Tage wie wir - Caty Perillo - E-Book

Tage wie wir E-Book

Caty Perillo

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Beschreibung

An einem Dienstagmorgen bricht Olivia mit ihrem Vater Michael zu einem wichtigen Termin auf. Kaum sind die Beiden auf der Fahrbahn, stecken sie auch schon in einem Stau fest. Nichts geht mehr, weder vor noch zurück. Während der Wartezeit schwelgen sie gemeinsam in Erinnerungen. Denken noch einmal an all die schönen und auch schwierigen Tage zurück, die ein alleinerziehender Vater und seine Tochter bewältigen mussten. An Tagen voller Höhen und Tiefen. Voller Liebe und schmerzhaften Prüfungen. Doch irgendetwas ist merkwürdig an diesem scheinbar gewöhnlichen Dienstag...

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Für eine spezielle Frau und meine geliebte Mamma:

Angela Severino-Recchia (1959 - 2020)

Ich danke dir, nicht nur für dieses Leben. Sondern auch für das kostbare Geschenk, dass du mir in deinen letzten Tagen gegeben hast. Ich bewahre es in meinem Herzen. Du bist und bleibst mein Zuhause.

L‘amore resta,

Caterina

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Aufwachen mit Olivia

Aufwachen mit Michael

Ankunft

Kapitel 2

Michael -1987-

Aufbruch

Michael -1988–

Kapitel 3

Unterwegs

Olivia –1992-

Michael -1995-

Kapitel 4

Anhalten

Olivia -1999-

Kapitel 5

Beobachten

Michael –2000-

Olivia -selber Tag-

Michael -selber Tag-

Olivia -selber Tag-

Kapitel 6

Fragen

Michael -2003-

Olivia -selber Tag-

Kapitel 7

Erahnen

Olivia -2004-

Michael –selber Tag-

Warten

Olivia -2005-

Michael -2005-

Olivia -2005-

Kapitel 8

Unruhe

Michael -2006-

Olivia -2006-

Kapitel 9

Bewegung

Michael -2011-

Olivia -2011-

Kapitel 10

Zulassen

Olivia -2015-

Kapitel 11

Ungesagtes

Michael -2017-

Olivia -2017-

Kapitel 12

Leere

Aufwachen mit Michael (-2018-)

Olivia -selber Tag-

Kapitel 13

Fallen

Olivia -2018-

Kapitel 14

Sehen

Aufwachen mit Olivia (-2019-)

Kapitel 1

Aufwachen mit Olivia

Es war ein alter Song. Keiner der mich sehr bewegte, eher ein Song, den man immer wieder mal hörte, mitsummte und dann auch wieder vergaß.

Bis das Radio einen wieder daran erinnerte.

Er beginnt mit einer Panflöte. Gott wie ich diese Dinger eigentlich hasse. Doch hier wird sie wunderbar eingesetzt, man hört sie und wartet auf die Drums.

Ich hörte ihn, wie immer, ehe ich die Augen öffnete.

You could have a steam train

If you'd just lay down your tracks

You could have an aeroplane flying

If you bring your blue sky back.

Ich liebte seine Stimme! Wenn mein Vater jetzt hier wäre, würde er sagen, dass Peter Gabriel ein besserer Musiker und Sänger sei als Phil Collins.

Es gab entweder „Team Gabriel“ oder „Team Collins“, das jedenfalls behauptete er oft. Ich mochte beide, rein musikalisch. Doch Peters Ansichten über das Leben waren mir näher als die von Phil.

Ich öffnete meine Augen und sah durch den kleinen Spalt zwischen meinen marineblauen Vorhängen einen warmen Sonnenstrahl schimmern. Ich atmete tief ein und aus, während ich meine Beine sanft unter der Bettdecke durchstreckte.

Meine Muskeln sagten mir, dass ich heute Laufen gehen sollte. Meine Schlafzimmertür, die ich seit meiner Kindheit nie ganz schließe, weil ich sonst Panik bekomme, öffnete sich wie durch Zauberhand noch ein wenig mehr, und ich hörte Che‘s Pfoten auf dem dunklen Holzboden tippeln.

Während meiner Ehe hatte ich den kleinen Mischlingshund aus einem Tierheim adoptiert. Eigentlich bin ich eher der Katzentyp, doch irgendwas in seinem Blick hatte mich in den Bann gezogen. Ich verliebte mich sofort in ihn.

Sein Kopf erschien für eine Sekunde über der Bettkante und ich musste kichern, denn er brauchte mindestens noch drei Versuche, ehe er es aufs Bett schaffte. Oben angekommen, wedelte er fröhlich mit seinem Schwanz und leckte mir übers Gesicht.

Ich warf meine Bettdecke beiseite und spürte wie die Wärme, die sich über Nacht darunter angestaut hatte, entwich. Meine nackten Füße setzten auf dem warmen Holzfußboden auf und ich rieb mir müde das Gesicht. Als ich in den Spiegel gegenüber auf der Kommode schaute, sah mir eine jung gebliebene, auf eine nicht ordinäre Art und Weise, attraktive Frau Mitte dreißig entgegen. Ich betrachtete mich ausgiebig und stellte fest, dass ich viel jünger aussah.

Ich hatte volle, weiche Lippen und eine kleine, süße Nase. Meine Augen waren unauffällig, doch die dichten, dunklen und langen Wimpern, die sie umrahmten, rückten sie in den Fokus.

Heute war Dienstag. Einer meiner Lieblingstage. Dieser jedoch fühlte sich etwas merkwürdig an. Eher wie ein zu schnell herbeigeeilter Freitag. Ich schlurfte ins Bad und zog mir meine Laufsachen an. Unten angekommen nahm ich mir fest vor, heute mindestens zwei Kilometer mehr als sonst zu laufen. Ich setzte meine schnurlosen Kopfhörer ein und öffnete die Tür.

Die kühle, und vom Regen schwere Luft strömte durch meine Lunge und meine Nerven nährten sich von diesem Adrenalinstoß.

„Fünfzehn…“, säuselte die wunderschöne Damenstimme in mein Ohr und startete den Countdown.

„Zehn.“

Ich zog den Reißverschluss meiner Laufjacke hoch und wie immer begann ich schon bei „Fünf- Vier- Drei- Zwei- Eins. Aktivität gestartet“, mit dem Lauftraining.

Das Laufen hatte etwas Meditatives. Ich lief bis zu dem Punkt, an dem ich komplett geleert war. An dem mein Geist auf null und all meine Gedanken ausgewrungen waren. Heute, an diesem merkwürdigen Dienstag, war das nach dreißig Minuten und insgesamt fünf Kilometern der Fall.

Das war sehr schnell für meine Verhältnisse, deshalb hängte ich noch weitere fünfzehn Minuten hintendran, ehe ich wieder zurückjoggte und mich unter die warme Dusche begab. Ich dachte an ihn und doch nicht. Roch ihn und doch nicht, spürte ihn und doch… Das Läuten meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte das Wasser ab und wickelte mich in ein Handtuch, fragte mich noch beim Rangehen, wieso ich das eigentlich tat, da ich ja ganz allein war und nur ich meine Nacktheit sehen und spüren konnte.

„Hey, mein Muffin, wann bist du da?“, hörte ich Paps Stimme und war dann doch irgendwie froh, nicht nackt zum Hörer gegriffen zu haben.

„Bitte?“

Kurze Pause. Ich ratterte fieberhaft in meinem Hirn alle Termine und Verabredungen dieser Woche runter und dann…

„Oh, ja stimmt! Heute sollte ich dich ja abholen!“

„Du hast es vergessen? Du?“, fragte mein Vater amüsiert. Ein ungutes Gefühl beschlich mich.

Das sah mir nun absolut nicht ähnlich.

„Verrückt, oder? Ich meine, irgendwie hat der Tag schon komisch begonnen…“

„Hey, wieso erzählst du mir das nicht unterwegs?“

Ich schaute auf die Uhr.

„Mist, ich muss in fünfzehn Minuten bei dir sein! Das schaff ich nie. Wir kommen noch zu spät!“, rief ich wütend auf mich selbst.

„Ach was, das werden die schon verstehen. Komm erstmal hier hin“, sagte er und legte ohne ein weiteres Wort auf.

Ich hechtete in mein Schlafzimmer, ließ unterwegs mein Handtuch zu Boden fallen und ließ es auch dort liegen, als ich in meine Unterwäscheschublade griff und zwangsläufig wieder an ihn dachte.

„Du hast eine dunkle, verruchte Seite an dir, Babe, und die lebst du in der Farb- und Stilwahl deiner Unterwäsche aus…“, hörte ich ihn in meinem Kopf, während ich mein schwarzes Spitzenhöschen anzog. Ich öffnete meinen großen Kleiderschrank, zog eine ebenfalls schwarze enge Stoffhose raus, passend dazu eine seidene, cremefarbene Bluse und streifte meine zehn Zentimeter hohen Pumps über.

Ich würde es niemals unter dreißig Minuten zu meinem Vater schaffen, was bedeutete, wir würden knapp fünfundvierzig Minuten zu spät kommen.

„Mist!“, schimpfte ich nochmal, während ich mit einer Hand meine Thermoskanne mit Kaffee auffüllte und mit der anderen Che‘s Napf befüllte. Ich schmiss mein Handy samt Hausschlüssel in die lederne Handtasche, kämmte mit den Fingern meinen halbfeuchten Bob und verließ das Appartement.

Ich kramte im Aufzug in meiner Handtasche nach den Autoschlüsseln, während ich mich selbst innerlich tadelte und verfluchte, dass ich doch Laufen war. Ich hatte mich, wenn ich mich richtig erinnere, bereits gestern Abend mit meinem Vater verabredet. Wie konnte mir sowas entfallen?

Und wo zur Hölle waren meine Autoschlüssel?

„Hey Schönheit!“ Ich blickte auf und sah meinen Nachbarn Miguel in den Aufzug steigen. Die Türen schlossen sich und plötzlich kam mir der geräumige Aufzug klein und beengt vor. Er schaute mich von der Seite an, musterte mein Profil und ich steckte meinen Kopf tiefer in meine Handtasche.

„Hi“, sagte ich, kurz angebunden.

Miguel wohnte unter mir und flirtete, seit meinem Einzug vor einem halben Jahr, ungeniert mit mir. Er hatte vor einigen Wochen, als ich in meiner Tiefphase war, mit einer Flasche Wein bei mir an die Türe geklopft. Nach drei Gläsern, und einer tiefgründigen Unterhaltung, landete ich auf seinem Schoß.

Es war kurz, heftig und jetzt, nüchtern betrachtet, unendlich peinlich. Ich hatte bis dahin noch nie einen One-Night-Stand. Ich frage mich bis heute, was zur Hölle mich geritten hatte… Also, mal von ihm ganz abgesehen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die schnell etwas bereuen, denn ich kalkuliere und wäge mehrmals ab, ehe ich eine Entscheidung treffe. Doch irgendetwas hatte dieser südamerikanische, warmherzige und wirklich smarte Bursche in mir ausgelöst. Er war jünger als ich, auch eine Tatsache, die mir eigentlich unähnlich sieht. Normalerweise bevorzuge ich ältere Männer. Ich dachte immer, im Falle einer Scheidung, dass der Mann nach meinem Ex-Mann ein wesentlich reiferer und weiserer Kerl sein würde. So ein Richard Gere oder George Clooney - Typ, der mich mit seinen weisen Anekdoten langsam, aber sicher auszog, ohne dass ich es merkte.

Es kam aber umgekehrt. Ich zog Miguel aus. Seitdem lief er mir hinterher. Er hinterließ mir das eine oder andere Mal sogar Nachrichten vor meiner Türe.

„Du meldest dich also nicht?“

Ich überlegte fieberhaft, was es zu sagen gäbe und schaute auf die Anzeigetafel. Noch sechs Stockwerke bis zur Tiefgarage. Endlich fand ich meine Autoschlüssel und jubelte innerlich.

„Ich habe dich was gefragt, meine Schöne“, wiederholte er und seine tiefschwarzen Augen sahen mich erwartungsvoll an. „Ich wollte mich ja melden…“, murmelte ich.

Das Bing, des Aufzugs ertönte und ich schickte ein Dankesgebet gen Himmel, als ich hektisch raus hastete.

Er folgte mir. „Und was hielt dich davon ab?“

„Bitte, Miguel, ich habe es gerade sehr eilig. Ich kann jetzt nicht mit dir darüber diskutieren.“

Ich öffnete die Fahrertür, stieg ein und wollte gerade die Türe wieder zu knallen, als er sie festhielt und sich zu mir runterbeugte. Er schaute mich mit seinen warmen Augen an und ich sah seinen gekränkten Stolz.

„Du denkst, ich möchte diskutieren? Sehe ich so aus, als ob ich das nötig habe? Ich bin kein Kleinkind, Liv. Ich bin ein erwachsener Mann und wenn du sowas wie Anstand besitzen würdest, dann hättest du mir den Respekt erweisen können, mir wenigstens zu antworten. Aber es ist einfach nur anstandslos und herabwürdigend, jemandem gar keine Reaktion zurückzugeben. Jemandem, der dich immer anständig und menschlich behandelt hat.“

Wie sich das anfühlte als er, ohne eine weitere Erklärung von mir, sanft die Fahrertür schloss und zuvor sogar behutsam meinen Mantel beiseiteschob, damit dieser nicht in der Tür eingeklemmt wurde?

Es tat weh. Es tat weh, weil er Recht hatte.

Es tat weh, weil einfach alles weh tat an diesem Dienstag.

Ich nahm wahr, wie er sich von meinem Auto entfernte, hörte den Motor seines Motorrads aufheulen und das sich entfernende, knatternde Geräusch.

Dann umhüllte mich die Stille.

Ich atmete noch einmal tief ein und aus, startete den Motor und dieser Tag nahm seinen Lauf.

*******

Aufwachen mit Michael

Ich hörte es, ehe ich die Augen öffnete. Mein Fuß wippte im Takt unter der Bettdecke und ich fragte mich kurz, wieso ausgerechnet dieser Song mir durch den Kopf ging? Na, ich muss zugeben, das fragte ich mich oft. Man hörte die Bongo ganz am Anfang, ich liebe die Dinger.

In the middle of the night

I go walking in my sleep

From the mountains of faith

To the river so deep

I must be looking for something

Something sacred I lost…

Ich bin ein großer Billy Joel Fan. Wenn meine Tochter jetzt hier wäre, würde sie sagen, dass er wesentlich besser singt, als er aussieht. Was schräg ist, denn ausgerechnet bei Musikern oder Musikerinnen achte ich gar nicht auf das Aussehen. Ich konzentriere mich komplett auf die Stimme und auf das Timing. Ein guter Musiker hat Timing für den Rhythmus. Tanzen, Reden, Fühlen… Das Leben ist nichts weiter als Timing. Alles zur richtigen Zeit machen.

Sich zur richtigen Zeit begegnen.

Zur richtigen Zeit loslassen.

Ich öffnete meine Augen und die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich fuhr mir mit meiner Hand über die Wange und spürte die rauen Stoppeln, hörte das dumpfe Geräusch, das wie Schmirgelpapier klang, als ich mich kratzte.

Ich muss mich heute rasieren, dachte ich noch und gähnte. Langsam erhob ich mich und schon bei der ersten Bewegung fuhr mir der pochende Schmerz durch die Schulter. Ich ächzte mich aus dem Bett in eine sitzende Position. Mein Geist war schon aufrecht, dank Billy Joel, doch mein sechzigjähriger Körper brauchte seine Zeit, ihm zu folgen.

Ja, alt werden ist wirklich nicht schön, vor allem für Männer. Eine ehemalige Geliebte sagte mir mal, während eines geistreichen Gesprächs, dass uns Männern zwischen Vierzig und Sechzig bewusst wird, dass wir keine Götter sind, sondern auch nur sterbliche Idioten.

Das Wort Idioten, kam von ihr, nicht von mir.

Es stimmt leider. Wir wachen plötzlich eines Tages auf und uns wird bewusst, dass wir verschleißen. Das ist mit dem Testosteron allerdings nicht vereinbar.

Der Erhaltungstrieb.

Ich seufzte und stand langsam auf, denn ich hatte meine Midlifecrisis bereits durchlebt und keinen Bedarf, sie aufzuwärmen. Ich schlurfte zum Bad und entleerte meine Blase, nicht zum ersten Mal, denn meine altersbedingte Prostatavergrößerung, trieb mich neuerdings nachts öfters aus dem Bett. Heute war Dienstag. Ich liebte Dienstage und ich wusste, dass dieser hier was Besonderes war.

Ich trank meinen Kaffee und Billy Joel war immer noch aktiv in meinem Kopf, als ich meine Yogaübungen machte. Ich hatte vor ungefähr zehn Jahren damit begonnen und mein Körper war sofort abhängig von diesen Übungen. Seitdem brauchte er das jeden Morgen, um in den Tag zu starten. Ich stieg direkt danach unter die kleine Dusche und hörte die morgendlichen Nachrichten.

„Guten Morgen, es ist Dienstag, der vierzehnte Oktober und ich begrüße sie zu den Nachrichten“, sagte der Moderator. Ich lauschte dem alltäglichen Wahnsinn und fragte mich, ob diese Welt eigentlich noch zu retten sei. Ist es nicht erschreckend, wie schnell wir Menschen die wirklich schlechten Nachrichten aufnahmen und einfach so weiter machten, als ob es sie gar nicht gab?

Ich fragte mich wirklich, was von Nöten war, damit ein Mensch endlich aufwacht.

Wahrnimmt. Mitfühlt. Ändert.

Ich drehte das Wasser ab und kleidete mich ein. Ich war nie ein Mann der Mode, habe mich nie dafür interessiert, was gerade aktuell war und doch sagte meine Tochter neulich noch, dass ich zu den bestgekleidetsten Männern gehöre, die sie kennt. Ich fühlte mich geehrt, doch musste zugeben, dass ich nie über so etwas nachdachte, sondern einfach das trug, was ich gerne anzog.

„Ja, aber es passt zu dir und zu deiner Persönlichkeit. Man sieht dich und deine Kleidung und weiß sofort, wer du bist, Paps!“

Ich griff also zu der dunklen Jeanshose und dem schwarzen, dünnen Rollkragenpullover und fragte mich: Wer zur Hölle bin ich? Ich schaute in den Spiegel und wünschte mir, ich hätte eine Sekunde länger darüber nachgedacht.

Doch mir fehlte die Zeit, denn ich war verabredet.

Ich schaute auf die Uhr und sah, ich würde zu spät kommen. Also telefonierte ich kurz mit meiner Tochter und bereitete mich auf einen ganz normalen Dienstag vor.

Einer, der sich anfühlte wie alle anderen davor auch.

*******

Ankunft

Er öffnete die Tür und ich trat ein. Ich hatte das Gefühl, jedes Mal wenn ich das Haus meiner Kindheit betrat, dass man den Duft meines Vanille-Deos noch riechen konnte. Natürlich waren mein Vater und ich die Einzigen, die das noch riechen konnten.

Für alle anderen war dieser Geruch nicht wahrnehmbar.

„Paps! Komm schon, wir müssen los!“, hetzte ich ihn wieder mal. Dieser Mann war die Entspannung auf zwei Beinen. „Ja, ja, mein Muffin. Bitte, keinen Stress am frühen Morgen. Also, zuerst einen Kaffee!“, sagte er und schloss die Türe hinter mir.

„Paps, keine Zeit. Du sagtest doch, wir müssen los. Wir sind jetzt schon fast eine Stunde zu spät dran. Der Verkehr auf dem Highway wird um die Uhrzeit die Hölle sein. Was tust du da?“, fragte ich perplex, als er mich umarmte.

„Ich begrüße meine Tochter, darf ich?“

Ich versteifte mich.

„Komm schon, Muffin, ein Kaffee mit deinem Alten. Danach fahren wir los!“

Ich seufzte.

Wir setzten uns an den mittelgroßen Holztisch.

Er schenkte uns seelenruhig je eine Tasse Kaffee ein.

„Also?“, sagte er und ich schaute ihn fragend an.

„Fein, dann ich zuerst. Billy Joel, River of Dreams.“

Ich lächelte ihn an.

„Das ist ein toller Song! Bei mir war es heute jemand von Genesis.“ Mein Vater verzog sein Gesicht.

„Oh, sag mir bitte nicht Phil!“

Ich nahm einen Schluck vom Kaffee und zog meinen Mantel aus, legte ihn über den freien Stuhl.

„Nein, es war Peter. Und der Song war Sledgehammer.“

„Du hasst Panflöten, nur nicht in diesem Song. Stimmts?“

Er schaute mich mit seinem gütigen Lächeln an, in dem so viel Liebe und Erinnerungen steckten, dass ich für einen Augenblick anfing, ihn zu vermissen, obwohl er direkt neben mir saß.

„Ja, stimmt. In diesem Song mag ich sie.“

Mein Vater ist ein attraktiver Mann.

Das konnte ich nun, da ich selbst eine erwachsene Frau war, ohne Probleme zugeben. Er hatte bereits ergrautes Haar, das an den Schläfen etwas lichter wurde, aber dennoch dicht war. Am liebsten hatte ich seinen Mund. Er war klein und hatte schmale Lippen, aber wenn er lächelte, nahm sein Mund und die feine Aura, sein ganzes Gesicht ein.

„Geht’s dir gut, mein Muffin?“, fragte er mich und ich dachte an all die Momente, die wir beide gemeinsam in dieser Küche verbracht hatten.

„Ja. Mir geht’s gut.“

„Schön, dann spül ich kurz unsere Tassen aus und wir können danach in Ruhe los. Okay?“

Ich beobachtete ihn, wie er schwerfällig aufstand und mir wurde klar, er war alt.

Mein Blick wanderte kurz zum großen, silbergrauen Kühlschrank und ich lachte auf.

„Was ist denn so witzig?“, fragte mein Vater über das Rauschen des laufenden Wasserhahns hinweg.

„Du hast ein altes Kunstwerk von mir aufgehängt.“

Er folgt meinem Blick und es blieb an dem selbstgemalten Affen hängen, den ich mit fünf Jahren gemalt hatte.

„Oh, ja, das fiel mir neulich in die Hände. Süß, oder?“

Er drehte sich um und trocknete sich die Hände am Küchentuch ab. Dabei sah er mich an und irgendwas in seinen Augen war anders.

„Ich liebe dein Lachen. Es klingt wieder nach dir“, sagte er. Dann drehte er sich um und schaute kurz die Auffahrt runter. Ich sah aus dem Winkel, dass er sich an irgendwas festsaugte.

„Woran denkst du, Paps?“, frage ich ihn seelenruhig.

„Ach, an nichts“, antwortete er. Dabei schaute er verträumt durch das Fenster und gab sich wohl einer Erinnerung vollkommen hin.

*******

Kapitel 2

Michael -1987-

Als ich ihre Mutter das erste Mal sah, war ich sofort verrückt nach ihr. Sie hatte diese schwarzen Locken, die ihr ständig ins Gesicht fielen und ihre markante Nase bedeckten. Sie stieg jeden Morgen in den Bus, zeigte mir ihre Karte vor und setzte sich direkt hinter mich.

Ich war jung und noch in der Ausbildung zum Busfahrer. Ja, genau, ich wollte immer Busfahrer werden.

Schon als kleiner Junge fand ich diese Menschen einfach nur wunderbar. Meine Eltern fielen aus allen Wolken, als ich ihnen mitgeteilt hatte, nicht auf die Uni gehen zu wollen. Mein Vater hatte gedroht, mich rauszuschmeißen, meine Mutter einen Herzinfarkt vorgetäuscht. Irische Mütter sind manchmal sehr theatralisch. Jedenfalls setzte ich meinen Kopf durch. Meine Mutter gab den kläglichen Versuch auf, ihren Tod vorzutäuschen. Mein Vater, ein Sizilianer, der sich die Hände auf dem Bau wund arbeitete, um seinen beiden Söhnen einen Universitätsabschluss zu ermöglichen, zwang mich jedoch seit Jahren dazu, wenigstens über eine Weiterbildung nachzudenken.

Doch ich war glücklich mit meinem Job. Ich hatte keinen Grund über eine Weiterbildung nachzudenken. Ich liebte es, mit Mrs. Stone über die politischen Zustände im Osten zu diskutieren. Oder mit dem Philosophie Professor, der jeden Morgen in meinem Bus saß, über Nietzsche, Plato oder generell, Religionen und deren Einfluss auf unser Sein zu fabulieren.

Jedes Mal hörte ich denselben Satz.

„Sie sind neugierig und haben Köpfchen, mein Lieber. Wieso sind sie nur Busfahrer?“

Es war mir immer ein Rätsel, wieso Menschen andere Menschen nach ihrem Beruf beurteilen.

Automatisch war ich wohl in deren Augen ungebildet, weil ich Busfahrer war.

Du bist, was du tust, nicht das, was du denkst, oder was du fühlst. Das ist reines Klischeedenken.

Oft gingen mir diese Dinge durch den Kopf, wenn ich nachts zu Bett ging. Ich starrte die Decke an und fragte mich, was die Menschen dazu bewegte so zu denken.

Ich konnte Bus fahren, mir die Geschichten der Menschen anhören und in meinen Pausen unter meinen Sitz greifen, Oscar Wildes Gedichtband hervorholen und lesen.

Nicht nur lesen, nein, ich verstand ihn. Ich spürte ihn, jedes seiner Worte. Manchmal sogar so intensiv, dass ich mich schon nach der nächsten Tour sehnte. Denn dann konnte ich all die Emotionen loslassen, die seine Poesie in mir auslöste.

Die Gedanken und Sehnsucht die Wilde in mir weckte…

So war sie.

Marisol.

Sie war dieses Gefühl, das Oscar Wilde mir gab oder Rilke oder Nietzsche.

Sie war Kunst, in ihrer höchsten Form.

Marisol.

Mein Sonnenkind. Die Frau, die mich in Sekunden erobert hatte. Sie hatte sich ebenfalls in mich verliebt.

Ich alter Glückspilz. Wenn sie mich küsste - dabei musste sie auf Zehnspitzen stehen, denn sie war winzig- verlor ich für einen Augenblick meinen Geschmackssinn. Sie nahm ihn mit, und sie wusste es. Sie raubte Sinne, jeden einzelnen, und gab sie dir wieder, Stück für Stück.

Gerade genug, um zu überleben. Wir waren so unglaublich jung. Sie war gerade mal einundzwanzig und ich fünf Jahre älter. Sie studierte Kunst an der Hochschule Downtown in Toronto. Wir heirateten sehr schnell, nach einem halben Jahr, und kauften uns ein kleines schickes Häuschen in einem Vorort. Im Sommer, da lief meine Sonne, wie ich sie zu nennen pflegte, barfuß durch den kleinen Garten und hörte Simon and Garfunkel. Ich mochte Paul Simon lieber, meine Sonne wiederrum Garfunkel. Jaja, ich weiß, dass passte vorn und hinten nicht. Aber bei Gott, ihr hättet sie sehen müssen, sie war halb Indianerin, das war der kanadische Einfluss ihres Vaters und halb Argentinierin.

Sie war mein Untergang. Wir lebten von der Hand im Mund, hatten viel Sex und unglaublich viel Redebedarf. Ihre Sichtweise auf diese Welt war einmalig. Ich lernte so viel von ihr. Wir wollten ein Dutzend Kinder haben und arbeiteten auch fleißig dran. Mit Erfolg, denn eines Tages wachte ich morgens auf und hörte den Beat.

Mein Fuß wippte unter der Decke.

Ooh, I bet you're wonderin' how I knew, about your plans to make me blue…

Ich war und bin ein großer Marvin Gaye Fan. Mein Sonnenkind hatte mich anfangs immer skeptisch angeschaut, wenn sie bemerkte, dass ich, sobald ich meine Augen morgens öffnete, einen Song im Kopf hatte. Ich weiß nicht, wieso das so ist. Ich höre irgendeinen Song, ganz klar in meinem Ohr, obwohl um mich herum Stille herrscht. Dann erst öffne ich die Augen und bin wach. Ich kann den Titel des Songs nicht bestimmen, er ist einfach da. Marisol lachte, als ich ihr das erste Mal davon erzählte, doch mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt.

An diesem Morgen, da saß sie am Frühstückstisch, ihre Locken waren zerzaust und sie schaute aus dem Fenster zum Garten raus. Die schwachen Strahlen der aufgehenden Sonne erhellten ihre olivfarbene Haut und um sie herum war eine Aura, die so magisch war… Mir stockte der Atem.

Ich wusste es sofort. Bevor sie es wusste.

„Amore, ich glaube, wir bekommen ein Baby.“

Sie runzelte ihre Stirn. „Honey, was sagst du denn da?“, fragte sie und kicherte dabei.

Ich lächelte sie an.

„Ich sehe es. Du bist schwanger.“

Das stimmte natürlich.

Eine Woche später blieb ihre Periode aus.

Meine Mutter bekam wieder ihren Herzinfarkt, diesmal aber aus Freude, und mein Bruder Tommy klopfte mir schadenfroh auf die Schulter. Er hatte das Jahr davor Zwillinge bekommen und war seitdem nur noch ein Schatten seiner selbst.

„Ha! Endlich schlägt das Karma zu!“, sagte er und lachte dabei. Ich war im siebten Himmel. Anfangs wurde meine Sonne täglich schöner, doch mit jedem Monat der verging, verlor sie ihr Licht.

„Das ist normal. Frauen sind so in der Schwangerschaft“, sagte Mama und damit war das Thema für sie beendet.

Ich bemerkte, dass Marisol nicht mehr barfuß im Garten stand, kein Simon and Garfunkel, keine Kunst mehr.

Nur noch Grübeln. Rund um die Uhr. Ich versuchte ihre Gedanken zu enträtseln. Da, genau an diesem Punkt, verlor ich den Kampf. Denn meine Sonne trug das Herz auf der Zunge und das war mein Triumph. Eigentlich war das Geheimnis unserer gut laufenden Ehe, dass ich ihr immer genau zuhörte und gewisse Dinge in die Tat umsetzte.

Auch wenn sie nichts sagte, konnte ich anhand ihres Verhaltens ihre Worte hören. Doch nun war es so, dass sie in eisernes Schweigen verfiel. Ihr Körper erblühte in einer wunderschönen Pracht, doch meine Sonne ging langsam darin unter.

„Michele, du musst langsam anfangen dir eine gute Arbeit zu suchen. Es wird Zeit einen Abschluss zu machen“, sagte mein Vater, als er die frohe Botschaft hörte. Ich überlegte einige Wochen. Wir machten einen Kassensturz und es sah wirklich übel aus. Marisol gab dreimal die Woche als Aushilfslehrerin in einem Kindergarten Kunstunterricht. Da verdiente man nicht viel, also folgte ich dem Rat meines Vaters. Ich meldete mich zur Abendschule an und zwar im Wirtschaftskurs. Ich hatte vor, mich danach selbstständig zu machen. Womit, war noch nicht klar, aber die Entscheidung darüber lag noch in weiter Ferne. Ich dachte, diese neue Entwicklung würde Marisol gefallen, doch sie reagierte auf nichts mehr. Zuckte mit den Schultern, gab mir einen Kuss und verschwand mit ihrem Buch wieder in der Küche.

Ich fuhr morgens Bus und abends besuchte ich Kurse.

An Sonntagen lernte ich und so kam es, dass ich, binnen einiger Wochen, total erschöpft war.

Die Geburt nahte und ich kämpfte.

Ich kam eines Abends, um genau zu sein, es war der 24. Juli 1987, nach Hause. Ich lehnte mich an die Tür, ein tiefer Seufzer kam aus meiner Brust und alles was ich wollte, war, mich neben meine hochschwangere Frau zu legen, mein Gesicht in ihre Lockenpracht vergraben und in einen tagelangen, tiefen Schlaf zu verfallen. Ich blickte von unserem kleinen Flur direkt in die Küche und sah den Berg an Geschirr, der vom Frühstück und von Marisols Heißhungerattacken übriggeblieben war. Merkwürdig dachte ich noch, denn Marisol hasste es, sich schlafen zu legen, wenn noch etwas in der Spüle lag.

Ich schlurfte zum Kühlschrank, öffnete ihn und nahm die Milchverpackung raus. Ich setzte sie an den Mund und trank zügig, bevor mich die schwarzen Adleraugen meiner Frau erblickten. Da fiel mir der kleine, gelbe Zettel an der Milchverpackung auf.

Hey Babe, das Baby kommt. Und wehe du trinkst wieder aus der Verpackung. Bis später.

Ich blinzle einmal, zweimal und starrte auf den kleinen Zettel. Das Baby kommt? Mein Blick wanderte zur Tür, so als ob ich schon fast erwartete, dass mein Baby reinspaziert kam, mit einem kleinen Koffer in der Hand.

Was sollte das heißen, das Baby kommt?

Mein Hirn schaltete sich endlich ein, lief langsam auf Hochtouren… Ich stellte die Milch auf den Tisch und rannte einfach los.

Ich hatte nur Socken an, überlegte kurz, umzukehren, doch mein Baby kam… Also gab ich nichts drum, setzte mich in mein Auto und raste los.

Auf der Hälfte des Weges überlegte ich fieberhaft, für welches Krankenhaus wir uns entschieden hatten.

Nicht das St. Michaels.

„Das Toronto General Hospital!“, jubelte ich.

Gott, was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Wieso hatte sie sich nicht gemeldet, mich angerufen, bei der Arbeit oder in der Abendschule?

„Was zur Hölle stimmt nicht mit dir!“, schimpfte ich im Auto und haute auf das Lenkrad. Zum Glück waren die Straßen frei und ich kam zügig durch. Vor dem Krankenhaus stellte ich mein Auto lieblos irgendwo ab und stürmte in die Notaufnahme. Ich weiß nicht wieso, aber ich glaubte, dass dies ein Notfall sei. Die dunkelhäutige Schwester hinter der Theke schaute mich skeptisch an.

„Das Baby kommt“, wisperte ich außer Atem. Ihr Blick streifte mich abschätzig und ich erkannte auch Vorsicht darin. Natürlich, ich musste aussehen wie ein Irrer. Meine Augenringe waren vor Erschöpfung so tief und dunkel wie meine Seele, mein Haar war zerzaust und ich hatte verdammt nochmal keine Schuhe an!

„Ich denke mal, dass Sie den Kreißsaal suchen?“, fragte sie amüsiert.

„Ja, entschuldigen Sie, genau! Mrs. Marisol Volpe, meine Frau, bekommt ein Baby.“ Sie wies mir den Weg, ich rannte zu den Aufzügen und glücklicherweise hielt mir eine ältere Dame die Tür noch auf. Ich trat ein und sobald sich die Türen schlossen, herrschte peinliches Schweigen.

Die Dame sah mich irritiert an.

„Ich bekomme ein Baby. Ich hatte keine Zeit mir noch die Schuhe anzuziehen“, entschuldigte ich mich und die Damen lächelte, doch ich merkte ihr Unbehagen.

Die Türen öffneten sich in der vierten Etage und ich hörte Marisols schmerzerfüllte Schreie durch den ganzen Flur, ich musste ihnen nur folgen.

Ich öffnete die Tür zum Kreißsaal und sah meine Frau, schweißgebadet und in einer sehr unvorteilhaften Körperposition auf dem Bett. Eine Hebamme hielt ihre Hand und der Kopf vom Doktor lugte zwischen den Beinen meiner Frau durch. Ich unterdrückte den Impuls, dem Kerl zu sagen, dass er seine verdammte Nase aus meiner Frau zu halten hat, bis mir einfiel, dass das Baby kommt!

Mariosol’s Locken klebten ihr an der glänzenden Stirn, erst als ihre schwarzen Augen mich fanden, wurden sie klarer und wacher. Ich stürmte auf sie zu.

„Ich bin da! Alles gut, mein Herz. Ich bin jetzt da!“

Die Hebamme gab kommentarlos an mich weiter und der Arzt nickte kurz. „Schön, pünktlich zur Geburt!“

Marisol sah wunderschön aus. Von ihr ging eine Stärke und zeitgleich eine unsagbare Schwäche aus. Ich liebte es. Sie war nahezu Gottesgleich in diesem einzigartigen Schauspiel der Natur. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie liebte und dass jetzt alles gut wird…

„Du hast aus der Verpackung getrunken!“, fauchte sie mich an. Eine Sekunde überlegte ich, woher sie das wissen konnte, blickte hoch und sah mein Spiegelbild im Fenster gegenüber. Der Milchbart hatte mich also verraten. Jetzt hatte ich eine Erklärung dafür, dass all die Leute mich so merkwürdig angeschaut hatten. Ich wischte ihn eilig weg.

„O Gott, das ist so schlimm! Ich wünschte, ich könnte sterben“, jammerte sie, im nächsten Augenblick quetschte sie meine Hand und ich hätte am liebsten geschrien. Ihr ganzer Körper versteifte sich und ich spürte ihre Qualen und ihre Kraft.

„Marisol, es ist soweit! Bei der nächsten Wehe, da schieben Sie mit aller Kraft, die Sie haben, alles nach unten“, sagte die Hebamme mit einer meditativen Ruhe und ich lächelte sie freundlich an.

Marisol griff mir in die Haare und zerrte mich runter.

„Ich werde dich dafür umbringen. Nie wieder. Nie wieder!!“, kreischte sie.

Und ehe ich fragen konnte, was genau sie denn meine, kam die nächste Wehe und Marisol presste. Sie entwickelte dabei eine unfassbare Kraft, ich spürte, wie sie gegen meine Hand und meinen Arm drückte und ich versuchte, gegenzuhalten. Ich fühlte mich einen Augenblick in meiner Männlichkeit gekränkt. als ich merkte, dass meine Frau gerade beim Armdrücken gegen mich gewann.

Himmelherrgott, woher kam denn diese Kraft?

„Super machen Sie das, Marisol. Ganz wunderbar, der Kopf ist raus.“

Ich konnte es einfach nicht fassen, der Kopf meines Kindes schaute schon raus. Mir wurde klar, dass dies hier gerade wirklich passierte. Das war keine Übung. Ich wurde Vater, genau in diesem Moment, in dem ich darüber nachdachte, dass ich Vater wurde... Ich hörte ein Gurgeln, sah die Freude in den Gesichtern der Hebamme und des Arztes und roch den eisenhaltigen Geruch von Blut. Dann ein kleines Kreischen, aus einer kleinen schwachen Lunge.

Marisol ließ augenblicklich meine Hand los und fiel in sich zusammen.

„Das Baby ist da!“, jubelte der Arzt und hielt es hoch. Endlich, dachte ich. Ich habe ihn, meinen kleinen Sohn. Wir hatten vor Wochen erfahren, dass wir einen Jungen bekommen sollten und ich sah mich seitdem in unserem Garten mit ihm Baseball spielen, mit ihm über Frauen reden, in ein paar Jahren… Der Arzt legte mir das blutige Bündel in die Arme, wieso, weiß ich nicht. Doch ich nahm ihn an und war nicht mehr da. Ich schwebte irgendwo zwischen dem Hier und dem Nirgendwo, meine Sinne waren berauscht und mein Herz war schwer wie Blei. Marisol lag erschöpft da und versuchte Kraftreserven zu ziehen, während ich ihn begutachtete. Er hatte schwarze Haare und das Gesicht war verknautscht, kleine verschrumpelte Hände.

„Möchten Sie Ihre Tochter von der Mutter abnabeln?“, fragte die Hebamme und hielt mir eine komische Schere hin. Mein Blick wanderte zu ihr hoch und zurück zum Baby. Ich schaute panisch zwischen die Beine dieses kleinen Bündels und tatsächlich, weit und breit kein Penis zu sehen. Ich schaute nochmal auf die Frau, aus dem dieses Büdel vor einigen Sekunden rausgeplumpst war und vergewisserte mich, dass da auch wirklich meine Ehefrau lag. Marisol hatte von all dem wohl nichts mitbekommen, sie lag mit geschlossenen Augen da und war weit weg. Ich legte die Kleine auf ihre Brust, dann griff ich nach der Schere.

„Eine Tochter…“, nuschelte ich, wie betäubt. Der Arzt sah meine Bestürzung und lächelte mich an, während ich die Nabelschnur durchtrennte.

„Ich habe zwei Töchter. Und einen Sohn. Glauben Sie mir, die Verbindung zwischen Tochter und Vater ist so einmalig. Es ist ein Segen.“ Ich schaute auf meine Tochter runter, die friedlich auf der Brust der Liebe meines Lebens schlief. Sie hatte olivfarbene Haut und schwarze Haare. Dann öffnete sie kurz ihre Augen, schaute sich um und mein Herz ging in Flammen auf.

„Wie soll die Kleine denn heißen? Sie wissen ja, ein Name ist sehr wichtig. Er begleitet einen durch das ganze Leben, er entscheidet, wohin die Reise geht“, sagte die Hebamme, einfach so. Ich wollte ihr für den zusätzlichen Druck danken. Marisol sah mich an.

„Entscheide du, ich bin zu erschöpft. Und wähle einen hübschen Namen.“

Ich erinnerte mich an die olivfarbene Haut und die schwarzen Augen, die durch den Raum gleiten. An den Duft von Olivenbäumen, als ich mal einen Sommer lang, als Kind mit meinem Vater in Sizilien war und meine Oma Felicia dabei beobachtete, wie sie Olivenöl herstellte. Ich war sieben Jahre alt und entsann mich ganz genau, an den Duft, die Wärme der Sonne, die Stimme meiner Nonna und das wohlige Gefühl von Heimat in meinem Herzen.

„Olivia. Olivia Felicia Volpe“, sagte ich und spürte sofort, meine Tochter würde ein Ort des Friedens sein.

*******

Aufbruch

„Paps! Jetzt komm endlich. Wir müssen los!“, rief ich die Treppe hoch.

„Ich komme ja sofort, Muffin!“, kam prompt die Antwort und ich seufzte resigniert.

Ich schaute nochmal auf mein Handy und versuchte meinen Onkel Tommy zu erreichen. Doch mein Netz gab heute seinen Geist auf, es war wie verhext. Ich musste ihn doch unbedingt informieren, dass wir es nicht pünktlich zum Treffen schaffen würden!

Mein Vater schlurfte gemütlich die Treppe hinunter und ich hörte auf der vorletzten Stufe das gewohnte Knarzen. Gott, wie oft wollten wir eigentlich diese dämliche Stufe reparieren?

„Paps, bitte gib Gas jetzt!“ Mein Handy schellte.

Endlich! Ich ging nach dem dritten Klingeln ran und ehe ich was sagen konnte, kam wieder das Freizeichen. Ich verfluchte mein Smartphone und kochte innerlich.

Mein Vater hatte sich in der Zwischenzeit seinen Mantel übergezogen und griff nach seinen Hausschlüsseln.

„Hey Muffin, schau mal! Weißt du noch, als du mir diese hier geschenkt hast?“

Er hob seine Schlüssel in mein Blickfeld. Die kleinen roten Boxhandschuhe baumelten vor meiner Nase. Mein Vater war schon immer ein großer Ali Fan gewesen. Ich hatte ihm diesen Anhänger aus einem Urlaub mitgebracht. Ich wich seinem Schlüsselanhänger aus und starrte wütend auf mein Handy, das keine Verbindung zu meinem Onkel aufbauen wollte.

„Erinnerst du dich an deine Geburt?“, fragte er mich.

„Ja. Paps, weil ja jeder sich an seine eigene Geburt erinnert.“

„Das meinte ich ja nicht, sondern ob ich dir je die Geschichte erzählt habe?“

„Ja, Paps, schon hunderte Male!“, sagte ich und gab den Versuch auf mein Handy zum Laufen zu bringen. Ich schielte auf die Uhr und meine innere Anspannung stieg.

„Hör auf, nervös zu werden, Muffin.“

„Ich bin nicht nervös.“

„Doch, du zupfst dann immer imaginäre Fussel von deiner Kleidung.“

Ich lachte abermals laut los und mein Vater schmunzelte mich an. Ich öffnete die Türe und ging die Auffahrt runter zu meinem Auto. Als ich einsteigen wollte, bemerkte ich, dass mein Vater immer noch an der offenen Türe stand.

Er schaute mich an und grinste.

„Paps! Komm endlich…“, rief ich ungeduldig und stieg ein. Er setzte sich in Bewegung und kam auf das Auto zu.

Ich beobachtete jeden seiner Schritte, alle seine Bewegungen und eine tiefe Sehnsucht durchfuhr mich. Wieso war mir auf einmal zum Weinen zumute? Er öffnete die Beifahrertür und glitt auf den Sitz.

„Woran hast du schon wieder gedacht?“, fragte ich ihn ungeduldig und startete den Motor meines BMWs.

„An dein erstes Lachen.“

Das Radio schaltete sich automatisch ein und ich rollte die Auffahrt rückwärts runter, schaute über meine Schulter durch die Heckscheibe, während er weiterhin nach vorn schaute und etwas wahrnahm, was er vor langer Zeit mal gefühlt hatte.

*******

Michael -1988–

Sie war das schönste Baby weit und breit. Ja, ich weiß, das sagt jeder Vater über sein Kind. Aber im Gegensatz zu all den anderen hatte ich recht. Wirklich! Ihre Haare waren glatt wie Seide und tiefschwarz. Tage nach der Geburt hatte sich ihr Gesicht verändert. Es hatte zarte Züge angenommen und ihre Augen waren nicht mehr schwarz, sondern haselnussbraun. Sie war eine Wonne.

Ein Hochgefühl.

Ein Wunder. Ich liebte sie so abgrundtief, so markerschütternd, dass ich nachts manchmal an ihrem Bettchen stand und meine Tränen zurückhalten musste.

Sie roch nach Muffins. Zimt Muffins.

„Du hast sie doch nicht mehr alle. Kein Baby riecht nach Muffins, du Spinner!“, sagte mein Bruder Tommy und roch nochmal zur Sicherheit an ihrem kleinen Köpfchen.

„Ganz klar, nicht nach Muffins. Sie riecht nach Baby. Und die riechen nach…“

Er suchte nach dem richtigen Wort.

„Muffins?“, versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen.

Er verdrehte seine Augen. Wir standen in der Küche unserer Kindheit. Mama kochte etwas und mein Vater versuchte meine Frau in ein Gespräch zu verwickeln, dabei schaute er immer wieder verunsichert zu mir rüber und rutschte auf dem Sofa hin und her. Ich wusste ganz genau, wie er sich fühlte, denn Marisol war wie ausgewechselt.

Sie hatte jeden Glanz verloren und sah nur noch verloren und traurig aus. Ich zerbrach fast daran. Ein Nicken oder ein gelegentliches „Schön“, bekam man von ihr und das wars. Auch mit Olivia schien sie nicht wirklich zurecht zu kommen. Sie badete sie und stillte sie und legte sie hin, wie ein Roboter. Ich schaute zu Mama, die meine kleine, vier Monate alte Tochter auf den Arm nahm und sofort über das ganze Gesicht strahlte. „Mama, was soll ich mit Marisol machen? Sie ist so unglaublich traurig.“

Meine Mutter zuckte ihre wuchtigen, irischen Schultern. „Ach was, das ist normal. Frauen, die gerade ein Kind bekommen haben, sind so. Denk nicht zu viel darüber nach. Das geht wieder weg.“

Für meine Mutter war vieles Normal. Als ich sie mit sieben Jahren mal fragte, warum ein schwarzer Fleck auf meinem Bein wäre, sagte sie, das sei normal. Als dieser Fleck sich bewegte und ich ihn voller Panik entfernte, zeigte ich es ihr. „Das ist eine kleine Zecke, die hast du dir im Wald geholt neulich. Das ist normal.“

Als sich dann ein kreisförmiger Ausschlag bildete und ich immer müder wurde, sagte meine Mutter auch, das sei normal. Unser Arzt jedoch fand das nicht normal und stellte eine Früherkrankung von Borreliose fest. Ich musste wochenlang im Krankenhaus bleiben und Antibiotika bekommen.

„Ja, deine Symptome waren ja auch normal für Borreliose“, behauptete sie bis heute. Ich zerbrach mir den Kopf. Ich versuchte mit Marisol zu reden, doch diese blockte jedes Mal ab.

„Ich bin nur müde, die Kleine zehrt mich aus. Kannst du sie nicht nehmen?“

Ich muss zugeben, zu diesem Zeitpunkt war ich komplett ausgelastet. Ich hatte zwei Jobs und stand kurz vor der Abschlussprüfung, aber mein kleiner Muffin war keine zusätzliche Belastung. Ich kam manchmal kurz vor Mitternacht nachhause, ein junger Mann, ende Zwanzig, erschöpft von seinen Aufgaben und seiner depressiven Ehefrau und fand das absolute Chaos vor. Das Haus war drunter und drüber, ich stolperte über einen Berg Schmutzwäsche und sah meine Frau auf mich zukommen, mit unserer schreienden Tochter im Arm.

Marisol hatte jegliche Wärme verloren, sie lief in meinen verdreckten Hemden rum und ihr Haar war zerzaust.

Ich empfand sie dennoch als wunderschön. Wie blind ein junger Familienvater doch sein kann.

„Hier, sie schreit den ganzen Tag. Michael, sie macht mich wahnsinnig!“, sagte meine Sonne ruhig und gab mir das kleine, süße Bündel in die Arme. Olivia hörte schlagartig auf zu quengeln, als ob man einen Knopf gedrückt hätte. Marisol setzte sich an den kleinen Frühstückstisch und begann plötzlich, zu weinen.

„Gott, wie machst du das? Du kommst rein und sie hört plötzlich auf. Sie ist wie ausgewechselt!“

Ich bettete meinen kleinen Muffin in meiner Armbeuge und fischte die mit Muttermilch abgefüllte Glasflasche aus dem Topf, der auf dem Herd stand.

Testete die Temperatur auf der Zunge.

Meine Frau verzog ihr hübsches, aber ermattetes Gesicht.

„Babe, mach dich nicht fertig“, beruhigte ich sie und setzte mich ihr gegenüber während Olivia gierig an der Flasche saugte.

„Da, siehst du, sie hatte noch Hunger“, sagte ich und lächelte meinen kleinen Engel an.

Dieser nuckelte zufrieden an dem Fläschchen und ihre starken Fingerchen klammerten sich um meinen Zeigefinger.

„Es ist unglaublich!“, hörte ich Marisols Stimme leise und blickte auf. Ihr Gesicht war urplötzlich entspannt und sie war wie eine ruhige See.

„Was ist unglaublich?“

„Ihr beide. Es ist unglaublich, euch anzusehen und die Energie zu spüren. Ich habe ihn einfach nicht, diesen Instinkt. Ich dachte er würde kommen, mit der Zeit aber … Nichts.“

„Du bist zu streng mit dir selbst. Du wartest auf etwas, vielleicht solltest du nicht erwarten, dass dieses Gefühl zu dir kommt, sondern einfach in dich hineinhorchen. Es ist dort drin.“

Sie fuhr sich durch ihre wilden Locken.

„Weißt du, wenn mich Olivia eins gelehrt hat, dann, dass du jedem was vormachen kannst. Ja, sogar dir selbst, doch niemals deinem Kind. Die Augen deines Kindes sehen dein wahres Ich. Und wenn du reinblickst, dann ist es wie ein Spiegel.“

Nie wieder hat irgendwer in meiner Umgebung es besser beschreiben können. Ich spürte, dass meine Sonne auf eine Erkenntnis gestoßen war, denn an diesem Abend stand sie am Türrahmen und beobachtete mich und Olivia. Sah dabei zu, wie Vater und Tochter auf dem Schaukelstuhl gemeinsam einschliefen und eins wurden, mit der alles umgebenden Liebe. Ihr Duft weckte mich, sie hatte ein frisches T-Shirt übergezogen und ihre Haare waren frisch gewaschen. Ich spürte es, wenn meine Frau mit mir schlafen wollte.

Sie musste nichts weiter tun, als mich kurz anzuschauen und ich wusste sofort, dass ich gewollt bin.

Ich legte Olivia in ihr Bettchen, deckte sie mit einem sanften Kuss zu und folgte meiner Frau still in unser Bett. Alles war anders in jener Nacht. Sie nahm sich alles, was ich war und je sein werde. Sie schöpfte es aus, Stück für Stück, machte es sich zu Eigen und verinnerlichte mich in jeglicher Hinsicht. Ich weiß noch, wie ich kurz vorm Einschlafen dachte, ab jetzt wird alles gut.

Friedlicher konnte der nächste Morgen nicht daherkommen. Ich hörte das Piano.

Sometimes in our lives

We all have pain

We all have sorrow

Ich öffnete meine Augen und lauschte Bill Withers.

Sie lag nicht neben mir.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen.

Lean on me

When you're not strong

And I'll be your friend

I'll help you carry on...

Der Text war wie ein guter Freund, seine Stimme wie eine Umarmung und ich torkelte im Halbschlaf ins Zimmer meiner Tochter. Sie lag immer noch friedlich schlummernd in ihrem Bettchen, ich hatte sie diese Nacht nicht schreien hören und ging davon aus, dass Marisol wohl die Nachtschicht übernommen hatte. Als ich mich vergewissert hatte, dass Olivias Windel frisch war, überkam mich eine innere Freude. Es würde doch noch alles gut werden.

Es war ein Dienstag. Ich liebe eigentlich Dienstage, doch dieser hier war anders.

Ich zog mir beim Runtergehen mein Ali-Shirt an und spürte den weichen Teppich unter meinen nackten Füßen, wie er bei jeder Stufe nachgab und sich den Konturen meines Fußes anpasste.

Ich erinnere mich noch an alles. Sie stand da in dem Kleid, das ich so sehr an ihr liebte. Es war schwarz und etwas weiter, aber dafür sehr kurz. Ich roch ihr Shampoo und ihre Haut glänzte leicht von ihrer Tagescreme. Sie sah so unglaublich verloren aus. Eigentlich ging ich immer auf sie zu und küsste sie als Erstes, fragte sie, wie sie geschlafen hatte, doch diesmal stand ich nur da am Ende unserer Treppe und schaute sie an. Mein Blick wanderte kurz zu dem kleinen Koffer in ihrer Hand.

„Ich gehe“, sagte sie. Stille.

War ich überrascht? Damals hätte ich ja gesagt, doch heute… Ich wusste es, schon bei Olivias Geburt.

Sie war nie wieder dieselbe. Meine Hände zitterten, denn ich spürte sofort, dass dies eine Entscheidung war, bei der ich nicht mitzureden hatte. Sie war gefallen.

Und sie war unumkehrbar.

„Ich habe keine andere Wahl. Ich fühle mich wie in einer fremden Haut. Ich erkenne mich nicht wieder. Ich kann das alles nicht mehr. Ich weiß, ich liebe euch, aber ich muss glücklich werden, Michael. Ich kann ihr sonst keine gute Mutter sein… Falls ich das je sein werde. Ich weiß, dass von allen Menschen auf dieser Welt, du der Einzige bist, der mich versteht. Und das ist das Einzige, was zählt, denn nur du kannst ihr all das eines Tages erklären. Ihr sagen, dass es nichts mit ihr zu tun hatte.“

Alles um mich herum wurde eins. Sie und das Haus und all die Trauer in mir. Wir verschmolzen zu einer Erinnerung, zu einem kompletten Etwas. Sie kam auf mich zu, ging auf Zehnspitzen und küsste all die Sinne aus mir raus, nahm ihren kleinen Koffer und verschwand, mit all meinem Sein im Gepäck.

Ich starrte noch eine ganze Weile die Türe an, versuchte, zu begreifen, was hier gerade geschehen war. Ich hielt mir die Fakten vor Augen, nämlich: Sie war weg, ich jedoch nicht. Sie war irgendwo all die Zeit, doch ich war immer hier gewesen. Ich bewegte mich wie ferngesteuert, ging die Treppe wieder hoch und öffnete die Tür zu Olivias Zimmer. Sie lag da, so unglaublich friedlich. Schlief ihren süßen Schlaf, ahnte nicht, was gerade vorgefallen war. Und gerade als ich im Begriff war, zusammenzubrechen, Gott und die Welt zu verfluchen, da zuckte ihre kleine, süße, perfekte Lippe.

Meine Tochter schenkte mir ein Lächeln, mitten im schönsten Schlaf. Zum allerersten Mal und ich, ganz allein, durfte Zeuge dieses Wunders sein.

„Jetzt sind es nur noch du und ich, mein Muffin.“

*******

Kapitel 3

Unterwegs

Ich überlegte fieberhaft, wie ich meinen Onkel Tommy erreichen konnte, er musste schon fuchsteufelswild sein.

„Paps, hast du heute Empfang?“

Er holte sein Handy aus seiner Hosentasche und schaute nach.

„Nein Muffin, da muss ich dich enttäuschen.“

„Gott, was ist denn heute hier los? Dieser Tag hat schon so merkwürdig begonnen.“

Ich schaute in den Rückspiegel und wechselte die Spur.

„Was meinst du?“

„Keine Ahnung, ich habe so ein komisches Gefühl, als ob irgendwas nicht passt oder ich etwas ganz Dringendes vergessen habe. Er fühlt sich einfach anders an.“

„Es ist Dienstag, Muffin.“

Ich seufzte und ließ die Schultern hängen.

„Ich habe die Kaffeemaschine ausgemacht, Che gefüttert, die Tür abgeschlossen…“, ging ich laut meine Gedanken durch.

„Du denkst, du hast was vergessen?“

Ich beschleunigte und fuhr auf den Highway. Vor mir erschien die Stadt, in der ich seit meinem ersten Atemzug lebte. Der CN Tower ragte empor und man sah hier und da einen Wolkenkratzer. Mein Vater drehte den Regler meines Autoradios hoch und ich hörte diesen Song.

Atmete einmal tief ein und dann wieder aus, bereite mich drauf vor, auf dem Highway das Gaspedal durchzudrücken und etwas Zeit aufzuholen.

„Dieser Song…“, sagte ich ganz leise zu mir selbst und mein Vater schaute mich fragend an

Ich lauschte weiter dem Text von Freddie und ehe ich mich versah, bin ich wieder fünf Jahre alt.

*******

Olivia –1992-

Wie ist es, als Tochter mit einem alleinerziehenden Vater? Seit ich denken kann, gibt es nur ihn und mich.

Natürlich auch meine Großeltern und meine Tante und meinen Onkel. Aber wenn ich an Zuhause denke, dann sehe ich immer nur sein Gesicht. Ich höre seine Stimme, sehe seine Hände und rieche seinen Espresso. Ich war fünf, kurz vor meinem sechsten Geburtstag, er würde jetzt schmunzeln und seinem Muffin einen Kuss auf die Stirn drücken. Ich war als Kind so, ich bestand darauf, älter zu werden.

Ich war noch im Kindergarten, was ich als unglaublich mühselig empfand. Andere Kinder stressten mich, mit ihrer kindlichen Art. Meine Großmutter sagte immer, das sei meine irische Ader und das sei vollkommen normal.

Irische Kinder sind wohl anderen Kindern weit voraus, sie sind alte Seelen, gefangen im Körper eines Kindes. Für mich ergab das immer einen Sinn. Denn ich fühlte es, ich war ein sehr ruhiges Kind. Ich mochte die Ruhe und das Beobachten. Das Analysieren und Verstehen, ja, vor allem wollte ich immer das Verhalten anderer verstehen. Wir bekamen die Aufgabe „Meine Mutter ist…“ zugeteilt und mein Vater holte mich ab.

„Na, mein Muffin? Wie war dein Tag?“, fragte er und ich setzte mich schon wie selbstverständlich auf den Beifahrersitz und schnallte mich an.

„Wir haben eine doofe Aufgabe.“

„Ok. Bevor wir zur doofen Aufgabe kommen… Wir haben heute Morgen was vergessen! Also?“, er schaute mich erwartungsvoll an.

Ich verdrehte meine braunen Augen.

„Queen, dieser Magic Song...“

„Oh, das ist gut! Bei mir wars Rod Stuart. Was mich etwas irritiert hat, denn ich mag ihn nicht wirklich.“

Er legte den Gang ein und fuhr los. Mein Vater mag nicht über ernste Themen mit mir reden, das tat er nie. Ich weiß, dass er ein kurzes Gespräch hatte, denn als er mich abholte, bat ihn meine Lehrerin kurz raus. Sie unterhielten sich eindeutig über dieses Thema, denn mein Vater wurde nervös. Als er wieder reinkam und mit mir zum Auto ging, erzählte er lauter wirres Zeug, damit ich bloß nicht redete. Doch als wir im Auto waren, kamen wir nicht drum herum.

„Paps, muss ich diese Aufgabe machen?“, fragte ich und meine Brille rutschte mir von der Nase. Das Teil wog gefühlt fünf Kilo und nahm mein ganzes Gesicht ein und es war fürchterlich bunt. Ich hasste es. Ich wollte gerne eine Randlose, doch der dämliche Optiker kam mit diesen schrecklichen Kindermodellen und drehte sie meinem Vater an. Mein Vater schob sie mit einem Finger wieder hoch und lächelte mich an.

„Mein Muffin, du musst rein gar nichts. Man kann dich zu nichts zwingen.“

Ich schaute raus und sah die ganzen Mütter, wie sie mit meinen Kindergartenfreunden an der Hand über den Bordstein schlenderten. Pah, die hatten es gut. Die hatten eine Mama, deswegen konnten sie diesen Muttertags-Vortrag auch problemlos halten. Ich weiß noch, wie traurig ich deswegen war, beim Anblick der jungen Frauen, die, teils genervt und teils schon mechanisch ihren Kindern die Nase putzten oder sie über die Straße zerrten. Mein Vater hatte nie ein Geheimnis aus ihr gemacht. Sie hieß Marisol, und wenn er von ihr sprach, da wollte ich, dass er sofort damit aufhörte. Seine Stimme veränderte sich und sein Aussehen. Er wurde so unsagbar traurig und müde. Er dachte immer, er könne es überspielen, doch ich kannte diesen Mann.

Danach wurde er immer ganz still. Sie war wohl schön, ich hatte ihre Haarfarbe und ihre Füße, das jedenfalls sagte er mir. Und meine gerade Haltung. Ich weiß, dass sie ging, in der Annahme meiner nicht würdig zu sein. Mit fünf, bzw. fast sechs, habe ich das natürlich nicht ganz verstanden, doch ich begriff, es nicht als Kränkung aufzunehmen. So weit war ich dann doch.

„Ich überlege es mir“, sagte ich meinem Vater.

Er schaute zu mir rüber und ich versuchte, meine Traurigkeit zu überspielen.

„Hey, Lust auf ein Eis?“

„Etwa vor dem Mittagessen?“, fragte ich ihn und meine Brille rutschte wieder runter.

„Jaja, schon okay. Wir können was zu Mittag essen und dann ein Eis essen.“

„Musst du nicht wieder zur Arbeit?“, fragte ich.

Mein Vater war zu dem Zeitpunkt schon selbstständig und leitete eine kleine Firma, die Touristen in Doppeldecker-Bussen durch Toronto fuhren.

„Ich nehme mir spontan frei, also, wenn dein Verhör dann beendet ist, mein kleiner Muffin… Lust?“

Er schob meine Brille wieder auf die Nase und ich lächelte. Ich erinnere mich an diesen Tag noch wie gestern und dass, obwohl ich so jung war.

Wir waren Pfannkuchen essen und mein Vater ging mit mir am Hafen spazieren. Heute noch ist der Hafen von Toronto einer meiner Lieblingsplätze. Irgendwann kauften wir uns ein Eis und bogen in eine kleine Straße ein, bis ich vor einer kleinen Kirche hielt. Sie sah von außen alt und zerrüttet aus. Ich kann nicht sagen wieso, aber sie nahm meine ganze Aufmerksamkeit ein. Mein Vater bemerkte nicht, dass ich stehen geblieben war und plapperte seelenruhig weiter, bis er nach einigen Metern zum Stehen kam und sich zu mir umdrehte.

„Hey, ich rede mit dir Muffin“, sagte er und kam wieder zu mir zurück.

Er folgte meinem Blick und begutachtete die Kirche.

„Möchtest du da rein?“, fragte er. Ich zögerte, was ich bis heute noch mache, wenn ich vor einer Kirche stehe. Diese Gebäude beängstigen und faszinieren mich zugleich.

„Ich weiß nicht.“

Mein Vater packte meine kleine Hand.

„Na komm, lass uns dem Herrn einen Besuch abstatten. Nur ganz kurz“, sagte er augenzwinkernd. Er öffnete die schwere Holztür und dieser süßliche Geruch drang sofort raus. Ich leckte zögerlich an meinem Eis und schob meine Brille hoch, ehe ich eintrat. Die Tür fiel leise ins Schloss und dann war da nichts als Ruhe.

Der Lärm und das Leben draußen auf der Straße waren wie ausgeknipst, alles um mich war still. Mein Vater stand neben mir, er erschien mir auf einmal noch viel größer.

Ich blickte zu ihm auf und er lächelte mich sanft an. Ich griff nach seiner Hand und hielt sie ganz fest.

„Muffin, hast du etwa Angst?“, fragte er besorgt. Ich war unfähig etwas zu sagen, denn dieser Ort war mir so vertraut und zur gleichen Zeit so unsagbar fremd. Doch, sobald ich seine Hand hielt, wusste ich, er war Teil von diesem Ort.

Er war Teil von etwas, woran ich glaubte.

„Komm, mein Muffin, wir gehen nach vorne und sagen dem alten Herrn mal Hallo.“ Ich folgte ihm blind, wir setzten uns ganz vorne hin. Die Kirche war bis auf den letzten Platz leer. In der einen oder anderen Ecke flackerte eine Kerze. Ich schaute auf zu dem jungen Mann, der dort über dem Altar an sein Kreuz genagelt war. Mein Vater nahm das Eis aus meiner Hand und leckte die Ränder sauber, die schon eingeweicht waren vom schmelzenden Erdbeereis. Er reichte es mir wieder und wir saßen einige Zeit still da.

„Was geht dir durch den Kopf?“, fragte mein Vater und aß in Ruhe sein Eis weiter.

„Warum sieht er so traurig aus?“

„Nun, mein Schatz, er büßt für die Sünden der Menschheit, ich denke deswegen. Naja, und dann sind ja auch noch die Nägel, die stören bestimmt auch ein bisschen.“

Ich musste schmunzeln, als ich ihn lächeln sah.

„Das war echt fies von den Menschen“, sagte mein fünfjähriges Ich damals.

Ich muss zugeben, diese Meinung vertrete ich bis heute.

„Das war seine Mission, seine Lebensaufgabe. Dafür wurde er uns zugesandt.“

„Glaubst du, er hat auch für Mamas Sünden gebüßt?“, fragte ich halblaut.

Mein Vater zuckte kurz, fast bereute ich meine Frage, doch dann wandte er sich mir zu. Er legte einen Arm hinter mich auf die Banklehne und schaute mich an.

„Mein Muffin ist traurig, richtig?“

Ich schob trotzig meine Brille wieder hoch.

„Nein, ich bin wütend.“

„Weil? Sag es deinem alten Herrn.“

Ich wollte ihm gerne sagen, dass ich sie hasste, weil sie mir nicht die Nase putzte oder mir die Schuhe zuband. Weil sie nachts nicht an mein Bett kam, wenn ich Fieber hatte oder mir beim Baden nie die Haare einschäumte. Ich hasste sie, weil sie nie meine Stimme gehört hatte und mich allein ließ, mit diesem Muttertags-Ding.

„Was geht denn hier vor?“, hörten wir plötzlich eine laute Stimme durch die kleine Kapelle hallen. Mein Vater drehte sich um und ich sah, wie ein älterer Mann in einem schwarzen Gewand mit schnellen Schritten auf uns zukam. Mein Vater erhob sich.

„Guten Tag, Vater. Meine Tochter war ganz entzückt von dieser…“

„Was ist das, in Gottes Namen?“, unterbrach der unfreundliche Pater meinen Vater und zeigte auf unser Eis.

„Eiscreme“, antwortete ich. Anscheinend hatte Gott ihm noch nie welches gegeben.

„Das sehe ich auch! Sie dürfen kein Essen hier mit reinbringen!“, schimpfte er.

Mein Vater unterdrückte ein Lachen.

„Bitte? Ich wollte meiner kleinen Tochter nur die Kirche nahebringen.“

„Ach ja? Mit Eiscreme? Wir sind hier in einem Gotteshaus und nicht auf dem Jahrmarkt!“

Das wohlige Gefühl, das sich zaghaft in mir ausgebreitet hatte, verschwand augenblicklich. Und machte wieder Platz für negative Gefühle. Ich hasse es, wenn jemand meinen Vater anbrüllt oder ihm gegenüber fies wird. Ich hatte schon von klein auf einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Er kam auf mich zu und wollte mir das Eis aus der Hand nehmen, doch ich hinderte ihn daran.

„Warum darf ich kein Eis in seinem Haus essen?“, fragte ich erbost.

Er sah mich entsetzt an, mein Vater lächelte und versuchte den Pater zu beruhigen.

„Hören Sie, wir sind ja schon so gut wie raus. Keine Panik, komm, mein Muffin“, sagte mein Vater in seiner ruhigen Art und ich griff nach seiner Hand. Ich wandte mich dem Pastor noch ein letztes Mal zu, ehe ich dieses Gotteshaus verlies.

„Wissen Sie was? Ihr Gott ist ein mieser Gastgeber!“, sagte ich ihm und ging wieder hinaus ins Tageslicht. Die Türe hinter mir fiel schwer ins Schloss und ich brauchte einige Sekunden, bis der Straßenlärm zu mir hindurchdrang. Ich atmete einmal tief ein und beim Ausatmen war all die Wut weg.

„Geht’s dir jetzt besser, mein Muffin?“

Ich schaute zu ihm auf, sie Sonne stand hinter ihm und blendete mich. Ich sah sein Gesicht nicht, doch ich wusste, er lächelte. „Ja, jetzt geht’s mir besser“, sagte ich und griff abermals nach der Hand, die mir jedes Mal die Nase putze, meine Stirn fühlte, wenn ich nachts Fieber hatte und beim Baden meine Haare einschäumte.

Ich ergriff die Hand der Mutter, die streng genommen keine war. Aber der diesem simplen Wort all die Bedeutung verlieh, die es innehatte.

*******

Michael -1995-