Tage in Sorrent - Dirk Liesemer - E-Book

Tage in Sorrent E-Book

Dirk Liesemer

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Beschreibung

1876. Friedrich Nietzsche, mit Anfang dreißig, von wiederkehrenden Migräneattacken und einem Augenleiden geplagt und seiner Professur an der Universität Basel überdrüssig, erhält eine Einladung der Schriftstellerin Malwida von Meysenbug nach Italien. Dort soll er seine Gesundheit wiederherstellen, an neuen Werken arbeiten und mit ihr die Gründung einer freien Akademie für »junge Geister« vorantreiben. Voller Hoffnung auf die heilende Wirkung des Südens macht Nietzsche sich in Begleitung des Philosophen Paul Rée und des Studenten Albert Brenner auf den Weg nach Sorrent. Nach einer schicksalhaften Begegnung mit dem ebenfalls am Golf von Neapel weilenden Richard Wagner scheinen sich alle Erwartungen zu erfüllen, doch dann droht der Aufenthalt zum Fiasko zu werden.

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Seitenzahl: 309

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Andrea und Dirk Liesemer

Tage in Sorrent

Roman

Für Christel, Denise, Holger, Joia, Martina, Rebekka

© 2021 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

Coveradaption mareverlag, nach Heike Schüssler

Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-806-9

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-601-0

www.mare.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Quellen

Dank

Über das Buch

Wo bleibt bloß Brenner? Längst müsste er am Bahnsteig sein. Es ist immer das Gleiche mit diesem jungen Mann, man kann sich nicht auf ihn verlassen. Nietzsche schaut nach links, schaut nach rechts, kneift die Augen zusammen und versucht, etwas zu erkennen. Hier und dort stehen schemenhaft Gestalten herum, aber niemand bewegt sich auf ihn zu oder späht in seine Richtung. Er hatte damit gerechnet, dass der Student erst kurz vor der Abfahrt auftauchen würde, doch dass er sie verpasst, das irritiert ihn.

Eine Pfeife schrillt ohrenbetäubend, der Schaffner ruft mit lauter Stimme, man möge bitte einsteigen, der Zug fahre in Kürze ab.

Von Brenner noch immer keine Spur! Schade, sie hatten so lange geplant, die große Reise gemeinsam anzutreten. Ein letztes Mal blickt Nietzsche sich um und schüttelt verärgert den Kopf. Dann soll der Junge halt zusehen, wie er nachkommt. Und er selbst wird das richtige Abteil ohne die Hilfe des Studenten finden müssen.

Er folgt einem Mann bis zur offenen Tür des Waggons, tastet mit der rechten Hand nach der Haltestange, während er in der linken seinen Lederkoffer hält. Ein, zwei, drei Gitterstufen steigt er empor, bewegt sich im dämmrigen Innern vorsichtig vorwärts und wendet sich nach links in den viel zu dunklen Gang der ersten Klasse. Das nervös flackernde Licht blendet ihn und sticht ihm in die Augen. Vor jedem Abteil bleibt er stehen und reckt den Hals weit nach vorn, um konzentriert diese unverschämt kleinen Nummern zu entziffern. Wie sich diese unbequeme Haltung wohl auf Nacken, Kopf und Geist auswirken mag? Besser nicht darüber nachdenken.

Schließlich findet er das Abteil, das er gesucht hat, und öffnet mit einem kräftigen Ruck die Schiebetür. Stickiger Muff strömt ihm entgegen, wie unerträglich, er wendet sich ab und schnappt im Gang nach Luft. Dann grüßt er ins Dunkel hinein, doch niemand antwortet, auch nicht Brenner. Damit verfliegt seine letzte Hoffnung, den Studenten wenigstens hier anzutreffen. Zumindest hat er das Abteil ganz für sich allein.

Nietzsche wuchtet seinen Koffer ungelenk auf die Ablage über den Sitzen, wo dieser hoffentlich sicher verstaut ist. Prüfend zieht er am Ledergriff, um sich zu vergewissern, dass ihm das Ding unterwegs nicht auf den Kopf fallen kann. Schon stört jemand die ersehnte Ruhe, ein Schatten pocht von außen viel zu laut an die Fensterscheibe. Was soll das? Taub ist er schließlich nicht.

Jetzt winkt der Schatten auch noch wie wild, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Ja, so viel kann er trotz seiner stark kurzsichtigen Augen noch sehen. Doch das viele Lesen in dunklen Räumen hat keineswegs zu ihrer Besserung beigetragen. Im Gegenteil – inzwischen kann er kaum mehr seine eigene Schrift entziffern, muss nahezu alle seine Gedanken diktieren. Da ist der junge Jurastudent gerade recht gekommen, um ihm als Sekretär zu dienen.

Kurz darauf betritt Albert Brenner keuchend und schwitzend das Abteil und muss erst einmal durchschnaufen. Selbst schuld – warum taucht der auch immer und überall auf den allerletzten Drücker auf! Wenigstens ist er endlich da.

Er habe am falschen Gleis gewartet und bitte höflich um Entschuldigung. Mit zwei Koffern und einer Tasche voller Bücher könne man nun einmal nicht so schnell rennen, er schon gar nicht, wie der Herr Professor wisse. Gerade will er ausführlich werden, da ruckelt der Zug laut schnaubend los.

Während der Student seinen Koffer unter den Sitz schiebt und sich gedankenverloren ans Fenster setzt, wählt Nietzsche den abseitigen Platz in der dunklen Ecke des Abteils und zieht seinen Hut tief ins Gesicht. So muss er das lästige Laternenlicht nicht ertragen, das draußen in immer rascherer Folge vorbeihuscht. Auch nach einer Unterhaltung ist ihm nicht zumute. Vor allem will er sich auf seine Reise besinnen, auf all das Glück, das vor ihm liegt, wenn ihn das ständige Rattern nur nicht unablässig daran erinnerte, wie sehr man beim Bahnfahren der Erde verhaftet bleibt, mit Reisen hat so etwas nichts zu tun. Zwar kommt man rasch vorwärts, doch leider ist das in jedem Moment deutlich zu spüren. Wäre dieses Zugfahren nur nicht so ein unerquickliches Unterfangen! Dieses rastlose Rattern und Quietschen stört das Nachdenken ungemein, der Lärm dringt erbarmungslos durch das Gehör in das Gehirn, zieht und zerrt an jeder Nervenfaser. Wäre er doch nicht so empfindlich!

Schon verspannen sich seine Nackenmuskeln, vor den Augen zucken Blitze und ach, auch im Kopf. Es ist wieder so weit. Es beginnt, was sich eben ahnungsvoll angekündigt hat, da nützt selbst der Hut nichts mehr. In jeder Hirnwindung fängt es an zu rattern, von innen her gegen die Schläfe zu pochen, bald wird der Schmerz anfluten und sich, wie immer, in der gesamten linken Kopfhälfte breitmachen. Das war zu befürchten, das dürfte jetzt so weitergehen bis morgen Nachmittag, bis Genua, daran ist allein die verfluchte Eisenbahn schuld.

Immerhin bleiben ihm in Genua ein paar Tage, um sich von allen Qualen und Strapazen zu erholen, ehe er mit einem Schiff nach Süditalien weiterreisen wird. Eine Schifffahrt ist etwas ganz anderes, ein sanftes, wiegendes Reisen, als schwebte man auf Wolken seinem Ziel entgegen, viel ruhiger und bekömmlicher für die Gesundheit. Vielleicht hat er auch Glück, und es handelt sich lediglich um eine kurze Schmerzattacke, der er durch Schlaf oder einen Wachtraum entkommen kann.

In Sorrent wird alles besser werden. Wärme und Ruhe und sanftes Licht, die Nähe zur bewunderten antiken Kultur sollten ihm ausreichend Linderung verschaffen, seine Gesundheit wiederherstellen und die Unbeschwertheit seiner Kindheit zurückbringen. Er wird im Schatten der Pinienwälder spazieren gehen und am Abend ein gutes Essen unter Freunden genießen. Gemeinsam wird man lesen, diskutieren und philosophieren. Wenn alles so gut verläuft, wie es die Ärzte in Aussicht gestellt haben, wird er sogar eine Akademie für junge Geister gründen können. So ist es jedenfalls mit Fräulein von Meysenbug angedacht.

Wenn Brenner nur den Vorhang vorziehen wollte! Warum muss man den jungen Mann auf alles hinweisen? Ein wenig selbstständiger und umsichtiger könnte der schon sein mit seinen neunzehn Jahren. Was liest er denn da? Hoffentlich nicht wieder Plato! Aber das kann nicht sein, das Buch hat er ihm erst kürzlich aus der Hand gerissen und aus dem Fenster geworfen.

Hinter den Bergen geht der Mond auf und leuchtet Nietzsche direkt ins Gesicht. Es ist die Pest, ganz gleich, wohin er den Kopf dreht oder wie weit er den Hut hinunterzieht, das Licht strahlt gleißend in seine Augen.

Als wäre es damit nicht genug, springt die Tür zum Abteil knarzend auf. Erschrocken zieht Nietzsche seine Beine zurück. Eine vornehm gekleidete, doch leider ältliche Dame betritt das Abteil und zerrt stöhnend einen riesigen Koffer hinter sich her, gefolgt von einer deutlich jüngeren, wie erfreulich! Sie müsse sich unbedingt setzen, gibt die Ältere von sich. Man habe den ganzen Zug nach diesem Abteil abgesucht. Wie elend lang diese modernen Züge doch mittlerweile seien. Es reisten ja auch immer mehr Menschen durch die Welt, wo solle das noch hinführen?

Erstaunlich, wie eifrig und beflissen der junge Brenner aufspringt, um das Gepäck der Frauenzimmer in die Ablagen zu hieven, so schnell hätte er selbst beim besten Willen nicht reagieren können. Das sollte zuvorkommend und behänd aussehen, doch Brenner kann ein Hüsteln kaum unterdrücken. Sein Lächeln wirkt gequält, schon steigt ihm die Röte ins Gesicht, er hat sich übernommen.

Als die missglückte Vorstellung beendet ist, haben sich die Frauen auf die Fensterplätze niedergelassen. Eigentlich eine vorzügliche Gelegenheit für den Studenten, direkt neben dem Fräulein Platz zu nehmen – zu dumm nur, dass er das günstigere Billett gekauft hat, das ihn in die zweite Klasse verbannt. Nach der Hetzerei zum Zug hat er sich nur kurz ausruhen wollen und schlicht nicht mehr daran gedacht, jetzt muss er eben weichen.

Er wolle zunächst ohnehin nur bis Turin mitfahren, erklärt Brenner an den Herrn Professor gewandt, und werde erst später in Genua eintreffen, man sehe sich dort, wie besprochen, am Sonntag im Hotel.

Kaum ist der Student fort, lehnt sich Nietzsche in seinem Sitz zurück, streckt abermals die Beine aus und zieht seinen Hut demonstrativ ins Gesicht – die Ruhe muss verteidigt werden. Vielleicht wäre es besser, sich ein leeres Abteil zu suchen, aber wer weiß schon, ob nicht auch dort noch jemand auftaucht. Und solch eine Flucht würde sicher sehr unhöflich wirken.

Zum Glück schweigen die Damen. Allmählich entspannen sich Beine, Nacken und Nerven, selbst die Kopfschmerzen scheinen sich verflüchtigt zu haben. Ein treuer Freund ist dieser Brenner, trotz seiner Ungeschicklichkeit. Er kommt zwar selten zur rechten Zeit, doch ist er ein geduldiger Sekretär, nur ein wenig tölpelhaft in seiner Jugend. Liebenswürdig ist er auf jeden Fall, und Mitleid darf man mit ihm haben, eine Schwindsucht wird man nicht so ohne Weiteres los. Sicher wird auch ihm die Wärme des Südens guttun.

Am liebsten würde Nietzsche jetzt einnicken und erst kurz vor Genua wieder aufwachen, in den Schlaf fliehen, um der scheußlichen Bahnfahrt und den fremden Menschen zu entkommen, es wäre zu schön. Denn wenn man allein mit zwei unbekannten Damen in einem Abteil hockt, muss man nichts mehr fürchten, als in ein peinliches Gespräch über belanglose private Angelegenheiten verwickelt zu werden, aber offenbar sind die Frauenzimmer selbst ganz geschafft.

Nietzsche schläft trotzdem nicht ein, das ständige Geschaukel lässt sich einfach nicht ignorieren, und immer zwackt irgendetwas. Schließlich beginnt er, so unauffällig wie möglich in Richtung der Damen zu blinzeln. Ob sie ihn heimlich beobachten? Sollte das nicht der Fall sein, wäre alles gut, dann könnte er sich entspannen, müsste nicht mehr unablässig auf der Hut sein und darüber nachdenken, wie er notfalls einer Konversation ausweichen könnte. Die Ältere hat ihren Kopf bereits in ein Kissen gebettet und schläft augenscheinlich. Die Jüngere, die ihm schräg gegenübersitzt, schaut derweil zum Fenster hinaus und wirkt hellwach, jedoch gänzlich uninteressiert an ihm. Im künstlichen Dämmerlicht des Abteils macht er eine feine Stupsnase und eine hochgesteckte Frisur aus, die von einer Spange gehalten wird, deren Form er kaum erkennen kann. Es könnte sich um einen Schmetterling handeln. Eigentlich ganz apart, dieses junge Ding.

Wie kann dieser Mann sie nur so ungeniert anstarren? Eine Weile tut sie so, als betrachte sie Mond und Sterne oder läse ein paar Seiten in ihrem Voltaire, verliert aber ständig die Zeilen aus den Augen. Als der Zug durch einen Tunnel fährt und es für einen Moment gänzlich dunkel ist, wird es ihr zu viel. Unüberhörbar kramt sie in ihrer Tasche herum und zieht ein labbriges Etwas hervor, das sie aufzublasen versucht. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie diesen blinzelnden Mann mit seinem wild wuchernden Schnauzbart. Ob der kühn, verwegen oder ungepflegt ist, vermag sie nicht zu entscheiden. Endlich gibt er das Blinzeln auf, öffnet die Augen, rückt sich im Sitz zurecht und nimmt vor allem den albernen Hut ab.

»Würden Sie mir hierbei behilflich sein?«, bittet sie geradeheraus, »sicherlich haben Sie einen längeren Atem als ich.«

Jetzt hat sie ihn doch angesprochen, was soll man da machen, wie noch ausweichen? Nietzsche will nicht Nein sagen; das wäre gar zu unhöflich, obwohl sie ihn mit ihrem Getue und Gelärme geradezu genötigt hat, die Augen zu öffnen. Er sollte sich darüber beschweren, aber dann nimmt er das Luftkissen, wischt mit dem Ärmel über das Mundstück, plustert die Backen auf und bläst und bläst und presst. Das labberige Ding bleibt labberig. Die Luft geht in die falsche Richtung, der Druck baut sich nicht im Kissen, sondern ausschließlich im Kopf auf. Wie lange vermag ein Schädel solchem Druck standzuhalten? Je stärker er bläst, desto mehr kriegt er es mit der Angst zu tun. Irgendwann platzt so ein Schädel oder kriegt einen Riss. Soll er seine Gesundheit riskieren, seine Nerven zerrütten, nur weil sie leidlich hübsch ist und ihre Stimme angenehm klingt? Nur damit sie schlafen kann, während er die Nacht unter Kopfschmerzen leiden wird, was sie freilich nicht mehr kümmern muss?

Ihm fallen die Adelspaläste in Genua ein, von denen er im Baedeker gelesen hat und die er unbedingt besichtigen will. Keinesfalls möchte er darauf verzichten, nur weil er mit Kopfweh im Hotelbett bleiben muss. In der Begleitung eines Fräuleins wäre die Angelegenheit allerdings noch reizvoller, doch wie kommt er nur auf solche Gedanken? Vermutlich steht sein Kopf schon viel zu sehr unter Druck! Kläglich schaut er zu ihr hinüber.

»Tut mir leid, aber ich fürchte, mein Kopf platzt, bevor dieses Ding prall wird. Wer vertut bloß seine Zeit damit, solch einen Unsinn zu erfinden?«

So beginnt nun doch ein Gespräch, in dem es bald nicht mehr um entbehrliche Erfindungen, sondern um die großen Fragen geht, um alles zwischen Himmel und Erde, um Kunst und Wissenschaft, Religion und Philosophie, um Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz. Aus seinem Mund strömen Gedanken, von denen sie ganz ergriffen wird, fortgerissen von der Flut seiner unerhörten Worte. Gleichwohl fühlt sie sich herausgefordert, kluge Einwände hervorzubringen. So schnell will sie nicht klein beigeben und schon gar nicht bewundernd zu ihm aufschauen. Dieser Mann hinterfragt alles, radikaler, als sie es je auch nur heimlich zu denken gewagt hat. Nicht einmal Voltaire kann da mithalten. Ob er ihn gelesen hat? Manches, was dieser Fremde sagt, erscheint ihr wie Blasphemie. Und doch will sie ihm weiter zuhören, was ihr bald vorkommt wie ein sündiges Vergehen. Gut, dass ihre ältere Begleiterin schläft. Die wäre bestimmt unangenehm berührt, wenn nicht gar düpiert von diesen lästerlichen Ausführungen. Wie sie mag er französische Autoren. Sie schärften den Verstand, bestätigt der Mann, der Anfang dreißig sein dürfte, sich ihr als Professor Friedrich Nietzsche vorstellt und mit einem Blick auf ihren Voltaire sogleich ein paar Verse aus einem rebellischen Gedicht rezitiert, das sie als eines von Théophile Gautier erkennt, dem provokantesten aller Pariser Dichter.

Nur zwei Mal wird ihr Gespräch in dieser Nacht unterbrochen. Erst wollen französische, später italienische Grenzer ihre Papiere sehen. Isabelle von der Pahlen reicht den Beamten ihren russischen Pass und den kurländischen der schlafenden Bekannten, einer Baronin aus deutsch-baltischem Adelsgeschlecht. Niemand weckt die Anstandsdame aus ihrem Schlaf. Sie würde sonst zuhören und sich, schlimmer noch, womöglich in das Gespräch einmischen.

Nietzsches Dokument jedoch muss genauer überprüft werden. Es handelt sich um einen vorläufigen Schweizer Pass, ein schlichtes Blatt Papier.

»Den preußischen Pass habe ich abgegeben«, erklärt Nietzsche der jungen Dame, »als ich vor Jahren meine Stelle als Professor für Philologie in Basel antrat.« Jetzt habe er nur dieses einfache Pässchen und eine richtige Entlassungsurkunde aus der alten Heimat. Sich von etwas zu trennen, falle ihm keineswegs schwer, er empfinde es vielmehr als höchst angenehm. Während er zum ersten Mal lächelt, drückt ihre Miene Erstaunen aus.

»Dann sind Sie zurzeit staatenlos?«

»Ich bin ein freier Schweizer, und ich habe mich schon fast daran gewöhnt, keinem Land anzugehören. Man fühlt sich als ein Freigeist und schwebt über allem.«

»Wie beneidenswert, mich lässt man nicht aus den Augen. Meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich von ihrer Freundin begleitet werde.«

»Dann sollte sie jetzt nicht schlafen«, erwidert Nietzsche und kann selbst kaum fassen, was er soeben von sich gegeben hat.

Ganz schön kokett, findet Isabelle von der Pahlen und bemerkt, wie ihr Gegenüber verlegen ihrem Blick ausweicht und sich in seinen Sitz verkriecht. Also gut, dann knüpft sie eben an die philosophischen Fragen an. Was der Herr Professor unter einem freien Geist verstehe, will sie wissen und schaut ihm offen ins Gesicht. Die Frage verfängt sofort.

Nietzsche richtet sich wieder auf und blinzelt geradewegs zurück.

»Das ist jemand, dem äußere Dinge gleichgültig sind, Herkunft, Stand, Amt, Zeitgeist und dergleichen.«

»Also ist er eher eine Ausnahme, ein Einzelgänger.«

»Auf jeden Fall sind die Angepassten in der Mehrheit.«

»Dennoch muss ein Freigeist nicht im Besitz der Wahrheit sein.«

Wahrheit! Solch ein Einwurf war ja zu erwarten! Nietzsche räuspert sich und legt für einen Moment die Stirn in Falten, aber nur kurz, denn Stirnrunzeln ruft die allerscheußlichsten Migräneanfälle hervor.

»Muss nicht, kann aber. So oder so sollte es keine Rolle spielen, ob er sich sonderlich moralisch verhält.«

Allmählich kommt ihr dieser Mann fragwürdig vor. »Aber wie will man andere Menschen überzeugen, wenn man nicht der Moral folgt?«, fragt sie, was ihr im nächsten Moment selbst ein wenig altbacken vorkommt.

»Einen Freigeist kümmert das nicht. Er will nicht richtigere Ansichten als alle anderen haben.«

»Es geht ihm also um Provokation?«

»Er will sich vom Alten lösen. Er will Gründe hören, warum jemand an dieses oder jenes glaubt. Reine Glaubensbekundungen reichen ihm nicht. Er hält sie für dahingesagt, für zufällig und gedankenlos übernommen. Auch Sie sind recht neugierig. Sind nicht auch Sie ein Freigeist?« Damit ist ihm doch eine persönliche Frage rausgerutscht.

Für Isabelle von der Pahlen kommt sie so unvermittelt, dass sie drauf und dran ist, sie unbekümmert zu bejahen. Doch käme dies nicht einem Glaubensbekenntnis gleich, das sofort nach einer Begründung verlangte?

»Ich wünschte«, sagt sie nach einer Weile, »ich wäre ein Freigeist. Oder besser ein Freidenker, also das, was man in Frankreich als einen libre penseur bezeichnet.«

Ein treffender Begriff, den er noch nicht auf seiner Liste hat. Nietzsche zückt sein Notizbuch aus seiner Brusttasche und kritzelt gerade ein paar kaum lesbare Zeichen hinein, als plötzlich der Mond verschwindet. Es ist zu dunkel, um selbst leuchtende Gedanken zu notieren, wenngleich nicht so duster wie einst im Schulauditorium, wo die Schüler am liebsten ihr eigenes Licht leuchten lassen wollten.

Auf einmal dröhnt das Rattern des Zuges unerträglich laut, sie durchqueren den Mont-Cenis-Tunnel. Auf merkwürdige Weise verschwindet in solch einer Röhre jeglicher Raum, während sich die Zeit dehnt. Aber das ist kein philosophisches Problem; damit sollten sich die Physiker herumschlagen.

Als der Zug nach einer Ewigkeit wieder aus dem Berg herausdampft, hat es zu dämmern begonnen. Bald wird die Sonne aufgehen. Wie sich herausstellt, hat die junge Dame vor, das Wochenende in Genua zu verbringen, ehe sie mit ihrer Begleiterin am Sonntagnachmittag einen Zug nach Pisa nehmen wird. Er selbst wird am kommenden Montag ein Dampfschiff gen Süden besteigen – allerdings soll es nicht weit von Pisa entfernt einen Zwischenstopp geben. Wer weiß, ob man sich dort zufällig wiedersieht?

Endlich beruhigt sich das Gemüt, das Geschaukel hat sich in ein sachtes Wiegen verwandelt. Müde und schweigend rutscht Nietzsche tief in seinen Sitz, spürt eine behagliche Wärme und Mattheit in sich aufsteigen. Draußen zeichnen sich Berge, Bäume und Wolken ab, tauchen auf, fliegen vorüber, verwischen zu Farbstreifen, verblassen zu schraffierten Mustern, schweben fort und entziehen sich seinem Blick. Er gleitet hinein in eine hügelige, felsige Landschaft, der Sonne entgegen, sieht antike Ruinen, das Meer und am Horizont einzelne Inseln. So leicht fühlt sich alles an, als schwebte er eben über dem Boden, unter ihm schlängelt sich ein langer, staubiger Pfad, auf dem ein einsamer, in Dunkelheit gehüllter Mensch seines Weges geht, ein Mann, der nicht wartet, sich nicht umdreht, der sich selbst zu genügen scheint. Nietzsche möchte ihn einholen, ihm begegnen und ins Angesicht blicken, er hat sich oft nach ihm gesehnt. Kaum kommt er ihm ein paar Schritte näher und scheint ihn schon greifen zu können, beschleunigt der Dunkle seinen Schritt, als wollte er allen davonlaufen, unbeirrt und unbekümmert nur seinem eigenen Weg durch die karge Landschaft folgen. Er entfernt sich, wird kleiner und zu einem winzigen Punkt am Horizont, ehe sich auch dieser in Luft auflöst.

Als Nietzsche am späten Nachmittag aufwacht, erkennt er in der Ferne das Meer als einen schmalen grünblauen Streifen am Horizont, dann tauchen die ersten Häuser von Genua auf. Die Baroninnen sind noch da, beide schon wach. Zum Glück schmerzt der Kopf nicht mehr, die schreckliche Zugfahrt ist tatsächlich noch einmal gut gegangen. So wird er gleich die Stadt erkunden können. Am Bahnhof fragt Isabelle von der Pahlen unvermittelt, ob er am Abend nicht Lust auf einen gemeinsamen Spaziergang habe?

»Neun Uhr«, schlägt Nietzsche vor, »am Palazzo Bianco im Zentrum.« So viel Spontaneität und Entschlossenheit gegenüber einer jungen Dame hat er sich selbst nicht zugetraut – der Süden bekommt ihm bereits bestens. Dann verabschiedet er sich mit einer liebenswürdigen Verbeugung von den Damen und macht sich auf den Weg zum Hotel. Die Luft ist leicht und angenehm frisch, das Licht beleuchtet freundlich die Fassaden der alten Häuser, der Duft wilder Blumen weht durch die Straßen, und vom Meer her streift eine milde Brise sein Gesicht. Für einen Moment schließt Nietzsche die Augen, atmet tief ein und aus. Er schlendert weiter durch die Gassen der alten Hafenstadt, betrachtet aufmerksam die Prachtbauten, das Spiel von Licht und Schatten, dann diesen blauen Himmel mit seinen sanft dahintreibenden Wolken.

Plötzlich bricht die Sonne hinter einer Wolke hervor, die gleißend hellen Strahlen treffen direkt in seine Augen und blenden ihn so stark, dass er nichts mehr sehen kann. Abrupt bleibt er stehen, spürt einen jähen Schmerz und senkt die Lider. Zu spät, schon werden die Knie weich, ein glitzerndes Gebilde erscheint vor seinen Augen. Oder vielmehr dahinter. Der verfluchte Norden lässt ihn noch nicht los, schickt ihm seine letzten bösen Häscher hinterher. Kein Wunder, nach der nahezu schlaflosen Nacht und dem stundenlangen Lärm der Zugfahrt. Ein wenig Ruhe im Hotelzimmer, dann sollte es wieder besser werden. Ohne sich weiter in der Stadt umzuschauen, sucht er geradewegs sein Hotel auf, lässt seinen Lederkoffer auf das Zimmer tragen und begibt sich sofort zu Bett.

Am Abend treffen die Baroninnen eine Viertelstunde früher am Palast ein als verabredet. Isabelle von der Pahlen hat eigens ihre Schmuckuhr vorgestellt, um auf keinen Fall zu spät zu kommen. Man trifft nicht alle Tage auf einen Freigeist, noch dazu mit einem solchen Hut und wild wucherndem Schnauzbart. Sie schaut die Straßen hinunter, sieht prunkvolle Paläste mit marmornen Freitreppen und selbstbewussten Statuen davor. Wo mag er nur bleiben?

Überall laufen Menschen kreuz und quer über die Plätze, aber der Herr Professor ist nirgends zu sehen. Hat sie ihn missverstanden? Er hat doch Palazzo Bianco gesagt? Oder meinte er den Palazzo Rosso? Wartet er womöglich in einer der Kunstgalerien? Er wirkte so verbindlich. Oder bedeutet, ein Freigeist zu sein, dass man sich an keine Verabredungen halten muss und nur das tut, wonach einem gerade der Sinn steht?

Sie ist ganz verwirrt. Ob Freigeist oder nicht, bei ihrem nächtlichen Gespräch hatte sie den Eindruck gewonnen, es mit einem verlässlichen Menschen zu tun zu haben.

Nach einer guten halben Stunde drängt die Baronin darauf, dann eben ohne den Herrn Professor das Viertel zu erkunden. Dem sei sicher etwas anderes in den Kopf gestiegen. Ohnehin versteht sie nicht, warum das Kind so wortkarg ist. Es hat sicher Hunger.

Unterdessen liegt Nietzsche reglos im Hotelbett. Das glitzernde Gebilde ist verschwunden, dafür hat sich ein Unwohlsein in der Magengrube breitgemacht und kriecht allmählich die Speiseröhre empor. Er dreht sich auf die linke Seite, das ist besser auszuhalten. Für einen Moment zumindest, denn schon pocht es heftig in der linken Schläfe, von wo aus sich der Schmerz gegen die Stirn vorarbeitet. Die Augen tränen, während das würgende Gefühl in der Speiseröhre den Rachen erreicht. Er hätte die Damen warnen sollen, dass er vielleicht, vermutlich, wahrscheinlich doch nicht käme. Aber dann hätte er sich erklären, womöglich seine ganze Krankheitsgeschichte ausbreiten müssen, wie kompliziert, wie peinlich. Man kennt sich schließlich kaum. Nun werden ihn die beiden für einen unhöflichen, unzuverlässigen Schwätzer halten.

Nietzsche presst die geballte Faust gegen die pochende Stirn und dreht sich wieder auf den Rücken. Stillhalten, bewegungslos ausharren, die nächsten Stunden, die nächste Nacht, das ganze Wochenende.

Immer wieder schläft er in der Nacht kurz ein, und wenn er aufwacht, findet er sich auf einem viel zu weichen Bett wieder, tief eingesunken in die verfluchte Matratze. Hin und wieder wagt er eine vorsichtige Bewegung, will sich aus der misslichen Lage befreien. Doch dann wackelt, knirscht und quietscht die Konstruktion erbärmlich. Er hält sich die Ohren zu, auch den Mund. Immer diese Übelkeit!

So geht es auch den ganzen nächsten Tag weiter. Ständig wankt er zur Toilette und muss sich übergeben, bis ein süßlicher Gestank im Zimmer hängt, was kaum auszuhalten ist. Er muss lüften. Luft, mehr Luft! Licht flutet gleißend herein und das Gedröhn der Straßen dringt rücksichtslos in seine Ohren. Dabei ist ihm jedes Geräusch zu viel, peinigt zusätzlich den schmerzenden Kopf. Rasch schließt er das Fenster und wankt zum Bett zurück, wo er sich stundenlang ausgestreckt und möglichst reglos der Folter ergibt. Der Kopfschmerz steigert sich ins Unerträgliche, so sehr, dass er meint, er müsse in ihm ertrinken und untergehen, bis alles verlöscht. Manchmal scheint ihm der Schmerz das wahre Leben zu sein. Alles, wofür er auf die Welt gekommen ist.

In der zweiten qualvollen Nacht, jener auf den Sonntag, türmt sich in seinem Schädel eine gewaltige Gewitterwolke auf, Blitze zucken, es ist ein Funkenflug, der jeden Nerv angreift, ein erbarmungsloses Pulsieren, als bohrten unzählige stumpfe Nadeln in sein Gehirn, es fühlt sich an, als wäre es geschwollen und als könnte der Schädel dem Druck der Hirnmasse nicht standhalten, als müsste er zersplittern. In solchen Momenten schreitet die Zeit nur noch äußerst zäh und langsam voran. Er muss abwarten, bis zu seiner Erlösung, dann wieder ist ihm, als wäre die Marter immer schon da gewesen und hörte nie auf. Am schlimmsten ist es in der Dunkelheit der Nacht, wenn er nicht einmal am Wandern des Schattens entlang der Wände die verstreichende Zeit beobachten kann.

Endlich, am frühen Sonntagmittag, nach zweiundvierzig Stunden Qual, hört jäh der Schmerz auf und weicht aus seinem Kopf, er hat sein Opfer ausreichend geplagt. Der Körper fühlt sich noch matt, betäubt und schwammig an. Ausgestreckt, benommen und abwartend liegt Friedrich Nietzsche auf seinem Bett.

Jemand klopft an die Tür. Viel zu laut, als dass er gleichgültig bleiben und nicht nachsehen könnte. Was will man nur von ihm? Kann man ihn nie in Ruhe lassen! Er hört Stimmen, die ihm bekannt vorkommen, und bringt ein klägliches »Ja, bitte?« hervor, quält sich hoch, drückt sich vom Bett ab, wankt vorsichtig zur Tür und öffnet sie einen Spaltbreit.

Zwei Männer treten ein. Er kennt sie und schaut verdutzt in ihre Gesichter, obgleich er mit ihnen hätte rechnen müssen, wusste er doch, dass sie kommen würden.

Paul Rée und Albert Brenner sind erst wohlgelaunt, dann aber erschrecken sie über den Anblick des Freundes. Mit zerzaustem Haar und aschfarbenem Gesichte steht er vor ihnen. Warum nur haben sie Nietzsche allein nach Genua reisen lassen? Sie hätten es sich denken können, wie sehr ihm die Reise mit all ihren Unannehmlichkeiten zusetzen würde. Kaum jemand weiß besser als Rée von den häufigen Migräneanfällen des geschätzten Freundes, von dem er jetzt aus einem so mitgenommenen Gesicht angeblickt wird. Immerzu fürchtet sich Nietzsche vor der nächsten Attacke, hindern sie ihn doch an seiner Arbeit, dem unaufhörlichen Ringen um klare Gedanken, an seinem Streben nach Freiheit. Bestimmt wurde der Anfall wieder durch zu viel Licht und Lärm ausgelöst. Zumindest scheinen die Qualen inzwischen von ihm gelassen zu haben.

Nietzsche schwankt durchs Zimmer zurück zum Bett und spricht leise, um keine Erschütterungen des Kopfes zu provozieren, aber er möchte unbedingt hinaus an die frische Luft. Er bittet Rée und Brenner, ihn zum Bahnhof zu begleiten, er wolle, nein, er müsse sich von jemandem verabschieden. Von wem genau, will er nicht preisgeben, und die Freunde fragen nicht nach, wollen ihn lieber schonen.

Gemeinsam verlassen sie das Hotel, doch schon nach wenigen Dutzend Metern wird Nietzsche dunkel vor den Augen, seine Beine drohen ihm wegzusacken. Er schafft es nicht. Sein Körper zwingt ihn, mit Rée und Brenner ein Café aufzusuchen. Dort notiert er, wie es sich gehört, ein paar freundliche Zeilen an die ältere Dame, auch wenn er dabei an die junge denkt: Er wolle sich dafür entschuldigen, nicht zum Treffen am Freitagabend erschienen zu sein. Dabei habe er sich ein Wiedersehen sehr gewünscht. Trotzdem kann ich es vor meiner Abreise nicht versagen, meine Freude über ein Zusammentreffen schriftlich auszusprechen, welches mich das doppelte Schauspiel sehen liess: eine hohe erreichte Cultur und ein hohes Streben nach Cultur. Ihnen und Fräulein von der Pahlen meine ergebensten Wünsche und Grüsse zum Abschied.

Nietzsche steckt den Brief in ein Kuvert und beauftragt Rée, die Nachricht so rasch wie möglich zu überreichen. Ja, er habe richtig gehört, es handle sich um zwei Baroninnen, eine ältere, eine jüngere, Letztere mit einer Schmetterlingsspange im Haar. Er habe sie im Zug nach Genua kennengelernt und wollte sie wiedertreffen, aber Rée solle sich bitte beeilen, ihr Zug fahre in einer halben Stunde nach Pisa ab. Brenner werde ihn, Nietzsche, unterdessen zum Hotel zurückbegleiten. Er wolle sich lieber noch ausruhen und nichts riskieren, um morgen die Seereise antreten zu können.

Verwundert nimmt Rée den Brief entgegen. Sollte er eifersüchtig sein? Nietzsche hat also zwei Damen kennengelernt, die ihn offensichtlich beeindruckt haben. So etwas kommt nicht häufig vor. Gerne würde er nachfragen, aber das ist nicht seine Art, und Zeit bleibt ihm dafür auch nicht. So begibt er sich zum Bahnhof und weiß selbst nicht, ob er eher neugierig oder neidisch sein soll.

Während Paul Rée davoneilt, kehren Nietzsche und Brenner zum Hotel zurück. In seinem Zimmer setzt sich Nietzsche an einen Tisch und würde gerne ein wenig schreiben, schaut dann aber aus dem Fenster, sammelt seine Gedanken und beruhigt sich. Noch eine Nacht, noch ein Sonnenaufgang, ehe die Reise in den ersehnten Süden weitergeht. Was mag Brenner jetzt wohl treiben? Der Student hat ein Zimmer unter seinem erhalten, Rée den Raum nebenan.

Wie sich beim Abendessen herausstellt, hat der Freund die Baroninnen noch angetroffen und den Brief überreicht. Die Damen seien ganz überrascht gewesen, berichtet er. Sonst sagt er nichts weiter, verhält sich wie üblich diskret und lässt sich nichts entlocken. Manchmal ist seine Höflichkeit undurchschaubar.

In der Nacht liegt Nietzsche auf dem Rücken im Hotelbett, in sich versunken nimmt er die Geräusche von draußen nur wie aus weiter Ferne wahr. Alles klingt schon so anders als nördlich der Alpen. Er ist noch nicht in der Fremde, aber auch nicht mehr von allzu viel Vertrautem umgeben. Eine letzte Nacht, dann beginnt ein neues Leben, ein neues Zeitalter gar. Sein Atem geht ruhig, die Augen hat er geschlossen, seine Vorstellungen kreisen um die morgige Abfahrt. Er stellt sich das Dampfschiff vor, wie es, von der Morgensonne beschienen, verheißungsvoll im Hafen liegen wird, einladend und friedlich. Eine Weile wird er andächtig davor stehen bleiben, ehe er das Deck betritt. Dann fährt das Schiff hinaus, gleitet an einer sich entfernenden Küste entlang und lässt sie schließlich hinter sich. Die Wellen wogen auf und ab, der Himmel ist licht, so weit, so hoffnungsvoll offen. Eine Möwe kreist in der Luft, ein von der Sonne beschienener Vogel, der schließlich dem Schiff voran gen Süden entwischt, über das Meer schwebt, den Hafen, die Stadt und die hügelige Küste hinter sich lässt; kosmische Klänge ertönen, eine harmonische Symphonie entführt ihn und will ihn mitnehmen in eine leuchtende Welt, wären da nicht vereinzelte Misstöne, die sich mehren und immer störender Gehör verschaffen. Es dauert, bis er bemerkt, dass sie aus seinem Innersten hervordringen. Es sind die dissonanten Töne einer überwunden geglaubten Vergangenheit, dirigiert von einem Mann, der wie aus dem Nichts heraus vor ihm steht, eitel, runzelig, gnomenhaft. Wie penetrant dieser Alte den Neuanfang stört.

Am nächsten Morgen, es dämmert bereits, erinnert sich Nietzsche kaum noch an seinen Traum, ihm ist, als hätte er im Schlaf einer unerhörten Symphonie gelauscht. Er steht auf, öffnet das Fenster, atmet die frische, laue Luft ein, kleidet sich an und geht gut gelaunt zum Frühstück, wo Rée und Brenner schon auf ihn warten.

»Haben Sie gut geschlafen?«, will Rée wissen.

»Mir ist, als hätte ich von einem alten Gnom geträumt«, gibt Nietzsche zurück, während er mit einem Hieb ein Ei köpft.

»Wagner spukt Ihnen noch im Kopf herum?«, erkundigt sich Rée.

»Ja, so ist es wohl, wäre ich doch bloß nicht zu den Festspielen in Bayreuth gefahren!« Aber er wolle nicht weiter darüber reden. Der Tag beginne vielversprechend, überhaupt werde nun ein neues Kapitel geschrieben. Jetzt zähle der gemeinsame Aufbruch und die Reise zur See. Zum Glück müsse man nicht mit dem Zug in den Süden fahren. Ein paar Kilometer seien zu ertragen, aber in einem Land wie Italien, wo man so bequem mit dem Schiff entlang der Küste reisen könne, werde sich die Bahn sicher nie durchsetzen.

Bald nach dem Frühstück folgt Nietzsche mit dem Lederkoffer in der Hand den Freunden hinunter zur Anlegestelle am Hafen. Der Dampfer, der sie fortbringen soll, ist ein stählerner Koloss, nicht allzu hoch, aber so lang, dass sich sein Ende dem Blick entzieht. Unzählige kleine, runde Bullaugen sind in Reih und Glied in die Bordwand eingelassen, zwischen einem großen und einem kleinen Mast dampft es ungeduldig aus einem Schornstein.

Nietzsche schwitzt unter seinem Hut, die Sonne steht schon hoch am Himmel. Fast stolpert er über ein Tau, grämt sich über die vielen durcheinanderschwatzenden Leute, die sich vor dem Dampfschiff zusammengedrängt haben wie eine Herde blökender Schafe. Gereizt stellt er sich mit Brenner und Rée in die lange Schlange. Das auch noch nach dem verpatzten Wochenende! Erst das Fräulein Isabelle verpasst, stattdessen die Migräne und jetzt diese Meute. Immerhin wird er gleich seine Kabine aufsuchen und sich ausruhen können.

Die Zugangsbrücke rasselt vom Schiff herunter, und die Schlange setzt sich langsam in Bewegung. Ein junger Mann trägt Nietzsche den Koffer unter Deck, wo ihm Rée und Brenner helfen, sich in der engen, dunklen Kabine zurechtzufinden. Er kann sich kaum drehen und muss sich bücken, so beengt hat er es noch nie gehabt. Nietzsche späht durch das Bullauge nach draußen, wo weiterhin unzählige Passagiere auf das Schiff drängen. Auch in der Kajüte ist die ersehnte Ruhe nicht zu finden, vom Gang her dröhnt unentwegt das Geschwätz zahlloser Menschen, Koffer werden wahllos hin und her gezerrt. Das rücksichtslose Geklapper will einfach kein Ende nehmen. Er flieht an Deck, das zum Glück fast menschenleer ist.

Als das Schiff ablegt, blickt Nietzsche von der Reling aus zurück nach Genua, das rasch zu einer Silhouette zusammenschrumpft. Allmählich verflüchtigt sich auch die endlos erscheinende Küste in der Ferne. Befreit atmet er die frische Seeluft ein und kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Endlich entfernt er sich vom Land und tritt die Reise auf See an, kann alles Alte hinter sich lassen, sich einem Schiff anvertrauen, hat unter sich nur noch die Tiefe des Meeres. Wenn er dann an einem anderen Ort ankommt, wird er den festen Boden einer andersartigen Welt betreten, um sein Leben von Neuem zu beginnen, sich an der Weite des südlichen Himmels erfreuend. Längst ist die alte Hafenstadt nur noch eine verschwommene Erinnerung, Wolkenbänder ziehen über den Himmel, hier und dort bricht die Sonne durch sie hindurch, Lichtflecken tanzen auf der Wasseroberfläche, Möwen kreischen in der Luft. Ein schwarzer Fleck segelt nah an seinem Kopf vorbei, verschwindet ebenso rasch, wie er gekommen ist. Vermutlich eines der kreischenden Viecher, das schon vom Ruß der Dampfwolken verschluckt wird.

An die Reling gelehnt, spürt er, wie das Schiff über ein Meer gleitet, das wie ein großes Wesen ruhig zu atmen scheint. Wind kühlt wohltuend seine Wangen, die Sonne bricht erneut durch die Wolken, formt Schattenspiele, lichte und dunkle Flecken sind unscharf ineinander verwoben. Die schäumende, wogende Wassermasse wirkt hier, nahe am Schiff, bläulich, weiter entfernt grünlich, schließlich grau.

Das sanft wiegende Auf und Ab überträgt sich wohlig auf seinen Körper. Hin und wieder spritzt ihm Gischt ins Gesicht, als wollte ihn das Meer spielerisch begrüßen. Das zuverlässige Kommen und Gehen der Wellen beruhigt ihn. Er stellt sich einen Ort an der Küste vor, Strand, Wasser, Weite. Zuversicht steigt in ihm auf, eine vage Hoffnung auf Gesundung, auf klare Gedanken in angenehmer und anregender Gesellschaft. Fräulein von Meysenbug hatte so wohlwollend geschrieben. Sie sei nun bereit, ihre Wohnung in Rom zu verlassen und ein Opfer zu bringen, um eine echte Individualität, wie er sie verkörpere, zu retten. Sie schlug zunächst vor, einen kleinen Ort zu beziehen, vielleicht Fano an der Adria mit seinem gesunden Klima, den herrlichen Seebädern, primitiv billig sei es dort. Brenner habe sie schon eingeladen, aber auch für Nietzsche solle der Ort eine Heimat sein, wenigstens für ein Jahr. Er müsse im nächsten Winter von Basel fort, müsse sich ausruhen unter einem milderen Himmel, unter sympathischen Menschen, wo er frei denken, reden und schaffen könne, was seine Seele erfülle, und wo ihn wahre, verstehende Liebe umgäbe. Bedenklich stimme sie nur, dass es sich nicht um Rom handle, wo sie ihm so viel hätte zeigen können. Natürlich wäre es in Fano an der Adria ruhiger und das Klima zusagender, es sei, des Meeres wegen, frischer und anregender, aber es wäre eben nicht Rom. Fano war ihr erster Vorschlag gewesen, ehe sie auf Sorrent verfiel.