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Preiswerte Sonderausgabe in neuer Ausstattung Wie kann verlorengegangene Erotik in einer Partnerschaft wieder aufleben? Wie können sich langjährige Partnerschaften aus der sexuellen Lähmung befreien? Und wie kann die Spannung zwischen individueller und partnerschaftlicher Sexualität therapeutisch genutzt werden? Die Abnahme der sexuellen Lust und ein Nachlassen des sexuellen Begehrens - das beklagen immer mehr Paare, die eine Therapie aufsuchen. Die systemische Sexualtherapie greift das auf und stellt das erotische Potential der beiden Partner, ihre unterschiedlichen sexuellen Profile und die sich daraus ergebende Paardynamik in den Mittelpunkt.
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Seitenzahl: 354
Ulrich Clement
Systemische Sexualtherapie
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Klett-Cotta
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Umschlag: Roland Sazinger
Unter Verwendung eines Fotos von © Artem Furman / fotolia
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94951-3
E-Book: ISBN 978-3-608-10964-1
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20331-8
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Vorwort
Paarkonflikte im neuen geschlechterpolitischen Gelände
TEIL 1 | Paardynamik und sexuelles Begehren
1 »Klappt es?«
1.1 Die Funktions-Perspektive der »klassischen« Sexualtherapie
1.2 Von der Funktion zur Lust
1.3 Von der Dysfunktion zum Problem
1.4 Stellenwert der »Aufgaben« in der Sexualtherapie
1.5 Exkurs: Selbstverstärkungsmechanismus der Versagensangst
2 Sexualtherapie als Paartherapie des Begehrens
3 Ein Paar sind zwei Individuen
3.1 Zwei Personen – zwei sexuelle Profile
3.2. Kommunikation und Ex-Kommunikation der sexuellen Differenz: Das Paar A.
3.3 Paarkultur
3.4 Wie gehen die Partner mit der Bedrohung um?
3.5 Das Differenzierungs-Konzept von David Schnarch
3.6 Endlichkeit und Kündbarkeit
4 Sexuelle Biographie
4.1 Sexuelle Lebensgeschichten sind Geschichten
4.2 Kulturelle Mythen: der Rohstoff der individuellen Geschichten
TEIL 2 | Spiel und Ernst: Sexualität im therapeutischen Prozess
5 Paardynamik zwischen Balance und Entwicklung
5.1 Konfliktdynamik und Lösungsmuster auf der Balance-Achse
5.2 Konfliktdynamik und Lösungsmuster auf der Entwicklungs-Achse
5.3 Balance-Entwicklungs-Übergänge
6 Wer will mit wem wohin? Therapieziele und Auftragsklärung
6.1 Therapieziele
6.2 Probleme bei der Auftragsklärung
7 Parameter der therapeutischen Prozess-Steuerung
7.1 Vom Problem zur Lösung
7.2 Übergänge als Balance von Mehrdeutigkeit
7.3 Können/Nicht-Können oder Wollen/Nicht-Wollen
7.4 Hoffnung und Resignation als Momente der Zeitsteuerung
7.5 Lösbare und ewige Probleme
7.6 Vom Ernst zum Spiel und zurück
8 Spiel-Interventionen und Ernst-Interventionen
8.1 Spiel-Interventionen
8.2 Systemische Fragetechniken
8.3 Das ideale sexuelle Szenario (ISS)
8.4 Sexuelle Biographieanalyse als Zwischenbilanz
8.5 Folgen des Status Quo
TEIL 3 | Offene Ergebnisse
9 Ergebnisse und offene Fragen
9.1 Guter, mittelmäßiger und schlechter Sex – lässt sich erotische Qualität definieren?
9.2 Idealtypischer Ablauf und Ergebnisse
Literatur
Register
Als ich vor genau 28 Jahren meine erste Sexualtherapie begann, war ich jung, ahnungslos, optimistisch und von der Idee begeistert, gehemmten Paaren zu einer besseren Sexualität zu verhelfen. Und damit nicht genug: Ich war davon überzeugt, dass die therapeutische Befreiung von sexuellen Störungen und partnerschaftlichem Elend ein wichtiger Beitrag für ein besseres bewussteres Leben der Klienten sein würde. Zugleich kam ich mir unglaublich kritisch vor, wenn ich die manipulative Kraft von Psychotherapie im Allgemeinen und von Sexualtherapie im Besonderen kommentierte. Dass ich in meinem Jungtherapeuten-Eifer gleich einem doppelten Größenwahn aufsaß, der sich zudem noch widersprach, habe ich erst später verstanden. Die besten Lehrmeister waren die Klienten, die sich weder befreien noch manipulieren ließen. Ob ich mit meinem Eifer für sie immer nützlich war, bezweifle ich heute.
Aber ich hatte das Glück, bei meinem langen Weg von der Verhaltenstherapie über die Tiefenpsychologie zur systemischen Therapie auf exzellente Lehrer/innen und Supervisor/innen zu treffen, die sogar aus mir einen passablen Therapeuten gemacht haben.
Manche frühen Themen wird man nicht los. Als ich nach 10 Jahren die Hamburger Abteilung für Sexualforschung verließ und an die Heidelberger Psychosomatische Klinik ging, wollte ich mir neue Themen erschließen und stellte die Sexualtherapie für einige Jahre beiseite. Dann kam sie wieder: On revient toujours à ses premières amours. Aber sie blieb nicht dieselbe Sexualtherapie. Und ich sehe mich heute am Ende eines paradoxen Prozesses: Je weniger ich therapeutisch verändern möchte, desto spannender werden die Therapien. Und besser werden sie auch. Wie das geht – davon handelt dieses Buch.
Es beschreibt, wie Paare in Störungen ihrer sexuellen Kommunikation hineingeraten, und es zeigt, wie sie wieder herauskommen können. Sexuelles Begehren entwickelt sich aus der Differenz. Weil die Differenz schwer zu ertragen ist, beschränken sich Paare oft auf eine Sexualität des kleinsten gemeinsamen Nenners. Oder die Partner streiten sich mit quälendem emotionalen Aufwand darum, den jeweils andern in die gewünschte Gemeinsamkeit zu drängen, zu locken, zu nötigen. Mein Konzept einer systemischen Sexualtherapie setzt nicht bei der Gemeinsamkeit, sondern beim Unterschied des Begehrens der beiden Partner an. Ihr Dreh- und Angelpunkt ist die Entwicklung der unterschiedlichen sexuellen Profile der beiden Partner und der sich daraus ergebenden Paardynamik.
Ich bin mehr Personen zu Dank verpflichtet, als ich hier aufzählen kann und will. Und auch aus mehr Gründen, als ich hier aufzählen kann und will. Einige wissen es ohnehin, manche haben mich inspiriert, ohne es zu wissen, andere muss ich diskret verschweigen, und irgendwen würde ich bestimmt vergessen, wenn ich die lange Liste anfinge. Aber einen muss ich nennen, weil ohne ihn die Frühphase meines beruflichen Lebens ganz anders verlaufen wäre, meinen Freund und Mentor Gunter Schmidt. Da er Würdigungen hasst, danke ich ihm ganz sachlich.
Männliche Autoren pflegen in Vorworten ihren Familien dafür zu danken, dass sie sie immer noch kennen und als Angehörige betrachten, obwohl sie unentwegt zum Schreiben abgetaucht waren. Meiner aus großen und kleinen Frauen bestehenden Familie verdanke ich die Einsicht, dass der Drang zum Schreiben nichts Geschlechtsneutrales ist.
Und diese Einsicht führt mich zu einer Begründung, die ich bei diesem Thema wohl schuldig bin. Sie betrifft die Diktion des verallgemeinernden Geschlechts. Die deutsche Sprache hat noch keine gute Lösung dafür gefunden, wenn ein Autor oder eine Autorin über Therapeuten/innen oder KlientInnen schreibt und damit einen Unterschied markiert, der gleichwohl nicht in jeder Aussage eine Rolle spielt. Es gibt korrekte Möglichkeiten, damit umzugehen, indem man/frau sich bei jeder Gelegenheit vor dem Unterschied verneigt. Oder spielerische, indem das Geschlecht zufallsverteilt mal weiblich, mal männlich gewählt wird. Freilich kann das sowohl die Leserin als auch den Leser irritieren, weil jetzt plötzlich eine Markierung gemacht wird, die lediglich besagt, dass der/die Autor/in den Geschlechtsunterschied verstanden und gewürdigt hat. Und so wird der markierte Geschlechtsunterschied im Text mehr zu einer Aussage über den Autor oder die Autorin als über die Aussage, die er/sie machen möchte. Viele schreibende Kolleginnen und auch viele schreibende Kollegen tun der Erledigung ihrer Pflicht dadurch Genüge, dass sie in einer Fußnote auf der ersten Seite den Hinweis unterbringen, dass mit der männlichen Form beide Geschlechter gemeint seien. Das liest sich oft so, als würde jemand bestätigen, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen, also ein einigermaßen moderner und zivilisierter Mensch zu sein.
Da es keine gute Lösung gibt, habe ich mich für eine konventionelle Variante entschieden, die ich aber anders begründen möchte. Ich verwende durchweg die männliche Form und konzediere die Möglichkeit, dass das Buch und auch die Erfahrungen und Überlegungen, die ihm zugrunde liegen, meinem männlichen Blick folgen. Das sollte freilich die Leser nicht zu gewiss und die Leserinnen nicht zu skeptisch stimmen. Man kann sich nie sicher sein, welche Aussagen vom Gender-Blick gefärbt sind und welche nicht. Beim Schreiben sowenig wie beim Lesen.
Heidelberg, im Sommer 2004
Ulrich Clement
Sexuelles Begehren organisiert sich in einem bestimmten gesellschaftlich-kulturellen Kontext. In den letzten Jahrzehnten haben wir zwei große Übergänge erlebt. Der erste war der Übergang von der Dominanz einer patriarchalen Kultur in die egalitäre Neuorientierung, in die Betonung der politischen, kulturellen und damit auch partnerschaftlichen Gleichwertigkeit der Geschlechter. Für diese erste Übergangsphase war der Feminismus ein entscheidender Prozesstreiber, der aber kein Referenzsystem für die gegenwärtige Orientierung mehr ist – auch nicht mehr für die der Frauen.
Heute sind wir dabei, die zweite große Geschlechterorientierung – nach dem Patriarchat alten Typs den Feminismus – zu verlassen und in die Ungewissheit einer neuen Phase einzutreten. Nachdem die patriarchale und die feministische Geschlechterordnung übersichtliche, wenn auch widersprüchliche Strukturen und Bewertungen geliefert haben, mit eigenen politisch-kulturellen Hierarchien, Subkulturen, Geschlechtermodellen und Feindbildern, sieht es so aus, als sei es heute mit der Übersichtlichkeit vorbei. Die gegenwärtige Übergangszeit, die ich demnach als postpatriarchal und postfeministisch charakterisieren möchte, ist in Bezug auf das Geschlechterverhältnis uneindeutig. Die sexuelle Selbstbestimmung hat uns von vielen Einengungen befreit, sie hat aber zugleich eine Menge neuer Fragen aufgeworfen.
Wie können wir uns den Bezug zwischen den gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen und den individuellen Paarbeziehungen vorstellen? Welche Beziehungsmuster entwickeln sich in diesem neuen Raum? Die postfeministische Struktur hat zwei große Werte übernommen, die Gleichwertigkeit (aber Andersartigkeit) der beiden Geschlechter und die Selbstbestimmung der sexuellen Lebensform, d.h. die Überzeugung, dass jede/r tun kann und lassen darf, was er/sie will. Selbst wenn diese Werte noch nicht ausgewachsen sind und selbst wenn es noch genug Ausnahmen vom großen Trend gibt: Zu keinem historischen Zeitpunkt waren Gleichwertigkeit und Selbstbestimmung so entfaltet wie heute. Zu keiner Zeit waren für Frauen wie Männer die Möglichkeiten, ihr Sexualleben sanktionsfrei zu verwirklichen, so umfassend wie heute. Zwei große und starke Tabus sind geblieben, werden sogar aufmerksamer beachtet und stärker geahndet als zuvor: das Gewalttabu und das pädosexuelle Tabu, das auch das Inzesttabu einschließt. Aber abgesehen von ihnen ist ein Raum geöffnet, in dem sich die zentrale Frage stellt: Was fangen wir mit der ganzen Freiheit eigentlich an?
Die Nutzung und Gestaltung der Selbstbestimmung lässt sich schon anhand von beziehungsdemographischen Daten nachweisen (Peuckert 1999):
Die Heiratsneigung nimmt ab.
Das Heiratsalter hat sich in den letzten 25 Jahren um durchschnittlich 5 Jahre erhöht.
Die Wahrscheinlichkeit, mehr als einmal zu heiraten, nimmt dagegen zu.
Paare haben weniger Kinder (1960 durchschnittlich 2,4; heute 1,4).
Ehen sind instabiler geworden. Die Scheidungswahrscheinlichkeit hat sich in den letzten vierzig Jahren verdreifacht, auf heute etwa 40%.
Ehen werden also weniger und später geschlossen werden, und sie sind kürzer und leichter wiederholbar geworden. Und noch einmal anders ausgedrückt: Die Eingangsschwelle ist für die Ehe gestiegen, die Ausgangsschwelle gesunken.
Diese weniger, später geschlossenen, kürzeren und wiederholbaren Ehen schaffen eine biographisch neue zeitliche Struktur, in der Platz ist für Beziehungen vor der Ehe, nach der Ehe, zwischen den Ehen und statt der Ehe. So addieren sich in der Lebensgeschichte heute mehr aufeinander folgende feste Partnerbeziehungen. Die in Hamburg und Leipzig durchgeführte Studie »Beziehungsbiographien«, die die Sexualität und Beziehungen von 30-, 45- und 60-jährigen Erwachsenen vergleicht, kommt zu dem Ergebnis, dass die heute 30-Jährigen durchschnittlich 3,6 feste Beziehungen hatten. Das sind mehr als die 60-Jährigen insgesamt hatten, die auf durchschnittlich 2,8 Beziehungen zurückblicken (Schmidt 2003).
Fazit: Beziehungen sind disponibel, kündbar, flexibel. Das meine ich nicht im Sinne einer jammernden Kulturkritik, sondern als Aussage über die Adaptivität von Beziehungen: Sie scheinen bedürfnisgerechter und individuell gestaltbarer geworden zu sein.
Entsprechendes gilt für die Sexualität. Sex in der Postmoderne ist Sex ohne verbindliches Referenzsystem. Ob Sex als Ausdruck von Liebe, ob als emanzipatorisches Feld der persönlichen Befreiung oder als Spaß oder als persönliche Lebensform oder was immer angesehen wird, all das ist vom gesellschaftlichen Plan auf die persönliche Entscheidung zurückverwiesen. Die Pluralisierung von sexuellen Lebensformen und Paarmodellen und die gewonnene Flexibilität der Kopplung von Liebe und Sex hat nicht nur alte Koordinaten außer Kraft gesetzt, sie hat auch keine neuen installiert. Daher sehen wir uns heute nicht nur einer Vielfalt sexueller Erscheinungsformen, sondern auch einer gewissen Beliebigkeit der Bedeutungen gegenüber. Diese Bedeutungen sind nicht mehr, wie noch in der sexuellen Moderne, in einem Spannungsfeld von Unterdrückung und Befreiung organisiert und dynamisiert, sie sind spannungsarm plural. Sex bedeutet nichts Bestimmtes mehr. Es gibt ihn einfach.
Die Kopplung von öffentlicher und privater Geschlechterinszenierung, von öffentlichem und privatem Sex ist eine rein optionalistische: Das Verhältnis ist eines von Möglichkeit und Auswahl. Man darf alles und muss nichts. Was sich sexuell zeigt, ist in der Postmoderne weder das Geforderte noch das Gewünschte noch das Verbotene noch das Gebotene – es ist ausschließlich das Mögliche. Daraus resultiert, dass die zentrale Kompetenz der sexual citizens von heute ihre Auswahlkompetenz ist, die Fähigkeit und Bereitschaft also, aus dem vielen Möglichen das individuell stimmige, authentische auszuwählen und zu verhandeln, ohne sich auf gültige Koordinaten beziehen zu müssen oder zu können.
Wahlmöglichkeiten steigen also. Man könnte sich freuen. Aber die Klagen über sexuelle Unzufriedenheit und Lustlosigkeit nehmen eher zu als ab. Freiheit ist schwer. Sie erlöst einen nicht von Ambivalenzen. Und diese sind in den Partnerschaften quicklebendig, entsprechend steigt der Bedarf, Regeln und Einigung zwischen den Partnern zu erzeugen.
Um so mehr ist die Verhandlungsmoral die zentrale interaktionelle Orientierung geworden. Mit Verhandlungsmoral ist die Haltung gemeint, die zwischen den Partnern all das als akzeptabel gelten lässt, worauf sich die beiden einigen. Was ausgehandelt ist gilt. Sie ist also keine inhaltliche, sondern eine Verfahrensmoral. Was einer der Partner ablehnt, ist nicht akzeptiert. Die Verhandlungsmoral hat das alte Bezugssystem inhaltlich definierter Werte abgelöst und damit eine triadische moralische Konstellation durch eine dyadische ersetzt: Normative Referenzen (das Normale, das Natürliche, das geschlechterpolitisch Korrekte) waren etwas gemeinsames Drittes außerhalb der Beziehung, auf das sich beide Partner beziehen konnten, und das in einem eher traditionellen Geschlechterkontext auch berechenbar und zuverlässig gültig war. Dieses gemeinsame Dritte gibt es in dieser Form nicht mehr.
Die Verhandlungsmoral hat zwei Seiten, die beide berücksichtigt werden müssen: Sie ist potentiell kontrollierend und einengend, und sie ist potentiell kreativ. Sie kann auf spontaneitätstötende Weise immer zugunsten des Partners ausgelegt werden, der in der sexuellen Interaktion die langsame, defensive, neinsagende Position einnimmt nach dem Motto: jeder Schritt, jede Handlung ist zustimmungspflichtig. Deshalb geht die Verhandlungsmoral nur gut, wenn auch ihre andere Seite ins Spiel kommen kann. Und dann gehört die Verhandlungsmoral zum Kreativsten, was die Sexualgeschichte der Menschheit hervorgebracht hat: Sie stellt implizit konventionelle Skripte und Selbstverständlichkeiten in Frage, nimmt den Akteuren die Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit konventioneller sexueller oder geschlechtsbezogener Regelabläufe und verlangt damit Neugier, Interesse und ergebnisoffene Kommunikationsbereitschaft. Damit stellt sie auch eine neue Form der Herausforderung an die sexuellen Akteure: was normal, was natürlich, was männlich, was weiblich, was angemessen ist – all das entscheiden nur und nur die Handelnden selbst. Dabei stolpern sie oft und schaffen Probleme, die nicht aus dem Zwang und nicht aus dem Mangel, sondern aus der Freiheit und der Fülle der Möglichkeiten resultieren.
Ein Beispiel ist die relative Abwertung der männlichen Erwerbstätigkeit in solchen Familien, die faktisch (noch) im alten Rollen-Modell organisiert sind (Mann sorgt für Familieneinkommen, Frau für die Kindererziehung). Die faktische Organisation wird aber ideologisch nicht mehr getragen. Die Diskrepanz zwischen ideellem Egalitäts-Anspruch und realer Ungleichheit der Einkommen und zwischen den familiären Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten erzeugt Erklärungs- und Begründungsbedarf. Dieser wird oft mit einem deutlichen Rechtfertigungsgefälle zwischen den Partnern ausgetragen: Der Mann begibt sich aufgrund des Privilegs, berufstätig sein zu dürfen (sich beruflich »verwirklichen« zu können) in der partnerschaftsinternen Kontenführung in die Bringschuld, die er durch verstärkte Kinder- und Haushaltsaktivität abzutragen hat. Weil aus der Funktion des Familienernährers kein Statusanspruch mehr abzuleiten ist, hat der Mann nicht mehr wie im alten Rollenmodell das zugestandene Recht auf Erholung am Feierabend, vielmehr gerät er in den Frustrationssog, der bei der Frau durch ihre berufliche Unterforderung entstanden ist und den er – im Bewusstsein beider Partner – mitverantwortet. Obwohl wir es bei der relativen Abwertung und Aufweichung der männlichen Ernährerrolle einerseits und der weiblichen Mutterrolle andererseits mit aufeinander bezogenen Prozessen zu tun haben, die zwei Akteure gleichermaßen gestalten, wird in den meisten Paarbeziehungen die Opferposition und das Klagerecht dessen, dem es damit schlechter geht, von den Frauen reklamiert. Das Paar müsste sich nicht so entscheiden (es gibt andere Möglichkeiten), tut es aber – und streitet sich dann über die Folgen der eigenen Entscheidung, als sei sie fremdbestimmt. Diese Streitkonstellation ist ein regressiver Mechanismus: Das Paar rettet sich aus der beängstigenden (Wahl-)Freiheit in den übersichtlichen vertrauten Konflikt.
In den »guten alten Zeiten« waren die Fronten klar: Hier das unterdrückte Individuum, insbesondere die unterdrückte Frau, dort die repressive Gesellschaft; hier das drängende Es, dort das strenge Über-Ich. Anders ausgedrückt: Lautete die Leitfrage der sexuellen Moderne (also der durch Liberalisierung, Politisierung und Feminismus befeuerten antirepressiven Bewegungen), wie Formen der Unterdrückung überwunden werden können (Freiheit war also auf einen erkennbaren Gegenspieler bezogen), ist sie in der Postmoderne richtungslos. (Fast) alle Optionen stehen offen. Freiheit von Unterdrückung also, aber Freiheit wozu eigentlich?
Die Widerspruchslinie, die in der sexuellen Moderne zwischen Gesellschaft und Individuum verlief und die eine offensiv eindeutige Parteilichkeit zugunsten der individuellen Bedürfnisse und ihrer Selbstverwirklichung ermöglichte, ist heute aufgelöst und bildet sich in den Individuen und in den einzelnen Partnerschaften neu. Mehr als je in der Geschichte erfordert diese Situation ein Denken in Widersprüchen, ein Fühlen in Ambivalenzen und eine radikale Selbstverantwortung. Ambivalenzmanagement, Spielbereitschaft und Selbstbestimmung sind die Herausforderungen der sexuellen Postmoderne. Auf diesem Gelände bewegen wir uns, wenn wir Sexualtherapie durchführen.
Theoretische und praktische Konzepte entstehen nicht einfach so. Sie haben Vorfahren. Ähnlich wie bei echten Familien gehen auch hier die Nachkommen ihre eigenen Wege, selbst wenn oder gerade wenn es den Alten nicht gefällt. Anders ist Entwicklung kaum möglich. Das gilt auch für die systemische Sexualtherapie, wie ich sie in diesem Buch ausführe und die es ohne ihre »klassischen« Vorläufer so nicht gäbe. Das Attribut »klassisch« verwende ich in doppelter Absicht: Ich möchte sie würdigen und zugleich zur Vergangenheit erklären. Das geht natürlich nicht einfach per Deklaration. Ich will es in diesem ersten Kapitel genauer begründen.
Als 1970 der Mediziner William H. Masters und die Psychologin Virginia E. Johnson ihr sexualtherapeutisches Konzept vorstellten, eröffneten sie den Boom einer Therapie, der ohne Vorgänger war: Ein klares, transparentes Konzept auf der Basis solider empirischer Forschung und Erfolgsquoten von über 90% – das hatte es zuvor noch nie gegeben. Und das auf einem Gebiet, in dem bis dahin kaum mehr als improvisiert und dilettiert wurde. Ein sensationeller Fortschritt also. Das Jahrzehnt danach wurde, aus dem Stand heraus, zur Hochkonjunktur der Sexualtherapie dieses Typs, der Masters-Johnson-Therapie. Relativ schnell wurden an vielen Orten Sexualambulanzen und -sprechstunden eingerichtet, einzelne Forschergruppen untersuchten Varianten und Modifikationen des ursprünglichen therapeutischen Konzepts (Annon 1974, Kaplan 1974, 1979, LoPiccolo und LoPiccolo 1978, Rosen und Leiblum 1995). Die Patientennachfrage war immens und verstärkte den Schwung, den die Forscher und Therapeuten fortsetzten. A star was born.
Masters und Johnson hatten, ehe sie ihr therapeutisches Konzept vorstellten, in den fünfziger und sechziger Jahren Grundlagenstudien zur Physiologie der menschlichen Sexualität durchgeführt, die das bis dahin fragmentarische Wissen über die sexuellen Funktionsabläufe erheblich erweiterten und aus dem Halbdunkel sexueller Mythen in das Licht empirischer Daten brachten (Masters und Johnson 1966). In Hunderten von Laboruntersuchungen wurden Blutdruck, Herzfrequenz, Hautwiderstand, Pupillendurchmesser, Atmungsfrequenz, genitale Durchblutung, anatomische Veränderungen der Genitalien, Hautverfärbungen bei sexuellen Aktivitäten, also bei Masturbation und Geschlechtsverkehr im Labor, protokolliert und systematisiert. Ihre Ergebnisse führten zu zwei Konzepten, die beide als historische Meilensteine der Sexualwissenschaft gelten: der »Human Sexual Response Cycle« (HSRC) und der klitorale Orgasmus.
Der sexuelle Reaktionszyklus bündelt die Vielfalt der zentralen und peripheren sexuellen Reaktionen zu einem in sich schlüssigen Reaktionsmuster. Demzufolge lassen sich vier Phasen der sexuellen Reaktion unterscheiden: Erregung, Plateauphase, Orgasmusphase und Refraktärphase. Mit dem HRSC war die Sexualität lehrbuchfähig. Der HSRC galt von da an als die universelle Grammatik des normalen, ungestörten, »gesunden« sexuellen Ablaufs, der biologische Kern dessen, was zur Sexualität gehört.
Dieser normative Aspekt wurde in der Folge von feministischer und sozialwissenschaftlicher Seite kritisiert und relativiert (Gagnon 1990, Tiefer 1991). Die Kritik betraf die Verdinglichung eines häufig vorkommenden Verhaltensmusters zu »Natur«. Warum, so wurde etwa eingewandt, muss eine sexuelle Erregung zu einer Plateauphase führen? Die Erregung könnte ja auch flüchtig oder kurzfristig sein. Warum soll der Orgasmus notwendiger Teil eines sexuellen Geschehens sein? Muss man von Störung sprechen, wenn der Orgasmus ausbleibt oder gar nicht erst intendiert ist? Warum der hohe Stellenwert der Refraktärphase, die sich zudem bei Männern und Frauen erheblich unterscheidet? Die Kritik kreist um zwei Kernpunkte: (1) der HSRC nehme ein soziales Geschehen (Geschlechtsverkehr) aus dem interaktiven Kontext heraus, in dem es entsteht, und mache damit unzulässigerweise kulturelle zu natürlichen Abläufen. (2) der HSRC bagatellisiere den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Sexualität und stelle ein scheinbar geschlechtsneutrales Muster dar, das faktisch aber von einer männlichen Sicht dominiert sei. Diese Kritik hat in den letzten Jahren durch die Auseinandersetzungen um die Diagnose weiblicher Sexualstörungen noch einmal starken Auftrieb bekommen (Bancroft 2000, 2002, Matthiessen und Hauch 2004, Tiefer 2004).
Die zweite große Begriffsschöpfung war die Unterscheidung zwischen vaginalem und klitoralem Orgasmus. Masters und Johnson entlarvten den Mythos, »gesunde« Frauen müssten beim vaginalen Verkehr orgasmusfähig sein, indem sie zeigten, dass die Orgasmusreaktion der Frau von der direkten oder indirekten Stimulation der Klitoris abhängt (Sherfey 1974). Ungewollt trugen sie damit aber zu einer neuen normativen Ausrichtung bei, die zielorientierte und erfolgreiche Klitorisstimulation sozusagen sexualobligatorisch zu machen.
Auf der Basis dieser beiden Schlüsselentdeckungen entwickelten Masters und Johnson ihr Therapiekonzept, das lerntheoretische wie humanistische Elemente enthält, obgleich es sich nicht explizit auf eine therapeutische Schule bezieht. Dem leitenden lerntheoretischen Axiom zufolge schließen sich sexuelle Erregung und Angst physiologisch aus. Die Autoren haben zum einen Ängste im Auge, die sich aus sexualfeindlichen Tabus und Verboten herleiten, welche in der Entwicklungszeit der Therapie, den sechziger Jahren des prüden und konservativ-religiös dominierten nordamerikanischen Mittelwestens, die mächtigen und ubiquitären Determinanten der herrschenden Sexualkultur waren.
Zum andern – und für ihr therapeutisches Vorgehen noch zentraler – fokussierten sie die Versagensangst, also die Angst, sexuell nicht zu funktionieren, keine Erektion, eine zu frühe Ejakulation, keine Erregung, Lubrikation und Orgasmus zu haben. Aus heutiger Sicht könnte man die Versagensangst – im Gegensatz zu den »klassischen« sexualfeindlichen Ängsten, die Masters und Johnson ja nicht neu entdeckt, sondern übernommen hatten – bereits als »moderne« Angst bezeichnen, in der sich die neue Norm, sexuell erfolgreich und funktional zu sein, zu erkennen gab. Masters und Johnson hatten mit der »Performance anxiety« den Antipoden des HSRC kreiert und damit das dynamische Spannungsfeld aufgemacht, innerhalb dessen sich ihr therapeutisches Vorgehen plausibilisieren ließ und seine Dramaturgie entfaltete: die Auseinandersetzung zwischen Entspannung und Angst.
Das Setting, das beim Standardvorgehen von einem Therapeutenpaar durchgeführt wird, sieht eine abgestufte Reihe halbstandardisierter Verhaltensvorgaben vor, sogenannte »Übungen«, mit denen das Paar Erfahrungen machen kann. Sie sind eingerahmt von einem Koitusverbot, das die Versagensangst dadurch außer Kraft setzen soll, dass die Gelegenheit zum Scheitern genommen wird. Die Verhaltensvorgaben beginnen mit der Aufgabe, dass die nackten Partner sich streicheln sollen, wobei der rezeptive Partner sich entspannen soll. Das findet in einem streng limitierten zeitlichen Rahmen statt1, um die Angst vor Erregung, Nähe, Überwältigtwerden zu kontrollieren. Die jeweilige Phase ist erfolgreich abgeschlossen, wenn beide Partner sich angstfrei entspannen können. Bei jeder Phase kommt ein Element dazu, das einen Schritt in Richtung sexuelle Erregung bedeutet (Tab. 1; Details bei Arentewicz und Schmidt 1993, Fahrner und Kockott 2002, Gromus 2002).
Tabelle 1: Sensate-Focus-(»Streichel-«)Übungen
Dieses phasenweise Vorgehen, das – lerntheoretisch gesehen – einer Desensibilisierungslinie folgt, wird ergänzt durch spezielle Techniken beim Vaginismus und bei der frühzeitigen Ejakulation und durch gelegentliche gleichgeschlechtliche Einzelgespräche, also der Therapeutin mit der Klientin, des Therapeuten mit dem Klienten und – je nach Ausrichtung der Therapeuten – allgemein paartherapeutische Interventionen jenseits der sexuellen Thematik. Ein solches schrittweises Vorgehen ist eine geduldige territoriale Arbeit, bei der die Entspannung langsam Land gewinnt und der Angst zunehmend Land abnimmt. Das aus der humanistischen Psychotherapie kommende Bild, wonach Therapie im Wesentlichen dem persönlichen Wachstum gewidmet sein solle, ist eine weitere zentrale Metapher: Die »verschütteten Triebe« (Pfäfflin und Clement 1980), die lediglich am Wachstum gehindert sind, kommen von selbst zu sich, wenn erst ihre Behinderung durch repressive äußere oder verinnerlichte Normen abgetragen ist. Entspannung ist das individuelle und paarpsychologische Ökotop, in dem das Wachstum von Wohlbefinden, Selbstverwirklichung und Lust möglich ist.
In einer Literaturanalyse kamen 1994 die beiden Sexualwissenschaftlerinnen Leslie Schover und Sandra Leiblum zu einem ernüchternden Ergebnis: Sie konstatierten eine Stagnation der sexualtherapeutischen Entwicklung seit Mitte der achziger Jahre. Seit dieser Zeit wurde keine einzige Outcome-Studie mehr publiziert, und es wurden auch auf der Ebene der therapeutischen Techniken keine nennenswerten Neuigkeiten mehr gemeldet. Damit einher ging eine Remedikalisierung der Behandlung von sexuellen Störungen, insbesondere der Erektionsstörungen2.
Ihre Arbeit markierte einen Tiefpunkt der Sexualtherapie, die nach einer Hochkonjunktur in den siebziger und frühen achtziger Jahren relativ schnell in eine lange Phase der Ereignislosigkeit geraten war. Das hatte verschiedene Gründe. Der wissenschaftliche Grund lag sicher darin, dass die beeindruckenden Therapieerfolge, die Masters und Johnson bereits 1970 berichteten, die Messlatte für andere Forschergruppen so hochlegten, dass – abgesehen von kritischen Analysen (Zilbergeld und Evans 1980, Clement 1981) und Untersuchungen über Setting-Varianten (Clement und Schmidt 1983) – für die Outcome-Forschung wenig interessante Fragen übrigblieben. Ein anderer, wahrscheinlich erheblich relevanterer Grund dürfte darin liegen, dass das therapeutische Paradigma verbraucht war, das Masters und Johnson ihrer Therapie zugrundelegten. Das hatte weniger binnentherapeutische Gründe – andere, weitaus langweiligere Therapiekonzepte leben erheblich länger. Die Erklärung dürfte in der einzigartigen zeitgeschichtlichen Passung von gesellschaftlicher Entwicklung und therapeutischem Konzept liegen, für die es bei anderen klinisch-therapeutischen Themen keine Parallele gab: Die Therapie hatte den Rückenwind der sexuellen Liberalisierung genutzt: giving permission, man kann alles Genitale ansehen und beim Namen nennen, und wenn man sich entspannt, kommt die sexuelle Erregung wie von selbst. Nur keine Angst! Verständnisvolle Therapeuten erleichtern einem biographisch nachvollziehbaren, aber unaktuell gewordenen strengen Über-Ich den Übergang zu einem mehr zeitgemäßen: Haben Sie, bitte, Spaß!
Auch wenn in der Zusammenfassung von Outcome-Studien (Heiman und Meston 1997, Heiman 2002) die Ergebnisse dieses Ansatzes nicht ganz schlecht aussehen: Die Hoch-Zeit dieses gesellschaftlichen Klimas ist lange vorüber und mit ihr die Euphorie der »alten« Sexualtherapie. Meines Erachtens ist das therapeutische Paradigma der Masters-Johnson-Therapie erschöpft und zwar aus mehreren Gründen:
1. Sein implizites normatives Modell engt therapeutische Handlungsmöglichkeiten ein. Die Masters-Johnson-Therapie ist an der biologisch begründeten Norm des Human Sexual Response Cycle, also des ungestörten, »natürlichen« sexuellen Funktionierens orientiert (Masters und Johnson 1970). Dieser Orientierung entkommen auch die Sexualtherapeuten nicht, die individuell dieser Norm kritisch gegenüberstehen und ihren Paaren versichern, es komme auf das Funktionieren gar nicht an, sondern auf Gefühle, Echtheit, Lust, Autonomie, Qualität der Partnerschaft. Das Funktions-Paradigma ist der Masters-Johnson-Therapie inhärent, auch wenn die individuelle Psychodynamik und die Paardynamik der sexuellen Symptomatik in den Blick genommen wird, wie dies besonders die Hamburger Gruppe um Gunter Schmidt (Arentewicz und Schmidt 1993) entwickelt hat.
2. Es geht von einem linearen (negativen) Zusammenhang zwischen Angst und sexueller Erregung aus. Die Abhängigkeit vom Funktionsparadigma ist solange gegeben, wie die »Übungen« standardisiert entlang einer Sequenz von Entspannung-Erregung-Orgasmus erfolgen. Mit dieser Anordnung können die sexuellen Störungen behandelt werden, die eng mit Versagensängsten (also mit der sexuellen Funktion verbundenen Ängsten) verknüpft sind, da die standardisierten Übungen eine berechenbare Struktur bieten, die einen angstreduzierenden Kontext schafft. Geht man davon aus – und das ist ein Axiom der Masters-Johnson-Therapie –, dass sexuelle Erregung Entspannung voraussetzt, ist dieses Konzept für entspannungsverhindernde Leistungs-, Gewissens- und Versagensängste nützlich und indiziert.
David Schnarch (1991) hat allerdings darauf hingewiesen, dass dieses Verständnis des Stellenwerts von Angst und der darauf aufbauende entspannungsorientierte Ansatz im besten Fall zu einer mittelmäßig funktionierenden Sexualität führen könne, nicht aber zu leidenschaftlicher Sexualität, die – ganz im Gegenteil – ohne Angst kaum möglich sei. In der Tat liegt in der Masters-Johnson-Therapie die Gefahr einer Verharmlosung von Sexualität. Die bedrückende Aussage von Gunter Schmidt, die Sexualtherapie könne im besten Fall zu einer funktionalen »tristen Alltagssexualität« führen, zielt genau auf diese implizite Beschränkung des Konzepts aus: Mit der vollkommenen Entspannung werden die anderen emotionalen Amplituden der Erotik gleich mitgekappt.
Es werden zumindest zwei Perspektiven marginalisiert, die ohne Angst gar nicht denkbar sind: (A) dass Sexualität ein prototypischer Weg persönlicher Entwicklungen sein kann, die alles andere als »Spaß« machen, sondern ausgesprochen ängstigend sein können, ja ohne Angst gar nicht denkbar sind; (B) dass Sex nicht nur gut, sondern eben auch »schlimm« und »böse« sein kann. Genau diese Aspekte können aber zentrale Momente sexueller Erregung ausmachen.
3. Es unterbewertet den Stellenwert der sexuellen Wünsche und des sexuellen Begehrens. Die Schwierigkeit der Anwendung des Masters-Johnson-Konzepts auf sexuelle Luststörungen – die heute häufigste sexuelle Symptomatik – liegt darin, dass die Variationen sexuellen Begehrens ungleich größer, unvorhersehbarer, flüchtiger sind als die der sexuellen Funktion und dass diese – was noch wichtiger ist – weit weniger normativ fassbar sind als jene.
4. Es führt in der Praxis oft zu zähen Therapieverläufen. Die Fokussierung der Masters-Johnson-Therapie auf die sexuelle Funktion vereinheitlicht implizit auch die Übungen. Die Therapie bleibt zielorientiert. Auch wenn sich Therapeuten Geduld und Gelassenheit zugelegt haben, gibt die lineare Konzeption des Human Sexual Response Cycle vor, ob die Therapie schon »weit« oder nicht so weit vorangeschritten ist, ob sie »gut läuft« oder nicht. Das kann aus Therapeutensicht zu »Widerstand« führen, Widerstand gegen die »Übungen« (die nicht oder »falsch« gemacht werden), gegen das Übergriffigkeitsverbot, also das kooperative Dogma, ein »Nein« des Partners gelten zu lassen, gegen die Vorstellungen der Therapeuten, was befriedigende und geschlechterpolitisch akzeptable Sexualität sei, usw. Die – nicht publizierten, aber in Supervisionen allgegenwärtigen – zähen und mühsamen Verläufe von Sexualtherapien sind Symptome dieses Widerstandes. Widerstand ist aber ein ausschließlich therapeuteninduziertes Phänomen. Er entsteht, wenn Therapeuten keine Veränderungsneutralität zeigen und sich mit Zielen identifizieren, die sie für sexualfreundlich halten.
Solange das Funktionsparadigma das therapeutische Geschehen dominiert, solange König Erektion und Königin Orgasmus die Arena mit der Norm funktional korrekten Sexes dominieren, kann der Schritt zu einer Behandlung der sexuellen Luststörungen nicht gelingen. Das Funktionsparadigma wird von der Gegenseitigkeitsidee und der Marginalisierung von Unterschieden zwischen den Partnern getragen.
Wenn sich therapeutische Konzepte weiterentwickeln, integrieren sie ihre Vorgänger nur teilweise, zu einem andern Teil lassen sie sie einfach hinter sich. Das hat etwas Undankbares, aber anders sind Entwicklungen kaum möglich. Der Masters-Johnson-Ansatz war ein ausgezeichnetes Konzept für die 1970er Jahre, er überlebte die achtziger und verlor seine Kraft in den neunziger Jahren. Seine Stärke war die in dieser Form historisch einmalige Passung eines gesellschaftlichen Prozesses mit einem Therapiekonzept, das selbst eine Befreiungsmission darstellte. Dieser Ansatz greift aber nicht mehr bei den verschiedenen Problemen, die sich den Paaren in einer postpermissiven Epoche wie heute stellen. Es ist Zeit für einen freundlichen Abschied von diesem Ansatz. Die pharmakologischen Erben des Funktionsparadigmas haben bereits das Feld der Funktionsstörungen übernommen.
Neue Sachverhalte führen zu neuen Sichtweisen. Und neue Theorien lassen alte Sachverhalte neu aussehen. Dieses Wechselspiel zwischen Sichtweise und Sachverhalt zeigt sich auch, wenn man die veränderten Symptombeschreibungen ansieht, wie sie sich in sexualtherapeutischen Ambulanzen darstellen. Dazu ein kurzer Überblick über das Vorkommen sexueller Funktionsstörungen.
Orgasmusstörungen werden auf 0% (Schiavi et al., 1995) bis 3% (Fugl-Meyer und Fugl-Meyer 1999, Solstad und Hertoft 1993, Ventegodt 1998) geschätzt. Zu einem sehr hohen Vorkommen von 8% kommen Laumann et al. (1999).
Die Prävalenz der vorzeitigen Ejakulation ist schwer einzuschätzen. Den konservativen Schätzungen von 4% (Ernst et al., Fugl-Meyer und Fugl-Meyer 1999) bis 5% (Schiavi et al. 1995, Ventegodt 1998) stehen die sehr hohen Ergebnisse von 14% (Solstad und Hertoft 1993), 29% Laumann et al. (1999), 31% (Read et al. 1997) und 36–38% (Spector und Carey 1990) gegenüber.
Auch die Angaben bei Erektionsstörungen variieren stark über die Studien. Während Ernst et al. (1993) mit einer Ein-Jahres-Prävalenz von 0% ein einmaliges Ergebnis berichten, liegen Laumann et al. (1999) bei 10%. Bei Erektionsstörungen ist der Zusammenhang mit Alter und körperlichen Faktoren (Diabetes, Bluthochdruck, Arthritis und Rauchen) recht gut belegt (Feldman et al. 1994, Mannino et al. 1994, Panser et al. 1995, Ventegodt 1998). Das verstärkte Interesse an Erektionsstörungen bei älteren Männern hat hier zu einer Anzahl von Studien geführt, die freilich zu keinen einheitlichen Ergebnissen kommen. Hier variieren die Angaben zwischen 20% (Jonler et al. 1995) und 52% (Feldman et al. 1994).
Sexuelle Luststörungen (hypoactive sexual desire disorder) werden zwischen 0% (Schiavi et al. 1995), über 4% (Lindal und Steffansson 1993), 7% (Ernst et al. 1993) bis zu 16% (Laumann et al. 1999) geschätzt, wobei hier der Alterseffekt geringer ist als möglicherweise erwartet: Panser et al. (1995) berichten von »nur« 26% bei Männern über 70 Jahren.
Orgasmusstörungen werden in drei großen skandinavischen Stichproben um die 4%–7% angegeben (Ernst et al. 1993, Lindal und Steffansson 1993 und Ventegodt 1998). Sehr viel höher liegen die Schätzungen von Lauman et al. (1999) bei 24% für eine repräsentative Studie von US-Amerikanerinnen.
Für Erregungsstörungen kommen Lindal und Steffanson (1993) auf 6%, Fugl-Meyer und Fugl-Meyer (1999) auf 8%. Auch hier liegen die Daten für die USA mit 19% (Laumann et al. 1999) weit höher.
Sexuelle Luststörungen variieren zwischen 5% (Ventegodt 1998) über 14% (Fugl-Meyer und Fugl-Meyer 1999) bis zu 33% (Laumann et al. 1999).
Die Prävalenz-Zahlen für Dyspareunie liegen bei 3% (Lindal und Steffansson 1993, Ventegodt 1998) bis 18% (Moody und Mayberry 1993). Hier werden durchweg höhere Prävalenzen bei postmenopausalen Frauen berichtet (Rekers et al. 1992), die bis zu 46% reichen (Jamieson und Steege 1996).
Die entsprechenden Zahlen für den Vaginismus sind geringer (0,5%–1%) (Fugl-Meyer und Fugl-Meyer 1999, Ventegodt 1998).
Diese Studien beziehen sich auf nichtklinische Samples. Die Diagnosenverteilung innerhalb klinischer Stichproben, etwa von Sexual-Sprechstunden, führt abhängig von deren Spezialisierung, ihren Forschungs- und Therapieprogrammen noch einmal zu einer größeren Varianz der Vorkommens-Häufigkeiten, die solche Daten für halbwegs seriöse quantitative Aussagen vollends unbrauchbar macht (Simons und Carey 2001).
Aussagekräftiger sind dagegen Verlaufs-Vergleiche innerhalb derselben Institution, weil sie immerhin die institutionsabhängige Varianz neutralisieren. In einer beeindruckenden Statistik zeigte schon Anfang der 1990er Jahre Schmidt (1993), wie sich die Häufigkeitsverteilungen der sexuellen Störungen in knapp zwei Jahrzehnten verschoben haben. Wurden Mitte der 70er Jahren bei den Patientinnen in 80%3 Erregungs- und Orgasmusstörungen diagnostiziert, war dieser Anteil zwei Jahrzehnte später auf ein Viertel, auf 20%, zurückgegangen. Im Gegenzug nahm die »Lustlosigkeit«-Symptomatik dramatisch von 8% auf 74% zu. Die Verschiebungen bei den männlichen Patienten zeigten, wenn auch in geringerer Größenordnung, ein ähnliches Bild (Zunahme der »Lustlosigkeit«-Diagnose von 4% auf 17%).4
Gibt diese Tabelle Veränderungen auf der »tatsächlichen« Symptomebene wieder oder reflektiert sie veränderte Sichtweisen der diagnosestellenden Therapeuten? Es spricht vieles dafür, dass Patientinnen ihre sexuelle Unzufriedenheit weniger entlang der Erzählstruktur des Es-klappt-nicht beschreiben, sondern sie anders benennen: Ich will nicht, ich habe keine Lust, ich weiß nicht genau, was ich will. Damit ist die Bedeutung des Funktionierens in den Hintergrund getreten, möglicherweise selbst für diejenigen, die »objektiv« Orgasmusstörungen haben, die aber die damit verbundene Beeinträchtigung ihrer Lust eher als das zentrale Problem erleben. Dafür spricht etwa die Hochkonjunktur der Alltagsdiagnose vom »Orgasmuszwang« in den 1970er Jahren, die sich später nur noch im Hintergrund bewegt hat. Wenn man hinzudenkt, dass sich Klienten und Therapeuten im selben gesellschaftlichen Kontext bewegen, wäre es durchaus plausibel, sich eine Art narrative Kooperation vorzustellen, in der beim diagnostischen Dialog zwischen Patient/in und Therapeut/in eine neue Fokussierung erzeugt wird. Die Leidenserzählung wird jetzt um die Lust herum angeordnet.
Gehen wir auf die diagnostischen Entwicklungen in der therapeutischen Literatur zurück, zeigt sich, dass der Lust-Fokus nur wenige Jahre nach der Geburt des Human Sexual Response Cycle gesetzt wurde. Nachdem in den Originalarbeiten von Masters und Johnson (1970) und von Kaplan (1974) von beeinträchtigter Lust nicht die Rede war, führte Lief bereits 1977 das Konzept der sexuellen Lusthemmung (inhibited sexual desire) ein. Helen Kaplan hatte zunächst (1974) den vierphasigen Reaktionszyklus von Masters und Johnson auf zwei getrennte und relativ unabhängige Komponenten reduziert, die Erregung und den Orgasmus. Wenig später (1977) fügte sie eine initiative Lustphase ein, für die sie einen von Erregung und Orgasmus unabhängigen physiologischen Regulationsmechanismus postulierte. Damit stellte sie freilich das Funktionsmodell nicht in Frage, die Lustphase verstand Kaplan als eine Art Starthilfe für den weiteren sexuellen Reaktionszyklus. Im Diagnostisch-Statistischen Manual (DSM) erschienen die ersten diagnostischen Kriterien für sexuelle Luststörungen 1980 (DSM-III), wobei im wesentlichen Kaplans Perspektive übernommen wurde.
Schon früh stellte sich heraus, dass Störungen des sexuellen Verlangens schwer zu behandeln waren (LoPiccolo, Heiman, Hogan und Roberts 1985, Kilmann, Boland, Norton, Davidson und Caid 1986), ohne dass deshalb das Grundprinzip der »klassischen« Masters-Johnson-Therapie geändert worden wäre. Trotz diverser Modifikationen der Sexualtherapie hinsichtlich Setting-Varianten, therapeutischer Einzeltechniken und insbesondere der stärkeren Betonung geschlechtsspezifischer Interventionen blieben die sich zunehmend in den Vordergrund drängenden Fragen der Luststörungen unbeantwortet. Besser gesagt, sie wurden mit den Interventionen beantwortet, die sich für die sexuellen Funktionsstörungen im engeren Sinn bewährt hatten (Aubin et al. 2002). Bis heute gelten die Behandlungserfolge für die sexuellen Luststörungen als unbefriedigend (Heiman 2002).
David Schnarch (2000) hat diese Ansätze, mit Störungen der sexuellen Lust umzugehen, als Ansätze der ersten Generation zusammengefasst und mit neun Punkten charakterisiert:
»Sex und Lust sind natürliche Funktionen.« Dieses Bekenntnis war als aufklärerische Gegenposition zu jahrhundertelanger Sexualfeindlichkeit gemeint, wobei dieser Schuss dann nach hinten losging.
Sexuelle Lust als biologischer Trieb. Lust wird als biologisch vorhandener Trieb vorausgesetzt.
Sexuelle Lust wird implizit mit Lust auf sexuelles Verhalten (nicht so sehr Lust auf den Partner) gleichgesetzt. Die auf Kaplan zurückgehende nüchterne Formel von als Sex als »friction plus fantasy« und Kaplans »bypassing« Konzept, demzufolge persönliche Konflikte therapeutisch umgangen werden können, vermeiden die Thematisierung von Intimität.
Lust als initiatorische Empfänglichkeit und Aggressivität. Damit wird Lust lediglich als Bereitschaft gesehen, sich auf Sex einzulassen, nicht als präsentes Empfinden während der sexuellen Begegnung.
Störungen der Lust»phase«. Die diagnostische Konsequenz aus (4).
Gehemmte sexuelle Lust (inhibited sexual desire). Geht als Diagnose davon aus, dass »nichtgehemmte« Lust der Normalfall sei.
Persönlichkeitsmerkmale und individuelle Diagnosen. Die DSM-Kriterien legen die Suche nach individuellen Ursachen nahe.
Betonung auf Pathologie. Das Fehlen sexueller Lust geht davon aus, dass ihm Störungen, Mängel, Krankheiten zugrunde liegen.
Therapeutisches »Blockade«-Modell. Die Therapie besteht im Wegräumen der Hemmungen, die zu der postulierten Blockade der natürlichen Triebentfaltung geführt haben.
Parallel zu diesen psychotherapeutischen Überlegungen findet gegenwärtig auch auf dem diagnostischen Feld eine Relativierung des Funktionsparadigmas statt. Ihren Ausgang hat sie in der dramatischen Entwicklung der pharmakologischen Behandlung sexueller Funktionsstörungen. Unmittelbar nachdem mit Sildenafil, Vardenafil und den Nachfolgepräparaten die Möglichkeiten, Erektionsstörungen zu behandeln, dramatisch gestiegen sind, hat sich das Interesse auf entsprechende Möglichkeiten für die weiblichen Sexualstörungen erweitert. Die Perspektive einer Behandlungsmöglichkeit hat Prävalenz-Schätzungen in die Höhe getrieben. In einer Re-Analyse ihres National Survey aus dem Jahre 1992 kommen Laumann et al. (1999) zu der extrem hohen Zahl von 43% aller US-amerikanischen Frauen zwischen 18 und 59 Jahren, die an einer sexuellen Dysfunktion leiden sollen. Diese Zahl wird in der medizinischen Literatur so extensiv zitiert (Berman et al. 1999), dass es sich lohnt, einen Blick darauf zu werfen, wie diese Zahl zustande kommt. Sie basiert auf sieben Fragen zum Vorkommen sexueller Störungen (mehrere Monate oder länger im vergangenen Jahr), die lediglich mit Ja oder Nein beantwortet werden konnten. Jede Frau, die eine dieser Fragen bejahte, wurde in die Gruppe derjenigen mit sexueller Dysfunktion gerechnet, wobei Bedeutung, Schweregrad und Leidensdruck dieser Störungen nicht erfasst wurden. Bancroft et al. (2003a,b) kritisieren, diese Daten, die nicht aus klinischen Interviews stammen und denen auch keine klinische Bewertung zugrunde liegt, als Prävalenzdaten für sexuelle Funktionsstörungen zu verwenden. Sie schlagen vor, Funktionsstörungen von »Distress« zu unterscheiden und damit der subjektiven Bewertung der Frauen eine größere Bedeutung zu geben. In einer eigenen Studie kommen sie auf 24% erwachsener nordamerikanischer Frauen, die deutliches Unbehagen entweder an der sexuellen Beziehung (20%) oder ihrer eigenen Sexualität (15%) äußern. Kritisch stehen die Autoren des Kinsey-Instituts (Bancroft et al. 2001) der neuen Konsensus-Klassifikation gegenüber (Basson et al. 2000), die zwar subjektive Aspekte sexueller Probleme stärker betont (Rosen und Laumann 2003), aber nur soweit sie die subjektive Bewertung sexueller Erregung betrifft. So wurde von der Konsensus-Konferenz der Vorschlag zurückgewiesen, die Diagnose einer sexuellen Befriedigungs-Störung aufzunehmen.
Der Ansatz der Kinsey-Autoren liegt auf einer ähnlichen Linie, wie sie Matthiesen und Hauch (2004) vertreten. Sie berichten, dass über 90% derjenigen Männern und Frauen, die mindestens ein sexuelles Symptom (Lustlosigkeit, Erektions- oder Orgasmusstörungen, Schmerzen beim Verkehr) aufweisen, unter diesen Erfahrungen nicht (67%) oder nur wenig (25%) leiden. Aus ihrer Studie ist auch der überraschende Befund erwähnenswert, dass über ein Drittel der Befragten, die sexuelle Probleme berichten, mit ihrem Sexualleben zufrieden oder sehr zufrieden sind. Ebenfalls ein Drittel sieht diese Probleme nicht als belastend für die Beziehung an. Das läuft auf die schöne Formulierung von Nathan (2002) für die Bewertung einer Sexualanamnese hinaus: »A problem is only a problem if it’s a problem.«
Von einer anderen Seite hat die Working Group for A New View of Women’s Sexual Problems (2001, Tiefer 2004) eine noch radikalere Opposition gegen die diagnostische Klassifikation bezogen, wie sie das Diagnostisch-Statistische Manual (DSM) bis in die jüngste Auflage vornimmt (siehe auch Moynihan 2003). Leitthese dieser Gruppe ist, dass das medizinische Klassifikationsschema des DSM ein einseitiges Verständnis der weiblichen Sexualität darstellt. Sie bezieht sich dabei auf drei zentrale Kritikpunkte:
Die falsche Vorstellung von der Gleichsetzbarkeit von Männern und Frauen. Ihr zufolge wird die Orientierung am Human Sexual Response Cycle von Masters und Johnson den Eigenheiten weiblicher Sexualität nicht gerecht, wie etwa die (männliche und für Frauen so nicht gültige) Unterscheidung zwischen Begehren und Erregung oder die Konzentration auf »Schwierigkeiten«, die so im DSM nicht vorkommen.
Die Leugnung des Beziehungscharakters von Sexualität. Durch den individualisierenden Charakter des DSM werden die erst im Beziehungskontext verständlichen sexuellen Schwierigkeiten von Frauen nicht angemessen beschrieben.
Die Einebnung der Unterschiede zwischen den Frauen. DSM vereinheitlicht demzufolge über den Dysfunktions-Begriff die große Variation, die aufgrund kultureller und sozialer Unterschiede zwischen Frauen besteht.
Konsequent taucht in dem alternativen diagnostischen Vorschlag dieser Gruppe kein funktionell definierter diagnostischer Begriff mehr auf, sondern es ist in absichtlicher begrifflicher Ungenauigkeit von »sexuellen Problemen« die Rede, die definiert sind als Unzufriedenheit mit dem emotionalen, körperlichen oder Beziehungsaspekt des sexuellen Erlebens und diese vier Ursachenkategorien zuordnet (soziokulturell, politisch oder ökonomisch; beziehungsbedingt; psychologisch; medizinisch).
Die begriffliche Unterscheidung einer »Störung« von einem »Problem«, also eines krankheitstheoretisch engeren von einem weiteren Begriff ohne Krankheitsimplikation, macht auch Bancroft (2000). Er bezieht sich auf das von ihm entwickelte Modell der doppelten Kontrolle sexueller Erregbarkeit, wonach es eine zentrale Steuerung gibt, die sexuelle Erregbarkeit oder Hemmung auslöst (die als getrennte und unterscheidbare physiologische Reaktionsmuster angesehen werden, die unabhängig voneinander funktionieren können). Demzufolge kann bei Stress, Erschöpfung oder auch einem negativen Verhalten des Partners die sexuelle Hemmung adaptiv sein und sollte deshalb nicht als Störung bezeichnet werden. Diese Überlegung ist interessant, macht allerdings den konzeptionell angedachten interessanten Schritt nicht zuende. Warum sollte eine sexuelle Hemmung in solchen Fällen noch als Problem bezeichnet werden? Statt die Hemmung nur von der krankheitswertigen Konnotation einer »Störung« zu einem subjektiven »Problem« zu reduzieren, wäre doch der ganze Schritt, in ihr auch das Potential einer Lösung und einer Ressource zu sehen. Die Aktivierung einer sexuellen Hemmung kann ebenso kontextintelligent sein wie die einer sexuellen Erregung.
In meiner Kritik am Masters-Johnson-Modell hatte ich die oft zäh verlaufenden Therapien angesprochen. Die Erfahrung, dass gerade Luststörungen in diesem Modell schwer zu behandeln sind, wird schon lange von vielen Therapeuten geteilt (De Amicis et al. 1985): Nichts geht voran, die Klienten zweifeln, ob die Therapie das Richtige ist, ob nicht doch körperliche Ursachen übersehen oder unterschätzt worden sind. Die Therapeuten fühlen sich angestrengt, stellen frühe Störungen bei einem der Partner, rigide Rollenvorstellungen bei beiden oder paardynamische Störungen auf ganz anderen Gebieten fest, sind verdeckt genervt, zeigen sich aber als geduldig.