Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Veränderungsprozesse leben vom Engagement der Beteiligten. Wo sie ganze Länder betreffen, sind das neben der Zivilgesellschaft vor allem Unternehmen und gesellschaftliche Institutionen. Die Kraft für solche Prozesse entsteht im Spannungsbogen zwischen den Analysen von Expert:innen einerseits und den Visionen und Zielen der Handelnden andererseits. Dazwischen klafft häufig eine Lücke – an den Herausforderungen, vor denen die Menschheit aktuell steht, lässt sich das bestens beobachten. Wie kommt man von der Analyse zu einer Strategie der Umsetzung so wichtiger Ziele? Wie werden wir wirksam? Ruth Seliger beschäftigt sich als Organisationsberaterin seit Jahrzehnten mit Veränderungsprozessen und Musterwechseln in hochkomplexen Systemen. In diesem Buch verbindet sie ihre praktische Erfahrung in der Gestaltung von Strategien und deren Umsetzung mit einem systemischen Blick auf Organisationen, Führung, Change-Management und Gesellschaft. Das Buch startet mit einer Bestandsaufnahme der Herausforderungen und notwendiger Veränderungsprozesse im Hinblick auf Ökonomie, Ökologie und Demokratie. Im Anschluss stellt die Autorin konkrete Formen der Prozessgestaltung und Strategieentwicklung für gesellschaftliche Veränderungen vor und fasst sie in anschauliche Modelle. Am Ende ergibt sich daraus ein Instrumentarium für mehr oder weniger radikale Transformationen, das allen engagierten Menschen und Organisationen "zur freien Entnahme" zur Verfügung steht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 312
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Systemische Horizonte – Theorie der Praxis
Herausgeber: Bernhard Pörksen
»Irritation ist kostbar.«Niklas Luhmann
Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode – mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.
In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.
Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.
Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen
Ruth Seliger
Strategien für die Transformation
2022
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Themenreihe »Systemische Horizonte«
hrsg. von Bernhard Pörksen
Reihengestaltung: Uwe Göbel
Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann
Illustrationen: Robert Six, [email protected]
Redaktion: Markus Pohlmann
Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2022
ISBN 978-3-8497-0400-1 (Printversion)
ISBN 978-3-8497-8372-3 (ePUB)
© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/.
Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.
Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
Vorwort
1Modelle von Veränderung
1.1Das technische Modell: Gesellschaft als Maschine und Veränderung als Reparatur
1.2Das dialektische Konzept: Tanz der Gegensätze
1.3Das systemische Konzept
1.4Transformation: Das integrierte dialektisch-systemische Modell von Veränderung
2Kontextklärung: Die Gesellschaft als Kundensystem
2.1Kann man die Gesellschaft überhaupt beobachten?
2.2Vier Thesen über Gesellschaft
2.3Wie verändert sich eine Gesellschaft?
3Problembeschreibung und Auftragsklärung
3.1Die Probleme der Gesellschaft – erste Bestandsaufnahme der Krise
Die großen Themen der Transformation
3.2Wege aus der Krise – ein Prozess
3.3Der Auftrag
4Strategiekompass für den Weg der Transformation
4.1Kompass für die Strategie – die Change-Formel
4.2Kompass für gesellschaftliche Transformation
5Strategieprozess
5.1D: Driver – Dringlichkeit der Transformation
Gedanken über Probleme
Problemfeld Ökonomie
Problemfeld Ökologie: Die Krise der Natur
Problemfeld Demokratie
Zusammenfassend: Was treibt die Transformation?
5.2V: Visionen – Konstruktion der Zukunft
Eine Trennschärfung: Utopien – Visionen – Ziele
Visionen und Utopie einer neuen Gesellschaft: Eine Kulturwende
Visionen von Ökonomie, Ökologie und Demokratie
Die globalen Ziele
5.3R: Ressourcen – Worauf können wir bauen?
Ressourcen wofür und für wen?
Schatzsuche: Wie finden wir Ressourcen?
Methoden zur Entdeckung und Nutzung von Ressourcen
5.4F: First Steps – wirksam werden
Interventionen – systemisch gesehen
Auf der Ebene der Person: Systemisch denken
Auf der Ebene von Organisation: Gesellschaftliche Transformation organisieren
Auf der Ebene der Gesellschaft: Strategische Allianzen bilden – gesellschaftliche Kommunikation und Kooperation gestalten
5.5Abschließend und zusammenfassend: Der strategische Prozess der Transformation
6Innehalten: Nachdenken und weiter denken
6.1Blick auf die Vergangenheit
6.2Blick auf die Gegenwart
6.3Blick auf die Zukunft (nicht: in die Zukunft)
Anmerkungen
Literatur – Bibliothek für Transformation
Über die Autorin
Für León
Eigentlich wollte ich ein ganz anderes Buch schreiben. Es hätte (wieder) ein Buch über Führung werden sollen: Wie verändert (sich) Führung in einer Situation des tiefgreifenden Wandels der Gesellschaft?
Doch mitten in der Arbeit hat das Buch es sich anders überlegt und sich entschieden, sich anders zu schreiben. Es wollte sich nicht nur mit Organisationen und Führung beschäftigen, sondern auch und vor allem deren gesellschaftliches Umfeld in den Blick nehmen.
Ursprünglich drehte sich die Buchidee um die Frage, wie Organisationen und Führung Veränderungen in der Gesellschaft verarbeiten, wie sie darauf reagieren und ihre eigene Handlungsfähigkeit und ihre Erfolgschancen unter sich wandelnden Bedingungen sichern können. Je mehr ich mich in dieses Thema vertiefte, umso klarer wurde mir, dass dies sehr linear, von außen nach innen, gedacht war. Das konnte doch nicht die ganze Geschichte sein. Organisationen und ihre Führung sind ja keineswegs unbeteiligt an den Veränderungen der Gesellschaft, sie sind nicht passive Opfer, sondern zumeist sogar die Treiber der Veränderung, sie sind Täter – denken wir bloß an die großen IT-Unternehmen, die die Welt und unser Leben vollkommen verändert haben und immer noch verändern.
Mich hat das Zusammenspiel von Organisationen und Gesellschaft neugierig gemacht. Nachdem ich als Beraterin über viele Jahrzehnte Organisationen dabei unterstützt habe, Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen und Anforderungen zu finden, interessiert mich heute die umgekehrte Richtung: Wie können Organisationen dazu beitragen, die Gesellschaft zu verändern?
Zum Schreiben dieses Buches hat mich die Beobachtung angeregt, dass es in der Gesellschaft sehr viele Menschen, Bewegungen und Organisationen – NGOs, Unternehmen, Institutionen – gibt, deren Anliegen es ist, in gesellschaftliche Veränderungsprozesse so einzugreifen, dass die Gesellschaft nachhaltiger, gerechter und friedlicher wird. Ich habe mich – vermutlich wie viele andere Menschen auch – immer wieder gefragt, warum es denn so schwierig ist, diese Absicht umzusetzen. Meine persönliche Hypothese dazu lautet: Jene, die gesellschaftliche Transformationen herbeiführen oder sich daran beteiligen wollen, schwanken häufig zwischen zwei Polen von Veränderung:
1)einer tiefen Analyse, die Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und eine tiefe Empörung über diese auslöst, und
2)einer Vision, einem Zukunftsideal, in dem alle diese Zustände überwunden sind.
Über den Weg zur Verbindung dieser beiden Pole besteht Unklarheit und es werden kontroverse und ideologische Debatten geführt. Es mangelt also, so meine Hypothese, an Strategien. Diese Lücke möchte ich füllen. Dafür erscheint es mir als notwendig, systemisch weiter zu denken, und zwar in drei Dimensionen:
kontextuell über den Tellerrand von Organisationen hinaus in deren gesellschaftliche Umwelt
zeitlich aus der Gegenwart in die Zukunft
inhaltlich bezogen auf die Erweiterung der Themen und Inhalte von gesellschaftlicher Transformation.
»Alles Gesagte ist von jemandem gesagt«1 – so lautet ein weiser Spruch von Humberto Maturana und Francisco Varela. Das gilt natürlich auch für das Geschriebene und daher auch für dieses Buch. Sie, lieber Leser, liebe Leserin, sollen wissen, wer das vorliegende Buch schreibt und wessen Gedanken Sie hier finden. Ich darf mich also vorstellen:
Seit mehr als 30 Jahren bin ich als systemische Beraterin von Organisationen und Begleiterin von Veränderungsprozessen tätig. In diesen Jahren habe ich nicht nur viele, sondern auch sehr unterschiedliche Organisationen begleitet: von kleinen Start-ups bis zu globalen Konzernen (genauer: deren lokalen Niederlassungen), von mittelständischen Unternehmen bis zu NGOs mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Anliegen, gesellschaftliche Institutionen wie wissenschaftliche Einrichtungen und Interessensvertretungen. Ich hatte die Möglichkeit, viel Erfahrung mit Veränderungsprozessen zu sammeln, viele unterschiedliche Formen von Organisationen und zahlreiche Ansätze, Methoden, Instrumente für Change-Management kennenzulernen. Systemisches Denken war, seit ich es erlernt habe, die stärkste und verlässlichste Basis meiner Arbeit.
Ich habe in meiner Beratungsarbeit gelernt, wie wichtig neben dem systemischen Denken eine professionelle systemische Haltung ist. Zu dieser gehören zwei Prinzipien:
Abstand zum Kundensystem halten, um aus anderen Perspektiven andere Beobachtungen und Ideen für Lösungen einbringen und damit nützlich sein zu können
in Äquidistanz zu allen Personen, Strömungen und Zielen in der Organisation zu bleiben, also niemals Partei zu ergreifen und sich damit niemals zum Werkzeug einzelner Akteure und Akteurinnen in der Organisation machen zu lassen.
Doch wenn ich mir hier vornehme, ein Konzept für Strategien gesellschaftlicher Transformation zu entwerfen, dann muss ich diese beiden Ansprüche wohl aufgeben: Ich habe als Mitglied der Gesellschaft keine Möglichkeit, Abstand zu halten, und ich kann auch nicht neutral sein, denn ich habe meine gesellschaftspolitischen Vorstellungen, Werte und Tendenzen. Diese gesellschaftspolitische Position fließt in das Buch ein, und ich will sie daher hier offenlegen:
Als Kind in einer politisch linken Familie waren Gespräche über Gesellschaft und Veränderung bei uns immer am Tisch. Man diskutierte über die Ungerechtigkeit in der Welt, über den Kampf für Frieden und einen Wunsch nach Gleichheit unter den Menschen. Trotz vieler politischer Schlingen und Schleifen in meinem Leben ist mir die Sehnsucht nach einer gerechten und friedlichen Welt immer geblieben. Ich war immer eine Weltverbesserin und habe meine politische Orientierung immer als links bezeichnet.
In meiner beruflichen Arbeit habe ich darauf geachtet, einen Beitrag zu leisten, um Organisationen zu einem möglichst guten Arbeitsrahmen für Menschen zu machen. Ich musste mich erfreulicherweise niemals verbiegen, verstellen und meine Werte verraten – auch wenn ich für Organisationen tätig war, die mit meinen persönlichen Werten nicht unbedingt übereinstimmten.
Ich habe in meinem Leben viel Glück gehabt und vieles lernen können. Jetzt möchte ich etwas davon zurückgeben. Dieses Buch ist ein Experiment, meine Beratungserfahrung für Transformationsprozesse der Gesellschaft anzubieten, Methoden vorzustellen und damit einen Beitrag zu leisten, an einer guten Entwicklung der Gesellschaft mitzuwirken.
Das Schreiben dieses Buches war für mich eine der aufregendsten und anregendsten Reisen meines Lebens. Meine Reisebegleiter waren viele Menschen, mit denen ich diskutiert habe, von denen ich lernen konnte und mit denen gemeinsam ich mich engagiert habe. Begleiter waren auch Bücher, die über eine längere Zeit mein Arbeitszimmer bevölkerten. Sie waren für mich Dialogpartner, Lehrmeister, Freunde. Sie gaben mir einen Einblick in den wissenschaftlichen Diskurs, der – wie aus den Erscheinungsdaten der Bücher abzulesen ist –, in den vergangenen Jahren, insbesondere seit der Finanzkrise und seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, stattfand und stattfindet.
Mit diesem Buch möchte ich Menschen ansprechen, die sich für gesellschaftlichen Wandel, für eine gute Zukunft für alle engagieren: Menschen, die in NGOs, in Unternehmen oder in Initiativen und Bewegungen aktiv sind – oder aktiv werden wollen. Es ist ein Angebot von Themen, Methoden und wissenschaftlichen Erkenntnissen und eine Einladung, das für sich herauszuholen, was für das eigene Engagement hilfreich ist. Man muss dieses Buch nicht von vorne bis hinten lesen, man kann das herausfiltern, das neu oder hilfreich ist.
Noch ein Wort zum Gendern: Ich habe nicht durchgehend die üblichen Genderformen verwendet, sondern jeweils entschieden, an welchen Stellen ich es wichtig finde, die weibliche und die männliche Formulierung zu verwenden, und an welchen nicht.
Ich danke den vielen Freunden und Freundinnen, mit denen ich mich in den wilden Achtundsechziger-Jahren gemeinsam durch Marx und Hegel, durch Horkheimer und Adorno durchgearbeitet und in zahllosen Nächten über das gesellschaftliche Paradies diskutiert habe. Ich danke meinen beiden Lehrern Fritz B. Simon und Gunthard Weber, die mir systemisches Denken nahegebracht haben, Dirk Baecker, der mir mit seinen verwirrenden Gedanken zu mehr Klarheit geholfen hat, und meinem Kollegen Paul Tolchinsky, von dem ich vieles über Change-Management gelernt habe.
Möglicherweise werden nicht alle Menschen, die dieses Buch lesen, mit allen meinen Thesen und Formulierungen einverstanden sein, manche werden sich daran reiben. Für manche werden einige meiner Gedanken vielleicht unverständlich oder unlogisch sein. Dieses Buch enthält keine endgültige Wahrheit über die politischen Zustände und wird sich vermutlich selbst immer wieder transformieren. Lieber Leser, liebe Leserin, Ihr Feedback wird mir zur Anregung dienen, weiter zu lernen und meine Gedanken und auch dieses Buch zu verändern. Es ist »collaboration in progress«.
Wien, im Februar 2022
Ruth Seliger
»Wo immer Menschen etwas bewirken wollen, brauchen sie Modelle, die Veränderung erklären.«2
Fritz B. Simon
Es geht um Veränderung. Veränderung ist ein schillernder Begriff, unter dem wir alles Mögliche verstehen können: Lernen, Entwicklung, eine andere Richtung einschlagen, vorläufige Veränderungen oder den Tod, eine unumkehrbare Veränderung.
In diesem Buch geht es um Veränderungen lebender Systeme, insbesondere des Systems Gesellschaft.
Nur lebende Systeme haben die Fähigkeit, sich zu verändern, sich im Rahmen ihrer Strukturen aus sich selbst herauszuentwickeln und etwas anderes, etwas Neues aus sich zu machen. Nicht lebende, also technische Systeme wie ein Auto oder die unbelebte Natur, verändern sich nicht selbst, sie können verändert werden: Ein technisches System kann durch Beschädigung oder Materialabnutzung kaputtgehen und repariert werden, ein Stein kann zertrümmert oder zu Sand vermahlen werden.
Mich interessieren Prinzipien der Veränderung lebender Systeme – von der Amöbe bis zur menschlichen Gesellschaft. Lebende Systeme durchleben in ihrer Genetik angelegte Entwicklungen – Wachstum, Reife, Reaktionsmuster. Aber sie können sich auch selbst verändern. Meistens tun sie das nicht ohne Grund. Lebende Systeme leben am liebsten vor sich hin, sind damit beschäftigt, zu leben und am Leben zu bleiben, ihre Grenzen zu erhalten, ihre Prozesse mit ihrer Umwelt – den Stoffwechsel – und in ihrem Inneren – die Verdauung – zu regulieren. Sie nehmen Veränderungen in der Regel dann vor, wenn sich in ihrer Umwelt etwas verändert oder sie in ihrem Inneren Probleme haben, sie also krank werden. Dann muss Veränderung das weitere Leben sicherstellen. Dies kann bedeuten, einen anderen Lebensraum zu suchen, den Lebensraum zu verändern, sich an den veränderten Lebensraum anzupassen oder im Inneren »Heilung« zu versuchen.
Veränderung ist nicht gerade die Lieblingsbeschäftigung lebender Systeme. Sie ist anstrengend, unangenehm, und ihr Ausgang ist ungewiss. Lebende Systeme sind ihrem Wesen nach daher träge und eher konservativ. Sie verändern sich nur dann, wenn sie mit ihrem Latein am Ende sind, wenn sie eine Grenze des Machbaren erreicht haben.
»Die gesammelten Theorien über den Wandel sagen uns, dass menschliche Systeme Homöostase und Gleichgewicht suchen.«3
Veränderungen müssen aber sein, besonders wenn es Probleme gibt, die unser Leben im weitesten Sinne bedrohen. Wenn in unserem Leben alles gut läuft, hält sich die Lust auf Veränderung in Grenzen.
Auch Organisationen sind lebende Systeme, die am liebsten so bleiben möchten, wie sie sind, sich aber aufgrund äußerer oder innerer Bedingungen immer wieder verändern müssen. Wenn sich Marktbedingungen, Eigentumsverhältnisse, gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder technologische Instrumente verändern, dann müssen Organisationen mitziehen. Organisationen setzen sich ungern in Bewegung. Wenn es denn sein muss, dann bekommt man es mit starken Beharrungstendenzen und Gegenbewegungen zu tun.
Wie verändert sich das größte lebende System, das für uns alle die relevante Umwelt bildet: die Gesellschaft? Was löst Veränderungen aus? Wie können sie gestaltet werden? Wie hat sich die Gesellschaft in der Vergangenheit immer wieder verändert? Wie ist ihre Geschichte entstanden?
Die Frage nach dem Wesen von Veränderungen ist, wie vieles in unserem Leben, eine – wie Heinz von Foerster es nennt – »prinzipiell unentscheidbare Frage«4, also eine Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt, kein definiertes Maß, auf das wir uns beziehen können. Die Frage nach dem Wesen von Veränderungen ist anders zu beantworten als die Frage, bei welcher Temperatur Wasser zu kochen beginnt. Für solche Fragen wurden bereits Antworten bereitgestellt, die konkrete Frage wurde bereits »entschieden«: Die Antwort heißt »100 Grad Celsius« (wenn man nicht gerade auf einem hohen Berg steht).
Auf die Frage, wie sich die Gesellschaft, die Welt, das Leben verändert, ob die Veränderungen gut oder schlecht sind, gibt es jedoch keine endgültigen Antworten: Das sind prinzipiell unentscheidbare Fragen. Wir kommen nicht darum herum: Solche Fragen müssen wir für uns selbst entscheiden, und für unsere Entscheidungen müssen wir Verantwortung übernehmen. So ist es auch mit der Frage: Wie werden Veränderungen in der Gesellschaft beschrieben und erklärt? Auch ich habe darauf keine Antwort. Ich mache mir mein eigenes Bild, gestützt auf eigene Überlegungen und Erfahrungen, vor allem auf Fachliteratur, für deren Auswahl ich verantwortlich bin.
Der Begriff der Veränderung hat sich in der Geschichte selbst immer wieder im Rahmen der jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen verändert. In alten Zeiten hat man Veränderungen damit erklärt, dass ein Plan der Götter dahintersteckt, dass Veränderungen also als göttliche Macht über uns hereinbrechen. In autoritär geführten Gesellschaften beruht Veränderung auf Entscheidungen der Herrschenden. Unsere aufgeklärte Welt kann dem nichts oder wenig abgewinnen. Die Aufklärung interpretiert gesellschaftliche Veränderung als das Ergebnis unseres eigenen Willens. Wir erforschen die Welt und suchen nach vernünftigen Erklärungen, um, auf diesen aufbauend, die Welt zu verändern.
Für moderne Historiker und Historikerinnen beginnen Veränderungen der Gesellschaft mit der Entwicklung von Sprache, mit der Fähigkeit der Menschen, einander über Generationen hinweg Geschichten zu erzählen. Damit konnten Ereignisse in eine Reihenfolge, in Bewegungen und Zusammenhänge strukturiert und Veränderungen markiert werden.5 Durch Sprache hat sich das Koordinatensystem der Menschen von Raum und Zeit verändert, was seinerseits das Bewusstsein der Menschen und ihr Handeln verändert hat.
Es zeigt sich: Der Begriff der Veränderung ist uneindeutig und abhängig von den jeweiligen zeitlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Betrachter und Betrachterinnen.
Um für mich selbst einen Begriff der Transformation zu definieren, habe ich mich mit unterschiedlichen Modellen von Veränderungen auseinandergesetzt und versuche, sie zu beschreiben und zu unterscheiden. Dazu habe ich drei Modelle oder Konzepte herangezogen:
das technische Modell
das dialektische Konzept
das systemische Konzept.
Maschinen werden von Ingenieuren entwickelt. Eine Maschine ist von Anfang an mit den Intentionen und Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Erfinder und Erfinderinnen ausgestattet, sie bekommt ihre Form und ihre Standards des Funktionierens gleichsam in die Wiege gelegt. Eine Maschine soll sich auch nicht verändern. Veränderung bedeutet bei einer Maschine: Sie ist kaputt, sie hat eine Panne.
Pannen sind Ausnahmen von den »normalen« Zuständen und Funktionsprozessen, wie sie vom Ingenieur geplant sind und werden als Störung definiert. Die Beseitigung der Panne dient der Wiederherstellung des normalen Funktionierens der Maschine. Pannen werden zunächst auf ihre Ursachen untersucht und dann möglichst repariert. Durch Reparatur verschwindet das Problem, der Prozess kann ungestört weiterlaufen (siehe Abb. 1): Die Waschmaschine wäscht wieder, das Auto fährt wieder, die Rakete fliegt weiter zum Mond.
Abb. 1: Technisches Verständnis von Veränderung
Dem technischen Modell liegen Annahmen zugrunde: Jedes Problem hat eine Ursache, für jedes Problem gibt es eine Lösung, für jede Lösung gibt es ein Werkzeug. Das klingt bestechend einfach und einleuchtend. Dieser Ansatz wurde und wird allerdings nicht nur auf Maschinen, sondern auf alle Fragen des Lebens angewendet: Alle Probleme – Probleme von Menschen, der Gesellschaft und der Natur – könnten einfach repariert werden. Man müsste nur den richtigen Schraubenschlüssel und den richtigen Hebel finden. In unserer Welt, die noch immer mit weitgehend technisch-wissenschaftlichen Vorstellungen beschrieben und erklärt wird, werden die meisten gesellschaftlichen Institutionen und deren Prozesse nach diesem Paradigma gestaltet: Schulen, Krankenhäuser, Unternehmen sind organisiert wie Maschinen, die funktionieren sollen und in deren Kontext Veränderungen als unangenehme Störungen behandelt werden. Das betrifft auch Kinder, Kranke, Mitarbeiter.6
Wer allerdings jemals versucht hat, Veränderungen bei anderen Menschen, etwa bei den eigenen Kindern, nach dieser Logik anzugehen und angenommen hat, es genüge zu sagen, »Räum endlich dein Zimmer auf!«, wird erleben, dass das Kind sein Verhalten vielleicht ändert, vielleicht aber auch nicht, vielleicht in eine andere als die gewünschte Richtung. Veränderung lebender Systeme verlaufen nicht geradlinig wie eine Reparatur, sondern turbulent, unvorhersehbar, in Schleifen, Kreisen, Spiralen oder ganz verrückten Sprüngen.
Um gesellschaftliche Transformation zu begreifen, brauchen wir andere Modelle von Veränderung. Wir brauchen Modelle und Konzepte von Veränderung, die den Eigenheiten lebender Systeme gerecht werden.
»Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.«7
Antonio Gramsci
Der Begriff Dialektik bezeichnet eine Form des Denkens, die durch den Prozess der Bearbeitung von Widersprüchen zu deren Aufhebung – in der doppelten Bedeutung von »Auf-Lösung« und »Aufbewahrung« – und damit zu neuen Erkenntnissen führt. Dialektik ist ursprünglich die Kunst des Diskurses, der Rede und Gegenrede, der Argumentation und Widerlegung zur Überwindung von Widersprüchen. Das Veränderungskonzept der Dialektik zeichnet ein dynamisches Bild von Prozessen, das in einer stetigen Auseinandersetzung zwischen These, Antithese und Synthese besteht, die zu einer Weiterentwicklung des Bewusstseins und Handelns führt.
»Die Wirklichkeit wird im dialektischen Denken als etwas aufgefasst, das sich in ständiger Bewegung befindet, das verändert wird und selbst verändert, das aufhebt und aufgehoben wird.«8
Im Zentrum des dialektischen Veränderungsmodells steht der Gegensatz, der Widerspruch, der Konflikt: ohne Gegensätze, ohne Widersprüche und Konflikt keine Veränderung. Das dialektische Konzept beschreibt Veränderung als einen kontinuierlichen Prozess der Bearbeitung von Widersprüchen. Weil aber das Leben voller Widersprüche und Konflikte ist, kann es keinen »veränderungslosen« Moment im Leben lebendiger Systeme geben, Veränderung ist Leben, das Leben ist Veränderung, keine Veränderung ist gleichbedeutend mit Tod.
Veränderungen lebender Systeme werden im dialektischen Verständnis nicht als lineare Prozesse gedacht, sondern als schleifenförmige Bewegungen, als kontinuierlicher Tanz der Widersprüche. Bei gesellschaftlichen Veränderungen sind wir selbst die Tänzer und Tänzerinnen, die widersprüchliche Themen, Interessen oder Vorstellungen in der Gesellschaft vertreten. Der Tanz ist also nicht harmonisch, man steigt einander durchaus auf die Füße, kämpft um die Führung.
Die Gegensätze werden bei diesem Tanz nicht zerstört und entfernt, sondern bleiben in den beiden Seiten aufgehoben. Das wunderbare Zeichen von Yin und Yang zeigt diese »Aufhebung« und »Behebung« der Gegensätze (siehe Abb. 2):
Abb. 2: Yin und Yang
Das einleitende Zitat von Antonio Gramsci beschreibt die gesellschaftliche Geschichte als einen kontinuierlichen Prozess des Entstehens und Vergehens: Das eine, die These, vergeht in einem Prozess der Dekadenz, des Abstiegs; das andere, die Antithese, entsteht in einem Prozess der Aszendenz, des Aufstiegs. Das dialektische Modell von Veränderung ist ein Prozess, in dem das Alte ein Neues hervorbringt und von diesem abgelöst wird. Das Neue enthält dabei Elemente des Alten, das Alte hat das Neue immer schon wie einen Samen in sich getragen.
Irgendwann wird das Neue selbst zu einem Alten und ein Neues, ein anderes Neues entsteht. Das ist der dialektische Gang der Geschichte und der Entwicklung: Jede gesellschaftliche Situation bringt durch die »Aufhebung der Widersprüche« eine neue Entwicklungsform hervor.
Dieser Prozess verläuft nicht harmonisch und glatt. Im Übergang des einen Prinzips zum anderen entsteht ein Moment des »Niemandslands«, eine Krise (siehe Abb. 3). Von Krise sprechen wir dann, wenn dieser Kampf der Widersprüche noch nicht entschieden ist: Wird sich das Alte – das Traditionelle, Gewohnte, Bekannte – durchsetzen, oder wird sich etwas Neues, das Zukünftige, Riskante, Aufregende Bahn brechen? In dieser Unentschiedenheit ist alles offen, es wird an unterschiedlichen Ecken und Enden gezogen, es wird gekämpft und schließlich entschieden.
Abb. 3: Dialektisches Konzept von Veränderung
In ihrer politischen Ökonomie wenden Karl Marx und Friedrich Engels diese Formen des dialektischen Prozesses auf gesellschaftliche Veränderungen an: Als Träger dieser gesellschaftlichen Hauptwidersprüche sahen Marx und Engels die unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen, ihre unterschiedlichen Lebensbedingungen und gegensätzlichen Ziele und Interessen:
»Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«9
So lautet die einleitende These des Manifests der Kommunistischen Partei (erstmals veröffentlicht in London im Februar 1848). Gesellschaftliche Entwicklungen werden als Auseinandersetzungen zwischen den jeweils »herrschenden Klassen« und den »beherrschten« Klassen gesehen. Dieser Prozess – der Klassenkampf – treibt im marxistischen Bild die gesellschaftlichen Veränderungen, die Geschichte, an. Aus diesem Verständnis von Veränderung und Geschichte entstand der kommunistische Traum einer gesellschaftlichen Situation, in der die gesellschaftlichen Widersprüche aufgehoben sind und die zu einer neuen Synthese, der »klassenlosen Gesellschaft«, führt.
Die Phase des Übergangs ist eine Zeit des Kampfes, in der es um die Frage geht, welches Prinzip, welche Interessen, welche Standpunkte sich durchsetzen. Es sind Machtkämpfe, die diese Wendepunkte der Gesellschaft prägen.
Yuval Harari drückt das so aus: »Wir leben an der Schwelle zwischen Himmel und Hölle.«10
Ausgangspunkt für systemisches Denken ist der Begriff »System«. Ein System wird als ein Set von Elementen beschrieben, die miteinander verbunden und zusammengehörig sind. Diese Elemente markieren gemeinsam eine Systemgrenze und schaffen eine Differenz zwischen dem Innen, dem System, und dem Außen, der Umwelt des Systems.
Wer aber wählt die Elemente aus, wer setzt sie in einen Zusammenhang, wer markiert die Grenze des Systems und seiner Umwelt? Die Antwort aus systemischer Sicht lautet: Es ist der Beobachter, wir sind es selbst, die Systeme schaffen, indem wir Elemente auswählen und zusammenstellen und indem wir unterscheiden, was zum System gehört und was nicht. Systeme sind daher nicht einfach so da, sie sind unsere eigenen Konstruktionen.
Systemisches Denken ist ein komplexes Theoriegebäude12, das sich mit folgenden Fragen beschäftigt:
1)Wie konstruiert der Beobachter, wie entstehen Wahrnehmung und Erkenntnis über die Welt?
2)Wie konstruiert der Beobachter Interaktionen und Bewegungen zwischen den Elementen des Systems, und welche Regeln, welche Muster zeichnet er bei den Operationsweisen lebender Systeme?
3)Welche Systeme unterscheiden wir?
Biologische
Systeme wie Pflanzen und Tiere;
kognitive
Systeme, damit sind Menschen gemeint, und
soziale
Systeme wie Gruppen, Familien, Organisationen bis hin zur menschlichen Gesellschaft.
Ein systemisches Konzept von Veränderung setzt bei der Frage an, welche Prozesse in lebenden Systemen zu beobachten sind, welche Veränderungen diese Prozesse aufweisen und nicht zuletzt bei der Frage, welche Rolle Beobachter innehaben. Dabei spielt die Kybernetik eine zentrale Rolle.
Das Wort Kybernetik bedeutet Steuerung und Regelung und beschreibt Phänomene der wechselseitigen Beeinflussung der Elemente eines Systems. Kybernetische Prozesse sind Regelkreise, bei denen jedes Element zugleich Ursache und Wirkung der Interaktion ist. Niemand steuert diese Interaktion, sie steuert sich gleichsam selbst (siehe Abb. 4).
Abb. 4: Kybernetischer Regelkreis
Ein für solche Regelkreise häufig herangezogenes technisches Beispiel ist die Zentralheizung: Der Thermostat wird auf eine bestimmte Temperatur eingestellt, die Therme heizt, bis die gewünschte Temperatur erreicht ist, daraufhin gibt der Thermostat ein Signal an die Therme, die aufhört zu heizen, bis die Temperatur wieder absinkt. Der Thermostat gibt daraufhin ein Signal, damit die Therme wieder heizt, bis die gewünschte Temperatur wieder erreicht ist, usw. Genauso funktioniert auch die Steuerung des Füllstands eines WC-Spülkastens als wechselseitige Steuerung zwischen dem Schwimmer und dem Wasserzufluss. Das Besondere an solchen Systemen ist, dass sie so gebaut sind, dass sie keine Steuerung von außen brauchen, sondern dass die Elemente einander durch Feedback gegenseitig steuern. Es ist in diesem Prozess unentscheidbar, was Ursache ist und was Wirkung oder, anders gesagt, wo der Prozess beginnt.
Muster entstehen durch Wiederholungen. Das Gehen des immer gleichen Weges lässt einen Trampelpfad entstehen. Werden Interaktionen öfter wiederholt, entstehen Interaktionsmuster: Reagiert man in einer kybernetischen Schleife immer wieder in gleicher Weise aufeinander, kann man irgendwann nicht mehr feststellen ist, wer damit begonnen hat. Muster halten sich selbst durch Wiederholung aufrecht, sie bestätigen sich selbst und tragen zur Aufrechterhaltung bestehender Bedingungen im System bei. Muster sind das Symbol des Stillstands.
Im systemischen Sinne bedeutet Veränderung vor allem eine Veränderung von Mustern. In sozialen Systemen bedeutet sie die Veränderung von Mustern der Wahrnehmung, des Verhaltens und der Interaktion bzw. der Kommunikation. Veränderung sozialer Systeme ist der Prozess von einem Muster zu einem anderen (siehe Abb. 5).
Abb. 5: Musteränderungen (Flipchart von Fritz B. Simon)
13
Nicht jede Veränderung ist allerdings ein Musterwechsel. Wenn Veränderungen lediglich ein oder mehrere Elemente im System betreffen, also etwa ein neuer Tisch für das Pingpongspiel benutzt wird, dann ändert sich damit nicht das Spiel, das Muster des Spiels bleibt gleich. Man kann möglicherweise besser spielen, aber es bleibt Pingpong. Solche Veränderungen werden im systemischen Feld Veränderungen erster Ordnung genannt.
Beziehen sich Veränderung in sozialen Systemen allerdings auf Muster der Kommunikation, also auf die Art und Weise, wie ein soziales System operiert, wie darin kommuniziert wird, dann wird die Kommunikation selbst zum Gegenstand der Veränderung. In diesem Fall sprechen wir von einem Musterwechsel und von einer Veränderung zweiter Ordnung. In Organisationen kann Veränderung zweiter Ordnung bedeuten, dass sich die hierarchische Struktur und das Muster der Top-down-Entscheidungen zu einer partizipativen Entscheidungsform verändert.
Veränderungen zweiter Ordnung bedeuten einen Paradigmenwechsel, eine fundamental andere Weltsicht und neue Prinzipien der Gestaltung von Kommunikation, Strukturen, Werten und Problemlösungen. Musterwechsel sind tiefgreifende Veränderungen und lassen keinen Stein auf dem anderen, sie verunsichern und irritieren. Veränderungen zweiter Ordnung sind aufwendig und mühsam: So etwas unternimmt man nur, wenn man mit seinem Latein am Ende und an der Grenze der Handlungsfähigkeit angekommen ist. Davon müssen Menschen überzeugt und für diese Veränderung gewonnen werden.
Es stellt sich die Frage, wie und woran die Mitglieder von sozialen Systemen erkennen können, dass das System mit seinem Latein am Ende ist und es Veränderungsbedarf gibt? Das kann nur geschehen, indem die Mitglieder des Systems, sich in eine neue Beobachtungsperspektive begeben, aus der sie so etwas sie einen Blick von außen auf das System erhalten. Wir sprechen hier von der Beobachtung zweiter Ordnung. Dieser Begriff geht auf Heinz von Foerster zurück, der von zwei Regelkreisen spricht: dem einen zwischen den Elementen des Systems und dem anderen zwischen dem Beobachter und dem von ihm beobachteten System. Er nennt das die »Kybernetik der Kybernetik«.14
Will ein Beobachter seine eigene Wirkung auf ein von ihm beobachtetes System erkennen, wird er sich in eine neue Beobachterperspektive begeben, in der er sich selbst beim Beobachten beobachtet, er wird zum Beobachter zweiter Ordnung. Der Beobachter begibt sich damit gleichsam auf den Balkon in der Muppet Show und sieht sich selbst beim Agieren gemeinsam mit den anderen Akteuren und Akteurinnen auf der Bühne zu, mit Kermit, Miss Piggy und den anderen. Von oben und außen kann man die Muster des Spiels erkennen. Das geht nur vom Balkon aus. Das sieht man nicht, wenn man auf der Bühne steht und mitspielt.
Der systemischen Konzeption von Veränderung in sozialen Systemen liegt die Annahme zugrunde, dass Veränderungen zweiter Ordnung, Musterveränderungen der Kommunikation, nur aufgrund einer organisierten und kollektiven Beobachtung zweiter Ordnung, durch gemeinsames Wahrnehmen, Reflektieren und Lernen bezüglich der Muster im System und des eigenen Beitrags der Beobachter dazu in Gang gesetzt werden. In der systemischen Beratung von Organisationen hat sich schon seit Langem der Begriff der lernenden Organisation etabliert.15 Wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht, wird es ein solches Konzept ebenfalls brauchen: eine lernende Gesellschaft.
Und nicht zuletzt müssen wir den Prozess der Veränderung auch selbst beobachten können:
»Aber unbeobachteter Wandel ist kein Wandel, weil das System darauf nicht reagieren kann.«16
Eine Veränderung zweiter Ordnung – ein Paradigmenwechsel – ist also immer auch ein beobachteter Prozess.
Das von Simon gezeichnete Bild der Musterveränderung könnte man daher durch den Prozess der Veränderung zweiter Ordnung ergänzen (siehe Abb. 6): durch den Prozess der Selbstbeobachtung und Selbsterforschung der Organisation.
Abb. 6: Beobachtung zweiter Ordnung – das System beobachtet sich bei der eigenen Veränderung
»Gesellschaftliche Kommunikation entscheidet über Macht und über die Richtung, in die sich Gesellschaften entwickeln.«17
Armin Thurnher
Der Begriff Transformation kann unterschiedlich definiert werden. Ich stelle hier mein Modell vor: Es umfasst nicht nur die Inhalte der Veränderung, sondern vor allem den Prozess des Wandels. Dafür verbinde ich das dialektische mit dem systemischen Konzept:
Das dialektische Konzept sieht Transformation als einen dynamischen und krisenhaften Prozess zwischen alten und neuen gesellschaftlichen Interessen. Dabei geht es vor allem um Muster der Erhaltung von Macht über die Entscheidungen, Kommunikation und Kooperation und um die Veränderung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen (siehe
Abschn. 1.2
).
Im systemischen Verständnis bedeutet Transformation vor allem eine Veränderung des bestehenden Paradigmas. Es ist ein Musterwechsel auf der Ebene der Beobachtung, Erklärung und Bewertung gesellschaftlicher Muster, die zu verändertem gesellschaftlichen Agieren führen. Veränderung entsteht, wenn die bestehenden Muster etwa von Macht und Entscheidungen als dysfunktional, schädlich und bedrohlich bewertet werden.
Bildhaft lässt sich dieses Modell so darstellen wie in Abbildung 7 gezeigt.
Abb. 7: Dialektisch-kybernetisches Modell von Veränderung
Gesellschaftliche Transformation bedeutet vor diesem Hintergrund:
einen gesellschaftlichen Paradigmen- und Musterwechsel im Denken und Handeln
einen krisenhaften und nicht geradlinigen Prozess der Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Prinzipien und Regeln, die im Allgemeinen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen und Vorstellungen verbunden sind
einen sich selbst beobachtenden und selbst beobachteten gesellschaftlichen Lernprozess, den Weg in eine lernende Gesellschaft.
Die Kernfrage dabei ist, wie der Prozess der Transformation eingeleitet, gestaltet und organisiert werden kann, welche Strategie also entwickelt werden kann.
Ich habe mir in diesem Buch die wahnwitzige Aufgabe gestellt, ein Modell für eine Strategie für gesellschaftliche Transformation zu entwickeln. Als Grundlage dafür habe ich die Mittel herangezogen, die ich als Beraterin bei Transformation von Organisationen erlernt und erprobt habe:
systemisches Denken:
Dieses ist die theoretische Grundlage für alle beraterischen Tätigkeiten bei der Begleitung komplexer Veränderungsprozesse. Ohne systemisches Denken ist für mich gesellschaftliche Transformation unvorstellbar.
Methoden und Instrumente des systemischen Change-Managements:
Diese haben sich in der Begleitung und Gestaltung von Transformationsprozessen in komplexen Systemen bewährt und könnten – so die Hypothese und meine Hoffnung – auch in gesellschaftlichen Transformationsprozessen hilfreich sein.
meine (professionelle und gesellschaftspolitische) Haltung:
Hinter jeder Intervention steht jemand, der sie setzt. Theorie und Instrumente werden eigenen Werten und Prinzipien entsprechend gesetzt. Diese haben meine gesamte Praxis als Beraterin begleitet, ihnen bin ich immer treu geblieben.
Dieses Buch soll ein »großes Bild« in drei Richtungen bieten:
1)das große Bild eines Beratungsprozesses der Gesellschaft:
–Kontextklärung: Wer ist das »Kundensystem«?
–Problembeschreibung und Auftragsklärung
–Interventionen
2)das große Bild der Krisen, auf die die Gesellschaft Antworten finden muss:
–Ökonomie
–Ökologie
–Demokratie
3)das große Bild des Strategieprozesses:
–Treiber der Veränderung
–Visionen
–Ressourcen
–erste Schritte
Abbildung 8 gibt einen Überblick über die Struktur des Buches.
Abb. 8: Fahrplan dieses Buches
»Gesellschaft betreibt Kommunikation, und was immer Kommunikation betreibt, ist Gesellschaft.«18
Niklas Luhmann
Am Beginn jeder Beratung stehen die Fragen: Was ist das Kundensystem? Womit habe ich es hier zu tun? Was gehört dazu? Wie tickt es? Was sind seine Besonderheiten und Eigenlogiken, und vor allem: Wie verändert es sich? Das herauszufinden ist bereits in Organisationen schwierig genug, aber wir können uns an einigen Gegebenheiten festhalten: Oft haben wir ein gewisses Vorwissen über die Organisation, und über die Branche haben wir zumeist Vorwissen. Dennoch muss man genau hinschauen, worauf und auf wen wir uns einlassen.
Die Gesellschaft war jedoch noch nie Kunde von Beratung. Wir müssen uns deshalb ein umso genaueres Bild von diesem speziellen Kunden machen. Hier also der waghalsige Versuch, die Gesellschaft als »Kunden« der Beratung zu betrachten.
Organisationen sind nicht direkt beobachtbar. Organisation ist ein Übertitel für eine Reihe von Elementen: die Gebäude, der Name, die Produkte, die Menschen der betreffenden Organisation. Wir können Daten sammeln hinsichtlich der Branche, Produkte, Strukturen und Eigentumsformen, darüber, wie sich das Unternehmen in der Öffentlichkeit präsentiert, für welche Kunden- und Marktsegmente das Unternehmen wichtig ist? Was davon kann man beobachten?
Die Gesellschaft ist noch schwieriger zu beobachten als Organisationen: Sie ist das Wasser, in dem wir schwimmen, die Luft, die wir atmen, das Leben, das wir mit anderen teilen. Gesellschaft kann man erst erkennen, wenn man sich von ihr entfernt, sie kann erst aus großer Entfernung und Flughöhe gedacht und beschrieben werden.
Die Gesellschaft zu beobachten und Aussagen über sie zu machen ist eine beinahe unmögliche Aufgabe. Dennoch werden offensichtlich Aussagen über die Gesellschaft gemacht: in der Wissenschaft – vor allem in den Sozialwissenschaften wie Soziologie, Anthropologie oder auch Ökonomie –, in der Kunst, die sich kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzt, in Teilen der Zivilgesellschaft, die auf Missstände hinweisen, mitunter sogar in der Politik. Es ist also offenbar möglich, sich gedanklich auf einen Balkon zu setzen, um von dort aus auf die Gesellschaft zu blicken und Muster, Probleme und Veränderungsmöglichkeiten zu erkennen.
Unterschiedliche Beobachter beschreiben Gesellschaft aus unterschiedlichen Perspektiven: Ethnologen bezeichnen Gesellschaft vielleicht als einen auf Riten, Werten und Regeln bestehenden Zusammenschluss von Menschen. Für Historiker ist Gesellschaft ein Ablauf von Ereignissen, ein kontinuierliches Entstehen und Vergehen von Formen des Zusammenlebens und deren Wirkungen. Für Ökonomen ist Gesellschaft eine Art und Weise, wie Güter erzeugt, verteilt, vermarktet werden. Für Philosophen stehen Fragen von Sinn, Ethik, Widersprüche, das Verhältnis der Person und des »Ganzen« im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Gesellschaft ist aber aus aber zumindest zwei Gründen nicht objektiv beobachtbar: erstens, weil wir selbst Teile der Gesellschaft sind; und zweitens ist Gesellschaft kein Ding, sondern ein Konstrukt: etwas, das wir als ein Ganzes definieren. Konstrukte sind subjektiv und nicht beobachtbar, auch nicht für Außerirdische. Sie existieren nur in unseren Köpfen und werden von jedem Menschen anders definiert. So gesehen kann weder ich noch die Wissenschaft, die Kunst oder E. T. etwas über die Gesellschaft sagen, das den Anspruch auf Objektivität erfüllen könnte. Über die Gesellschaft können nur Thesen formuliert werden.
Ich stütze mich gern auf Theorie. Wenn es um Thesen über Gesellschaft geht, erscheinen mir die Soziologie und Systemtheorie diesbezüglich als besonders hilfreich: