätze, in denen somit Heilpädagoginnen zumindest sprachfähig oder auch umfänglich weitergebildet sein sollten, um überhaupt Zugang zu entsprechende Stellenausschreibungen zu haben.
In der Heilpädagogik lässt sich der Systemische Ansatz (als Denk- und Handlungsansatz) mit den sich vollziehenden Paradigmenwechseln des letzten Jahrzehntes verknüpfen und für heilpädagogisches Handeln nutzbar machen. Behinderung und besondere Herausforderung wird in der Heilpädagogik heute immer als Wechselspiel von Interaktionen und im Kontext des sozialen Umfeldes betrachtet. Die Heilpädagogik vertritt das soziale Modell von Behinderung. Umweltfaktoren beeinflussen die Konstruktion und die Auswirkungen einer Beeinträchtigung im Leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen über die gesamte Lebensspanne hinweg.
Menschen versuchen wiederum, sich den Umweltbedingungen und dem Kontext anzupassen, so dass die Umwelt in ein Gleichgewicht kommt, selbst wenn der Preis dafür individuelles Leid sein sollte (Systemische Gesellschaft 2016). Otto Speck für die Heilpädagogik und Alfred Sander für die Integrationspädagogik haben in der Heil- und Sonderpädagogik metatheoretischen Boden für systemisch-ökologisches Denken bereitet, das in konkretem systemischen Arbeiten einmünden kann, wie zum Beispiel in der von Alfred Sander entwickelten Kind-Umfeld-Analyse. Er konzipierte diese als systemökologische Förderdiagnostik zur Mobilisierung der kindlichen Netzwerke in den Regelschulen der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts im Saarland (Sander 2003). Weitergehende kritische Forderungen nach Veränderungen der Gesellschaft, wie sie Wolfgang Jantzen, Vertreter der kritisch-materialistischen Theorie zu Behinderung, formuliert, fußen unter anderem auf systemisch-konstruktivistischen Ideen (Moser & Sasse 2008). In seine Theorie zu Behinderung bezieht Wolfgang Jantzen (systemisch-)konstruktivistisches Denken ein. Heinrich Greving setzte sich mit konstruktivistisch begründetem Handeln in der Heilpädagogik auseinander (2011, 38 ff). Ein grundlegendes Buch zum Konstruktivismus und der Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Behinderung haben Holger Lindemann & Nicole Vossler schon 1999 vorgelegt – es trägt den bezeichnenden Titel »Die Behinderung liegt im Auge des Betrachters«. Das systemische Denken hat schon über zwanzig Jahre lang immer mal wieder die Heilpädagogik inspiriert und sowohl theoretischen als auch praktischen Boden bereitet.
Heute ist es allgemein und in der Heilpädagogik anerkannt, dass der allein individuumszentrierte (oftmals defizitorientierte) Blick auf Adressatinnen von Unterstützungsleistung oder auf Klientinnen nicht mehr zielführend ist. Das traditionelle Verständnis von Behinderung als Defizite einer Person stößt zunehmend an fachliche Grenzen. Diese Perspektive wurde abgelöst, da sie weiteren, nun deutlich sozialpolitisch artikulierten und gesetzlich vollzogenen Bedarfen nach Teilhabe und Inklusion sowie der Einbeziehung des Kontexts der begleiteten Person, der Familie, dem Lebensumfeld wie Schule oder Arbeitsstelle, dem Sozialraum und dem Gemeinwesen als theoretische Reflexionsfolie nicht mehr ansatzweise gerecht wird.
Insbesondere in der Klinischen Heilpädagogik können Systemische Ansätze sehr gut eingesetzt werden (vgl. Kiessl 2015). Aber unter Einbezug einzelner bedeutsamer Aspekte kann jedes andere heilpädagogische Arbeitssetting und jede Facette an heilpädagogischem Handeln dazu gewinnen. Heilpädagogisches Handeln kann an systemisches Denken anknüpfen, mit dem damit verbundenen radikalen Ansatz, dass anvisierte Veränderungen nicht von außen gesteuert oder herbeigeführt werden können. Somit knüpft Heilpädagogisches Denken und Handeln immer an Selbstorganisationsprozesse an und verabschiedet sich von jedem überstülpenden, überfürsorglichen und nicht mehr zeitgemäßen Paternalismus. Jede diesbezügliche heilpädagogische Intervention ist nur zielführend, wenn sie dem System Impulse setzt, sich aus sich selbst heraus zu verändern und in Bewegung zu kommen und ein neues Gleichgewicht zu finden. Heilpädagogisches Handeln kann in seiner Begründung systemisch sein, das heißt aus systemtheoretischen Überlegungen abgeleitet werden.
Beratung suchende Menschen werden in der Systemischen Beratung als Expertinnen für ihre selbst zu organisierenden Angelegenheiten betrachtet. Die Beraterin ist Expertin für den Beratungsprozess. So verschränkt sich der Ansatz mit dem in der Heilpädagogik angekommenen Fokus auf Selbstermächtigung, also Empowerment, einem Konzept der Schwesterdisziplin Soziale Arbeit (Herriger 2014), das in der Bürgerrechtsbewegung von Selbstvertreterinnen in den Vereinigten Staaten von Amerika entwickelt wurde, in viele Länder exportiert wurde und das als Konzept in entsprechend formulierte Menschenrechteverträge wie auch in die UN-Behindertenrechtskonvention Eingang gefunden hat (Theunissen 2014; Kulig & Theunissen 2016).
Prozessorientierte Systemische Beratung ermöglicht Empowerment im Sinne von Selbstbefähigung, Selbstorganisation und Mündigkeit. Das Erleben von Selbstwirksamkeit und Autonomie durch die ›Steuerhoheit‹ der Klientinnen für die Beratungs-, Begleitungs- wie Therapieinhalte wird ermöglicht und gefördert (ausführlich Kap. 5).
Der Systemische Ansatz stellt als eine anwendungsorientierte Vorgehensweise über metatheoretische Anknüpfungen und Reflexionsfolien hinaus vor allem methodisches Handwerkszeug für zeitgemäßes und reflexives heilpädagogisches Handeln in verschiedenen Settings zur Verfügung, das in diesem Buch genauer beschrieben wird, mit dem Ziel, systemisch-heilpädagogisches Handeln durch systemisches Denken, systemische Beratungsmethoden und -techniken, Haltung u. v. m. miteinander zu verzahnen und weitere Schnittstellen zu beleuchten.
Dazu formuliert Gröschke (2008, 215), »dass heilpädagogisches Handeln im Rahmen solcher Handlungskonzepte eine Sphäre und ein Medium von Begegnung/Beziehung/Interaktion/Kooperation/Kommunikation, bzw. sein sollte: Ein von Respekt und Achtung getragener kooperativer Prozess gemeinsamen Lebens, Lernens, Arbeitens, Spielens, einer umfassenden ›heilpädagogischen‹ Daseinsgestaltung«. Letzteres betrifft genauso die heilpädagogische Beratungsgestaltung. Geht es um Begegnung, Beziehung, Interaktion, Kooperation und Kommunikation, sind die Übergänge zwischen Begleitung und Beratung oftmals in der Praxis fließend.
Leitend sind die Fragen: »Wie gehe ich als Heilpädagogin vor und wie begründe ich mein Vorgehen? Nach welchen Regeln und Techniken berate oder begleite ich, und auf welchen theoretischen Vorannahmen stützte ich mein Handeln?« Das professionelle heilpädagogische Handeln ist dabei nicht beliebig. Es ist in seinen Facetten von Erziehung, Bildung, Entwicklungsbegleitung, Therapie bis zu der Gestaltung inklusiver Prozesse oder Teilhabebegleitung und Assistenz wertgeleitet. Es sollte sich seiner Ziele reflexiv bewusst sein und sich auch vor anderen legitimieren können (Gröschke 2008, 81).
Um als Profession Heilpädagogik in der Jugend- und Behindertenhilfe für Arbeitgeber attraktiv zu bleiben oder zu werden, ist es wichtig, dass Heilpädagoginnen systemisches Handwerkszeug nutzen können, um sich mit Systemischen Ansätzen »sprachfähig« zu zeigen und gleichzeitig ihre heilpädagogische Professionalität einzubringen. Gerade in zunehmend interdisziplinär aufgestellten Teams oder im in seiner Bedeutsamkeit wachsenden vernetzten Arbeiten bei komplexen Problemlagen und Kooperationen können sie Systemische Ansätze praktizieren, mit ihrem heilpädagogischen Knowhow verknüpfen und sich damit etablieren. Heilpädagogen arbeiten nämlich nicht nur ›am Kind‹, sondern mit dem Kind, seiner ganzen Familie und seinem ganzen Unterstützungsnetzwerk – oder mit der Adressatin und ihrem Lebensumfeld, was in manchen Praxisfeldern unserer Profession auch heute noch nur sehr begrenzt zugestanden oder zugeschrieben wird oder durch zeitlich und ökonomisch begrenzte Ressourcen gehemmt wird.
Die Motivation für dieses Buch entspringt aus der bereichernden Erfahrung der Begleitung von Familien, Kindern und Jugendlichen in einer psychosomatischen Fachklinik für Familienrehabilitation im heilpädagogischen Fachdienst, an der Schnittstelle zwischen meiner Tätigkeit als Diplom Heilpädagogin und als Systemische Therapeutin sowie meiner langjährigen Tätigkeit als Professorin für Heilpädagogik in der Vermittlung systemischer Familienberatung an Studierende in überwiegend berufsbegleitenden Studiengängen der Heilpädagogik sowie anderer Studiengänge im Sozial- und Gesundheitswesen. In ihren Grundprofessionen von der Pflege, der Assistenz von Menschen mit Beeinträchtigung über Heilerziehungspflege, erzieherischer Tätigkeiten, in Bereichsleitungs- oder Leitungsfunktionen, in der Familienhilfe oder in einer Beratungsstelle empfinden viele Studierenden die Auseinandersetzung und das Erlernen Systemischer Ansätze als inspirierend und bereichernd für ihre Arbeit.
An den dort stattfindenden Fallbesprechungen, der Beratungswerkstatt und der Supervision nehmen Studierende teil, die während ihres Studiums in ihren Ausgangsberufen im Sozial- oder Gesundheitswesen arbeiten, in ihren Lehr-Lernanalysen einen direkten Theorie-Praxis-Transfer leisten können und also den unmittelbaren Mehrwert, den Systemische Ansätze mit ihren Methodenschätzen in die beratende Tätigkeit sowie in Teams oder Organisationen entfalten, erfahren. Andere neue Sichtweisen, eigene persönliche Reflektion und Wachstum, Perspektivenwechsel und Veränderung werden genauso erlebt wie bei den Adressatinnen, deren Angehörigen und Netzwerken. Es wird die Lebenswelt der Adressatinnen (nicht nur der Familien) systemisch betrachtet und zum Ausprobieren von Neuem eingeladen.
Uns Lehrenden (meinem Kollegen Eckehard Herwig-Stenzel und mir) wurde über die Jahre immer deutlicher, dass besonders die bei uns berufsbegleitend studierenden Heilpädagoginnen von dem Transfer in verschiedenste Praxisfelder (Erziehungsberatung, Frühförderung, heilpädagogische Praxis, Werkstatt für Menschen mit Behinderung, Behindertenhilfe, Inklusionsassistenz, Schule, Jugend- und Familienhilfe u. v. m.) durch die direkte Umsetzung der erworbenen Beratungskompetenz profitieren. Die Studierenden können viele Synergien zwischen Heilpädagogik und Systemischen Ansätzen herstellen, diese konstruktiv und innovativ für das heilpädagogische Handeln nutzen, indem sie sich systemisches Vorgehen und neue Sichtweisen sowie veränderte Perspektiven direkt in der Arbeit erschließen. Die wesentlichen Ansätze, die uns Lehrende und die Studierenden inspirierten, werden in diesem Buch beschrieben.
In diesem Buch wird der Begriff Klientin dann verwendet, wenn er in der systemischen Literatur in ihren historischen Zusammenhängen so gebräuchlich war im Sinne einer Bezugnahme von einer Klientin zu ihrer Therapeutin als Expertin. Darüber hinaus verwende ich statt ›Klientin‹ überwiegend den neutraleren Begriff der ›Adressatin‹ oder den an der Selbstorganisation orientierten zeitgemäßen Begriff der ›Auftraggeberin‹ einer Leistung, einer Dienstleistung, einer Unterstützungsleistung und von Beratung. In den Hilfeplanverfahren werden Leistungen eingefordert, die bestimmte Adressatinnen als Bedürfnisse formulieren und per Gesetz einfordern, sie werden dann zu Auftraggeberinnen für heilpädagogische oder andere psychosoziale Leistungen in ihrer originären Selbstorganisation.
Der Begriff Kundin (customer), der in der lösungsfokussierten Beratung von Steve de Shazer verwendet wurde, um auszudrücken, dass jemand etwas von Beratung möchte und dafür offen ist, dies also entsprechend kundtut und so zur Kundin wird, findet hier keine Verwendung, da dieser Begriff marktwirtschaftlich geprägt ist und aus dem ökonomischen Kontext entspringt, was in der Heilpädagogik kritisch betrachtet wird, da sie sich damit den ökonomischen Prinzipien unterordnen würde (Haeberlin 2005, 79).
Weitgehend verwendet dieses Buch für Personen die weibliche Form der Schreibweise. Nur da, wo es konkret um eine Person männlichen Geschlechts geht, wird die maskuline Schreibweise gebraucht. Dies entspringt dem Bedürfnis der Autorin, die weibliche Form zu nutzen – schließlich ist die Heilpädagogik überwiegend weiblich. Ferner gibt es selten – wie im Fall der Autorin – originär aus der Profession Heilpädagogik stammende Professorinnen. Diese Verwendung soll ferner ausgleichen, dass in vielen anderen Publikationen weitgehend die männliche Form verwendet wird. Selbstverständlich sind in die Betrachtungen genauso männliche oder Transgender- Heilpädagogen eingeschlossen.
Nach diesem einführenden Kapitel 1 steht in Kapitel 2 die theoriebasierte Reflektion Systemischer Ansätze an, um heilpädagogisches Handeln theoretisch rückbeziehen zu können. Verschiedene systemtheoretische Konzepte der interdisziplinären Systemtheorie werden in ihrem Denken vorgestellt, wie die Kybernetik erster und zweiter Ordnung, der radikale Konstruktivismus, der Soziale Konstruktionismus, die soziologische Systemtheorie nach Luhmann sowie die Synergetische Systemtheorie. In Praxisbeispielen wird der Transfer in die Heilpädagogik beschrieben (Kap. 2).
Anschließend befasst sich Kapitel 3 mit dem zentralen Thema der Heilpädagogik: ihrem Umgang mit Beeinträchtigung, Behinderung und anderen Zuschreibungen. In die Betrachtung von Problemen und den Umgang mit Diagnosen werden Systemische Ansätze einbezogen (Kap. 3).
Die Schnittstellen zwischen der Heilpädagogischen Haltung und systemischen Haltungen arbeitet Kapitel 4 heraus. Systemisch-heilpädagogische Haltungen stehen in direktem Bezug zu konkretem heilpädagogischen Handeln unter Einbezug Systemischer Ansätze (Kap. 4).
Daran anknüpfend werden im umfänglichen Kapitel 5 die Methodenschätze der Systemischen Ansätze und ihre Nutzbarkeit für die Heilpädagogik vorgestellt. Mittels Praxisbeispielen aus der Heilpädagogik wird der gelingende Transfer in verschiedene heilpädagogische Praxisfelder illustriert. Umschrieben werden der Anfang der Beratung, das Joining, die Klärung des Kontexts und die Auftragsklärung, der Kontrakt (Kap. 5.1) und die Prozessorientierung (Kap. 5.2). Ausführlich wird das systemische Fragen und das systemische Interview vorgestellt (Kap. 5.3). Es wird das Hypothetisieren und seine Umsetzung in der Heilpädagogik beschrieben (Kap. 5.4). Anschließend wird der gegenteilige Ansatz, die Lösungsfokussierung mit ihrer Schnittmenge mit der Heilpädagogik betrachtet (Kap. 5.5). Erörtert werden ferner Ressourcenorientierung (Kap. 5.6), Geschichten erzählen (Kap. 5.7), das Reflecting Team (Kap. 5.8), Offene Dialoge (Kap. 5.8.3), Genogramm-, Biografie- und Rekonstruktionsarbeit, Netzwerkarbeit (Kap. 5.9) und systemökologischer Ansatz (Kap. 5.10), systemisch-gestalterische Methoden wie Inszenieren, Malen und Visualisieren, Aufstellungen (Kap. 5.11) sowie weitere systemische Interventionen (Kap. 5.12). Mit der Intention, ein gutes Ende zu finden in Beratung und in diesem Kapitel, widmet sich der Abschluss der Betrachtung der Beendigung von Beratung oder Begleitung (Kap. 5.12.2).
Kapitel 6 befasst sich über die Nutzbarkeit Systemischer Ansätze für heilpädagogisches Denken und Handeln hinaus mit den Möglichkeiten zur Umsetzung und zum Transfer in die Heilpädagogik (Kap. 6). Schnittstellen werden beleuchtet, Stärken werden herausgearbeitet, Grenzen werden ausgelotet und systemisch-heilpädagogische Kompetenzen der Profession skizziert und entsprechende Fachlichkeit eingefordert. Abgerundet wird dieses Buch in Kapitel 7 mit einem Fazit und Ausblick (Kap. 7).
Dieses Kapitel befasst sich mit den wesentlichen Bestandteilen theoretischer Basis und den dadurch entstanden »Landkarten« (Rufer & Schiepek 2014, 329), die mit der erworbenen Orientierungskompetenz beim Transfer in die heilpädagogischen Handlungsfelder nützlich sein können. Diese Landkarten lesen und verstehen zu können, ist für die Umsetzung Systemischer Ansätze in die Praxis an vielen Stellen bedeutsam. Ein Blick in die Landkarte dient immer wieder dem Rückbezug und der Verortung heilpädagogischen Handelns nach Systemischen Ansätzen und der Reflektion der Vorgehensweise, dem Einsatz von Methoden, Interventionen bis hin zur Etablierung entsprechender Haltungen.
Die theoretische Fundierung des Systemischen Ansatzes und das systemischen Denken wurden von zwei Strömungen beeinflusst.
Die kommunikationsanalytische Theorie war der Dreh-und Angelpunkt für die ausstehende Theoriebasierung der »systemischen Familientherapie« vor allem am Mental Research Institute (MRI) in Palo Alto, Kalifornien. Das MRI wurde 1959 von Don D. Jackson gegründet und war mit seinen prominenten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wie unter anderem Virginia Satir und Paul Watzlawick sowie seinem Mentor Gregory Bateson über Jahrzehnte richtungsweisend.
Mit den Grundeigenschaften menschlicher Kommunikation befassten sich dort in den 1960er Jahren vor allem der Kommunikationswissenschaftler und psychoanalytisch ausgebildete Psychotherapeut und Philosoph Paul Watzlawick (1921–2007), aber auch andere wie Janet H. Beavin und Don D. Jackson. Sie erarbeiteten fünf Axiome menschlicher Kommunikation, die sich auf das Verhalten in einer zwischenmenschlichen Situation unter Einbezug von verbalen und non-verbalen Aspekten beziehen mit dem Fokus auf stattfindende Kommunikationsprozesse (vgl. Watzlawick, Beavin & Jackson 1967). Diese bildeten die Grundlage für ihre Kommunikationstheorie. Unter anderem erkannten sie so, dass in der Kommunikation der Beziehungsaspekt immer den Inhaltsaspekt in einer Nachricht dominiert.
Darüberhinausgehend erweiterten der Anthropologe, Biologe und Sozialwissenschaftler Gregory Bateson (1904–1980) und andere den Beobachtungsrahmen über das Verhalten eines Individuums als Element von Kommunikation hinaus auf seine Psychodynamik sowie biologische Prozesse des Organismus als Netzwerke von Kommunikation und unter Einbezug des Kontexts (Ruesch/Bateson 1987). Gregory Bateson befasste sich insbesondere mit der Kybernetik, worauf im Folgenden noch ausführlicher eingegangen wird.
Die Kybernetik als »Kunst des Steuerns« untersucht seit den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts die Steuerung zunächst von Maschinen, lebenden Organismen und sozialen Organisationen. Der Mathematiker Norbert Wiener (1894–1964) fungierte als Namensgeber (Wiener 1952).
Betrachtet wird das Verhalten der Elemente untereinander, unabhängig von der Materialität des jeweils untersuchten Gegenstands bezogen auf den interaktionellen Kontext und bezogen auf das Gesamte. Heute werden allgemeine Theorien komplexer Systeme, Systembiologie oder Selbstorganisationstheorien als Kybernetik erfasst (Schiepek 2013, 13).
Anfangs konzentrierte man sich auf die »systemische Modellierung der Welt« (Schiepek 2013, 13) als aus mehreren Teilen zusammengesetzte Einheiten, also Systeme (griechisch syn = zusammen, hinstanai = stellen, setzen, legen). Ein Beobachter nimmt das System aus der Außenperspektive wahr (entsprechend dem lange vorherrschenden Ideal objektiver Erkenntnis) und betrachtet nicht isoliert einzelne Objekte. Die aus mehreren Teilen zusammengesetzten Einheiten funktionieren im Miteinander nicht durch einfache Addition der Eigenschaften ihrer Teile. Die Regelung von Verhalten, sei es von Flugabwehrgeschützen, Heizungen (so der ursprüngliche Forschungsgegenstand), Automaten, Organismen oder Gruppen von Individuen, ist erst dann erklärbar, wenn die Rückkoppelungsprozesse im System beobachtet werden. In Letzteren wird Verhalten korrigiert, der Verlauf des Verhaltens wird beeinflusst, Störungen werden ausgeglichen oder verstärkt. Es bildet sich ein Regelkreis, dessen Elemente gegenseitig die Bedingungen ihres Verhaltens bestimmten. Auch bei komplexeren und dynamischen Systemen organisieren sich die Prozesse zirkulär auch in ihren Ursache-Wirkungserklärungen. Einem Ereignis oder dem Verhalten eines Teils des untersuchten Systems wird nicht die ›Verantwortung‹ in Bezug auf andere Ereignisse oder Verhaltensweisen der anderen Elemente eines Systems oder die ›Schuld‹ (ein bedeutsamer Begriff in sozialen Systemen) zugeschrieben. Betrachtet wird eine Ganzheit von Elementen in ihrem Netzwerk von wechselseitigen Beziehungen. Jedes Element bestimmt die Bedingungen aller anderen. Die Ursache kann die Wirkung sein und wieder Ursache werden, je nach Rückkoppelung. Das bedeutet, dass die Ursachen-Wirkungsverhältnisse nicht mehr linear zu betrachten sind, sondern Systeme werden zirkulär betrachtet.
Untersucht werden in der Kybernetik erster Ordnung (Kybernetik I) Strukturen und Funktionen, Beziehungen und Positionen von Elementen zueinander innerhalb eines Gesamtgefüges, die Regeln ihrer Interaktion und Kommunikation. Die Stabilisierung (Homöostase) und die Veränderungen (Morphogenese) von Systemzuständen und Systemstrukturen werden in ihrer Gesetzmäßigkeit betrachtet. »Das Ganze erweist sich nicht nur als mehr, sondern als etwas qualitativ anderes als die Summe der Teile« (Simon 2015, 16, Bateson 1985).
Die frühe Systemtheorie ging davon aus, dass ein System danach strebt, einen Zustand des Gleichgewichts, ein Zustand der Homöostase herzustellen. Schon in den Anfängen der Familientherapie wurden die Konzepte der Kybernetik aufgegriffen, da man damals davon ausging, wie ein System ›wirklich‹ ist. Es hat Grenzen, Regeln, bildet Subsysteme und Koalitionen. Insbesondere die Vertreter und Vertreterinnen der strukturellen Familientherapie (wie zum Beispiel Salvador Minuchin) oder der Mailänder Schule (zum Beispiel Mara Selvini-Palazzoli) griffen dies auf. Sie fokussierten unter anderem auf Regeln, Strukturen und die Beobachtung von Mustern in den Interaktionen des Klientensystems und setzen in ihren Interventionen bewusste Anregung und Verordnung im Sinne von Instruktion von neuem oder anderem Verhalten bis hin zum Einsatz von Irritation ein, um Veränderungen anzustoßen und um daraus wieder eine neue Stabilität, eine neue Homöostase zu entwickeln.
Die Kybernetik zweiter Ordnung (Kybernetik II) relativierte später den Glauben an eine objektive Erkenntnis der außenstehenden Beobachterin (Beraterin) und der Festlegung bestimmter Regelgrößen als »gesunde Sollwerte«, wie zum Beispiel Nähe und Distanz oder Hierarchie oder Grenzen. Die Beobachterin und ihre Erkenntnismöglichkeiten sind Teil des Kontexts, den sie beobachtet und konstruiert. Die Beraterin wird selbst Teil des Systems und verliert so ihren Status als Expertin (Foerster 1981).
Das Verständnis der Beobachterin von der ›Sache‹, dem ›Verhalten‹, dem ›Prozess‹, den ›Strukturen‹ oder ›Grenzen‹ des Systems ist nur eine von vielen möglichen Optionen, also konstruiert und relativ. Eine Veränderung ist somit nicht instruierbar, nicht von außen steuerbar oder vorhersehbar oder durch ein simples Verstellen des Reglers auslösbar, das heißt nicht durch die Beraterin zielgerichtet steuerbar.
So werden in der Kybernetik zweiter Ordnung (Kybernetik II) die kybernetischen Prinzipien auf die Kybernetik selbst bezogen (das heißt in der zweiten Ordnung). Dieser Schritt vollzog sich Anfang der 1980er Jahre einhergehend mit der Umbenennung der Familientherapie in Systemische Therapie und der Verabschiedung der Notwendigkeit des Settings ›Familie‹.
Untersucht wird, wie menschliche Erkenntnis organisiert ist. Das heißt, die erfassten Regelkreise werden in Beziehung gesetzt zu der Gesamtheit aller anderen Systeme. Betrachtet wird dann die Umweltkomplexität. Die Beobachterin (also Beraterin) ist in das zu beobachtende System eingeschlossen. Fokussiert wird nun auf Prozesse statt Strukturen und auf Ganzheiten statt auf Teile (Levold 2014a, 53). Mittels weiterer ›außenstehender‹ Beobachterinnen (zum Beispiel einem Reflecting Team, Kap. 5.8, oder dem Einbezug einer Supervisionsgruppe) werden weitere Hypothesen anhand der beobachtenden Interaktionen im Beratungssystem (Beraterin als nicht objektive Beobachterin erster Ordnung sowie die Adressatinnen) aufgestellt und nutzbar gemacht.
Die Biologen Humberto Maturana (geboren 1928) und Francisco Varela (1946–2001) entwickelten in der Biologie in den 1970er Jahren das Konzept der Autopoiese (griechisch = Selbst-Erzeugung). Dieses Konzept beleuchtet die Selbsterschaffung und Selbstorganisation lebender Systeme. Die beiden Biologen und Neurowissenschaftler erkannten, dass sich alle Lebewesen sowohl in ihren einzelnen Bestandteilen als auch in ihrer Organisation der Beziehungen zwischen ihren Bestandteilen produzieren und reproduzieren – als einen sich selbst erzeugenden und auf sich selbst rückbezüglichen Prozess.
Im Rahmen experimenteller Forschung beobachteten Maturana und Varela (1987), dass ein Ereignis, das als außerhalb eines lebenden Systems liegend definiert wird, auf das System keine Einwirkung im Sinne einer festgelegten Ursache-Wirkungsbeziehung hat. Das heißt, ein Ereignis kann nur als eine Anregung fungieren, die bei einem lebenden System Verhalten auslöst, es aber keineswegs steuern.
Lebende Systeme stehen im Austausch mit ihrer Umwelt. Sie sind aber autonom. Ferner sind sie strukturell determiniert. Ihre jeweils aktuelle Struktur gibt vor, in welchen Grenzen sich ein Lebewesen verändern kann, ohne seine autopoietische Organisation zu verlieren, also zu sterben. Alleiniger Zweck autopoietischer Systeme ist die eigene Selbsterhaltung. Alle anderen Behauptungen über ihren Sinn werden durch Beobachterinnen an sie herangetragen. Lebende Systeme sind somit operational und organisatorisch geschlossen (Maturana & Varela 1987; Lindemann & Vossler 1999). Hier führen Rückkoppelungsprozesse nicht allein zur Regulierung von einzelnen physikalischen Variablen, wie zum Beispiel der Raumtemperatur beim Thermostat, sondern zur Bildung gegenüber irgendwelchen Umwelten abgegrenzten Einheiten, also Systemen (Simon 2015, 34). Selbstorganisation als Konzept ermöglicht das Verständnis von der Entstehung, Aufrechterhaltung und Entwicklung von Ordnungsmustern (Hagmann 1994, 55).
Die Arbeiten von Maturana und Varela zur Erkenntnis und Wissenschaftstheorie haben die Heilpädagogik durch neuere Systemische Ansätze befruchtet, wie Günther Opp und Franz Peterander schon 1997 notierten (Opp & Peterander 1997).
Bezogen und hier fokussiert auf den Transfer zum heilpädagogischen Handeln zeigt die so begründete Selbstreferenz des Adressatensystems (zum Beispiel einer Familie oder Wohngemeinschaft), oder einer Organisation (zum Beispiel einem Träger der Behindertenhilfe) die Grenzen und Möglichkeiten der kommunikativen Beeinflussung durch die Umwelt auf. Im Rahmen der internen Selbstorganisation innerhalb des Systems wird der konkrete Umgang mit von außen kommenden Anregungen oder Vorgaben vollzogen. Die Umwelt sowie die Angebote, welche beispielsweise die Heilpädagogin an Bildung, Unterstützung oder Intervention macht, erschließen dem Adressatensystem (zum Beispiel einer Familie) Möglichkeiten und zeigen weitere Perspektiven auf. Das System selbst bestimmt jedoch, welche dieser Möglichkeiten angenommen wird. Eigenheiten des Adressatensystems sind deswegen grundsätzlich als zu deren Strukturen passend und als zu ihrem Überleben nützlich zu betrachten. Durch die operative Geschlossenheit des Adressatensystems sind der Heilpädagogin Grenzen des Möglichen an Beeinflussung gesetzt, insbesondere ihre Deutungen und Sinnannahmen betreffend. Die Heilpädagogin kann von außen allenfalls perturbieren, stören oder irritieren. Das System selbst entscheidet verantwortlich, wie es reagiert, selbst wenn es von außen noch so widersinnig erscheint. Es gilt, das Auftraggebersystem kennenzulernen, zu verstehen und wertzuschätzen und Anregungen mit diesem System und seinen Strukturen abzustimmen. Heilpädagogische Interventionen oder Empfehlungen können nur dann berücksichtigt werden, wenn sie an einer gelungenen Beziehung, die diese Selbstorganisationskompetenz berücksichtigt, anschließen.
»Denkkategorien wie Input, Output, Zweck, Entwicklung und Zeit sind Zuschreibungen von Beobachtern« (Ludewig 2014, 62). Über Modelle für Interventionen wie Objektivität oder Kausalität aus der klassischen Medizin konnte sich die Psychotherapie für alternative Modelle öffnen und den Weg zur systemischen Therapie auf solider Theoriebasis bereiten (Ludewig 2014, 64).