Wenn es um das Eine geht: das Thema Sexualität in der Therapie - Ulrich Clement - E-Book

Wenn es um das Eine geht: das Thema Sexualität in der Therapie E-Book

Ulrich Clement

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Beschreibung

In vielen Psychotherapien geht es irgendwann einmal auch um Sexualität, selbst wenn sie nicht der Grund für die Aufnahme der Therapie war. Unser Verhältnis zum eigenen, aber auch zum Körper eines anderen Menschen wird schnell irritiert, wenn die psychische Balance insgesamt einmal verloren gegangen ist. Missverständnisse und Unsicherheiten, aber auch biografisch erworbene Schamgefühle und übernommene Tabus führen in der Sexualität schnell zu Frustration und Kränkung und damit zum Rückzug oder zur Vermeidung. Psychotherapeutinnen und -therapeuten müssen sich diesem Thema stellen können, haben allerdings selbst oft auch keine unverkrampfte Haltung zur Sexualität. Von wem also ließe sich besser lernen, über Sex zu sprechen, als von zweien, die tagtäglich mit sexuell verunsicherten Klientinnen und Klienten arbeiten. Ann-Marlene Henning und Ulrich Clement zeigen in diesem Gespräch, wie man sich möglichst gelassen auch ungewöhnlichsten sexuellen Vorstellungen und Wünschen nähert, um zu Lösungen zu kommen, die beide Seiten eines Paares zufriedenstellen können. Nachdem die Vorstellung der Sexualität als »Trieb« historisch aufgegeben wurde, geht es heute darum, den Klienten zu vermitteln, dass Sexualität einem fortwährenden Aushandeln unterworfen ist – ein Prozess, der auch im Älterwerden einer Beziehung nie zum Stillstand kommt. Also gilt allem voran: Sprechen wir drüber!

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Ulrich Clement / Ann-Marlene Henning

Wenn es um dasEine geht: das ThemaSexualität in der Therapie

Ulrich Clement und Ann-Marlene Henning im Gespräch mit Uwe Britten

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-90079-7

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter:www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

Umschlagabbildung: dalinas/shutterstock.comTexterfassung: Regina Fischer, DöngesKorrektorat: Edda Hattebier, Münster; Peter Manstein, Bonn

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

EPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Inhalt

Gefühlte Körperlichkeit

Der Körper des Therapeuten

Der Blick auf den eigenen Körper

In jungen Jahren

Ich und du und unsere sexuellen Wünsche

Spürkompetenz, Spürvielfalt, Spürspaß

Mit sexuellen Fantasien umgehen

Biografische Veränderungen des Lusterlebens

Das Thema »Sexualität« in der allgemeinen Psychotherapie

Schambesetztes aussprechen können

Geheimnisse

Stellvertretendes Aussprechen

Diagnostizieren

Schwierige Therapiesituationen

Empathie und Empathiehindernisse

Sexualisierung des therapeutischen Settings

… wenn man trotzdem lacht

Empathischer Humor

Die Sex-Kultur der Massenmedien

Therapeutische Empfehlung: authentisches Interesse statt normativer Bewertung

Ausgewählte Literatur

Heidelberg, Juli 2017, einer der heißesten Tage dieses Sommers: In den Räumen der Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie (IGST) treffen sich Ann-Marlene Henning und Ulrich Clement, um über Sex zu sprechen.

Sexualtherapeuten haben es gelernt, sich so gut wie jedem sexuellen Thema offen zu stellen, für viele andere Therapeutinnen und Therapeuten hingegen können diese Themen durchaus heikel sein. Persönliche sexuelle Abneigungen, eigene Schamgefühle, aber auch das In-Worte-Fassen sexueller Praktiken und Vorstellungen können empfindliche Grenzen berühren. So schwierig das Thema »Sexualität« auch ist, es taucht in sehr vielen Psychotherapien auf. Dabei muss es gar nicht der Grund dafür gewesen sein, die Therapie zu beginnen, aber für viele Menschen, die psychologische Hilfen in Anspruch nehmen, ist auch der Umgang mit zwischenmenschlicher Intimität, mit dem eigenen Körper und mit dem Geschlechtsverkehr in irgendeiner Weise problematisch. Sowohl für die persönliche Zufriedenheit als auch in Paarbeziehungen spielt das sexuelle Erleben eine große Rolle, sodass in Psychotherapien oft kein Weg an all diesen Themen vorbeiführt.

 

 

© Gunnar Meyer, Fotograf Kaltenkirchen

Ann-Marlene Henning, Jahrgang 1964, gebürtige Dänin, studierte in Hamburg Neuropsychologie sowie später Sexual- und Paartherapie in Kopenhagen. Anschließend schloss sie das Studium »Sexocorporel« in der Schweiz ab und führt inzwischen eine Privatpraxis in Hamburg für Paar- und Sexualtherapie – der Praxisname »Doch-Noch« soll schon eine erste Inspiration sein.

Ihr erstes Buch, »Make Love. Ein Aufklärungsbuch«, das für den Jugendbuchliteraturpreis nominiert wurde, erschien 2012. Das Folgebuch, »Make More Love«, und auch ihre ZDF-Sendungen »Make Love – Liebe machen kann man lernen« richteten sich danach an Erwachsene, nach wie vor dicht am Thema sexuelle Aufklärung. Ann-Marlene Henning spricht dabei über Sexualität in einer ganz eigenen, entspannten und humorvollen Sprache, die wirklich jeder versteht. Das neuste Buch »Liebespraxis. Eine Sexologin erzählt« zeigt therapeutische Einzel- und Paargespräche, enthält aber auch autobiografische Passagen der Autorin, ganz dem Motto getreu, wer sich offen und ehrlich zeigt, schafft es manchmal, dass auch das Gegenüber die Maske fallen lässt.

Ann-Marlene Henning studiert heute an der Hochschule Merseburg im ersten deutschen (berufsbegleitenden) Masterstudiengang der Sexologie.

 

 

Foto: Andreas Nestl

Prof. Dr. Ulrich Clement, Jahrgang 1950, ist Lehrtherapeut der IGST (Internationale Gesellschaft für systemische Therapie) in Heidelberg und Leiter des dortigen Instituts für Sexualtherapie. Er arbeitete in Forschung, Lehre und Therapie an den Universitäten Hamburg, Heidelberg, Freiburg im Breisgau und Basel. Ulrich Clement ist heute als Supervisor, Lehrtherapeut und Dozent an verschiedenen Instituten tätig.

Sein erstmals 2004 erschienenes Buch »Systemische Sexualtherapie« wurde als »Meilenstein« der neueren Sexualtherapie hervorgehoben. Im Gegensatz zur klassischen Sexualtherapie konzentriert sich sein Ansatz weniger auf die sexuelle Funktion als auf das individuelle Begehren. Die Dynamik, die sich aus den unterschiedlichen sexuellen Profilen der Partner ergibt, steht im Zentrum seines therapeutischen Interesses.

In seinem letzten Buch »Dynamik des Begehrens. Systemische Sexualtherapie in der Praxis« plädiert er dafür, sich mehr auf das sexuelle »Sein« als auf das sexuelle »Tun« zu konzentrieren. Damit wird die sexuell handelnde, fühlende und denkende Person in den Mittelpunkt gestellt.

GEFÜHLTE KÖRPERLICHKEIT

»Das weibliche Geschlechtsorgan muss bei vielen Frauen erst wieder geboren werden.«

Ann-Marlene Henning

Der Körper des Therapeuten

Frau Henning, kennen Sie das, morgens einen Pickel mitten auf der Nase zu finden und deshalb am liebsten das Haus nicht verlassen zu wollen?

HENNING Nein, das kenne ich nicht. Ich hatte schon als Teenager kaum Pickel, und wenn ich jetzt welche habe, interessiert es mich nicht.

Ich bin generell ziemlich uneitel – das ist ein großer Vorteil, wenn man so viel vor der Kamera sitzt wie ich. Das Ganze hat natürlich mit dem eigenen Körpergefühl zu tun: Mag ich mich so zeigen, wie ich bin? Körperliche Merkmale können zwar stören, aber sie sollten nicht so wichtig im Leben sein – eigentlich.

Herr Professor Clement: Im Institut ist es mal wieder spät geworden, Sie eilen nach Hause, weil Sie eine Theaterkarte haben. Bevor Siegehen, wollen Sie sich aber noch rasieren. Zu allem Überfluss schneiden Sie sich nun mitten auf der Wange, die Wunde blutet. Unmöglichkönnen Sie jetzt so losgehen, oder? Gehen Sie?

CLEMENT Ich rasiere mich fast nie abends, deshalb ist der Fall eher unwahrscheinlich, aber angenommen, ich täte es mal, dann würde ich das wegtupfen und ankrusten lassen – und natürlich trotzdem ins Theater gehen.

HENNING Gerade hatte ich schon überlegt, ob Sie, Herr Britten, diese Frage auch dem männlichen Teilnehmer dieses Gesprächs stellen, wenn es nämlich um das Optische geht. Nach solchen Äußerlichkeiten werden vorrangig wir Frauen gefragt.

CLEMENT Ich kann vielleicht mal ein anderes Beispiel geben: Ich überlege mir nämlich durchaus, was ich anziehe, wenn ich einen Kurs oder einen Vortrag habe, und wie ich dort auftrete. Das ist mir nicht egal. Nicht zuletzt ist das eine Frage meines Wohlbefindens, dass ich einigermaßen so aussehe, wie ich mich selbst mag. Man muss ja nicht nur inhaltlich gut sein, sondern auch einigermaßen passabel aussehen.

HENNING Das möchte ich bestätigen: Wenn es um fachliche Inhalte geht, wenn ich mich präsentiere, wenn ich vor Menschen stehe, dann mache ich mir schon Gedanken, wie ich aussehe und wie ich wirken möchte, zum Beispiel über Kleidung und Auftreten. In dieser Hinsicht muss ich mich gut fühlen. Aber bei Sachen wie Pickeln oder Bad-Hair-Day ist es für mich nicht besonders wichtig.

Dass wir jetzt erst mal auf das Thema »Kleidung« kommen, das hatteich gar nicht erwartet. Aber Sie haben natürlich recht, die Kleidungist für uns fast so etwas wie eine äußere Hautschicht.

CLEMENT Das Aussehen insgesamt.

HENNING Ja, ich will mich wohlfühlen. Ich kann mich als Frau mit einem Rock und hohen Schuhen zeigen, dann gucken alle hin und denken womöglich, wow, die sieht ja toll aus, aber damit habe ich dann einen anstrengenden Tag vor mir, insbesondere wegen der Schuhe. Mir geht’s nicht so sehr darum, ob ich gerade supergut ankomme, sondern ob ich meine Inhalte entspannt rüberbringen kann. Das klappt besser, wenn ich mich generell wohlfühle, insofern denke ich auch vorher darüber nach.

Diese kleinen Makel zu zeigen fällt uns in der Regel nicht ganz leicht. Da schämt sich eine Frau vielleicht für ihre nicht gerade grazilen Füße oder ein Mann für eine große klobige Nase. Warum tun wir uns generell so schwer, unseren Körper zu zeigen? Wir verantworten den ja weitenteils nicht einmal. Der ist uns mitgegeben.

CLEMENT Ich weiß gar nicht, ob das für alle Menschen stimmt. Ich denke, einem Großteil der Leute – jedenfalls der männlichen – ist das sekundär, die denken wenig über den Körper nach. Das Problem entsteht ja erst, wenn ich darüber nachdenke. Einen hässlichen oder schönen Körper zu haben ist nicht der Punkt. Nur wenn ich meine Aufmerksamkeit kritisch darauf lenke, dann kann ich mir ein Problem machen.

Na ja, vor dem Spiegel denken wir aber vielleicht doch täglich darüber nach, oder etwa nicht?

CLEMENT Ja, dafür stellt man sich ja vor den Spiegel, um den Spiegel zu befragen, wie wir gerade aussehen. Ob das dann zu einer dominanten Frage wird, ist sehr individuell. Ja, es gibt sehr stark körperbesessene Menschen ebenso wie körperignorante.

HENNING Ich bin oft sogar über mein Aussehen überrascht, wenn ich zum Beispiel abends vor dem Spiegel stehe und denke: Was, so bist du den ganzen Tag rumgelaufen? Da habe ich offenbar gar nicht richtig hingeguckt oder nur so mal einen schnellen Blick draufgeworfen. Das zeigt mir, wie unwichtig so etwas für mich geworden ist.

Aus der Sexualberatung weiß ich allerdings, dass sich wirklich viele Leute Gedanken über ihren Körper machen. Wir haben gerade für zwei Sendungen des ZDF gedreht, und eine handelt von unserer Körperkultur und der Frage, wie Menschen ihre Körper sehen, ob eine liebevolle und positive Sicht darauf möglich ist. Wir hatten unter anderem ein Akt-Shooting, bei dem viele Teilnehmende Kleidergröße 42, 44 oder 46 hatten, darunter auch ein fülliger Mann – und auf der anderen Seite eine sehr schlanke Frau. Das Thema war: Wie fühle ich mich in meiner Haut, auch ausgezogen? Viele Menschen fühlen sich diesbezüglich unter Druck. Sie wissen, dass sie nicht so aussehen, wie man es jeden Tag in den Medien sieht. Es ist eine Frage des Vergleichs mit einem sehr hohen Ideal. Es ist doch schwer heutzutage, nicht darüber nachzudenken.

Ich mache mir, ehrlich gesagt, Gedanken darüber, ob ich so »genervt« bin von diesen Idealvorstellungen, weil ich lange Model war – und selbst immer so perfekt aussehen musste. Mich stört es dann manchmal, wie mein Körper sich heute präsentiert. Ich schaffe es nicht, über längere Phasen Sport zu treiben, und weiß genau, ich könnte straffer aussehen, vielleicht auch zwei, drei Kilo schlanker sein. Das fühlt sich eben angenehmer an, zum Beispiel beim Sitzen – es sei denn, ich gehe los und kaufe ganz neue Kleidung in Größe 44.

Ich lerne also gerade ganz neu, nicht perfekt zu sein, obwohl ich früher einen vermeintlich perfekten Körper hatte, als Model viel Bade- und Wäschefotos gemacht habe – das ginge heute eher nicht mehr. Aber auch Leute, die richtig schöne Körper haben, machen sich schlechte Gedanken darüber, wie sie aussehen. Da frage ich mich manchmal, wie hoch ihr Anspruch an sich selbst mittlerweile gewachsen ist.

CLEMENT Es kommt ja darauf an, ob ich als Maßstab die allgemeine Norm nehme oder mein eigenes Wohlgefühl. Das führt in der Paartherapie oft zu vertrackten Dialogen. Bei Frauen klingt das Thema ganz häufig so: Sie sagt, sie fühle sich unattraktiv, der Mann sagt ihr aber: »Für mich siehst du gut aus, ich mag deinen Körper.« Sie glaubt es ihm aber nicht, weil sie denkt, er sage es nur, um sie nicht zu kränken. Relativiert er das jedoch, um glaubwürdiger zu wirken, nimmt sie das sofort als Bestätigung dafür, dass er ihren Körper eben nicht attraktiv findet. Eine beinahe ausweglose Situation. Das spielt mehr bei Frauen als bei Männern eine Rolle.

HENNING Wobei die Gruppe von Männern, die mit ihrem Körper unzufrieden werden, immer größer wird. Auch sie haben mittlerweile mehr »optimierte« Beispiele und Vorbilder für den »perfekten« Körper. So viele halb nackte, durchtrainierte Männer wie heute im Fernsehen und in der Werbung gab es noch nie.

Nun haben wir aber auch die anderen: Da gibt es jene Männer, dieihren Bierbauch mit freiem Oberkörper durch die Straßen der Nachbarschaft tragen. Und ich denke an anorektische Frauen, die – knapp bekleidet – manchmal eher erschreckend aussehen, die ihren Körper aber dennoch gerne zeigen. Was ist das für ein Phänomen?

CLEMENT Sie haben jetzt einen extremen Geschlechtsunterschied benannt: die dickbäuchigen Männer und die anorektischen Frauen. Das ist noch mal zugespitzt. Es ist ein Klischee, aber es gibt ja Klischees, die auch stimmen, dass sich nämlich die Männer auch mit einem nicht so schönen Körper in Ordnung fühlen, weil sie die Aufmerksamkeit nicht so darauf lenken. Viele Frauen hingegen gucken ständig darauf, übrigens häufig mit einem männlichen Blick, also mit der Bewertung, von der sie annehmen, dass ein Mann sie vornehmen würde. Das ist ein Geschlechterunterschied, der auch schon ziemlich alt ist, es handelt sich nicht um ein neues Phänomen.

Die Verhaltensbiologen sagen, bei der sexuellen Partnerwahl achten die Männer auf Gesundheit der potenziellen Partnerinnen, damit sie überlebenstüchtigen Nachwuchs bekommen. Die sieht man an glatter Haut oder schlanker Jugendlichkeit. Die Frauen schauen auf Ressourcen und Status, und da schadet ein bisschen Bauch nicht. Die Biologen würden es also mit unterschiedlichen Partnerwahlkriterien erklären. Da hat sich beides offenbar gut durchgesetzt und ist genetisch etabliert.

Gut, dann haben wir das ins Positive gewendet. Lassen wir also mal die Hüllen fallen: Kleiner Penis, kleiner Busen, das sind ja vermutlich die Klassiker, mit denen sich die beiden Geschlechter quälen.

HENNING Ich bin da für die Frauen gar nicht so sicher, der Trend in Hollywood heißt gerade »Kleiner Busen, kein BH«. Bei Männern würde ich schon zustimmen, ja, über ihren Penis machen sich, glaube ich, alle Männer Gedanken.

CLEMENT Meist ziemlich nutzlose.

Was würden Sie, Frau Henning, für die Frauen hinzufügen?

HENNING Ein riesiger Busen als Vorbild ist heute wirklich eher die Ausnahme. Sogar im Porno scheinen »natürliche Brüste« im Kommen zu sein, jedenfalls höre ich das gelegentlich aus der Branche, dass nämlich viele Nutzer offenbar deutlich zeigen, dass sie diese Ballonbrüste nicht mehr wollen und dann bestimmte Filme nicht kaufen, weil ihnen das alles zu künstlich ist. Normale Körper und auch kleine Busen sind sehr akzeptiert, da ändert sich vielleicht gerade etwas. Ohnehin gibt es ja eigentlich für alles eine Präferenz.

CLEMENT Für Frauen geht es um den schönen Busen. Für Männer um den großen Penis. Männer sind da einfacher. Frauen können sagen: »Wenn der Busen klein und schön ist, prima; wenn er groß und schön ist, auch prima.« Dass ein Mann aber sagt: »Ich habe so einen wunderschönen zierlichen hübschen Penis«, das wäre ein selbstbewusster Akt, aber eher ungewöhnlich.

HENNING Na ja, weil ein Mann, was Sexualität im Allgemeinen angeht, damit etwas vorhat, nämlich jemanden zu penetrieren und auszufüllen. Der Busen ist einfach da, den kann man liebkosen, egal, wie groß er ist oder wie er aussieht, aber der Penis hat eine andere Bedeutung und Funktion.

CLEMENT Im Kamasutra geht es um eine spezielle Idee: Da gibt es Tiere wie Hengst, Hase und Stier bei den Männern und Stute, Reh und Elefantenkuh bei den Frauen. Da herrscht die Idee der genitalen Passung. Wenn zum Beispiel eine Elefantenfrau und ein Hasenmann zusammenkämen, dann sei das ungünstig, aber Hengst und Stute, das gehe. Das zielt tatsächlich auch auf die Genitalgröße. Ich finde das zwar überbewertet, aber das Sympathische an dieser Idee ist, dass nicht die Größe, sondern die Passung im Mittelpunkt stehen muss.

HENNING Ja, es hört sich irgendwie weit hergeholt an, aber genau das hat mir eine gute Physiotherapeutin bestätigt: So manche Frau ist eindeutig kleiner und enger gebaut, andere größer und weiter. Man sagt: »Du kannst deinen Beckenboden trainieren, dann wird er strammer, bleibt er jedoch untrainiert, dann bleibt er eher lasch.« Es scheint trotzdem grundlegende Unterschiede zu geben. Es gibt Leute, die werden – egal, wie viel sie trainieren – immer Elefant, Pferd oder Windhund bleiben. Und ein Mann mit einem sehr kleinen Penis wird nie das gleiche Reibungsgefühl haben wie andere mit dicken Penissen, jedenfalls bräuchte er dafür eine wirklich gute Stoßtechnik. Ähnliches gilt für die Vagina – auch Frauen können sich beim Sex so bewegen, dass sie mehr davon haben, ob nun trainierten Beckenboden oder nicht.

CLEMENT Ich habe neulich in einer Therapie von einer Frau gehört, ihr früherer Partner habe einen zu großen Penis gehabt. Das gibt es auch.

HENNING Ja, ich weiß, absolut, das gibt’s. Und gar nicht mal so selten.

CLEMENT Ich finde das wichtig zu sagen, dass nicht nur ein zu kleiner Penis der Frauenschreck sein kann, sondern auch ein zu großer, weil der unangenehm ist für die Frau.

HENNING Ich finde es wirklich toll, dass du das sagst, denn ich weiß nicht, wie oft ich das schon betonen musste, immer und überall geht es darum, dass Penisse groß und lang sein müssen. Welche Frau möchte aber bitte schön einen für sie zu langen Penis? Der Geschlechtsverkehr würde wehtun. Also, wenn wir überhaupt über ein Ideal sprechen wollen, dann geht es um dickere Penisse. Es herrschen wirklich viele falsche Vorstellungen allein zu diesem »kleinen« Körperteil.

Ließe sich nicht beruhigend für alle sagen, dass jedes Körperteil ein Begehren wecken kann und dass ohnehin alle Körperteile »funktionieren«, egal, welche Form? Da gebe es doch eigentlich eine Menge Entspannungspotenzial, wenn wir endlich sagen könnten: Es gibt Männer, die finden einen kleinen Busen viel toller als einen großen, und auch der kleine Penis erfüllt alles das, was er soll, bestens. Wenn Paare also anfangs zueinanderfinden, dann müsste das Wissen darum eigentlich zu einer Grundsicherheit führen.

CLEMENT Ja, aber das findet erst im zweiten Schritt statt. Im ersten Schritt tritt die Unsicherheit auf: Passen wir zusammen? Gefalle ich dir mit meinem Körper? Ist das stimmig zwischen uns? Diese Unsicherheit macht erst mal Angst und vielleicht auch ein Schamgefühl.

Für Männer hängt damit eben auch zusammen: Bin ich gut genug, bin ich attraktiv, ist der Penis groß genug, passend genug, vor allem: Wird der gewollt? Das herauszufinden ist dem Mann schon wichtig. Da kann ich so selbstbewusst sein, wie ich will. Der radikal Selbstbewusste würde ja sagen: »Ich habe genau den Penis, den ich habe, und freue mich, dass ich bin, wie ich bin, wenn dir etwas nicht passt, lass es bleiben.« Aber so unbeeindruckbar ist ja kaum jemand. Die meisten sagen: »Ich bin selbstbewusst, aber mir ist wichtig, dass das, was mich ausmacht, punktgenau auch für dich gut ist und dir gefällt.«

Ich glaube, dass Männer, die zu sehr auf ihren Penis fixiert sind und dem alles andere nachordnen, in eine Falle laufen. Ich muss auch etwas zu erzählen haben, passabel aussehen, vielleicht Geld haben, humorvoll sein oder sonst etwas Wertvolles im Angebot haben. Wenn solche Männer keine Phallusäquivalente vorweisen können, dann verlieren sie schnell. Nur die Penisgröße ist halt doch ein bisschen wenig.

HENNING Auf die Männer mit sehr kleinen Penissen bezogen, muss auch gesagt werden, dass es viel mehr Möglichkeiten gibt als nur die Penetration. Und wenn schon, geht es wieder um die schon erwähnte Möglichkeit, anders zu stoßen als ein simples, schnelles Vor und Zurück. Paare könnten viel mehr ausprobieren, um solche Feinheiten herauszufinden. Es gibt da ein ganzes Spielfeld.

CLEMENT Na, nun willst du den Männern mit kleinem Penis den Geschlechtsverkehr ausreden? Das ist doch nur ein Problem, wenn man unentwegt drauf achtet. Gebe ich etwas eine Bedeutung oder gebe ich dem keine Bedeutung?

Es gibt Männer, die haben einen kleinen Penis, aber sind unglaublich kreativ und lassen sich etwas einfallen. Es gibt Männer, die haben einen großen Penis und glauben, damit sei alles klar, und denen fällt dann auch nichts weiter ein, als ihn irgendwo reinzustecken. Erst die Kunst, den Körper und den Penis als Teil einer größeren »Veranstaltung« ins Spiel zu bringen, wird lebendig und unterhaltsam, nicht dieser enge Blick auf ein einziges Kriterium.

HENNING Das Ganze steht in engem Zusammenhang mit mehr Wissen über den Körper und mit Experimentierfreudigkeit: »Ich probiere einfach mal etwas aus, wie es für mein Körpergefühl passen könnte.« Dafür sollten sich Männer davon distanzieren können, was in Pornofilmen gezeigt wird, denn viele kommen heute sehr früh in ihrem Leben damit in Berührung. Das kann die eigenen Vorstellungen stark lenken und einschränken.

Ich möchte noch einmal auf die sehr langen Penisse zurückkommen, denn das Thema der Länge begegnet mir in der Sexualberatung durchaus öfter und auch dabei fehlt es an Wissen. Die Männer sind beeinträchtigt und sagen: »Ich darf nicht richtig stoßen, auch wenn ich nur einigermaßen leidenschaftlich in meinem Gefühl bin, tue ich ihr sofort weh. Ich muss mich unentwegt kontrollieren.« Sie wartet förmlich schon auf den Schmerz. Ich empfehle einen ganz simplen Trick, nämlich ein leichtes Seidentuch, zuerst in ein Dreieck zu falten, dann weiter umzuschlagen, sodass es zum schmalen Band wird, dieses sanft um die Wurzel des Penis binden. So kann der Mann nicht mehr so tief eindringen, muss aber nicht mehr daran denken, zu bremsen. Er kann sich quasi frei bewegen, weil er einen natürlichen Stopper hat. Das kann eine große Erleichterung für diese Paare sein.

Auch hier sind wir bei deiner Aufmerksamkeitslenkung, Uli: Auf einen Schmerz zu warten oder durchgehend »aufzupassen« tötet jede sexuelle Leidenschaft im Keim.

CLEMENT Ich möchte noch etwas anmerken: Du hast jetzt immer vom Stoßen geredet, aber das ist auch nur eine Bewegungsmöglichkeit. Es gibt doch eine ganze Reihe weiterer koitaler Möglichkeiten, zum Beispiel zu verweilen oder eine sanfte Reinund-raus-Bewegung zu vollziehen. Das ist mir wichtig zu sagen, denn dann verändert sich auch diese Größenfixierung noch mal. Genitale Liebkosung, um es mal etwas pathetisch auszudrücken, geht auf vielen Wegen. Das Stoßen ist lediglich die sportliche Variante.

HENNING Ja, genau das ist doch mit Stoßtechniken gemeint! Ein Reinfühlen, mal nichts tun, mal tief und sanft reingleiten, auch mal das Tempo steigern, den Eindringwinkel abwechseln, dann wieder nur vorne am Eingang »tippen«. Stoßtechniken eben, humorvoll ausgedrückt, die übrigens uralt sind, mehrere tausend Jahre, direkt aus dem Kamasutra, dem ersten bekannten Aufklärungsbuch der Welt.

CLEMENT In der Psychotherapie spielt der zu große Penis relativ selten eine Rolle. Im Gesamtspektrum von Problemen taucht das mal auf, ja, aber es ist ein eher seltenes Problem.

HENNING