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Dieses Buch stellt die sexuell handelnde, fühlende und denkende Person in den Mittelpunkt. Selbstbestimmung geht vor Symptombesserung, "Sein" vor "Tun". Insbesondere Störungen des sexuellen Verlangens werden in ihrer Bedeutung für die Selbstachtung als Mann oder Frau untersucht und therapeutisch zugänglich gemacht. Ulrich Clement interessiert sich dabei nicht nur für Gemeinsamkeiten, sondern auch für Gegensätze und Unterschiede der Partner und deren Ambivalenzen. Jenseits des trivialen Bekenntnisses "Sex macht Spaß" geht es ihm vielmehr um den Sex, der es wert ist, gewollt zu werden. Dem bekannten Sexualwissenschaftler gelingt damit ein Aufklärungsbuch für Therapeuten. Sachlich fundiert, wissenschaftlich untermauert und mit gutem Humor klopft der Autor alle Facetten systemischer Sexualtherapie ab.
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Seitenzahl: 281
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Ulrich Clement
Systemische Sexualtherapie in der Praxis
Dritte Auflage, 2021
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
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Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
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Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
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Reihengestaltung: Uwe Göbel
Umschlagfoto: © Richard Fischer • richardfischer.org
Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Dritte Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-0111-6 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8040-1 (ePUB)
© 2016, 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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Einleitung: Sex im Gegenteil
Dramaturgie der Gegensätze
Antagonismen
Das Ja und das Nein zum Sex
Interesse
Elf Kapitel, zehn Leitunterscheidungen
1Sexualtherapie und der Versuch, das Begehren einzufangen
Der akademische Trend: Qualitätskontrolle
Wirklichkeitskonstruktionen des sexuellen Begehrens
Fehlende Lust: Diagnostik des Mangels
Sexuelle Sucht: Diagnostik des Zuviel
Die Trivialitätskrise
2Vom sexuellen Tun zum sexuellen Sein – und zurück
Sexuelle Motive
Hin zu und weg von – Hinwendungs- und Vermeidungsmotive
Sexuelle Befriedigung
Exkurs: Empirische Messung sexueller Befriedigung
Die kognitive Konstruktion von Zufriedenheit
Verfügbarkeitsfehler und Fokussierungsillusion
Erlebendes und erinnerndes Ich
Erinnerung und Präsenz
Fragen zur sexuellen Befriedigung (Fokus: Variation einzelner Erlebnisse)
Fragen zur sexuellen Zufriedenheit (Fokus: Durchschnitt)
3Sexuelle Ressourcen
Trieb und Ressourcen
Was ist eine sexuelle Ressource?
Ressourcen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft
Ressourcenorientierte Interventionen in der Sexualtherapie
(1) Das ressourcenorientierte Interview
(2) Das Liebhaber-/Geliebten-Profil oder: Ich bin nicht mein Symptom
(3) Die Selbst-Ernennung
4Das Nein zum Sex
Exkurs: Das männliche und das weibliche Nein
Problemerzählung
Geschlechtstypische Dynamik
Varianten des Nein
Erotische Barrieren als Übergangskompetenz
Das Dual-Control-Modell: Das Nein als funktionale Hemmung
Von der Hemmung zum Nein: Automatismus oder Entscheidung
Hemmung als Ressource – Nein als Kompetenz
Sättigung
Aufmerksamkeit für lebensrelevante Aktivitäten
Schutz vor Stress
Psychosexuelle Entwicklung
Differenzierung
Dramaturgie und Kontrastbildung
Prozesssteuerung
Therapie
Zwei-Schritte-Konzept
Interventionen, die Lustlosigkeit als Problem fokussieren
Interventionen, die Lustlosigkeit als Kompetenz fokussieren
5Innen und außen: Bedeutungen und Handeln
Sexuelle Skripte
Sexuelles Verhalten und sexuelle Bedeutungen
Feste Kopplung von innen und außen
Lose Kopplung von innen und außen
Veränderung von Skripten: Assimilation und Akkommodation
Oszillieren zwischen Assimilation und Akkommodation
6Das Dauerthema: Nachhaltige Erotik
Das Dilemma: Berechenbarkeit und Lebendigkeit
Paardynamik von Bindung und Autonomie
Bindungssicherheit und Erotik
»Sicherung« durch Stagnation
Fantasien werden zensiert
Aus Unsicherheit werden Liebesbeweise verlangt
Unsicherheit führt zu Kontrollbedürfnis
Bedürftigkeit enterotisiert (meistens)
Bindungssicherheit als Selbst-Anteil
Exkurs: Das innere Familiensystem in der Sexualtherapie
Exkurs: Bindungssicherheit und erotisches Sprechen
Bindung und Neugier
Reise in den erotischen Raum
Therapie: Das Zwei-Schritte-Konzept
7Ambivalenzen des sexuellen Begehrens
Sexuelle Lustlosigkeit
(1) Passive oder aktive Negation von Lust
(2) Mangel oder Ambivalenz
Selbstbeschreibungen der Lustlosigkeit
Exkurs: Das Ideale Sexuelle Szenario (ISS)
Instruktion des ISS
Auswertung des ISS
Zwei Systeme: Werte und Begehren
Paardynamik der Ambivalenz: Abwehrbündnis und Kollusion
8Sexuelle Beziehungsangebote – Geben und Nehmen
Geben und Nehmen: Form und Inhalt
Geben wollen und geben können
Geben und hergeben
Geben als Haltung
Die andere Seite des Gebens: Annehmen
9Nehmen und Genommenwerden
Sexualpartner und Sexualobjekt
Die Unwiderstehlichkeitsfantasie und der männliche Blick
Objekt: Politischer und sexueller Diskurs
Männliches Begehren
Hingabe
Partner als Subjekt und Partner als Objekt
10Sexuelle Fantasien
Geschlechtsunterschiede
Kinky Sex
Funktion von Fantasien: Kompensation, Kreativität, Antizipation
Von der Perversion zur »normalen« Erregung
Analyse von Fantasien
Und wenn keine Fantasien zu erkennen sind?
11Bewegungen
Die schließende Bewegung: von der Mehrdeutigkeit zur Eindeutigkeit
Die öffnende Bewegung: von der Eindeutigkeit zur Mehrdeutigkeit
Öffnen und schließen
Innehalten
Wundern und Staunen
Verlangsamen
Schweigen
Sex, öffnen, schließen, innehalten: Ein sparsames Schlusswort zu einem großen Gedanken
Verzeichnis der Tabellen
Verzeichnis der Interventionen
Literatur
Über den Autor
Dies ist ein Buch über die Dynamik des Begehrens in der Sexual- und Paartherapie. Es thematisiert die psychotherapeutische Behandlung von Störungen der sexuellen Lust. Auch. Darüber hinaus verfolgt es ein Anliegen, das sich nicht auf die Behandlung des sexuellen Symptoms einer Person beschränkt. Vielmehr nimmt es die Person selbst in den Blick, mehr das sexuelle Sein und erst in zweiter Linie das sexuelle Tun.
Begehren meint also mehr als Lust. Man kann Lust auch auf ein Schokoladeneis oder einen Abenteuerfilm haben, aber man kann weder das Eis noch den Film begehren. Die Lust ist flüchtig, sie kommt und geht. Das Begehren ist ständiger, unabweisbarer Begleiter im Zentrum der Person und macht ihre Lebendigkeit aus. Auch dann, wenn sie gerade einmal keine Lust hat.
Über sexuelles Begehren schreiben heißt also über Lebendigkeit schreiben. Diese Lebendigkeit ist nicht ein einfaches Synonym für Lust und Geilheit, schon gar nicht für die hölzerne Metaphorik biologischer »Grundlagen« mit einem kulturellen und psychologischen »Überbau«. Vielmehr entfaltet sie sich in der Dramaturgie eines Spannungsfeldes zwischen Euphorie und Depression, zwischen dem Rausch der Möglichkeiten und beklemmender Begrenztheit, zwischen Heiterkeit und Not.
Anders als die eindimensionale »Lust«, die zu dem führen kann, was man »sexuelle Befriedigung« oder, bescheidener, »sexuelle Zufriedenheit« nennt und der eine vergnügliche Seite keineswegs abgesprochen werden kann, ist das sexuelle Begehren eine existenzielle Kategorie. Wie jemand begehrt, sein Begehren kommuniziert, gestaltet und bewertet, geht nicht in der simplen Formel »Sex macht Spaß« auf, sondern ist zentraler Ausdruck seines Menschseins.
Das mag etwas heavy klingen. Ist es auch. Aber der Witz der erotischen Spannung, ihre Leichtigkeit und ihre Vitalität entfalten sich erst in Verbindung mit den »schweren« Seiten, mit Bedürftigkeit, Scham und Angst ebenso wie mit Bosheit, mit Macht, Angst und Schmerz.
Wenn man Sexualität in erster Linie unter der Überschrift Lebendigkeit versteht, ist das mehr als bloß eine frohe Metapher. Die Lebendigkeit muss sich auch in den Konzepten und in der sexualtherapeutischen Praxis zeigen. Lebendigkeit heißt Bewegung. Und Bewegung vollzieht sich in Gegensätzen.
Deshalb zieht sich durch das Buch eine Logik der Gegensätze. Diese sind, systemisch gesprochen, durch »Leitunterscheidungen« aufgespannt, die für sich genommen eine wichtige, aber doch fleischlose begriffliche Seite beschreiben. Das Skelett der Leitunterscheidungen bekommt Fleisch und Blut erst durch eine spezifische Dramaturgie, die den Sex zum Laufen bringt.
Wenn Lebendigkeit die zentrale Metapher für Sexualität ist, dann gilt es, ein Verständnis von Bewegung zu entwickeln von Übergängen zwischen Spannung und Entspannung, zwischen Erregung und Hemmung, zwischen Nähe und Abstand, zwischen Faszination und Schrecken, Spiel und Ernst, Aufregung und Langeweile. Übergänge, denen wir manchmal ausgesetzt sind und die wir bisweilen aktiv gestalten. Die Sexualwissenschaftlerin Leonore Tiefer (1995) hat es auf diesen Punkt gebracht: »Sex is a never ending game« (»Sex ist ein endloses Spiel«). Das stimmt, selbst das Alter erlaubt nicht allen Menschen einen geordneten sexuellen Rückzug. Aber das »never ending game« kennt unterschiedliche Akte, Längen, Höhe- und Tiefpunkte. Und zwischendurch gibt es Pausen, ehe es dann weitergeht.
Die Idee dieses Buches ist es, Sexualität und ihre Störungen über die Gegensätze zu verstehen, denen schwer zu entkommen ist. Gegensätze, die Lebensenergie binden, aber auch freisetzen können. Durch einen Blick auf die Dramaturgie der Sexualität können Elemente in Bewegung kommen, die für sich genommen statisch oder richtungslos bleiben. Der leitende Gedanke ist einfach, aber fruchtbar. Er wird belebt durch das dialektische Verständnis, dass nicht nur Begriffe, sondern auch Erlebnisweisen erst durch ihr Gegenteil erkennbar und spürbar werden. Erregung wird erst spürbar, wenn auch Langeweile erlebt wird, Befriedigung setzt die Möglichkeit der Enttäuschung voraus.
Einer meiner therapeutischen Lehrer, ein Psychoanalytiker, brachte seinen interpretierenden Suchprozess bei unseren Fallbesprechungen auf den Punkt: »Das Gegenteil könnte immer auch zutreffen.« Ich erinnere mich an den gequälten Gesichtsausdruck eines Kollegen, dem wenig Ambiguitätstoleranz gegeben war und der sich nach einer kurzen psychodynamischen Phase konsequent entschloss, doch seinen Psychiatrie-Facharzt zu machen und ins Reich der diagnostischen Vereindeutigung zu wechseln. »Das Gegenteil könnte immer auch zutreffen.« Man darf diesen Satz nicht mit Beliebigkeit verwechseln, vielmehr steht er für eine perspektivische Offenheit, sich in der Dynamik psychischer Prozesse zu bewegen, die nicht objektivierbar und nicht direkt beobachtbar ist. Der dramaturgische Blick interessiert sich weniger für Ergebnisse als für Prozesse, für Widersprüche mehr als für Eindeutigkeit.
Dieses dramaturgische Prinzip hat Konsequenzen für das Fallverständnis. Neben den bewährten Methoden der Auftragsklärung und der Beziehungsdiagnostik lohnt es sich, darauf zu achten, welche Bewegung unterbrochen ist bzw. welche neue Bewegung fällig wäre, ob spannungserhöhende oder spannungsreduzierende Interventionen sinnvoll, ob eher öffnende oder schließende Schritte angesagt sind, ob eher ein Anfang gemacht oder ein Ende eingeleitet werden muss.
Mit anderen Worten könnte man sagen, der Fokus des Interesses richtet sich auf das relevante Spannungsfeld, innerhalb dessen sich ein Symptom oder ein Konflikt entfaltet.
Das dramaturgische Prinzip heißt nun nicht, dass jede Therapie zu jedem Zeitpunkt eine dramatische Veranstaltung wäre. Therapien haben Längen, langweilige Passagen, unfruchtbare Stunden, sie beinhalten Phasen der Resignation und Ratlosigkeit. Dramaturgisch interessant ist aber der größere Rahmen, innerhalb dessen solche wenig aufregenden Abschnitte stattfinden. Was ist der Resignation vorausgegangen? Welches beunruhigende Gefühl oder welcher bedrohliche Inhalt wird durch die Langeweile unsichtbar gemacht? Was folgt der Ratlosigkeit? Mit den richtigen Fragen kann in jeder Partie eine offene Gestalt identifiziert werden und man kann der Frage nachgehen, was die Gestalt geöffnet hat und zur Spannung geführt hat oder welche Bewegung notwendig ist, um den Spannungsbogen zu schließen.
Das Drama lebt von Gegensätzen, bei denen offen ist, ob sie sich auflösen lassen oder unversöhnt bestehen bleiben. Damit sind nicht nur Gegensätze gemeint, die sich im Wege stehen und behindern, sondern Spannungsbögen, die durch ihren Bezug aufeinander überhaupt erst so etwas wie Bewegung und Lebendigkeit möglich machen. So ist beispielsweise ein Verständnis für das, was sexuelle Befriedigung und Wohlbefinden ausmacht, kaum möglich ohne einen vergleichenden Blick auf sexuelle Enttäuschungen und sexuelles Elend. Das gilt sowohl für die Außenperspektive des Therapeuten oder Forschers, der versucht, sich ein angemessenes Bild zu machen, als auch für die Innenperspektive des erlebenden, beglückten oder leidenden Klienten.
Die formale Grundstruktur des antagonistischen Prinzips ist die Unterscheidung von Ja und Nein. George Spencer Brown begründet in seinen »Laws of Form« (1969), dass die Grundoperation aller logischen Operationen die Unterscheidung zwischen Einschluss und Ausschluss sei. Damit entscheidet ein Beobachter, ob ein Element einem anderen ähnlich oder unähnlich ist, ob etwas dazugehört oder nicht.1
Dabei kann es sich um die scheinbar einfache Frage handeln, ob es sich bei einem bestimmten Verhalten um Sex handelt oder nicht. Diese abstrakte Unterscheidung spielt in der Sexualforschung eine sehr unmittelbare Rolle, wie sich an einem politisch brisanten Beispiel zeigen lässt. Im Zusammenhang mit der Lewinsky-Affäre hatte der US-Präsident Clinton bestritten, mit seiner Praktikantin Sex gehabt zu haben2. Soweit heute bekannt ist, fand zwischen Clinton und Lewinsky oraler Sex (Fellatio) statt. In der politisch aufgeladenen, mittlerweile historischen Auseinandersetzung um Clintons Amtsenthebung ging es auch um die Frage, ob der Präsident gelogen hat. Damals wurde eine bis dahin wenig beachtete Studie des Kinsey-Instituts von Sanders und Reinisch (1999) ins Spiel gebracht, in der einer Studenten-Stichprobe eine Reihe von sexuellen Verhaltensweisen vorgegeben wurde mit der Frage, ob sie »mit jemand Sex hatten«, wenn sie das entsprechende Verhalten praktiziert hatten. Mehr als die Hälfte (59 %) rechneten oral-genitale Begegnungen nicht als »Sex haben«. Der Herausgeber des JAMA (Journal of the American Medical Association), George Lundberg, der die Publikation dieser Studie entgegen dem üblichen Verfahren zeitlich vorgezogen hatte, wurde daraufhin aus seiner Funktion entlassen.
Dieses besonders dramatische Beispiel eines angewandten Konstruktivismus zeigt, wie folgenreich Wirklichkeitsbeschreibungen sein können. Sie sind aber nicht die Ausnahme, sondern das allgemeine Gestaltungsprinzip. Das ganze Feld der Sexualforschung ist durchzogen von solchen Unterscheidungen, die man immer auch anders treffen könnte. Das gilt für die Definitionslinie, jenseits derer bestimmte Beobachter mit einem bestimmten kulturellen Hintergrund und einem bestimmten wissenschaftlichen Interesse ein bestimmtes Verhalten als »hypersexuell«, als »lustlos«, als »asexuell«, als »befriedigend« bezeichnen. Wie sehr das Störungsverständnis und damit die Diagnosen von dem Meinungsbild derer geprägt sind, die das erfinden, was später als »wirklich« gilt, zeigt sich auch am Beispiel der Entwicklung, die die Konstruktion der sexuellen Lustlosigkeit in den verschiedenen Generationen des diagnostisch-statistischen Manuals (DSM) der American Psychiatric Association (APA) genommen hat (siehe Kap. 1).
Die Beobachterabhängigkeit dessen, was wir im Allgemeinen als sexuell oder im Speziellen als sexuelle Störung bezeichnen, mag für diejenigen eine schlechte Nachricht sein, die sich in einer scheinbar eindeutigen Welt besser und lieber bewegen. Für die therapeutische Theorie und Praxis hat die Beobachter-Abhängigkeit aber viele Vorteile. Sie ermöglicht nämlich, sich das Verständnis darüber, was als gestört und ungestört, gesund und krank, befriedigend und unbefriedigend gilt, selbst anzueignen und damit die Autorenschaft über das eigene sexuelle Begehren, das eigene Selbstverständnis als Mann oder Frau, über das, was als authentisch und befriedigend erlebt wird.
Dafür ist freilich von beiden Seiten, des Therapeuten und des Klienten, eine Haltung des Interesses notwendig, durch die sich überhaupt erst ein Blick für das therapeutische Drama öffnen kann. Ohne Interesse ist kein Drama erkennbar.
Der interessierte Blick muss sich gegebenenfalls erst entwickeln. Es kann gut sein, dass die Klienten so stark von ihrer Depression und ihrem Leiden eingenommen sind, dass sie zunächst gar kein Interesse für ein Verständnis ihrer Situation aufbringen können. Es gehört dann zu den entscheidenden Herausforderungen für den Therapeuten, einen interessierten Blick des Klienten für seine eigene Situation zu aktivieren. Methodisch ist das nicht schwer. Es sei am Beispiel einer kurzen typischen Vignette illustriert:
KLIENT Ich gebe bald auf. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich meine Partnerin emotional erreichen soll, und sexuell schon gar nicht. Ihre ganze Körpersprache besteht aus Ablehnung. Ich verstehe es einfach nicht.
THERAPEUT Möchten Sie es denn verstehen?
KLIENT Das habe ich ja lange versucht. Ich komme nicht dahinter.
THERAPEUT Interessiert Sie denn, was in Ihrer Partnerin vorgeht?
KLIENT Sie will mich eben nicht näher an sich heranlassen.
THERAPEUT Interessiert Sie, warum das so ist?
KLIENT (zögert) Ja, schon …
THERAPEUT Wollen wir dieser Frage näher nachgehen, wie Sie dabei vorgehen können?
KLIENT Wenn es etwas nützt …
THERAPEUT Ob es etwas nützt, weiß ich vorher auch nicht. Der entscheidende Punkt aus meiner Sicht ist, ob Sie sich dieser Frage zuwenden wollen.
KLIENT Ja. Anders komme ich auch nicht weiter.
Möglicherweise wirkt dieser Dialog etwas penetrant vonseiten des Therapeuten, vielleicht auch harmlos, weil er scheinbar nach einer Selbstverständlichkeit fragt. Dies ist aber entscheidend für die Energie, die in den therapeutischen Ablauf fließt. Erst wenn der Klient sich in eine interessierte Position seinem eigenen Verhalten gegenüber bewegt, kann so etwas wie eine lebendige Therapie auf den Weg kommen.
Zu einem interessierten Dialog gehören natürlich beide Seiten. Von einem Freund, dem Schauspieler, Regisseur und Coach Utz Thorweihe, habe ich einen nachhaltigen Satz gelernt, mit dem er die entscheidende Haltung beim Auftritts-Coaching vermittelt: »Be interested to be interesting« (»Sei interessiert, um interessant zu sein«). Wer vermittelt, dass der an seinem Thema und seiner Aufgabe interessiert ist, erzeugt damit die positive Energie einer attraktiven Einladung, der sich das Gegenüber schwer entziehen kann. Dieser Satz gilt ohne Einschränkung auch für die Psychotherapie. Je mehr sich ein Therapeut für die Lebenssituation seines Klienten interessiert, desto besser sind die Chancen, dass damit auch Ressourcen beim Klienten aktiviert werden. Das kann durchaus heißen, dass der Therapeut sogar ein größeres Interesse am tieferen Verständnis der Problemlage hat als der Klient.
Es kann auch sein, dass der Therapeut zunächst noch kein Interesse empfindet, sondern die Therapie routinemäßig beginnt. Dann ist es seine Verantwortung, sich einen Blickwinkel zuzulegen, der es ihm erlaubt, den Fall so zu betrachten, dass in ihm Neugier entstehen kann: Warum hat sich ein bestimmtes Symptom in einer bestimmten Lebenssituation entwickelt? Welche Ressourcen hat der Klient? Was hindert den Klienten, das zu tun, was er will? Kann er ein solches Interesse nicht entwickeln3, wird die Therapie unlebendig bleiben. Dann entspräche es einer professionellen Verantwortung, die Therapie abzubrechen und den Klienten an einen Kollegen weiterzuverweisen, der Interesse aktivieren kann.
Soweit der Refrain des Buches: das Interesse an der Dramaturgie der Gegensätze. Nun zu den Strophen. In den Kapiteln werden spezifische Gegensätze analysiert, die Pole darstellen, zwischen denen die Sexualität pulsiert, entspannt ruht – oder auch ungewollt stagniert. Der dramaturgische Blick meint also nicht, dass jede sexuelle Begegnung – oder jede sexualtherapeutische Sitzung – in einem hysterischen Sinne dramatisch verläuft. Oft genug geht es langsam zu, es passiert nichts Nennenswertes und es zieht sich mit müden Längen dahin. Vielmehr meint der dramatische Blick die interessierte Aufmerksamkeit für ein prozess- wie ergebnisoffenes Geschehen, bei dem man nicht sicher sein kann, wie es weitergeht.
Jedes Kapitel (außer dem ersten) beschäftigt sich mit einem Spannungsfeld, das in der Sexualität und damit auch in der Sexualtherapie eine Rolle spielen kann. Nicht jedes ist in jeder Therapie akut. Aber jedes könnte akut werden. Meine Absicht ist es, die möglichen Bewegungen in dem jeweiligen Spannungsfeld zu analysieren, daraus therapeutische Handlungsanleitungen abzuleiten und durch klinische Fallvignetten zu illustrieren.
Die Leitunterscheidungen sind meist einfach markiert, zum Teil sind sie bereits in den Kapitelüberschriften benannt. Die Bewegungen umfassen manchmal langsame Entwicklungsschritte, manchmal schnellere Oszillationen zwischen zwei Polen, manchmal konkret physische, manchmal gedankliche Bewegungen.
Ein kurzer Überblick über ein paar Trends in der Sexualtherapie (Kap. 1) führt zu der ersten Leitunterscheidung zwischen sexuellem Handeln und sexuellem »Sein«, also der Frage, wie das, was ich tue, mit dem verbunden ist, wer ich bin (Kap. 2).
Kapitel 3 zeigt, was sexuelle Ressourcen sein können und wie man einen konstruktiven neuen Blick von gefühlten Defiziten zu verfügbaren Ressourcen gewinnen kann.
Kapitel 4 führt von einer logischen Unterscheidung (Ja und Nein zum Sex) zu dem psychologischen Thema der Differenzierung. Es wird erörtert, warum die Kompetenz, differenziert Nein zu sagen, eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, sexuelle Erregung zu bejahen und zu einer authentischen sexuellen Befriedigung zu gelangen.
Der Schweizer Psychologe Jean Piaget (1970) hat die mittlerweile klassische Unterscheidung von Assimilation und Akkommodation eingeführt: Entweder passe ich mein Denken der Welt an oder ich ändere die Welt so, dass sie zu meinem Denken passt. Das ist umstandslos auf das sexuelle Denken und Handeln übertragbar. Theoretisch umstandslos. Praktisch braucht es etwas Aufwand. Kapitel 5 beschreibt, wie das therapeutisch gehen kann.
Das Verhältnis zwischen Bindung und Erotik ist ein oft als enttäuschend erlebtes Spannungsfeld, wenn Paare davon ausgehen, das eine müsse das andere mit sich bringen. Kapitel 6 untersucht die beiden unterschiedlichen Logiken der Verlässlichkeit und der Erotik und bringt Vorschläge ins Spiel, wie sie miteinander verbunden werden könnten.
Wenn sexuelles Begehren sich so ohne Weiteres mit dem vertragen würde, was wir mit unseren demokratischen Werten in Einklang bringen können, wäre unser Sexualleben anständig und sauber, aber auch ziemlich langweilig. Kapitel 7 nimmt die Ambivalenz von Werten und Lust in einen näheren Blick.
Je mehr jemand sexuell frustriert ist, desto mehr hat sie oder er das Gefühl, nicht genug oder das Falsche zu bekommen oder selbst nicht genug zu haben, das man einem Partner geben könnte. Diese Grundfigur des Gebens und Nehmens ist in allen Partnerschaften zentral. Bei sexueller Unzufriedenheit spielt immer auch eine Schieflage von Geben und Nehmen eine maßgebliche Rolle, die in Kapitel 8 erörtert wird.
Jemand als »Sexualobjekt« zu begehren, hat einen politisch unkorrekten Geschmack. Wollen wir doch alle als Subjekt mit eigenen Wünschen und Rechten wahrgenommen werden und uns nicht einseitig in die Verfügbarkeit eines Partner begeben. Einerseits. Andererseits können die Sehnsucht, sich hinzugeben und auszuliefern, und der komplementäre Wunsch, jemand als Objekt zu nehmen, die sexuelle Erregung kräftig beflügeln, wie Kapitel 9 ausführt.
Sexualität sei »Fantasie plus Reibung«. Diese provokant reduktionistische Definition brachte Helen S. Kaplan in den 1970er-Jahren in die Sexualtherapie (Kaplan 1974). Ich bin mir bis heute nicht klar, wie weit das ironisch oder ernst gemeint war. Vor allem deshalb, weil die Fantasie in der sexualtherapeutischen Fachliteratur eine überraschend geringe Beachtung findet. Kapitel 10 macht einige Vorschläge, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen realen Wünschen und Fantasien, die nie real werden wollen und sollen, therapeutisch nutzen lässt.
Anders als die bisherigen Kapitel thematisiert das abschließende Kapitel 11 kein inhaltliches, sondern ein formales Spannungsfeld. Die Trias von öffnen, innehalten und schließen wird als Grundfigur eines produktiven sexualtherapeutischen Prozesses vorgestellt.
1 Ich habe vergeblich versucht, dieses Buch zu verstehen. Ich beziehe mich deshalb bei meiner Referenz auf das, was ich aus zweiter Quelle, nämlich mündlich von Paul Watzlawick und Fritz Simon, als Quintessenz dieser Arbeit glaube verstanden zu haben.
2 »I did not have sexual relations with that woman, Miss Lewinsky« war der entscheidende Satz in Clintons Erklärung am 17.1.1998.
3 Dieser in der tiefenpsychologischen Therapie sogenannte »Gegenübertragungswiderstand« ist kein seltenes Phänomen. Es disqualifiziert nicht den Therapeuten, sondern ist ein Anlass, der in einer Supervision reflektiert werden sollte.
Psychotherapeutische Pflanzen wachsen auf verschiedenen Feldern. In den geordneten Gewächshäusern der universitär verankerten Therapien wird Klarheit und Ordnung gepflegt. Dabei mag es oft steril zugehen, aber immerhin wissen die Gärtner, was sie tun. Ganz anders die Flora der außeruniversitären Psychotherapien in einer schnell wuchernden (und verwelkenden) Dschungellandschaft verästelter Schulen, die in ihren Details kaum jemand überschaut.
Eigentlich könnten sie sich gut ergänzen: Das beschneidende gehört ebenso wie das wuchernde Prinzip zu einer lebendigen Botanik. Wenn, ja wenn sie sich gegenseitig wahrnehmen würden. Tun sie aber nicht. Dabei sind sie aufeinander angewiesen. Die meisten therapeutischen Innovationen sind außerhalb der Universitäten entstanden. Diese haben dann später ihrerseits den nicht so kreativen, aber notwendigen Part der empirischen Qualitätsprüfung übernommen. In dem Bemühen, Hafer und Spreu zu trennen, kapriziert sich die prüfende empirische Forschung mit hochgezogener Augenbraue auf eine Vermeidung von Falsch-positiv-Aussagen (nichts behaupten, was unzutreffend sein könnte). Sie wäre freilich brotlos, wenn nicht irgendwo anders ein Wildwuchs von Substanz und Quatsch wachsen würde, der überhaupt auseinandergehalten und geprüft werden kann. Dafür braucht es die theoretische und praktische Risikofreude der Innovateure, die froh und überzeugt ihre Konzepte in die Welt bringen und sich wenig um das Falsch-positiv-Risiko kümmern.
Diese unterschiedlichen Felder entwickeln sich nicht synchron. Naturgemäß sind die Innovateure den Prüfern eine gewisse Zeit voraus. Das kann dazu führen, dass die kritische Evaluation Ergebnisse liefert, die auch ohne empirische Prüfung bereits Allgemeingut sind, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die neuen Ideen schon woanders unterwegs sind.
Das ist auch in der Sexualtherapie zu beobachten. Hier zeigt sich ein interessanter Prozess, wie auf der einen Seite versucht wird, Komplexität zu reduzieren, damit aber ungewollt eine rational begründete Sterilität erzeugt wird. Auf der andern Seite wuchern neue Ideen, die sich dem akademischen Ordnungsbestreben entziehen.
In dem führenden sexualwissenschaftlichen Journal, den Archives of Sexual Behavior, war 2009 ein bemerkenswertes Positionspapier erschienen. Mit dem scheinbar fragenden, aber provokant gemeinten Titel »The future of sex therapy: specialization or marginalization?« stellten die Autoren Yitzhak Binik und Marta Meana infrage, ob eine eigenständige Disziplin »Sexualtherapie« ihre fachliche Berechtigung habe. Handelt es sich um eine sinnvolle Spezialisierung oder eine problematische Außenseiter-Position?
Darin machen sie vor allem drei Argumente geltend:
•Es gebe keine einheitliche Theorie des Faches.
•Es gebe keine spezifischen Interventionen und kein spezifisches Setting.
•Es gebe einen Mangel an Wirksamkeitsnachweisen.
Aus ihrer Kritik leiten sie unter anderem ab, dass die Behandlung sexueller Funktionsstörungen keine eigene Disziplin begründe, sondern als integraler Bestandteil der allgemeinen Psychotherapie zu verstehen sei: Deshalb sollten Sexualtherapeuten mit ihrer selbst gewählten Abgrenzung vom allgemeinen psychotherapeutischen Geschehen aufhören und lieber im allgemeinen Therapiegeschäft mitmischen. Dazu gehöre, dass sie ihre wissenschaftlichen Hausaufgaben machen und mehr randomisierte Outcome-Studien (RCT) durchführen sollten.
Das Papier ist umso interessanter, als es zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem Sexualpsychotherapie und Sexualmedizin durch eine seit Jahrzehnten nicht gekannte Konjunktur an empirischen, theoretischen, psychotherapeutischen und pharmakologischen Innovationen belebt sind, die noch nicht ihren Höhepunkt erreicht haben dürfte. So lässt sich die Kritik als willkommene Einladung sehen, die Stärken der aktuellen Sexualtherapie – und die auch nicht gerade zu übersehenden Schwächen – sichtbar zu machen und zu kommentieren.
Die drei Kritikpunkte, die sich übrigens nur auf die etablierten kognitiv-behavioralen Ansätze beziehen, hatte ich im Einzelnen an anderer Stelle diskutiert (Clement 2014a)4. Unterm Strich ist das Binik-Meana-Paper als provokanter Aufwecker zu bewerten, angesichts dessen sich die Sexualtherapie aber nicht zu verstecken braucht. Die klassische Sexualtherapie der Masters-Johnson-Tradition hat sich als Spezialgebiet legitimiert und etabliert. Freilich zeigt sich an dieser Aufzählung auch die andere Seite des Bewährten, nämlich dass sowohl die Einzeltechniken als auch die dahinterliegenden lerntheoretischen Konzepte nicht mehr ganz jugendfrisch sind. Das Problem liegt deshalb weniger in den von Binik und Meana betonten Punkten, sondern eher in der Stagnation dieses mittlerweile klassischen Ansatzes, die Leslie Schover und Sandra Leiblum schon vor zwei Jahrzehnten beklagt hatten (Schover a. Leiblum 1994).
Aber die Zukunft hat schon begonnen. Einen ganz anderen, frischeren Einstieg in eine konstruktive Kritik der Sexualtherapie wählt die Kanadierin Peggy Kleinplatz (2012a), die den aufklärerischen Impetus der Sexualtherapie als Ausgangspunkt nimmt. Sie bemängelt, dass die Sexualtherapeuten sich lange auf konventionellen »Wahrheiten« ausgeruht hätten, die mittlerweile so weit Allgemeingut seien, dass die Sexualtherapie inspirationsarm im Mainstream mitschwimme und keinen Unterschied mehr mache.
Solche Wahrheiten seien zum Beispiel:
•Sex sei natürlich und damit gut.
•Es gebe fundamentale Geschlechtsunterschiede zwischen Mann und Frau.
•Es gebe ein »korrektes« Niveau sexuellen Begehrens, nicht zu viel (Sucht), nicht zu wenig (Lustlosigkeit).
•Männer seien einfach, Frauen kompliziert.
•Sexuelle Beziehungen seien zu Beginn heiß und kühlten dann ab.
•Der Orgasmus müsse gut getimt sein: Männer sollten nicht zu früh kommen, Frauen könnten gar nicht zu früh kommen.
Mit ihrer Kritik liegt sie nicht falsch. Die interessanten Ansätze der letzten Jahre, deren Interesse durchweg dem Großthema des sexuellen Begehrens gilt, sind alle außerhalb der Universitäten entstanden (z. B. Schnarch 2006; Perel 2004; Clement 2004; Kleinplatz 2012c). Kleinplatz’ Kritik lässt sich vertiefen, wenn man mit einem systemischen Blick auf die Wirklichkeitskonstruktionen sexueller Störungen schaut, die in der sexualtherapeutischen Diagnostik erzeugt werden. Ich will das an zwei Beispielen zeigen.
Welche Rolle der jeweilige sexuelle Zeitgeist für die Sexualtherapie spielt, lässt sich besonders prägnant an der diagnostischen Aktualisierung der sexuellen Lustlosigkeit illustrieren, wie sie sich in den jeweiligen Revisionen des DSM darstellt:
Implizites Modell
DSM-III
Inhibited sexual desire
1980
psychodynamisches Konfliktmodell
DSM-III-R/DSM-IV5
Hypoactive sexual desire disorder6 (HSDD)
1987/1994
Sexuelle Aktivität ist gesund
DSM-5
Female sexual interest/arousal disorder7 Male HSDD
2013
Sex als Option; geschlechtsspezifische Kategorien
Tab. 1: Wandel der Fokussierungen bei der Diagnose von Störungen der sexuellen Lust im DSM
Das DSM-III hatte 1980 noch ein implizites Konfliktmodell zur Grundlage: »Inhibited sexual desire« geht von einem Spannungsfeld zwischen Begehren und Hemmung aus, unterstellt gewissermaßen wohlwollend, dass ein sexuelles Begehren vorhanden sei, das aber durch verschiedene Ängste oder kulturelle Normen gehemmt ist. In dieser Fassung kommt die Dramaturgie des klassischen Repressionsmodells der Sexualität zum Tragen: der sexuelle Trieb im Dauerkonflikt mit den gesellschaftlich-kulturellen Normen, die – wenn sie internalisiert werden – zur Symptombildung führen.
Bereits in der revidierten Fassung des DSM-III-R (1987), dann im DSM-IV (1994) kommt eine ganz andere zeittypische Sichtweise zur Geltung: Die Störung »hypoactive sexual desire disorder« (HSDD) wird über eine Handlung – hypoactive – definiert, die die Abweichung von der neuen kulturellen Norm des sexuell aktiven Menschen zum Bezugspunkt macht.
Dabei wird vor allem auf die Arbeiten von Rosemary Basson und Meredith Chivers Bezug genommen. Sie zeigen zum einen, dass der sexuelle Erregungsablauf von Frauen einem »zirkulären« Skript folgt, das sich qualitativ von dem linearen Skript des männlichen Erregungsablaufs unterscheidet (Basson 2000, 2001, 2003). Zum anderen wird den Laborergebnissen Rechnung getragen, wonach bei Frauen die subjektive Erregung und die objektive Erregung (gemessen an der genitalen Durchblutung) nur gering korrelieren und demnach diagnostisch unterschiedlich zu bewerten seien (Chivers a. Bailey 2005; Chivers et al. 2010).
Es ist interessant, wie die fulminante Entwicklung der empirischen und diagnostischen Seite in den Jahren »nach Viagra« völlig einseitig die weiblichen Störungen in den Blick genommen hat, während es zu männlicher Sexualität nichts Neues zu vermelden gab. Das bildet sich auch im DSM ab. Die in der Version IV noch einigermaßen durchgehaltene Parallelisierung der Diagnosen für die beiden Geschlechter wird im DSM-5 aufgegeben. Die männliche Version der Luststörungen wird einfach fortgeschrieben in der nicht differenzierten Definition über das Begehren (desire), während die weibliche Version subtil zwischen Interesse und Erregung, also zwischen der subjektiv und der physiologisch definierten Seite unterscheidet.
In einer diagnostisch scheinbar ganz anderen Welt bewegen wir uns am gegenüberliegenden Pol. Lustlosigkeit am einen Ende, Sexsucht am andern.
Das beachtliche diagnostische und therapeutische Engagement an beiden Enden des Spektrums markiert implizit die neue Norm. Die Menschen sollen nicht sexuell desinteressiert sein, aber zu viel Lust sollen sie auch wieder nicht haben. Die Lust wird von zwei Seiten in den Griff genommen, bipolar pathologisiert sozusagen. Dafür ein kurzer Blick auf die Erörterung der sexuellen Sucht, die nur ganz am Rande Thema dieses Buches ist. Sie ist aber ein wunderbares Beispiel für die Wirklichkeitskonstruktion, die mit Diagnosen vorgenommen wird und die oft mehr über die Diagnostiker aussagt als über die Störung. Zugespitzt ist es in einem Bonmot, das Alfred Kinsey zugeschrieben wird. Auf die Frage, was Nymphomanie sei, antwortete er: »A nymphomaniac is a woman who has more sex than you do« (»Eine Nymphomanin ist eine Frau, die mehr Sex hat als Sie!«).
Bereits 1983 hat Carnes den Begriff »sexuelle Sucht« eingeführt und auch gleich eine eindringliche Parallelität zur substanzabhängigen Form der Sucht proklamiert. Die Analogie seines 12-Schritte-Behandlungsprogramms zu dem der Anonymen Alkoholiker ist eine logische Konsequenz. Im Zusammenhang mit dem zunehmenden Phänomen der exzessiven Nutzung von Internet-Pornografie wird auf Carnes verstärkt Bezug genommen, obwohl der Begriff der sexuellen Sucht strittig ist. Vor allem Coleman (2011) kritisiert die Parallelisierung mit Substanzabhängigkeit und votiert dafür, das Phänomen als »impulsive/compulsive sexual behavior« den Zwangsstörungen zuzuordnen.
Die Literatur zu sexueller Sucht bietet interessantes Anschauungsmaterial dafür, wie eine Krankheit erfunden wird, indem relativ beliebige Kriterien herangezogen werden, um eine Schwelle zu definieren, die dann als krankheitswertig gelten soll.
So nennt Kafka (1997), einer der engagiertesten Protagonisten für die (zunächst gescheiterte) Aufnahme der sexuellen Sucht in das DSM-5, sieben und mehr Orgasmen pro Woche als Kriterium für Hypersexualität. Wendet man das auf eine Studie von Winters (Winters, Christoff a. Gorzalka 2010) an knapp 15.000 jungen erwachsenen Internet-Nutzern an, trifft das auf 44 % der Männer und 21 % der Frauen zu. So erzeugt man Patienten.
Die epidemiologische List, durch schwache Einschluss-Kriterien hohe Prävalenzziffern zu erzeugen, wird hier ausgiebig angewendet8.
Beide Trends, die um belegbare Qualität bemühte Effizienzforschung und die immer wieder revidierten Versuche, über klinische Wirklichkeitskonstruktionen (Diagnostik und Pathologisierung) ein komplexes Geschehen zu vereindeutigen, lassen sich auf eine Trivialitätskrise beziehen. Sie betrifft die Ziele, aber auch die Vorgehensweise der Sexualtherapie.
In der Psycho-Sexualtherapie beginnt die Geschichtsschreibung immer noch bei Masters a. Johnson (1970). Sie waren mutige Protagonisten in einer Zeit, deren körperfeindliche Prüderie kaum überschätzt werden kann. Ihr Ansatz war die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt: Aufklärung, Wissen, Rationalität auf der einen, körperfreundliches »Permission Giving« auf der andern Seite gaben ihren sensationellen Anfangserfolgen die Kraft, die ihren Ansatz zur »klassischen« Sexualtherapie gemacht hat.
Nach einem wenig fruchtbaren Jahrzehnt in den 1980er-Jahren begann in der sexualtherapeutischen Szene ein Umdenken, das die bloße Begrenzung auf die Funktionsstörungen als zu spärlich empfand. Pointiert fasst das Kleinplatz (2012a) zusammen, indem sie die Ziele der klassischen Sexualtherapie infrage stellt, die sie zu stark an der sexuellen Funktion und zu wenig am sexuellen Erleben, zu stark an der Häufigkeit und zu wenig an der Qualität, zu stark an konventionellen Skripten und zu wenig an sexueller Individualität, zu stark am sexuellen Tun und zu wenig sexuellen Sein orientiert sieht: »Nicht die sexuellen Handlungen machen optimale Sexualität aus, sondern die Art und Weise, wie man mit einem Partner zusammen ist« (Kleinplatz 2012a, S. 1149; Übers.: U. C.).
Auf diese Trivialitätskrise – sexuelle Funktion ohne Bedeutung – gibt es drei Antworten:
1)mehr Technik
2)Erwartungen reduzieren
3)bessere Ziele
Die erste Antwort eröffnet eine lange und offene Liste, die vor allem kommunikative und noch ausgeprägter körpertherapeutische Übungen anbietet. Die Liste wird schier endlos, wenn man die Tür von der Sexualtherapie zu sogenannten Sexschulen (Cremer 2012) öffnet. Eine Tür, die allerdings schwergängig zu sein scheint. Die etablierte Sexualtherapie (soweit sie universitär verankert ist oder aus anderen Gründen als seriös gelten möchte) tut sich besonders schwer mit Hands-on-Interventionen, erst recht dann, wenn sie – wie z. B. Tantra-Ansätze – mit einem spirituellen Überbau versehen sind.