Systemische Lerntherapie - Mike Lehmann - E-Book

Systemische Lerntherapie E-Book

Mike Lehmann

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Beschreibung

Lerntherapie ist mehr als Nachhilfe. Sie wirft einen ganzheitlichen Blick auf das Kind und seine Lernstörungen und begreift diese nicht als Defizit, sondern als Lernchance für das Kind und seine Umwelt. Mike Lehmann und Jens Eitmann leiten dazu an, wie man auf wertschätzende und ressourcenorientierte Weise mit dem Kind und seinen Bedürfnissen arbeitet, die Ursachen für eine Lernstörung ergründet und dem Kind dabei hilft, durch Neugier, Kreativität und Begeisterung wieder sein volles Potenzial zu entfalten. Weil es dafür kein Patentrezept gibt, das bei jedem Kind und jedem Problem helfen würde, vermitteln die Autoren Methoden, wie Lerntherapeuten gemeinsam mit ihren Schülern den individuell besten Weg erarbeiten können. Im Kernteil des Buches werden die Leitlinien der systemischen Lerntherapie anhand von Fallbeispielen aus der praktischen Arbeit erläutert.

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Mike LehmannJens Eitmann

SystemischeLerntherapie

Ein integrativer, beziehungs- undressourcenorientierter Ansatz

Zweite, aktualisierte Aufl age, 2021

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Umschlagfoto: © Uwe Göbel

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite, aktualisierte Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0412-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8346-4 (ePUB)

© 2014, 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorbemerkungen

1Einführung

1.1Lerntherapie

1.1.1Was ist Lerntherapie?

1.1.2Warum Lerntherapie systemisch?

1.1.3Besonderheiten des Konzeptes

1.1.4An wen richtet sich die systemische Lerntherapie? (Indikationen)

1.2Haltung und Menschenbild

1.2.1Die Arbeit mit Kindern

1.2.2Empathie und therapeutische Arbeit

1.2.3Therapeutisches Selbstverständnis

1.3Gesellschaftlicher Kontext

1.3.1Historische und aktuelle Entwicklungen

1.3.2Anwendungsfelder der Lerntherapie

1.4Vorstellung der Fallbeispiele

2Theoretischer Hintergrund

2.1Neurobiologie und die Folgen

2.1.1Genetik und zwischenmenschliche Beziehungen

2.1.2Spiegelneurone, Spiegelung und Entwicklung

2.1.3Reaktion auf Stress

2.1.4Wie lernt das Gehirn?

2.1.5Bedeutung für die Praxis

2.2Entwicklungspsychologische Aspekte

2.2.1Die Entwicklungsaufgaben nach Robert J. Havighurst

2.2.2Die kognitive Entwicklung nach Jean Piaget

2.2.3Die psychoanalytische Entwicklungstheorie nach Erik H. Erikson

2.2.4Bindung

2.3Die Kind-Umwelt-Beziehung

2.3.1Annahmen über Aktivität und Passivität von Mensch und Umwelt

2.3.2Der kulturhistorische Ansatz nach Vygotsky

2.3.3Leben in ökologischen Systemen

2.4Fallbeispiele (Anamnese)

3Zentrale Aspekte der systemischen Lerntherapie

3.1Strukturelle Aspekte

3.1.1Familiäre Kontexte

3.1.2Schulische Kontexte

3.1.3Lösungen der Kinder

3.1.4Schlussfolgerungen

3.1.5Fallbeispiele

3.2Entstehung und Auflösung von Lernschwierigkeiten

3.2.1Das systemische Lern-Beziehungs-Modell

3.2.2Was dem Lernen entgegensteht

3.2.3Interventionsziele/Wiederherstellung der Lernbereitschaft

3.2.4Fallbeispiele

4Leitlinien der praktischen Arbeit

4.1Grundlagen

4.1.1Beziehungsorientierung

4.1.2Lernen durch Erfahrung

4.1.3Leitlinien

4.2Diagnostik und Ansatzpunkte für Interventionen

4.2.1Konventionelle multiaxiale Diagnostik und Tests

4.2.2Lerntherapeutische Systemdiagnostik

4.2.3Fallbeispiele

4.3Therapeut-Kind-Interaktion

4.3.1Die Pyramide der lerntherapeutischen Arbeit

4.3.2Ressourcenorientierte Interventionen

4.3.3Kognitiv orientierte Interventionen

4.3.4Fallbeispiele

4.4Therapeut-Eltern-Interaktion

4.4.1Bedürfnisse

4.4.2Zusammenarbeit

4.4.3Gestaltung

4.4.4Themen

4.4.5Fallbeispiele

4.5Therapeut-Umfeld-Interaktion

4.5.1Therapie eines Bildungssystems

4.5.2Gestaltung

4.5.3Themen

4.5.4Fallbeispiele

5Resümee

5.1Was ist aus den Kindern der Fallbeispiele geworden?

5.2Zusammenfassung und Abschluss

Anhang

A) Regelungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)

B) Regelungen im Psychotherapeutengesetz (PsychThG)

C) Multiaxiale Diagnostik

Literatur

Über die Autoren

Vorbemerkungen

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit dem Thema »Lerntherapie« beschäftigen. Ebenso existieren unterschiedliche Ausbildungen zum Lerntherapeuten oder zum Lernpädagogen.1 Das Feld ist im Wandel, gerade an den Schulen ist viel Bewegung durch die Erprobung neuer Konzepte, und in jüngerer Zeit gab es wichtige neue Erkenntnisse zum Thema »Lernen«. Eindeutige und gut funktionierende Standards haben sich noch nicht ausbilden können. Das Fehlen staatlicher Regulierung führt auf den ersten Blick zu einer Unübersichtlichkeit der verschiedenen lerntherapeutischen Arbeitsformen und auch der Ausbildungsgänge. Darin liegt aber auch die Chance für Lerntherapeuten, sich aus dem Angebot an Möglichkeiten diejenige Arbeitsweise bzw. Ausbildung zu wählen, die den eigenen Neigungen und Interessen am besten entspricht.

Mit dem vorliegenden Buch für eine Tätigkeit als Lerntherapeut oder Lernpädagoge greifen wir verschiedene bereits vorhandene praktische und therapeutische Ansätze und wissenschaftliche Erkenntnisse auf, integrieren sie und entwickeln sie wiederum ein Stück weiter. So werden wir die systemische Perspektive besonders herausstellen und deutlich machen, dass das Kind sich in ständiger Wechselwirkung mit seiner Umwelt befindet und zu welchen Konsequenzen dies führt. Handlungspraktisch werden wir zeigen, wie sich daraus konkrete Interventionsansätze ableiten lassen. Schließlich erfährt der integrative Aspekt gelungener lerntherapeutischer Arbeit Berücksichtigung durch den Einbezug von Entspannungs-, Bewegungs- und Kreativtechniken sowie der fachdidaktischen Begleitung.

70–80 % der Kinder gehen durch unser Schulsystem relativ problemlos durch. Solange es in der jetzt existierenden Form beibehalten wird, muss für die übrigen 20–30 % etwas getan werden. Auch gut ausgebildete Lerntherapeuten können das Schulsystem nicht revolutionieren. Aber sie können ein Stück zur Verbesserung beitragen, und zwar für diejenigen Kinder und Eltern, die das wirklich brauchen. Als Lerntherapeut ist man in einer anderen Position, als die Lehrer und die Referendare es sind, deren Auftrag es ist, für die ganze Klasse da zu sein. Ein Lerntherapeut arbeitet mit Einzelnen oder Kleingruppen und hat daher andere Möglichkeiten der Intervention, beispielsweise auch den Eltern gegenüber. Die Grundlage dafür möchten wir mit dem vorliegenden Lehrbuch vermitteln.

Wir begleiten seit vielen Jahren Kinder, Eltern und Lehrer lerntherapeutisch und bilden in der Lerntherapie aus. Dabei wurde das Konzept aufgrund der Erfahrungen in der Praxis sowie auch von Ergebnissen der Forschung ständig weiterentwickelt. Als Ziel einer Lerntherapie schlagen wir vor, die Eltern gewissermaßen zu »Sachverständigen« für ihre Kinder auszubilden. Dies ist nicht so technisch gemeint, wie es zunächst klingt. Der Umgang mit Kindern sollte von Herzen kommen, und in aller Regel tut er das auch. Dort jedoch, wo sich dennoch Probleme zeigen, möchten wir Wissen und alternative Handlungsoptionen anbieten, um den Betroffenen zu helfen, das, was vom Herzen kommt und gut gemeint ist, besser in äußere Handlungen umsetzen zu können. Daher findet nach unserem Konzept sowohl in diesem Buch als auch in der lerntherapeutischen Praxis immer auch Wissensvermittlung statt. Im vorliegenden Buch ist das vor allem der Theorieteil, in dem wir Konzepte vorstellen, die sich für die Arbeit als nützlich herausgestellt haben. Theoretische Ansätze, die nach unserer Erfahrung nicht nützlich sind, stellen wir nicht dar. Natürlich handelt es sich dabei um eine subjektive Auswahl, für andere Lerntherapeuten können andere theoretische Ausgangspunkte nützlich sein.

Ebenso kann es in der lerntherapeutischen Praxis ein Ziel sein, den Eltern Wissen zu vermitteln. Wer nur eine einzige Handlungsstrategie für eine bestimmte Situation kennt, dem kann man nicht vorwerfen, dass er keine bessere verwendet. Also müssen auch andere Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Je mehr man über seine Kinder weiß, zum Beispiel auch an entwicklungspsychologischen Grundlagen, desto besser kann man auf sie eingehen und verstehen, was geschieht. Denn zwar weiß man nur, was man sieht, aber man sieht auch nur, was man weiß (frei nach Goethe).

Neben der Darstellung des unseres Erachtens relevanten Faktenwissens wollen wir aber auch aufzeigen, wie es gelingen kann, den Kindern und Eltern ein nützlicher Begleiter zu sein auf ihrem Weg des Wachstums. Auch wenn den Eltern und Kindern im konkreten Fall funktionale Handlungsmöglichkeiten zu fehlen scheinen, so sind wir doch davon überzeugt, dass alle Menschen die notwendigen Voraussetzungen besitzen, sie für sich zugänglich zu machen.

Unter der integrativen Lerntherapie verstehen wir die Anwendung therapeutischer Interventionsformen aus unterschiedlichen Therapierichtungen unter Einbezug einerseits von Praxiserfahrungen und andererseits von Forschungsergebnissen auf die beteiligten Personen im Umkreis eines Lernproblems, also auf die Kinder, die Eltern sowie das übrige Umfeld (Lehrer, Verwandte, andere Therapeuten usw.). Unsere lerntherapeutische Arbeit ist durch eine systemische Haltung geprägt. Sie ist sowohl ganzheitlich als auch individualisiert. Damit ist sie integrativ und geht gleichzeitig noch ein Stück weiter, indem sie in großem Maße die Umwelt einschließt und gestaltet. In der systemischen Lerntherapie tun wir ebendieses, und zwar konsequent, mit einem systemischen Verständnis der ablaufenden Prozesse und mittels der Arbeitsweise, wie sie sich in der systemischen Therapie bewährt hat. So sehen wir die systemische Lerntherapie als Fortschreibung der Entwicklung hin zu einem immer ganzheitlicheren Verständnis kindlicher Lernschwierigkeiten.

1Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichten wir hier und im Folgenden auf die explizite Nennung beider Geschlechter.

1Einführung

Mit diesem Buch möchten wir Ausgangspunkte und Grundlagen einer Lerntherapie darstellen, die systemisch, ökopsychologisch und beziehungsorientiert ausgerichtet und damit in einem umfassenden Sinne integrativ ist. Im einführenden 1. Kapitel wird es um unser Verständnis von Lerntherapie und die von uns vorgeschlagene Haltung bezüglich der Arbeit mit Menschen sowie um Aspekte des gesellschaftlichen Rahmens gehen. Im 2. Kapitel stellen wir die theoretische Basis dar, von der wir ausgehen: Erkenntnisse aus der Neurobiologie, der Entwicklungspsychologie und der Ökopsychologie. Das 3. Kapitel beschäftigt sich mit den Strukturen, besonders den familiären, in denen das Kind steht, und mit der Frage, wie Lernstörungen entstehen und welche Möglichkeiten es gibt, sie wieder aufzulösen. Das 4. Kapitel behandelt die praktische lerntherapeutische Arbeit: welche Bedeutung der Beziehungsgestaltung zukommt, welche Form der Diagnostik sinnvoll ist und wie der Lerntherapeut konkret mit dem Kind, den Eltern und dem weiteren Umfeld arbeiten kann. Das 5. Kapitel zieht ein Resümee.

Beginnend am Ende der Einführung, wird immer wieder auf zwei Fallbeispiele Bezug genommen, die die Darstellungen in anschaulicher Weise auf die Praxis übertragen. Im Anhang schließlich finden sich Ausführungen zu speziellen Themen, die nicht unmittelbar für die lerntherapeutische Arbeit wichtig, möglicherweise aber für manche Leser interessant sind; dies sind rechtliche Aspekte sowie die multiaxiale Diagnostik.

Eine zentrale Aufgabe des Lerntherapeuten wird immer sein zu erkennen, was beim jeweiligen Kind als Schwierigkeiten wahrgenommen wird und was dementsprechend individuell zu tun ist. Für Lerntherapeuten ist es wichtig, ihr inneres Gespür zu entwickeln, um die individuellen Aspekte in der Situation des betroffenen Kindes wahrnehmen zu können. Das heißt zu verstehen, was bei dem Kind individuell in seinem Kontext geschieht, was nicht gut läuft, und auch wahrzunehmen, welche ersten Ideen für den Therapieplan kommen. Es wird für die praktische Arbeit eine Angebotspalette eröffnet, aus der passende Mittel ausgewählt werden können. Diese Palette aus ganz unterschiedlichen Möglichkeiten, mit dem Kind und den Eltern zu arbeiten, wird im Verlaufe des Buches erweitert. Auch anschließend wird sie im Laufe der Jahre durch die praktische Tätigkeit und die Erfahrungen in der lerntherapeutischen Arbeit immer weiter angereichert.

1.1Lerntherapie

1.1.1Was ist Lerntherapie?

Ziel der Lerntherapie ist es, die Bedingungen so zu verändern, dass das eigentliche individuelle Lern- und Leistungspotenzial des Kindes (wieder) zur Entfaltung kommen kann. Lerntherapie zielt nicht darauf ab, das Kind auf ein Leistungsniveau zu bringen, das es von sich aus unter »normalen« im Sinne von optimalen (Umwelt-)Bedingungen nicht erreichen könnte. Es geht vielmehr darum, für das Kind solche Bedingungen zu schaffen, dass es sein in ihm angelegtes Potenzial verwirklichen kann. Wenn Eltern mit ihrem Kind in der Lerntherapie vorstellig werden, ist die Situation typischerweise so, dass das Kind hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist, das heißt, es leistet bzw. kann weniger, als es könnte, wenn es nicht behindert worden wäre. Aufgabe des Lerntherapeuten ist daher, die nicht entwickelten Fähigkeiten und Ressourcen, die das Kind – wie jeder Mensch – in sich trägt, zu entdecken und ihre Entfaltung zu ermöglichen. Dies geschieht einerseits durch die Veränderung der Rahmenbedingungen, in denen das Kind lebt, und andererseits durch Stärkung der Persönlichkeit des Kindes. Dazu gehören wesentlich Wertschätzung, Akzeptanz, Ermöglichung positiver Erfahrungen und die Vermittlung konkreter Methoden und Techniken. Die Abbildung 1 veranschaulicht den Zusammenhang.

Abb. 1: Ziel der Lerntherapie

Die Ziffern 1 und 2 bezeichnen zwei Kinder, die kontinuierlich ein verschiedenes Leistungsniveau aufweisen. Ab dem Zeitpunkt Z steigt das Leistungsvermögen von Kind 2 weniger stark an, als es der Fall sein könnte, wenn nicht ein bestimmtes Ereignis (beispielsweise eine Überforderungssituation in der Schule oder im häuslichen Umfeld) zu wirken begonnen hätte und das Kind fortan hemmend beeinflussen würde. Wären alle Bedingungen ideal gewesen, so wäre die Linie des Leistungsvermögens gleichmäßig weiter angestiegen, wie bei Kind 1 der Fall. Kind 2 entfaltet also nicht sein volles Potenzial. Aufgabe der Lerntherapie ist es, die Distanz, die der rechte Pfeil symbolisiert, so weit es geht zu verkleinern. Sie kann jedoch nicht die Unterschiede zwischen den beiden Kindern verringern, indem Kind 2 auf das Leistungsniveau von Kind 1 gebracht wird (linker Pfeil).

Damit eine Lerntherapie angemessen wirken kann, sollte sie integrativ, systemisch und ganzheitlich sein.

Unsere Lerntherapie ist integrativ, weil verschiedene Methoden und Arbeitsformen dazugehören, die ineinander integriert werden und so zu einem umfassenderen Ansatz in der Arbeit führen. Dies sind zum Beispiel Bewegungsübungen, Entspannungsübungen, Stärkung besonders der schöpferischen Möglichkeiten und Ressourcen, Gespräche mit den Eltern, Lernspiele, Brain Gym, Kreativitätstechniken, Einüben sozialer Fertigkeiten, die Arbeit am Symptom und anderes mehr.

Unsere Lerntherapie ist systemisch, weil das Kind, das die Schwierigkeiten zeigt, immer in einem sozialen System steht. Diesem Beziehungsgefüge, bestehend aus Eltern, Erziehern, Lehrern, Verwandten, Mitschülern, Freunden usw. muss die lerntherapeutische Arbeit Rechnung tragen. Das menschliche Miteinander ist essenziell für jeden Menschen, von Geburt an und das ganze Leben lang. Einerseits gestalten wir unsere Beziehungen, andererseits wirken die Menschen, mit denen wir zu tun haben, auf uns. In schwierigen Situationen sollte daher das soziale Umfeld einbezogen werden. Bei lernschwachen Schülern ist es zum Beispiel oft wichtig, Verständnis für die Situation des jeweiligen Kindes bei den Eltern zu wecken und gemeinsam zu erarbeiten, wie sie ihrem Kind am besten helfen können.

Unsere Lerntherapie ist ganzheitlich, weil das Kind in seiner Ganzheit als Mensch gesehen wird, also mit seinen geistigen Fähigkeiten, seinen seelischen Eigenschaften und Bedürfnissen und seinen körperlichen Gegebenheiten. Entsprechend muss eine Lerntherapie auf allen Ebenen ansetzen, indem sie Geist, Seele und Körper gleichermaßen anspricht. Der integrative Mix der lerntherapeutischen Arbeitsmethoden macht dies möglich.

Mit diesem Lehrbuch fokussieren wir auf die lerntherapeutische Arbeit mit Kindern im Alter zwischen sechs und etwa zwölf Jahren. Für andere Altersstufen, also Kleinkinder, Jugendliche und Erwachsene, wäre die Konzeption anders; es wären dann andere Lerntheorien Grundlage, und die Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1948; Erikson 1973; s. auch Abschn. 2.2) bzw. der kognitive Entwicklungsstand (Piaget 1972, 1974, 1976) sähen anders aus. Die grundlegenden Prinzipien gelten nach unseren Erfahrungen aber auch für die Arbeit mit Menschen anderer Altersstufen.

Unser Konzept bezieht sich somit auf den Grundschulbereich. Da ältere Schüler ab etwa der Pubertät mit einigen wichtigen der hier beschriebenen lerntherapeutischen Strategien nicht erreicht werden, ist dann möglicherweise eher eine andere Form der Begleitung wie zum Beispiel die Psychotherapie angezeigt. Dementsprechend findet dort auch kaum oder keine Elternarbeit statt, die bei den jüngeren Kindern eine große Rolle spielt. Für Jugendliche besteht eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben zum Beispiel darin, sich von ihren Eltern zu lösen.

Lerntherapie ist keine Nachhilfe. In der Nachhilfe geht es um die Wiederholung eines bestimmten Schulstoffs mit dem Ziel, dass das betroffene Kind ihn besser beherrscht, wobei Thema ausschließlich der Stoff und nicht die Persönlichkeit und Lebenssituation des Kindes ist. Nachhilfe ist angemessen, wenn das Kind keine besonderen weiteren Schwierigkeiten im Leben hat und im Prinzip gesund ist, sich wohlfühlt, in seiner Familie gut aufgehoben ist, keinen Widerstand gegen die Schule oder das Lernen hat und lediglich in einem oder wenigen einzelnen Fächern ein konkreter Übungs- oder Erklärungsbedarf besteht.

1.1.2Warum Lerntherapie systemisch?

Die systemische Therapie ist aus der Familientherapie entstanden und entwickelt sich fortlaufend weiter. Wir möchten kurz ihre theoretische Basis und die wichtigsten Prinzipien ihrer Arbeit skizzieren. Sie beruht auf systemtheoretischen Ansätzen, der philosophischen Position des Konstruktivismus und kommunikationstheoretischen Erkenntnissen.

Systemtheorien beschreiben den Menschen und das menschliche Zusammenleben bis hin zur Gesellschaft unter dem Blickwinkel eines ständigen Austausches und des permanenten In-Beziehung-Seins der einzelnen Elemente des jeweiligen Systems. Die Elemente, die ein System bilden, haben also dauernd wechselseitig miteinander zu tun und reagieren aufeinander. Gleichzeitig sind sie eine nach außen hin abgrenzbare Einheit, das heißt, man kann klar zwischen dem System als Bündel von Elementen einerseits und seiner Umwelt andererseits unterscheiden. Das System »Familie« zum Beispiel besteht aus den Familienmitgliedern (Eltern/Kindern), die miteinander sprechen, Dinge zusammen tun, miteinander streiten usw. und die eine wahrnehmbare Einheit gegenüber ihrer Umwelt, also Nachbarn, Verwandten, Freunden, Schule etc. bilden. Menschen sind immer Elemente verschiedener Systeme, ein Kind gehört zum Beispiel nicht nur zu einer Familie, sondern auch zu den Systemen »Schulklasse«, »Clique«, »Sportklub« usw. In jedem System gelten andere »Spielregeln«, sodass ein Mensch sich immer etwas unterschiedlich verhält und unterschiedlich fühlt, je nachdem, in welchem System er sich gerade aufhält. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin die Eigenschaft von Systemen, sich selbst am Leben zu erhalten. Zwar können sie auch zerfallen, aber in der Regel ist ihre natürliche Tendenz, sich selbst zu erhalten. Die fortwährende innere Dynamik von Systemen macht dies möglich.

Der Konstruktivismus hat als eine wesentliche Aussage, dass es keine Rolle spielt, ob es eine »wirkliche Welt«, also objektive Gegebenheiten, gibt oder nicht. Entscheidend ist, wie wir die Welt individuell (subjektiv) wahrnehmen. Wir konstruieren uns unsere Welt. Die Volksweisheit »Schönheit liegt im Auge des Betrachters« ist ein Beispiel dafür: Eine Blume ist nicht objektiv schön. Der Mensch, der sie wahrnimmt, schreibt ihr Schönheit zu. Oder er tut es nicht, wenn er sie nicht leiden mag. Für jeden Menschen sieht die Welt anders aus, abhängig von seinen Erfahrungen, Bedürfnissen, Werthaltungen usw. Das heißt auch, dass es kein objektives »Richtig« oder »Falsch« gibt. Was für mich gilt und richtig ist, muss deshalb nicht unbedingt auch für mein Gegenüber gelten. Vielleicht sieht der andere die Dinge anders, daher ist für ihn etwas anderes richtig.

Kommunikationstheorien beschäftigen sich damit, wie Menschen kommunizieren. Kommunikation ist wesentliche Voraussetzung für das Fortbestehen eines Systems. Damit das System erhalten bleibt, müssen die Elemente in Austausch miteinander sein. Zwischen Menschen geschieht das durch Kommunikation, im Wesentlichen durch die gesprochene Sprache, aber auch durch Schriftsprache, Körpersprache, Körperkontakt, Übergabe von Gegenständen und anderes mehr. Im therapeutischen Zusammenhang sind zum Beispiel eingefahrene Kommunikationsmuster, Missverständnisse, Tabus, Schwierigkeiten, etwas auszudrücken, Fragetechniken usw. von Bedeutung.

Die systemische Therapie zeichnet sich durch ein humanistisch orientiertes Menschenbild aus. Sie sieht den Menschen weder als eine Reiz-Reaktions-Maschine, wie der Behaviorismus dies tut, noch als hauptsächlich von unbewussten Kräften gesteuert, worauf psychodynamische Theorien ihren Fokus legen. Unter vielleicht manchmal zu starker Ausblendung dieser Aspekte, besonders der Wirkkraft unbewusster Dynamiken, wird der Blick auf die Möglichkeit der bewussten und aktiven Selbststeuerung gelegt, die den Menschen befähigt, sich Ziele zu setzen, zu entscheiden, welche Dinge er in seinem Leben ändern möchte, und dies auch in Angriff zu nehmen. Die eigene Entwicklung und die Beseitigung von Problemen werden als grundlegende Ziele im menschlichen Leben angesehen. Im Prinzip besitzt jeder Mensch auch die dafür notwendigen Ressourcen. In den Fällen, in denen sie nicht genügend zugänglich sind, kann ein Therapeut behilflich sein, eine neue Sichtweise zu gewinnen, Kräfte zu aktivieren, die bisher nicht wirksam werden konnten, oder eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie das Leben ohne das jeweilige Problem aussehen kann, und Maßnahmen einzuleiten, dorthin zu gelangen.

Der systemische Therapeut ist nicht derjenige, der eine Lösung für das Problem anzubieten hat. Er weiß nicht besser, was für den Klienten gut oder richtig ist, als dieser selbst. Er zielt meist auch nicht darauf ab, die Ursache des Problems zu finden. Wer als Klient eine Therapie beginnt, steckt in der Regel schon längere Zeit in einer schwierigen Situation. An ihr sind fast immer auch andere Menschen beteiligt (da jeder Mensch sich in Systemen befindet). Aufgrund vielfältiger Kommunikationen, der Selbsterhaltungstendenz von Systemen auch dann, wenn Probleme vorhanden sind, und einer Reihe von erfolglosen Problemlösungsversuchen ist die Entstehung des Problems oft nicht mehr klar nachvollziehbar. Die Situation erscheint festgefahren. Der systemische Therapeut kann neue Impulse geben, neue Erfahrungen ermöglichen, irritierende Fragen stellen und somit neue Perspektiven generieren. Ziel ist dabei oft, statt des problembehafteten Verhaltens ein alternatives Verhalten auszuprobieren. Oftmals lösen sich dadurch Konflikte, wenn man Dinge anders macht oder andere Dinge macht als bisher.

Dabei befindet sich der Therapeut, nicht nur der systemische, in einem Dilemma, denn er kann vorher nicht sicher wissen, was es genau bewirken wird, wenn er etwas tut (eine bestimmte Frage stellt, einen Vorschlag äußert, eine körperliche Berührung ausführt usw.). Der Klient, wie jeder Mensch, steckt nicht nur in Systemen, er ist auch selbst ein System, also ein Zusammenspiel aus vielen verschiedenen Elementen: dem Körper mit seinen Teilen wie Organen, Blutkreislauf, Gehirn, Stoffwechsel, Hormonsystem, Botenstoffen etc., dem Geist mit allen Erfahrungen, die er mit anderen Menschen und der Welt gemacht hat, den individuellen Vorlieben und Abneigungen, den Werten und Wünschen, den Gefühlen usw. und der Seele mit ihren Kräften, Erfahrungen und unbewussten Dynamiken. Eine der Folgerungen aus der systemtheoretischen Sichtweise ist die der Unmöglichkeit einer kausalen Intervention: Ich kann nicht sicher sein, was ich für eine Intervention machen muss, um eine bestimmte gewünschte Wirkung zu erzielen. Und auch andersherum weiß ich nicht sicher, was geschehen wird, wenn ich etwas Bestimmtes tue. Ich kann als Therapeut einen Input in das System »Klient« geben, aber was sich als Effekt ergibt, hängt vom Klienten ab.

Folglich muss sich der systemische Therapeut immer sehr individuell auf seine Klienten einstellen. Was als Intervention bei dem einen Klienten hilfreich war, kann bei einem anderen wirkungslos oder nachteilig sein. Der Achtung des Klienten als einzigartigen, eigenständigen, selbst entscheidenden und für sich verantwortlichen Wesens kommt daher eine sehr hohe Bedeutung zu.

1.1.3Besonderheiten des Konzeptes

Das in diesem Buch dargestellte Konzept mit seinen Grundannahmen, Zielsetzungen und Arbeitsformen entwickelt bestehende Ansätze der Lerntherapie weiter und schließt damit auch eine Lücke hinsichtlich der derzeit angebotenen Ausbildungen. Insbesondere sind diese Aspekte wichtig: Zunächst wird die systemische Perspektive stärker berücksichtigt, als das bislang geschehen ist. »Das Kind spiegelt sich in die Welt«, sagt Joachim Bauer (2006, S. 57), und beschreibt damit das bereits unmittelbar nach der Geburt einsetzende permanente wechselseitige Aufnehmen und spiegelnde Zurückgeben von Signalen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen. Dieses Aussenden von Signalen und der Aufnahme der Reaktion ist vermutlich die wichtigste Grundlage für das gesunde Aufwachsen von Kindern. Damit wird deutlich, welche Bedeutung dem unmittelbaren sozialen Umfeld des Kindes zukommt. Entsprechend muss es in eine lerntherapeutische Arbeit mit einbezogen werden.

Die zweite Besonderheit besteht in der ganzheitlichen Betrachtung des Kindes, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der seelischen Ebene. Wir sehen als unangemessen wahrgenommenes Verhalten in der Regel als Ausdruck seelischer Nöte an (mehr dazu im Abschnitt 4.3, »Therapeut-Kind-Interaktion«). Der Einbezug der Möglichkeit ungelöster seelischer Konflikte wie Ängsten oder Selbstwertproblemen und ihrer Wirkkraft bezüglich des Verhaltens des Kindes in die Arbeit mit dem Kind und seiner Umwelt ist ein entscheidender Aspekt unseres Verständnisses von Lerntherapie. Wir möchten daher für die innerseelischen Vorgänge der Klienten sensibel machen und Möglichkeiten aufzeigen, auf sie einzugehen. Mehr als bei Erwachsenen, deren Sicht auf die Welt auch sehr unterschiedlich ist, gilt bei Kindern, dass sie buchstäblich in ihrer jeweils individuellen, eigenen Realität leben. Diese individuelle Wirklichkeit, auch die innerseelische, muss wahrgenommen und mit berücksichtigt werden.

Schließlich möchten wir für praktisch tätige oder in Ausbildung befindliche Lerntherapeuten die Bedeutung der Erfahrungsebene hervorheben, da sie es in erster Linie ist, die das Lernen ermöglicht. Zum Beispiel können Sie einen Text darüber lesen, dass Perspektivenübernahme wichtig ist, also dass Sie sich in die Situation des Kindes hineinversetzen sollen und ihm für das Problem keine Lösung präsentieren sollen – oder Sie können im Rollenspiel Ihrem Gegenüber ein eigenes Problem schildern, hören, wie es sagt »Dann mache mal das und das«, und dann die Abwehr spüren, die Sie gegen diese Lösungsmöglichkeit haben, weil es eben nicht Ihre Lösung ist, sondern die Ihres Gegenübers. Erst dieses Gefühl, dass Sie Ihre eigene Lösung brauchen, macht das Verständnis für das Thema »Perspektivenübernahme« vollständig. Erst dann sind Sie wirklich in der Lage, sich mit Lösungsvorschlägen für die Probleme anderer zurückzuhalten.

1.1.4An wen richtet sich die systemische Lerntherapie? (Indikationen)

Die systemische Lerntherapie, wie sie in diesem Buch beschrieben wird, ist gedacht für Kinder etwa zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr und ihre Eltern. Für Familien mit jüngeren oder auch älteren Kindern sind nach unserer Meinung andere Konzepte nützlicher (Familientherapie, individuelle Therapieformen). Die meisten betroffenen Kinder bzw. Eltern kommen zu uns, weil sie Schwierigkeiten mit der Schule haben und denken, dass sie sie nicht allein bewältigen können. Diese Indikation reicht uns aus. Formeller gefasst heißt das: Für Kinder mit Schwierigkeiten beim Lese- und Rechtschreiberwerb, beim Erwerb von Rechenfähigkeiten oder kombinierte Schwierigkeiten beim Erwerb schulischer Fähigkeiten, die nicht auf eine Intelligenzminderung zurückzuführen sind, ist eine systemische Lerntherapie angezeigt. Ebenso sind Kinder und ihre Eltern gut bei einer systemischen Lerntherapie aufgehoben, deren Schwierigkeiten im sozialen Verhalten (Integration/Anpassung an Gruppen) zu Schuloder Leistungsverweigerung, Gewalt oder Rückzug führen und mit einem gleichzeitigen Aufbau von schulischen Defiziten verbunden sind.

Der Klient in unserer systemischen Lerntherapie ist nicht allein durch das Kind repräsentiert, sondern durch die Familie. Wenn wir sagen, ein Kind kommt zu uns in die Therapie, ist damit das ganze Umfeld des Kindes gemeint und ganz besonders seine Eltern. Der spezielle Aufbau und die Prinzipien einer systemischen Lerntherapie lassen sie für Eltern geeignet erscheinen, die sich darüber im Klaren sind, dass jedes Verhalten ihres Kindes einen »guten Grund« hat und funktionaler Bestandteil der Beziehungen zwischen Kind und Schule sowie zwischen Kind und Eltern ist. Und die sich auch darüber im Klaren sind, dass die Fähigkeit zur »Heilung« in jedem selbst und in den Möglichkeiten der Gestaltung von Beziehungen liegt. Unser Ansatz ist darüber hinaus sehr geeignet für Eltern, die sich über diese Dinge noch nicht im Klaren sind. Ganz besonders ist unser Ansatz für Eltern geeignet, die diese Zusammenhänge abstreiten, denn dafür haben auch sie einen guten Grund, wobei dieser unmittelbar das Verhalten ihrer Kinder auslösen kann und somit eine erste Intervention nahelegt.

1.2Haltung und Menschenbild

1.2.1Die Arbeit mit Kindern

In früheren Zeiten spielten Strenge, Verbote und Bestrafung (z. B. der Lehrer mit dem Rohrstock) im Umgang mit Kindern eine viel größere Rolle als heute. Kinder wurden oft als kleine Erwachsene behandelt, die sich entsprechend zu benehmen hatten. Solcherart Erziehungspraktiken sind heute glücklicherweise weitgehend verschwunden. Andererseits waren Kinder auch viel sich selbst überlassen, konnten alleine draußen spielen und die Umgebung erkunden und mussten Begegnungen mit anderen Kindern ohne elterliche Hilfe regeln und bewältigen. Heute werden Kinder oftmals sehr stark beachtet und mit Aufmerksamkeit bedacht, weil sie etwas Besonderes geworden sind, sodass die selbst initiierte Beschäftigung weniger stattfindet. Sie werden behütet, Verbote und Grenzen zu setzen finden viele Eltern überholt. Eine Vielzahl von Medien lädt zum Konsum ein, viele Kinder leiden unter Bewegungsmangel und einer Unterentwicklung der Koordinationsfähigkeiten. Gleichzeitig sehen sich die Eltern oft überfordert, bedingt durch eigene Ansprüche sowohl an sich als auch an das Kind sowie auch durch gesellschaftliche Normen. Bei manchen Kindern kommt aufgrund von Trennung der Umstand eines abwesenden Elternteils hinzu.

Worum nun geht es bei der Arbeit mit Kindern? Was ist das Besondere daran? Welches ist der entscheidende Punkt, der diese Arbeit glücken lassen kann? Hier spielen die grundlegenden Annahmen des Lerntherapeuten, wie Kinder sind und wie man sie behandeln muss, eine bedeutende Rolle. Es geht darum, mit welcher inneren Haltung wir Kindern gegenübertreten. Allgemeiner gefasst geht es um das Menschenbild, das wir in uns tragen und von dem aus wir andere Menschen betrachten und mit ihnen umgehen. Mit »Menschenbild« ist der ganz grundlegende Glaube bezüglich dessen gemeint, wie der Mensch ist und funktioniert – zum Beispiel, ob er eher ein rationales oder ein emotionales Wesen ist, ob er unveränderliche Eigenschaften besitzt, ob er gut oder schlecht ist, ob er auf Zusammenarbeit oder Kampf angelegt ist, ob es so etwas wie ein Unbewusstes gibt, ob zu viel Liebe nur verwöhnt, ob man Kinder erziehen muss oder ob sie von alleine wachsen usw. Auf der Basis dieses Menschenbildes gestaltet sich auch die lerntherapeutische Arbeit. Für das bewusste Arbeiten und die Möglichkeit, sich auf den Klienten und seine Wirklichkeit einlassen zu können, ist es gut, das eigene Menschenbild möglichst gut zu kennen. Wir können dafür im Rahmen dieses Buches keine Vorschläge machen, möchten aber dazu ermuntern, darüber zu reflektieren bzw. auch Weiterbildungen oder Selbsterfahrungskurse zu besuchen, die helfen, sich dem Thema weiter zu nähern. Unser Ansatz, das wird in diesem Buch an verschiedenen Stellen deutlich werden, ist von einem humanistischen Menschenbild getragen.

Im Folgenden möchten wir in diesem Zusammenhang einen Aspekt erläutern, der ein wichtiges Element unseres lerntherapeutischen Verständnisses darstellt. Er gehört einerseits zu unserem Menschenbild und hat andererseits auch praktische Konsequenzen für die lerntherapeutische Arbeit: Unangemessenes Verhalten ist ganz oft Ausdruck ungelöster, meist emotionaler oder seelischer Konflikte im Menschen. Diese Konflikte wiederum liegen meist in Umweltfaktoren (mit) begründet, die die Bedürfnisse des Menschen unerfüllt gelassen haben