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Ein fesselnder historischer Roman über eine menschliche Tragödie im antiken Sparta Die harten Gesetze Spartas verlangen, dass missgebildete Kinder nach der Geburt ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen werden. Dieses Schicksal steht auch Kleidemos, dem Sohn eines noblen Spartaners bevor, da er mit einem verkrüppelten Fuß geboren wird. Doch der Hirte Kritolaos findet den Jungen und gibt ihm den Namen Talos, der Wolf. Er zieht ihn auf und bildet ihn zum Krieger aus. Talos zieht in den Kampf gegen die Spartaner, aber der junge Krieger weiß nichts von seiner wahren Herkunft … In seinem spannenden Roman zeichnet der italienische Erfolgsautor Valerio M. Manfredi ein farbenprächtiges Bild vom antiken Griechenland.
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Übersetzt aus dem Italienischen von Brigitte Lindecke
© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH, 2018
© 1988 Valerio M. Manfredi
Titel der italienischen Originalausgabe: »Lo scudo di Talos« © Arnoldo Mondadori Editore S.p.A., Mailand 1988
First published in Italy by Mondadori
This edition published in arrangement with Grandi & Associati
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2004
Deutsche Erstausgabe: Heyne Verlag, München 2000 unter dem Titel: »Der Schild des Talos«
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: Shutterstock.com
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Widmung
Für Giulia und Fabio
Cover & Impressum
ERSTER TEIL
I TAYGETOS
II DER BOGEN DES KRITOLAOS
III DER MEISTER
IV DER SCHILD
V KRYPTEIA
VI PERIALLA
VII DER GROSSKÖNIG
VIII DER LÖWE VON SPARTA
IX DER GEZITTERT HAT
X DER EINSAME HOPLIT
XI KLEIDEMOS
ZWEITER TEIL
I AM SCHEIDEWEG
II NOSTOS
III LAHGAL
IV ASIEN
V DAS GEHEIMNIS
VI DAS BRONZEHAUS
VII DAS SAKRILEG
VIII ANTINEA
IX ENOSIGEOS
X DAS WORT DES KÖNIGS
XI ITHOME
XII DER WOLF
Gast, was auch immer aus dem Willen Der Götter geschehen mag, kann der Mensch nur schwerlich aufhalten, denn die größte Strafe der Menschen ist die: Viele Dinge vorauszusehen, doch keine Macht über sie zu haben.
HERODOT
Das Herz voller Trauer betrachtete der große Aristarchos seinen kleinen Sohn Kleidemos, der seelenruhig in dem großen väterlichen Schild schlief, der ihm als Wiege diente. Nicht weit entfernt schlief in einem Bettchen, das von der Decke herabhing, sein großer Bruder Brithos.
Die Stille, in die das alte Haus der Kleomeniden gehüllt war, wurde plötzlich von dem Rauschen der Eichen im nahe gelegenen Wald durchbrochen – ein langer, tiefer Seufzer des Windes.
Tiefe Nacht lag über Sparta, der Unbesiegbaren, und lediglich das Feuer, das auf der Akropolis brannte, warf einen rötlichen Schimmer in den von schwarzen Wolken durchzogenen Himmel. Aristarchos schüttelte sich schaudernd und ging zum Fenster, um es zu öffnen und einen Blick auf die im Dunkeln liegenden, verschlafenen Felder zu werfen.
Er dachte, dass nun der Moment gekommen sei, in dem er tun musste, was von ihm verlangt wurde, der Moment, in dem die Götter den Mond verhüllten und die Erde verdunkelten, und die Wolken im Himmel voller Tränen hingen.
Er nahm den Mantel von dem Haken an der Wand und warf ihn sich über die Schultern, dann beugte er sich über den Sohn, hob ihn hoch, drückte ihn zärtlich an die Brust und entfernte sich behutsam, während die Amme des Kleinen sich im Schlaf in ihren Decken wälzte.
Aristarchos hielt einen Augenblick inne, in der inständigen Hoffnung, dass irgendetwas ihm erlauben möge, diese schreckliche Tat noch aufzuschieben, doch als er erneut den schweren Atem der Frau vernahm, nahm er all seine Kraft zusammen und verließ das Zimmer durch das Atrium, das von einer tönernen Öllampe spärlich beleuchtet war. Im Hof schlug ihm eine eisige Windböe entgegen, die die ohnehin schon schwache Flamme beinah auslöschte und als er sich umdrehte, um die schwere Eichentür hinter sich zu schließen, stand plötzlich, wie eine Göttin in der Nacht, seine Frau Ismene vor ihm, mit bleichem Gesicht und weit aufgerissenen, wild funkelnden Augen.
Todesangst stand ihr ins Gesicht geschrieben: Ihr zusammengepresster Mund wirkte wie eine Wunde, schien unmenschlichen Schmerz einschließen zu wollen.
Aristarchos spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Seine Beine, die stämmig waren wie zwei Pfeiler, wurden weich.
»Wir haben ihn nicht für uns …«, flüsterte er mit gebrochener Stimme. »Wir haben ihn nicht für uns gezeugt … Es muss diese Nacht sein, sonst werde ich nie wieder die Kraft finden .«
Ismene streckte ihre Hand nach dem in Tücher gewickelten Kind aus, ihr Blick suchte den ihres Mannes … Der Kleine erwachte und begann zu weinen. Aristarchos stürzte davon und floh in die Felder. Ismene blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen, sah ihrem forteilenden Mann nach und lauschte dem Weinen ihres Sohnes, das immer schwächer wurde: Der kleine Kleidemos, den die Götter – noch in ihrem Bauch – geschlagen hatten. Sie trugen die Schuld daran, dass er als Krüppel auf die Welt gekommen und somit nach den unbarmherzigen Gesetzen Spartas zum Tode verurteilt war.
Sie schloss die Tür und schlich langsam in die Mitte des Atriums, wo sie stehen blieb, um die Standbilder der Götter zu betrachten, denen sie während ihrer gesamten Schwangerschaft großzügige Gaben gebracht und zu denen sie viele Monate vergeblich gebetet hatte, damit sie diesem kleinen verkümmerten Füßchen Kraft geben mögen.
Sie setzte sich an die Feuerstelle, die sich in der Mitte des großen, kahlen Zimmers befand, löste ihre schwarzen Zöpfe und breitete ihr Haar über Brust und Schultern. Dann sammelte sie die Asche vom Boden des kupfernen Dreifußkessels und ließ sie auf ihr Haupt rieseln. In dem zitternden Lichtschein der Öllampe blickten die Statuen der Götter und Helden sie mit ihrem unwandelbaren Lächeln an. Ismene beschmutzte ihr schönes Haar mit der Asche, kratzte ihr Gesicht blutig und ein eiskalter Schraubstock schien ihr Herz zu zermalmen.
Währenddessen lief Aristarchos über die Felder, das Kind fest an die Brust gepresst, sein Mantel wirbelte – vom Nordwind gepeitscht – durch die Luft.
Er erklomm die Berge und bahnte sich einen Weg durch das Dickicht und die Brombeersträucher des Waldes. Sobald der Wald vom Blitz erleuchtet wurde, sah man beängstigende Schatten über den Boden kriechen. In dieser Stunde größten Kummers waren die Götter Spartas fern. Nun musste er ganz allein weiterlaufen, bedrängt von den dunklen Geschöpfen der Nacht, den bösen Ausgeburten des Waldes, die den Vorübergehenden nachstellen und die Albträume aus dem Erdinneren heraufholen.
Als er den dichten Wald hinter sich gelassen hatte, lag der Weg, der noch weiter hinauf führte, vor ihm. Keuchend blieb er einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen. Der Kleine weinte nicht mehr, sondern strampelte nur noch mit den winzigen Beinchen in den Windeln wie ein Welpe, der in den Fluss geworfen werden soll.
Der Krieger hob den Blick zum Himmel, über den riesige Wolken in bizarren, bedrohlichen Formen zogen. Er stieß ein paar Beschwörungsformeln der Alten zwischen den Zähnen hervor und erklomm den steilen Pfad, während die ersten Regentropfen mit einem kleinen dumpfen Geräusch im Staub versanken. Nachdem er die Lichtung überquert hatte, tauchte er erneut in den dichten Wald ein. Die Zweige und Dornen zerkratzten sein Gesicht, das die Hände nicht schützen konnten. Der Regen war nun dicht und schwer geworden und begann, das Laub zu durchdringen und den Boden aufzuweichen. Aristarchos fiel auf Knie und Ellbogen, besudelte sich mit Schlamm und fauligen Blättern und zerriss seine Kleider an den spitzen Steinen, die hier und da aus dem Erdreich des immer schmaler und steiler werdenden Pfades ragten. Mit letzter Kraft erreichte er den ersten bewaldeten Gipfel des Gebirges und tauchte sogleich in einen kleinen Eichenwald ein, der sich inmitten einer Lichtung erstreckte, die dicht mit Kornelkirsche und Ginster bewachsen war.
Der Regen prasselte nunmehr in Strömen herab. Mit durchnässten Kleidern, die Haare in die Stirn geklebt, lief Aristarchos nun langsam und vorsichtig über das weiche, faulig riechende Moos. Schließlich blieb er von einer hundertjährigen Steineiche mit einem großen, hohlen Stamm stehen, kniete sich zwischen die Wurzeln und legte sein Bündel in eine Nische. Er verharrte einen Augenblick, um den Sohn noch einmal anzusehen, der die kleinen Händchen aus der Decke herausstreckte, und biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten; spürte, wie ihm das Wasser in Strömen den Rücken hinablief. Doch sein Mund war trocken, die Zunge klebte am Gaumen wie ein Stück Leder. Er hatte getan, was getan werden musste, die Götter würden das Schicksal vollbringen. Es war Zeit, nach Hause zurückzukehren, Zeit, für immer die Stimme des Blutes und den Schrei des Herzens zu ersticken. Er erhob sich langsam und mühsam, als laste das Leid der ganzen Welt auf seinen Schultern, und ging wieder dorthin zurück, von wo er hergekommen war.
Das Unwetter schien sich zu legen, als Aristarchos die Felsen des Taygetos hinabkletterte und ein leichter Nebel aus dem Berginneren aufstieg, sich zwischen den hundertjährigen Baumstämmen ausbreitete, den triefenden Ginster einhüllte und über Pfade und Lichtungen schwebte. Der Wind wehte noch immer kräftig und blies mit heftigen Böen das Wasser von den Blättern. Endlich verließ Aristarchos den Wald und erreichte das Tal, wo er einen Moment stehen blieb und noch einmal den Blick zum Berggipfel hob. Vor ihm, inmitten der regennassen Felder, schimmerte das Wasser des Eurotas, hier und da erleuchtet von den kalten Strahlen des Mondes, der sich nun als schmale Sichel zwischen den Wolken zeigte. Als er gerade die Holzbrücke, die über den Fluss führte, betreten wollte, hörte er ein Geräusch zu seiner Linken: Er drehte sich ruckartig um und erblickte in dem unbestimmten Licht des Mondes einen Reiter – das Gesicht unter einer Sturmhaube verborgen – auf einem schweißnassen, dampfenden Ross. Auf der polierten Rüstung blitzte für einen Moment das Zeichen der königlichen Wache auf. Sparta … Sparta wusste es schon …, dachte Aristarchos bitter. Dann gab der Reiter dem Pferd die Sporen, das Tier bäumte sich auf und stürmte davon. Kurz darauf verlor sich der Galopp mit dem fernen Wind in den Feldern.
»Krios! Krios! Bei allen Göttern, willst du wohl stehen bleiben? Komm her, sag’ ich dir!« Der kleine Mischlingshund kümmerte sich nicht im Geringsten um die Rufe seines Herrn und trabte entschlossen den Weg entlang, dass das Wasser nur so aus den Pfützen spritzte, während der alte Hirte unbeholfen und fluchend hinter ihm herlief. Das Tier steuerte geradewegs auf den Stamm einer mächtigen Steineiche zu und blieb winselnd und Schwanz wedelnd vor ihm stehen.
»Verflucht noch mal«, murmelte der Alte, »du wirst nie ein guter Hirtenhund . Was ist es denn diesmal? Ein Stachelschwein oder vielleicht ein Amselkind . nein, es ist noch zu früh für Amselkinder. Beim Zeus und beim Herakles, ist es vielleicht ein Bärenjunges? O ja, dann kommt bestimmt die Mutter des Kleinen und reißt uns in Stücke!«
Der Alte war inzwischen bei dem Hund angelangt; er beugte sich hinab, um ihn auf den Arm zu nehmen und umzukehren, doch plötzlich verharrte er auf halber Höhe. »Das ist kein Bärenjunges, Krios«, stammelte er und streichelte das Tier, um es zu beruhigen, »das ist ein Menschenkind … vielleicht ein Jahr alt, oder etwas mehr … sehen wir mal«, sagte er und schlug die Decke zurück. Doch als er den Kleinen erblickte, der sich kaum noch rührte, so steifgefroren wie er war, wurde sein Blick ernst. »Sie haben dich ausgesetzt«, sagte er. »Bestimmt hast du irgendeinen Fehler, der dich daran gehindert hätte, Krieger zu werden. Und nun, Krios, was sollen wir tun? Sollen wir ihn einfach hier lassen? Nein, nein, Krios, die Heloten setzen keine Kinder aus. Wir nehmen ihn mit«, entschied er und nahm das Bündel aus dem hohlen Baumstamm. »Du wirst sehen, dass er es überstehen wird . wenn er bis jetzt noch nicht gestorben ist, muss er sehr stark sein. Und jetzt gehen wir zurück, schließlich haben wir die Herde unbewacht zurückgelassen.« Gefolgt von dem Hund ging der Alte davon und passierte kurz darauf die Einfriedung des Bauernhofes, während der Hund zu der Herde lief, die nicht weit entfernt weidete. Er öffnete die Tür zur Hütte und trat ein. »Sieh mal, was ich gefunden habe, Tochter«, sagte er zu einer nicht mehr ganz jungen Frau, die gerade dabei war, einen großen Krug Milch zu entrahmen. Geschickt nahm die Frau mit einem Tuch die Molke von der Milch. Sie hing das Tuch an einen Haken an der Decke, dann ging sie zu dem Alten, der das Bündel auf eine Bank gelegt hatte und es nun behutsam öffnete. »Da, sieh mal, ich habe ihn eben im hohlen Baumstamm der großen Steineiche gefunden. Das ist bestimmt einer von ihnen . sie müssen ihn letzte Nacht ausgesetzt haben, im Schutze der Dunkelheit und des Unwetters. Er hat bestimmt einen Makel . vielleicht dieses Füßchen . siehst du? Er kann es nicht bewegen. Weißt du, wenn ihre Körper nicht vollkommen unversehrt sind, werfen sie sie den Wölfen zum Fraß vor, diese verfluchten . Aber Krios hat ihn entdeckt und ich will ihn hier behalten.«
Ohne ein Wort zu sagen, ging die Frau einen Beutel mit Milch füllen, band den Beutel an einer Seite ab, um eine Art Ausguss herzustellen, stach mit einer Nadel ein kleines Loch hinein und legte es dem Kleinen an die Lippen, der, als er der Wärme der Flüssigkeit gewahr wurde, erst ganz langsam, dann immer gieriger zu saugen begann.
»He, ich habe doch gesagt, dass er stark ist!«, rief der Alte zufrieden. »Wir werden einen guten Hirten aus ihm machen, dann wird er länger leben, als wenn er bei ihnen geblieben wäre. Sagt nicht der große Achill in der Unterwelt zu Odysseus, dass es besser ist, ein bescheidener Hirte im Reich der Sonne und im Land der Lebenden zu sein, als ein König im Reich der Nacht, dem Land der Toten?«
Die Frau sah ihn mit ihren grauen Augen, über denen ein Schleier von Traurigkeit lag, an. »Auch wenn das stimmt, was du sagst, und die Götter ihn wirklich geschlagen haben, so wird er dennoch immer ein Spartaner bleiben, er ist Sohn und Enkel von Kriegern. Er wird nie einer von uns. Aber wenn du willst, werde ich ihn ernähren und großziehen.«
»Natürlich will ich das, beim Herakles! Wir sind arm und das Schicksal hat uns zu Sklaven gemacht, aber wir können ihm wenigstens das Leben schenken, das sie ihm nehmen wollten. Außerdem kann er uns bei der Arbeit helfen. Ich werde alt und du musst die schwere Arbeit fast allein machen. Du hast dich immer danach gesehnt, Kinder zu haben, und hast deinen Mann verloren, ehe du empfangen konntest. Dieser Kleine braucht dich und kann dir das Mutterglück schenken, das du nie gekannt hast.«
»Aber wenn sein Fuß verletzt ist«, sagte die Frau kopfschüttelnd, »wird er vielleicht nie laufen können und unsere Herren haben uns eine zusätzliche Last aufgebürdet … Ist es das, was du willst?«
»Beim Herakles! Der Kleine wird laufen und stärker und wendiger sein als andere Jungen. Weißt du denn nicht, dass eine Behinderung die Gliedmaßen stabiler, die Augen schärfer und den Verstand schneller macht? Du weißt, was zu tun ist, Tochter: Sorge für ihn und lass es ihm an nichts fehlen, gib ihm frische Kuhmilch, und wenn du kannst, stehle dem Herrn Honig, ohne dass er es merkt. Der alte Kratippos ist noch verblödeter als ich und sein Sohn hat nur noch die Schenkel seiner schönen Frau im Kopf, die er nur einmal die Woche sehen kann, wenn sie ihn aus der Kaserne rauslassen. Keiner in der Familie kümmert sich um die Felder und die Herden. Sie werden einen Esser mehr nicht bemerken.«
Die Frau nahm nun einen Korb, legte ein paar Lammfelle und eine Wolldecke hinein und bettete dann das Kind darauf, das, erschöpft und gesättigt von dem Mahl, fast augenblicklich einschlief. Der Alte sah es mitleidig an, dann ging er zu seiner Herde, wo der Hund ihn freudig begrüßte und kläffend an ihm hochsprang.
»Bleib bei den Schafen! Verflucht noch mal, du sollst bei den Schafen bleiben, nicht bei mir! Kleiner unfähiger Bastard . Bin ich etwa ein Schaf? Nein, ich bin kein Schaf, ich bin der Alte Kritoloas . der alte Verrückte . genau der bin ich … Geh weg, hab’ ich dir gesagt! So ist es gut, genau, bring die Tiere, die da unten auf den Abhang zulaufen, hierher! Mensch, eine durchgedrehte Ziege würde mir bessere Dienste erweisen als du!« Während er so vor sich hin murrte, war der Alte an den Rand der Wiese gelangt, auf der die Herde weidete. Vor seinen Augen tauchte ganz deutlich das Tal auf, durch das sich das silberne Band des Eurotas schlängelte. In der Mitte schimmerte die Stadt. So weit das Auge reichte, erstreckten sich niedrige Häuser mit Dachterrassen und über ihnen erhob sich auf der einen Seite das gewaltige Bauwerk der Akropolis, auf der anderen die mit roten Ziegeln gedeckten Dächer des Artemis-Orthia-Tempels. Rechts neben der Stadt konnte man die kleine staubige Straße erkennen, die sich in der Ferne in Richtung Meer verlor.
Der Alte betrachtete nachdenklich den zauberhaften Ausblick, dessen leuchtende Farben in der klaren Luft des heranbrechenden Frühlings noch mehr strahlten, doch er war mit dem Herzen woanders. Seine Gedanken trieben ab zu einer weit zurückliegenden Zeit, in der sein Volk noch frei und mächtig war und das fruchtbare, getreidereiche Tal bewohnte. Die Zeit, von der die Geschichten der Alten erzählten, in der die hochmütigen Herrscher noch nicht gekommen waren, um sein stolzes und unglückseliges Volk zu unterjochen. Die Meeresbrise zerzauste zärtlich das schneeweiße Haar des Alten, seine Augen schienen in der Ferne nach Bildern zu suchen: Die Totenstadt der Heloten auf dem Berge Ithome, die verlorenen Gräber der Könige seines Volkes, der mit Füßen getretene Stolz . Nun saßen die Götter in der erhabenen Stadt der Herrscher . Wann würde die Zeit der Ehre und der Freiheit zurückkehren? Nur das Blöken der Schafe, die Stimmen der Sklaven drangen an sein Ohr. Seine Gedanken kehrten zu dem Kleinen zurück, der gerade erst dem sicheren Tod entgangen war. Wer war seine Familie, wer die Mutter mit dem Herzen aus Stein, die ihn verstoßen hatte, wer der Vater, der ihn den wilden Tieren im Wald ausgeliefert hatte? War das die Stärke der Spartaner? Und das Mitgefühl, das ihn gerührt hatte, war das die Schwäche der Sklaven, der Besiegten?
»Vielleicht«, dachte er, »zeichnen die Götter für jedes Volk, genau so wie für jeden Menschen, das Schicksal vor, und den vorbestimmten Weg gilt es zu beschreiten, ohne zurückzublicken. Sie waren Menschen, arme Sterbliche, Krankheiten und Unglück aufgeliefert, so wie Blätter dem Wind ausgeliefert sind . Doch da gibt es auch noch die Stimme des Herzens und des Geistes, auf sie sollte man hören … Ja, der kleine Krüppel wird ein Mann werden, der vielleicht leiden und ganz sicher sterben wird, aber nicht schon zu Beginn des Lebens .«
Der Alte spürte in diesem Moment, dass er den Lauf eines bereits vorgezeichneten Schicksals verändert hatte. Der Kleine würde erwachsen werden und er würde ihm alles beibringen, was ein Mann wissen musste, um den Lebensweg zu beschreiten. Und mehr noch: Er würde ihm alles zeigen, was ein Mann wissen musste, um den Lauf des Schicksals eines Sklaven . Einen Namen, er musste einen Namen bekommen. Gewiss hatten die Eltern schon einen Namen für ihn gewählt, den Namen eines Mannes, der nur Vernichtung kannte. Doch was für einen Namen konnte ein Sklave einem anderen Sklaven geben? Einen alten Namen seines Volkes? Nein, er war kein Teil dieses Volkes und die Zeichen des Blutes löschte man nicht so einfach aus, doch er war noch nicht einmal mehr ein Sohn Spartas. Die Stadt hatte ihn zurückgewiesen. Er dachte an die unzähligen Geschichten, um die die Kinder ihn oft an Winterabenden baten: ». In einer weit, weit zurückliegenden Zeit, als die Helden noch durch die Straßen der Welt liefen, hatte der Gott Hephaistos einen Riesen erschaffen, der durch und durch aus Bronze war und der den in einer tiefen Grotte auf der Insel Lemnos versteckten Schatz der Götter bewachen sollte. Der Riese lief und bewegte sich so, als wäre er lebendig, denn der Gott hatte ein Zaubermittel in seinen großen hohlen Körper gegossen, das ihn zum Leben erweckte. Unter der Ferse des Riesen, sodass es niemand sehen konnte, befand sich ein Verschluss, damit die Flüssigkeit nicht auslaufen konnte. Der linke Fuß also war der schwache Punkt des Riesen, der sich Talos nannte.«
Der Alte kniff die Augen zusammen und sagte laut: »Der Name soll ihn an sein Unglück erinnern und Kraft und Zorn in ihm lebendig halten. Er wird Talos heißen.« Er erhob sich, auf seine Weidenrute gestützt, die die großen, schwieligen Hände im Laufe der Jahre blank gerieben hatten, und ging zu seiner Herde zurück. Die Sonne begann über dem Meer allmählich zu sinken und von den vereinzelten Häusern in den Bergen erhoben sich zarte Rauchsäulen: Die Frauen bereiteten die mageren Abendessen für ihre Männer zu, die bald von der Arbeit zurückkehren würden. Es war Zeit, die Herde zusammenzutreiben. Der Alte stieß einen Pfiff aus und der Hund begann, um die Schafe herumzulaufen, die blökend Gruppen bildeten; die Lämmchen, die über die Wiese sprangen, suchten unter dem Bauch der Mutter Schutz, während der Widder sich an die Spitze der Herde begab, um sie in den Stall zu führen. Nachdem die Tiere eingeschlossen und die Männchen von den Weibchen getrennt waren, begann Kritolaos mit dem Melken und sammelte die dampfende Milch in einem Krug. Davon nahm er eine Schale voll ab und trug sie in die Hütte. »Hier«, sagte er, als er eintrat, »hier ist frische Milch für unseren kleinen Talos.«
»Talos?«, fragte die Frau überrascht.
»Ja, Talos, das ist der Name, den ich für ihn ausgesucht habe, so habe ich entschieden und so muss es sein. Aber sag mir lieber, wie es ihm geht. Lass sehen … Oh, wie’s aussieht, geht es ihm schon viel besser, stimmt’s?«
»Er hat fast den ganzen Tag geschlafen, er ist eben erst aufgewacht. Das arme kleine Ding muss wirklich erschöpft gewesen sein, der Kleine muss geweint haben, bis ihm die Puste ausging, er kriegt jetzt nicht mal mehr den kleinsten Ton raus . Wenn er nicht auch noch stumm ist.«
»Ach was stumm! Die Götter schlagen niemals ein und denselben Menschen zweimal . So sagt man zumindest.« Und genau in dem Augenblick ließ der Kleine ein Stöhnen verlauten.
»Siehst du? Der ist alles andere als stumm, im Gegenteil, ich bin sicher, dass uns der kleine Floh bald nachts aus dem Schlaf holt mit seinem Geschrei.« Während er das sagte, näherte er sich dem Weidenkörbchen, in dem das Kind lag, und streckte eine Hand aus, um es zu streicheln. Sofort griff der Kleine nach dem knorrigen Zeigefinger des Hirten und drückte ihn mit aller Kraft.
»Beim Herakles! Mit den Beinen können wir kaum laufen, aber starke Hände haben wir, he? Weiter so, weiter so, drück’ fest zu, Kleiner! Lass dir nichts aus den Händen nehmen, was dir gehört …«
Durch den Türspalt drangen die letzten Sonnenstrahlen herein, legten sich auf das weiße Haar des Alten und ließen es golden glänzen, verwandelten die Haut des Kleinen in Bernstein und Alabaster und glitten über die rußgeschwärzte Einrichtung der Hütte. Der Alte nahm das Kind auf den Schoß und setzte sich auf eine Bank, nahm ein dunkles Brot und ein Stück Käse vom Tisch und machte sich daran, sein Abendbrot zu verzehren. Vom Stall drang das Blöken der Lämmer herüber und vom Rand der Lichtung das tiefe Seufzen des Waldes und der herzzerreißende Gesang der Nachtigall.
Es war die Stunde der langen Schatten, die Stunde, in denen die Götter die Herzen der Menschen von ihrem Leid erlösen und ihnen von ihren rosaroten Wolken aus den alles besänftigenden Schlaf schicken . Doch dort unten, im Tal, war das stolze Haus der Kleomeniden bereits von den dunklen, kalten Schatten der Furcht einflößenden Berge verschlungen. Von ihren bewaldeten Höhen gingen Schrecken und Leid aus. Die stolze Frau des Aristarchos lag in ihrem Ehebett und starrte schmerzerfüllt die Balken an der Decke an, in ihrem versteinerten Herzen heulten die Wölfe des Taygetos, in ihren Ohren tönte das Mahlen der stählernen Kiefer . Die gelben Augen leuchteten in der Dunkelheit. Weder die kräftigen Arme noch die starke Brust des Ehemannes vermochten sie zu trösten, noch die süßen Tränen, die das Herz von Leid befreien .
Das lahme Bein hinterherziehend und den Weidenstock fest in der linken Hand, trieb Talos seine Herde die blühenden Ufer des Eurotas entlang. Um ihn herum schaukelte ein Meer von Mohnblumen sanft im Wind, in der Luft breitete sich plötzlich der Geruch von Rosmarin und Thymian aus. Schweißgebadet blieb der Junge stehen, um sich in dem Wasser des Flusses zu erfrischen, während die Schafe, erschöpft von der Hitze, sich eines nach dem anderen unter einer Ulme ausstreckten, deren spärliches, sonnenverbranntes Laub ein wenig Schatten spendete. Der Hund kauerte sich neben dem kleinen Hirten zusammen. Er wedelte mit dem Schwanz und winselte unterwürfig, bis sein junger Herr sein mit Hafer und Klee gespicktes Fell streichelte, worauf er sich noch näher an ihn herankuschelte und begann, seinen verkümmerten Fuß zu lecken, als wäre er eine schmerzende Wunde. Der Junge sah das Tier fröhlich an und zerzauste von Zeit zu Zeit sein dichtes Fell, doch sein Blick trübte sich plötzlich, als er sich auf die in der Ferne liegende Stadt richtete. Im Tal erhob sich die von der Sonne angestrahlte Akropolis, verschwommen wie eine beunruhigende Fata Morgana in der flirrenden Hitze und dem ohrenbetäubenden Zirpen der Zikaden.
Talos zog aus dem Quersack, den er sich umgehängt hatte, die Flöte aus Rohr, die Kritolaos ihm geschenkt hatte, und begann zu spielen: Eine leichte, frische Melodie breitete sich über dem Klatschmohnfeld aus, verband sich mit dem Gurgeln des Flusses und dem Gesang der Lerchen, die sich um ihn herum zu Dutzenden erhoben und geblendet auf die Feuerkugel der Sonne zuflogen, um dann wieder wie vom Blitz getroffen zwischen die Stoppeln und das gelb gewordene Gras herabzustürzen. Dann wurde der Klang der Flöte auf einmal dunkel, wie der Klang eines Baches, der einer finsteren Grotte, den Tiefen eines Berges entspringt. Die Seele des kleinen Hirten vibrierte kräftig in der Musik seines Instrumentes. Von Zeit zu Zeit legte er die Flöte beiseite und sah zu der staubigen Straße, die aus dem Norden kam, als warte er auf etwas.
»Ich habe gestern die Hirten der Hochebenen gesehen«, hatte der Alte gesagt. »Sie sagen, dass die Krieger zurückkehren, und mit ihnen viele der unseren, die dem Heer als
Träger und Maultiertreiber dienen.« Und Talos wollte sie sehen. Zum ersten Mal war er mit der Herde von den Bergen ins Tal hinabgestiegen, um die Krieger zu sehen, von denen so viel gesprochen wurde. Voller Zorn, voller Verachtung, voller Bewunderung und voller Angst …
Krios hob plötzlich seine Schnauze, um in der nunmehr fast stehenden Luft eine Witterung aufzunehmen, dann knurrte er dumpf.
»Was gibt’s, Krios?«, fragte der kleine Hirte und war mit einem Satz auf den Beinen. »Schon gut, schon gut, es war nichts«, versuchte der das Tier zu beruhigen, das sich wieder zusammenkauerte. Der Junge lauschte eine Weile, bis er meinte, in der Ferne etwas zu hören, den Klang einer Flöte wie die seine, und doch ganz anders. Und der Flötenklang war von einem rhythmischen Geräusch begleitet, das dunkel war wie der Donner, wenn er sich langsam zum Meer hin entfernt. Nach einer Weile vernahm Talos ganz deutlich unzählige Schritte auf der Erde, wie damals, als die messinischen Hirten mit ihren Rinderherden vorübergezogen waren. Und plötzlich sah er sie hinter dem Hügel zu seiner Linken auftauchen: Sie waren es, die Krieger!
Ihre verschwommenen Silhouetten wirkten im Mittagsdunst Furcht einflößend. Die Geräusche, die er anfangs gehört hatte, kamen von einer Gruppe von Männern, die am Anfang der Kolonne marschierten und Flöte spielten, und von dem rhythmischen Trommeln der Tambours und dem metallischen Klang der Pauken begleitet wurden.
Es war eine seltsame Musik, monoton, bedrängend, aus starren und vibrierenden Tönen, und doch versetzte sie das Herz des Jungen in ungekannten Aufruhr, eine nie zuvor empfundene Erregung, die sein Herz schneller schlagen ließ. Hinter ihnen marschierten die Hopliten in eng anliegenden, bronzenen Beinröhren und Brustharnisch, das Gesicht unter der Sturmhaube verborgen, die bei den Anführern mit rotem und schwarzem Helmschmuck verziert war. Am linken Arm trugen sie den großen runden Schild, auf dem sich Fantasietiere und Monster tummelten, die Talos aus Kritolaos’ Geschichten kannte. Die Kolonne marschierte im Gleichschritt und wirbelte einen dichten Staub auf, der sich auf Helmschmuck, Standarten und auf die Schultern der Krieger legte.
Als die Ersten näher kamen, bekam er es mit der Angst und wollte am liebsten fliehen, doch eine rätselhafte Kraft aus der Tiefe seines Herzens schien ihn festzunageln. Die Ersten gingen so nah an ihm vorüber, dass er ihre Lanzen, auf die sie sich beim Laufen stützten, hätte berühren können, wenn er seine Hand ausgestreckt hätte. Er sah ihnen nacheinander fest ins Gesicht, um herauszufinden, zu begreifen, was man ihm über sie erzählt hatte. Hinter den grotesken Masken der Helme sah er weit aufgerissene Augen, die von dem Schweiß brannten und von der gleißenden Sonne geblendet waren. Er sah staubverschmutzte Bärte, spürte den säuerlichen und beißenden Geruch von Schweiß und Blut in der Nase. Die Krieger hatten Wunden an Schultern und Armen, dunkle Blutkrusten an den Händen, an den schweißglänzenden Schenkeln, an den Spitzen ihrer Lanzen; sie liefen immer weiter, ungeachtet der Fliegen, die sich gierig auf ihre geschundenen Glieder setzten. Völlig außer sich, den Mund weit aufgesperrt, betrachtete Talos diese Gestalten, die in einem nicht enden wollenden Zug an ihm vorüberliefen, im Rhythmus dieser Musik, die sich immer mehr entfernte und immer unwirklicher wurde, wie in einem nächtlichen Albtraum.
Das Gefühl, dass plötzlich jemand hinter ihm stand, massig und Furcht einflößend, ließ ihn zusammenzucken. Er drehte sich um. Vor ihm tauchte eine kraftvolle Brust in einem bemalten Harnisch auf, zwei behaarte Arme, narbenübersät wie die Stämme von Steineichen, an denen Bären ihre Krallen wetzen, ein finsteres Gesicht, umrahmt
von einem rabenschwarzen Bart, in dem die ersten weißen Haare sprossen; eine stählerne Hand, die den Griff der langen Lanze aus Eschenholz umklammerte . ein Paar Augen, so schwarz wie die Nacht, die willensstark und gequält aufblitzten.
»Halt deinen Hund fest, Junge, oder willst du, dass eine Lanze ihm die Knochen bricht? Die Krieger sind müde und gereizt. Also zieh ihn zurück und verschwinde von hier, das ist nicht der richtige Ort für dich.«
Talos schüttelte sich verwundert, als erwache er aus einem Traum, rief den Hund zu sich und humpelte, auf den Hirtenstab gestützt, davon. Doch nach einem kurzen Stück blieb er stehen und drehte sich langsam um. Der Krieger stand reglos und mit verwirrtem Gesichtsausdruck da und sah ihm mit rasendem Schmerz nach; sein Blick war auf den deformierten Fuß gerichtet. Er biss sich auf die Unterlippe und bebte am ganzen Körper, dass die Bronzeschenkel wie Espenlaub zitterten. Nach einer Weile zog er sich den großen Helm ins Gesicht, packte den Schild, auf dem ein Drache abgebildet war, und schloss sich dem Ende der Kolonne an, die schon fast hinter einer Wegbiegung verschwunden war. Die schreckliche Anspannung, die ihn bis zu diesem Moment nicht losgelassen hatte, fiel plötzlich von ihm ab, und Talos spürte, wie warme Tränen aus seinem Herzen aufstiegen, seine Augen füllten und seine Wangen hinabliefen, bis seine eingefallene, knochige Brust ganz nass war. Da hörte er eine ängstlich zitternde Stimme, die von dem Pfad kam, der vom Berg herabführte. Es war der alte Kritolaos, der ihn rief, während er ihm entgegen kletterte, so gut sein Alter und seine wackligen Beine es zuließen.
»Talos, mein Sohn!«, sagte der Alte erschrocken und umarmte den Jungen. »Warum hast du das getan, warum bist du hierher gekommen? Weißt du denn nicht, dass das kein Ort für dich ist? Du darfst nie wieder hierher kommen, das musst du mir versprechen, nie wieder.« Gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg, während der Hund die Schafe zusammentrieb und den Berg hinaufführte. Weit unten, im Tal, marschierte der lange Zug in die Stadt ein, der nun aussah wie eine Schlange, die sich in ihren Bau zurückzieht.
In jener Nacht lag Talos auf seinem Lager lange wach. Er konnte diesen durchdringenden und schmerzerfüllten Blick nicht vergessen, dieses unbestimmte, rätselhafte Leid, die Hand, die sich um die Lanze klammerte, als wollte sie sie zerquetschen. Wer war der Krieger mit dem Drachen auf dem Schild? Warum hatte er ihn so angesehen?
In seinem Kopf spielte nun wieder diese seltsame Musik, die so viele Gefühle in seinem Herzen hervorgerufen hatte. Doch schließlich siegte die späte Stunde über seine Lider. Die Augen des Kriegers verschwammen im Dunkeln, die Musik wurde langsamer, bis sie ganz sanft wurde, wie der Gesang einer Frau, der sein müdes Herz liebkoste, und endlich senkte sich der Schlaf über sein dunkles Haupt.
»Hör mir gut zu, Junge«, sagte der Alte und blickte Talos durchdringend an, »du weißt sehr wohl, dass ein Vogel, der sich den Flügel bricht, nicht mehr fliegen kann.« Talos saß neben Krios auf dem Boden und lauschte ihm. »Aber bei Menschen ist das anders. Du bist in der Tat recht geschickt und flink, obwohl dein Fuß lahm ist. Hör zu, ich möchte, dass du stärker und sicherer wirst als die anderen Jungen. Der Stock, auf den du dich stützt, muss für dich zu einem dritten Bein werden und ich werde dich lehren, ihn zu benutzen. Es wird dir merkwürdig erscheinen, aber um zu lernen, was ich dir beibringen will, musst du deinen gesamten Willen aufbringen. Es geht nicht nur darum, dich beim Laufen auf den Stock zu stützen, wie du es bisher getan hast. Der Stock wird zu einer Achse, um die du deinen Körper bewegst und auf die du dich mit einem oder mit beiden Armen stützt, je nachdem.«
»Warum sagst du mir das, Kritolaos? Ich bewege mich doch schon mühelos. Ich gehe schnell, ich kann die Lämmchen einfangen, die von der Herde weglaufen, und wenn wir zu den Weiden oben auf dem Berg wandern, habe ich mehr Ausdauer als Krios, obwohl er vier Pfoten hat!«
»Das stimmt, Junge, aber mir ist aufgefallen, dass dein Körper sich biegt wie grünes Holz, das zu lange in der Sonne liegt.« Talos’ Blick verfinsterte sich. »Und das will ich nicht. Wenn wir nichts dagegen unternehmen, wirst du immer unbeweglicher und wenn deine Knochen erst einmal hart und steif sind, kannst du dich nicht mehr auf deine Kräfte verlassen. Talos«, fuhr der Alte fort, »dein Fuß wurde verletzt, als die Hebamme dich aus dem Leib deiner Mutter zog. Dein Vater Hylas wurde in den Bergen von einem Bären verletzt und starb in meinen Armen. Bevor er die Augen für immer schloss, musste ich ihm versprechen, dass ich einen Mann aus dir machen werde. Sicher, ich kann durchaus behaupten, dass es mir schon gelungen ist, denn deine Seele ist rein, dein Verstand scharf, dein Herz groß, aber ich möchte, dass du stark wirst, sehr stark, und so geschickt, dass nichts für dich unmöglich ist.« Der Alte schwieg einen Moment und kniff die Augen zusammen, als suche er in seinem alten Herzen nach weiteren Worten. Dann legte er seine Hand auf die Schulter des Jungen und fuhr langsam und bedächtig fort:
»Talos, antworte mir ganz ehrlich . Bist du trotz meines Verbotes ins Tal zurückgekehrt, um den Kriegern zuzusehen?« Der Junge senkte den Blick. »Ich verstehe«, fuhr der Alte fort. »Du bist dorthin zurückgekehrt. Das habe ich mir gedacht und ich glaube auch den Grund zu kennen.«
»Wenn es so ist«, unterbrach der Junge trotzig, »dann nenn’ ihn mir, denn ich kenne ihn nicht.«
»Du bist dorthin zurückgekehrt, weil dich ihre Stärke und ihre Macht fasziniert. Vielleicht hast du doch nicht nur das Herz eines einfachen Hirten .«
»Machst du dich lustig über mich, Kritolaos? Was sollten wir denn sonst sein, wenn nicht Sklaven und Hirten der Herden anderer?«
»Das ist nicht wahr!«, rief der Alte. In seinen Augen flammte für einen Augenblick eine stolze und edle Kraft auf und seine Hand ergriff wie die Klaue eines alten Löwen das Handgelenk des Jungen, der ihn sprachlos ansah. Kritolaos zog langsam die Hand zurück und senkte den Blick wie jemand, der sich zum Gehorsam zwingen muss. »Das ist nicht wahr«, fuhr er etwas ruhiger fort, »unser Volk war nicht immer ein Volk von Sklaven. Es gab eine Zeit, in der wir über die Berge und Täler, die sich bis zum westlichen Meer erstrecken, herrschten, und über die
Ebene bis zum Kap Tänaron, in der wir feurige Pferde züchteten. Nestor und Antilochos, die Herrscher von Pylos und Ithome, kämpften an der Seite Agamemnons vor den Mauern Trojas. Als die Dorier in dieses Land eindrangen, kämpfte unser Volk mit dem Mut der Verzweifelten, ehe es sich ergeben musste. In unseren Adern fließt das Blut von Kriegern: von König Aristomenos und König Aristodemos .«
»Sie sind tot!«, platzte der Junge hervor. »Tot! Und ebenso die Krieger, von denen du sprichst. Und wir sind Sklaven, für immer, verstehst du? Sklaven!« Kritolaos sah ihn mit verwundertem und schmerzerfülltem Blick an. »Sklaven . «, wiederholte Talos und senkte erschrocken seine Stimme: ». Sklaven.«
Er griff nach der Hand des Alten, der verwirrt schwieg. »Wie viele Jahre ist das, von dem du sprichst, her? Der Ruhm deiner Könige ist vergessen. Ich weiß, was du denkst, ich weiß, dass dich meine Worte überraschen, weil ich deinen Geschichten immer mit offenem Mund gelauscht habe. Es sind sehr schöne Geschichten. Aber ich bin kein Kind mehr und meine Träume schmerzen mein Herz.« Ein langes Schweigen herrschte zwischen den beiden, lediglich unterbrochen von dem Blöken der Herde, die in ihrem Gehege eingepfercht war. Es wurde dunkel und der Alte stand auf und lauschte.
»Was ist los?«, fragte Talos.
»Hörst du sie? Das sind Wölfe. So haben sie auch in jener Nacht geheult, in der . du zur Welt kamst. Und es ist noch keine Paarungszeit.«
»Es ist fast dunkel«, sagte Talos. »Gehen wir wieder rein.«
»Nein, warte. Die Götter setzen manchmal Zeichen. Es ist Zeit, dass du es erfährst. Geh rein, hole meinen Mantel und eine Fackel und folge mir.«
Kritolaos ging auf den Wald zu, der sich bedrohlich am Rand der Lichtung erhob. Dort angelangt schlug der Alte, gefolgt von dem jungen Mann, der stumm und nachdenklich voranschritt, einen Pfad ein, der sich mitten durch die Bäume schlängelte. Nach fast einer Stunde schweigenden Fußmarsches waren die beiden an einem Felsvorsprung angelangt, der dicht mit Moos bewachsen war. Zu Füßen der Klippe lag ein Haufen Steine, die offenbar vor langer Zeit von dem Felsvorsprung abgebrochen und herabgestürzt waren.
»Schiebe die Steine zur Seite«, sagte Kritolaos. »Ich schaffe das nicht mehr.« Talos gehorchte, inzwischen selbst ungeduldig und neugierig, was der Alte ihm wohl für ein Geheimnis offenbaren wolle. Er machte sich eifrig an die Arbeit, jedoch nicht ohne Schwierigkeiten. Die von glitschigen Algen und Moos bedeckten Steine rutschten ihm zwischen den Händen fort, doch der junge Mann machte ohne Rast weiter, bis man im Lichtschein der Fackel, die der Alte in der Hand hielt, zu Füßen des Felsens undeutlich den Eingang zu einer Höhle erkennen konnte. Als Talos die Steine beiseite geschoben hatte, tauchte endlich ein Gang auf, der unter die Erde führte; an seinem Ende konnte man vage ein paar von grauem Schimmel bedeckte Stufen erkennen.
»Gehen wir rein«, sagte Kritolaos und beugte sich zum Eingang des Stollens herab. »Hilf mir«, fügte er dann hinzu, »ich will mir in diesem Schlauch nicht die Beine brechen.«
Talos ging als Erster hinunter, dann reichte er Kritolaos die Hand, der sich auf den Jungen stützte, um nicht auszurutschen. Als sie die groben, in den Fels geschlagenen Stufen hinuntergestiegen waren, fanden die zwei sich in einer kleinen Grotte wieder, von deren Decke, die kaum höher war als sie selbst, an mehreren Stellen Wasser tropfte. Die Höhle schien leer, bis Kritolaos mit der Fackel in eine Ecke leuchtete, in der eine große, mit Bronzebeschlägen verstärkte und vollkommen dreckverkrustete Holztruhe sichtbar wurde. Der Deckel war an den Längsseiten mit Pech versiegelt. Der Alte öffnete das Schloss und kratzte mit der Messerspitze das Pech aus den Ritzen.
»Öffne den Deckel«, sagte er schließlich zu Talos, der ihm wortlos zugesehen hatte.
»Was ist in der Truhe?«, fragte der Junge. »Ist da vielleicht ein Schatz drin, den du bis zu diesem Moment versteckt hast?«
»Nein, Talos, es sind keine Reichtümer darin, sondern Dinge, die für mich sehr viel wertvoller sind als Gold und Silber. Öffne und du wirst sehen.«
Der junge Mann streckte die Hand aus: »Gib mir das Messer.« Der Alte gab es ihm; Talos machte sich daran, den Deckel der Truhe aufzustemmen, der sich nur ganz allmählich von dem Hohlkörper zu lösen begann, mit dem er zusammengeschweißt schien. Als das Messer endlich den gesamten Rand entlanggleiten konnte, erhob sich der Junge; er blickte seinen Gefährten an, der wohl wollend nickte, dann hob er mit aller Kraft den Deckel hoch und lehnte ihn an die Wand der Grotte. Dann nahm er Kritolaos die Fackel aus der Hand und leuchtete in das Innere der Truhe.
Was nun vor seinen Augen auftauchte, verschlug ihm die Sprache: In der Truhe lag ein glänzender Helm aus Bronze, der mit in das Metall eingelassenen Wolfszähnen verziert war, ein schwerer Harnisch, ebenfalls aus Bronze und mit Verzierungen aus Zinn und Silber, dann ein Schwert mit einer Griffstange aus Bernstein, das in einer Scheide steckte, und schließlich mit Reliefs versehene Beinharnische und Beinröhren und einen großen Schild mit einem Wolfskopf, all das auf wunderbare Weise erhalten.
»Das ist unglaublich«, sagte Talos an den Alten gewandt und wagte nicht, die Hand nach diesen Gegenständen auszustrecken. »Wie ist es möglich . diese Truhe ist seit undenklichen Zeiten verschlossen, doch diese Rüstung ist unversehrt.«
»Sieh genau hin . Fass sie an«, sagte der Alte.
Der Junge streckte die Hand aus und berührte die glänzenden Waffen: »Fett«, flüsterte er, »sie sind mit Fett eingerieben. Warst du das, Alter?«
»Ja, ich war das, und viele andere vor mir, viele Jahre lang. Auch dieser Sack wurde in Fett getränkt, ehe er das letzte Mal eingeschlossen wurde. Öffne ihn«, sagte der Alte und zeigte auf ein dunkles Bündel, das Talos, geblendet von der fantastischen Rüstung, nicht bemerkt hatte. Seine Hände öffneten fieberhaft den steifen und zerknautschten Sack, griffen hinein und holten einen riesigen Bogen hervor, der von einer dicken Schicht Hammelfett gedeckt war.
»Ausgezeichnet«, sagte Kritolaos und säuberte ihn langsam mit der Rückseite des Messers. »Ausgezeichnet . Er ist noch in einem hervorragenden Zustand: Er wird auch wieder zielen können, wenn er von einer geschickten Hand geführt wird«, seine zusammengekniffenen Augen leuchteten, ». von einer geschickten Hand .«, wiederholte er und drehte sich zu dem Jungen, wobei seine Augen entschlossen aufblitzten: »Von deiner Hand, Talos!«
Der hagere, knochige und mit blauen Adern übersäte Arm streckte dem Jungen den riesigen Bogen entgegen, der ihn anstarrte, jedoch nicht wagte, ihn anzufassen. »Nimm ihn, Junge, er gehört dir!« Der junge Mann gab sich einen Ruck und nahm die fantastische Waffe in die Hände. Sie war vollkommen aus leuchtendem und blank poliertem Horn, lediglich der Griff war mit feinem Blattsilber besetzt, auf dem ebenfalls ein Wolfskopf eingraviert war. Eine tiefe Einkerbung auf der rechten Seite ließ darauf schließen, dass viele Pfeile von dieser Waffe abgeschossen worden waren, und zwar mit unglaublicher Kraft. Talos war überwältigt, tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Von diesem alten, Furcht einflößenden Gegenstand schien ein seltsames Fluidum auszugehen, das durch seinen Körper strömte und ihn zittern ließ wie Espenlaub.
»Von wem ist dieser Bogen, Kritolaos? Von wem sind diese Waffen? Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen, nicht einmal die Krieger unten im Tal hatten so etwas. Dieser Bogen ist nicht aus Holz …«
»Stimmt, er ist aus Horn.«
»Aber es gibt keine Tiere mit so langen Hörnern.«
»Das ist wahr, Talos, es gibt sie nicht, zumindest nicht in unserem Land. Das Tier, von dem sie stammen, lief vor mehr als zehn Generationen durch die Steppen des fernen Asiens. Dieser Bogen war das Geschenk eines Herrn jener Länder …«
»Wem hat er gehört?«
Der Alte antwortete feierlich: »Dieser Bogen gehörte König Aristodemos, dem Herrn von Pylos und Ithome, Herrscher der Messenier, Erbe des Nestor, Hirte der Völker.«
Er senkte kurz sein weißhaariges Haupt, dann blickte er dem Jungen, der ihm mit weit aufgerissenen Augen und halbgeöffnetem Mund gegenüberstand, erneut ins Gesicht:
»Talos, mein Junge, ich habe so lange auf diesen Augenblick gewartet .«
»Was für einen Augenblick, Kritolaos? Wovon redest du? Ich verstehe nicht, ich bin so verwirrt.«
»Auf den Augenblick, in dem ich dir den Bogen des Königs überreichen werde«, antwortete der Alte mit fester Stimme. »Ich bin der letzte Wächter der Waffen, die seit Generationen eifersüchtig gehütet werden . sie sind das Symbol und der Stolz unseres Volkes, die letzte Erinnerung an unsere Freiheit. Die Zeit ist gekommen, dich in dieses schreckliche und kostbare Geheimnis einzuweihen. Ich bin alt und meine Tage sind gezählt.«
Der Junge hielt den Bogen aus Horn fest in seinen Händen und betrachtete mit leuchtenden Augen die Rüstung in der Truhe; plötzlich hob er den Blick und sah Kritolaos an: »Aber was soll ich tun? Ich kann doch gar nichts, ich kenne nicht einmal unser Volk. Die Waffen sind zum Kämpfen gemacht, nicht wahr? Ist es nicht so, Kritolaos? Ich bin lahm und nur ein Junge. Schließe die Truhe wieder. Ich kann nicht . Ich weiß nicht . Nein«, fuhr er mit einem Mal entschlossen fort, »nein, du hättest mir die Waffen nicht zeigen dürfen, es ist sinnlos . niemand wird sie je tragen dürfen.«
Der Alte legte eine Hand auf seine Schulter: »Beruhige dich, Talos, beruhige dich, es gibt viele Dinge, die du nicht weißt und die du lernen musst; es braucht noch etwas Zeit, aber eines Tages wird jemand diese Rüstung tragen und mit ihm wird König Aristodemos zu seinem Volk zurückkehren, um ihm seine verlorene Freiheit zurückzubringen: Die Götter kennen schon seinen Namen . Du wirst nun diesen Bogen nehmen und ich werde dich lehren, ihn zu benutzen, damit du dich verteidigen und mit deinem Geheimnis leben kannst, wenn ich einmal nicht mehr bin. Er wird dir ein treuer und sicherer Freund sein, er wird dich vor Wölfen und Bären beschützen . Und auch vor den Menschen, Talos, auch vor den Menschen.«
»Welche Gefahr droht mir von den Menschen, Kritolaos? Ich habe niemandem etwas getan. Wer sollte schon einem lahmen Hirten nach dem Leben trachten?«, fragte er traurig.
»Es gibt Dinge, die ich dir noch nicht sagen kann, Junge … Hab’ Geduld, eines Tages wirst du es erfahren. Aber jetzt schließe die Truhe, es ist Zeit zu gehen.«
Talos legte den Bogen nieder und näherte sich der Truhe, um den Deckel herunterzulassen. Er warf noch einmal einen Blick auf die Waffen, die im zitternden Licht der nunmehr fast verlöschenden Fackel unheimlich leuchteten, dann streckte er plötzlich eine Hand zur Griffstange des Schwertes aus.
»Nicht, Talos! Nein!«, schrie der Alte, dass Talos zusammenzuckte. »Berühre diese Waffe bloß nicht!«
»Hast du mich erschreckt«, sagte Talos beleidigt.
»Warum darf ich sie nicht anfassen? Im Grunde ist das doch nur ein Schwert, auch wenn es einem König gehörte.«
»Einem großen König, Talos, aber das ist es nicht«, fuhr Kritolaos feierlich fort und schloss die Truhe eilig selbst. »Diese Waffe ist verflucht!«
»Ach, hör auf mit deinen dummen Märchen, Alter, du bist ja schlimmer als ein altes Weib. Du willst ja nur die Leute erschrecken.«
»Das ist kein Scherz, Talos«, gab Kritolaos energisch zurück. »Du kannst es nicht wissen. Mit diesem Schwert opferte König Aristodemos seine eigene Tochter den Göttern der Unterwelt, um den Sieg über seine Feinde und Freiheit für sein Volk zu gewinnen. Doch es war unnütz … Niemand hat je wieder gewagt, das Schwert in die Hand zu nehmen, und nicht einmal du darfst es.«
Talos schwieg eisig; er nahm dem Alten die Fackel aus der Hand und strich mit ihr am Rand der Truhe entlang, um das Pech zu schmelzen und sie wieder zu versiegeln. Als das vollbracht war, verließen die beiden den Stollen und verschlossen den Eingang wieder mit den Steinen. Talos bedeckte die verschobenen Steine mit Moos und lief dann hinter Kritolaos her, der, die nunmehr zu einem Stummel heruntergebrannte Fackel hoch erhoben, schon den Weg erreicht hatte. Schweigend liefen sie ein gutes Stück nebeneinander her, bis sie an den Rand der Lichtung kamen. In der Ferne konnte man die Hütte erkennen, im schwachen Lichtschein des Mondes, der schon im Begriff war, unterzugehen. Krios’ Winseln deutete darauf hin, dass ihre Rückkehr nicht unbemerkt blieb. Kritolaos warf den Stummel der Fackel fort und blieb stehen. Dann sagte er zu Talos: »Eines Tages wird jemand das Schwert wieder ergreifen, Talos. Es steht geschrieben, dass er stark und unschuldig sein muss, getrieben von einer so großen Liebe zu seinem Volk, dass er selbst die Stimme seines Blutes opfert .«
»Wo steht das geschrieben und wer hat es gelesen? Und du, woher weißt du das? Wer bist du in Wirklichkeit?«, fragte Talos und suchte im Halbdunkel nach den Augen des Alten.
»Eines Tages wirst du auch das erfahren . und das wird der letzte Tag des Kritolaos sein . Und nun gehen wir, die Nacht ist schon weit vorangeschritten und morgen wartet die Arbeit auf uns.« Er ging entschlossenen Schrittes auf die Hütte zu, gefolgt von Talos, der den großen Bogen aus Horn in den Händen hielt: Den Bogen des Aristodemos, des Königs.
Die Augen im Dunkeln weit aufgerissen, lag Talos auf seinem Strohlager. Tausend Gedanken schwirrten in seinem Kopf umher, versetzten ihn in Aufruhr. Sein Herz schlug wie an jenem Tag, an dem dort unten, im Tal, der geheimnisvolle Krieger das Wort an ihn gerichtet hatte. Er setzte sich auf und streckte die Hand aus, um den Bogen herunterzunehmen, den Kritolaos ihm überreicht hatte. Er umfasste ihn fest mit beiden Händen. Er fühlte sich blank und kalt an, wie ein Todesgedanke. Er schloss die Augen und lauschte auf seinen rasenden Herzschlag, das Pochen in seinen glühenden Schläfen, dann beruhigte er sich ganz allmählich wieder. Und hinter seinen geschlossenen Augen sah er eine von mächtigen Mauern umgebene, mit Türmen gespickte Stadt, aus riesigen grauen Felsblöcken gebaut, hoch oben auf einem trostlosen Berg, in eine Staubwolke gehüllt . Plötzlich erhob sich ein heftiger Wind, der den dichten Nebel über den verdorrten Feldern aufriss, und es tauchten Krieger auf, die gleichen, die er im Tal gesehen hatte. Es waren Tausende, eingeschlossen in ihre glühenden Rüstungen, die Gesichter unter Sturmhauben verborgen. Sie kamen von allen Seiten, bildeten einen Kreis und stiegen zur Stadt hinauf, die ausgestorben schien. Sie tauchten hinter Felsen, Büschen, aus Erdlöchern auf wie Gespenster, angetrieben von einem Trommeln, das aus dem Nichts zu kommen schien. Je weiter sie langsam voranschritten, umso enger und kompakter wurden ihre Reihen, ihr Schritt gleichmäßiger, die aneinandergehaltenen Schilde wurden zu einer bronzenen Mauer: Eine monströse Zange, die sich um die einsame, verlassene Stadt schloss. Je enger sich der fürchterliche Kreis zog, umso mehr schnürte es Talos die Kehle zu, nahm ihm den Atem, doch so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, die Augen zu öffnen und den Bogen loszulassen. Wie ein Donner explodierte plötzlich innerhalb der Stadtmauern ein grauenhafter Schrei der Verzweiflung und auf einmal bevölkerte sich die Glacis mit unzähligen Kriegern, die jedoch anders aussahen als die zuvor. Sie trugen seltsame Rüstungen und riesige Schilde aus Rinderhaut. Ihre Helme, auch die aus Leder, ließen ihre Gesichter frei – Gesichter von Männern, jungen Burschen, Greisen mit weißen Bärten. Hunderte von Leitern lehnten an den Mauern, an denen von allen Seiten die Feinde – mit der Waffe in der Hand – hinaufkletterten, schweigend … Als sie die Glacis fast erreicht hatten, teilte sich auf dem höchsten Turm plötzlich die Menge und ein riesiger Krieger trat vor, der von Kopf bis Fuß in einer leuchtenden Rüstung aus Bronze steckte, an deren Seite ein Schwert mit einer Griffstange aus Bernstein hing. Dann verschwamm alles vor Talos’ Augen, sein Herzschlag verlangsamte sich, immer mehr, wie der dumpfe Klang der Trommeln. Er beobachtete noch immer die Szene, die jedoch nach und nach entschwand . Der Krieger hielt den leblosen Körper eines jungen Mädchens in den Armen . Bedeckt mit einem schwarzen Tuch, ein Blutfleck auf der Brust, ein Schleier aus Haaren. Wie gern hätte er diese zarten und blutleeren Lippen liebkost . Talos, der Lahme . Das Trommeln der Tambours setzte wieder ein, lauter, immer lauter, die Bronzekrieger ergossen sich über die Glacis wie ein Hochwasser führender Fluss über seine Ufer tritt, ihre Schwerter zerfetzten die großen Schilde aus Rinderhaut, durchbohrten die Lederrüstungen, unaufhörlich. Zu Hunderten näherten sie sich dem Mann, der immer noch auf dem höchsten Turm stand. Er legte den zarten Körper des Mädchens ab und stürzte sich auf seine Feinde, das Schwert mit der Griffstange aus Bernstein herumwirbelnd. Von allen Seiten getroffen fiel er, tauchte wieder auf wie ein Stier in einer Schar von Wölfen. Und dann herrschte Stille. Langsame Schritte hallten zwischen den qualmenden Ruinen, den eingestürzten Häusern. Tot, alle tot. Auf die gefolterten Körper, die niedergerissenen Mauern, die einstürzenden Türme senkte sich ganz langsam und schwerfällig eine dicke Schicht aus Staub, den ein warmer, schwüler Wind gebracht hatte. Eine Gestalt saß reglos auf einem rußgeschwärzten Felsblock: Ein alter, gebückter Mann, der sein Gesicht in den Händen vergrub, Hände, an denen Tränen herabliefen. Der weiße Kopf erhob sich, ein von Leid gezeichnetes Gesicht – das Gesicht von Kritolaos!
Das Gesicht von Kritolaos, erleuchtet von einem Strahl der aufgehenden Sonne, war über ihm. Der Alte sagte etwas, doch Talos hörte nichts, als wären seine Gedanken und seine Sinne in einer anderen Welt gefangen. Dann plötzlich fand er sich auf seinem Strohlager sitzend wieder, während Kritolaos zu ihm sagte: »Es ist Zeit, Talos, die Sonne ist schon aufgegangen, wir müssen die Herde zur Weide führen. Aber was hast du? Du bist so seltsam. Vielleicht hattest du einen aufregenden Traum und hast dich nicht richtig erholt. Komm, die frische Luft wird dir gut tun und das Bergwasser wird dich wach machen. Deine Mutter hat schon Milch in deine Schale gegossen. Zieh dich an und komm rüber«, sagte er dann, als er hinausging.
Talos schüttelte sich und blieb, den Kopf zwischen den Händen, einen Moment wie betäubt sitzen. Er sah sich langsam um und suchte den Bogen, den Kritolaos ihm überreicht hatte: Nichts. Der Bogen war verschwunden.
Er sah unter dem Strohlager nach, zwischen den Ziegenfellen, die in einer Ecke auf dem Boden aufgetürmt waren: Ist das alles etwa ein Traum gewesen?, dachte er. Aber nein, das ist unmöglich . Aber dann . Er blieb einen Moment verwirrt stehen, dann schob er den Vorhang beiseite, der sein Lager von dem Rest des Zimmers trennte und setzte sich vor die Schale Milch, die seine Mutter ihm eingegossen hatte.
»Mutter, wo ist Großvater? Ich sehe ihn nicht.«
»Er ist schon draußen«, antwortete die Frau. »Er hat gesagt, dass er mit den Schafen an der oberen Quelle auf dich wartet.«
Talos stürzte eilig seine Milch hinunter, steckte ein Brot in den Quersack, nahm seinen Stock, ging hinaus und lief schnurstracks zu dem Ort, den seine Mutter ihm genannt hatte. Die obere Quelle war die kleine Quelle, die nicht weit entfernt von Talos’ Hütte dem Berg entsprang.
Die Hirten des Taygetos nannten sie so, um sie von der anderen, der größeren Quelle zu unterscheiden, die auf der Lichtung am Waldrand entsprang und an der sie abends für gewöhnlich ihre Tiere tränkten, bevor sie sie in den Stall zurückbrachten. Talos überquerte in Windeseile die Lichtung, dann schlug er im Wald den Weg ein, der bergauf führte, und nach wenigen hundert Metern erblickte er in der Ferne Kritolaos, der vor sich die Herde hertrieb, unterstützt von dem guten alten Krios. Er holte ihn keuchend ein:
»Großvater! Hör zu, ich .«
Er ließ ihn gar nicht erst ausreden.
»Ich weiß, du hast den Bogen nicht gefunden«, sagte der Alte lächelnd. Dann öffnete er den Mantel. »Hier ist er, Junge, der Bogen ist in guten Händen, wie du siehst.«
»Beim Zeus, Großvater, ich dachte, ich müsste sterben, als ich ihn heute Morgen nicht gefunden habe. Aber warum hast du ihn weggenommen und warum hast du nicht wie sonst auf mich gewartet?«
»Ich wollte vermeiden, dass du mir in Gegenwart deiner Mutter Fragen stellst.«
»Also darf sie es nicht wissen .«
»Nein, deine Mutter weiß sehr wohl, wohin ich dich gestern geführt habe und was du dort gesehen hast, aber mehr weiß sie nicht und darf sie auch nicht wissen. Das Herz einer Frau ist leichte Beute der Angst. Und jetzt folge mir«, sagte er und setzte seinen Weg fort, wobei er den Bogen wieder unter seinem Mantel verbarg. Sie liefen ein gutes Stück des Weges nebeneinander her, dann brach Talos erneut das Schweigen.
»Warum hast du den Bogen genommen, Großvater, und warum versteckst du ihn?«
»Die erste Frage ist richtig«, gab der Alte zurück, »die zweite ist dumm.«
»Nun gut, die Heloten tragen keine Waffen, weil es ihnen nicht gestattet ist, und das ist schließlich eine Waffe.«
»Eine sehr außergewöhnliche und einzigartige!«
»Einverstanden, aber kann ich wenigstens eine Antwort auf meine erste Frage haben?«
»Das stimmt, Talos, du hast ein Recht auf eine Antwort«, sagte Kritolaos und blieb mitten auf dem Weg stehen. Krios, der das Ziel der Reise nun erahnte, trieb die Herde entschlossen zu der Stelle, an der der Weg in eine kleine Wiese mündete, hinter der sich die obere Quelle befand.
»Nun, ich möchte, dass du lernst, mit dem gleichen Geschick mit dieser Waffe umzugehen wie der große Odysseus.«
»Aber das ist nicht möglich, Großvater, du bist sehr alt und ich .«
»Du musst nur an dich glauben«, sagte Kritolaos feierlich, »und was mich betrifft . Glaube mir, ich habe nicht umsonst dieses Alter erreicht!«
Sie waren an der kleinen Wiese angelangt, wo die Herde unter dem wachsamen Blick von Krios, der sich unter einem Busch zusammengekauert hatte, bereits in aller Seelenruhe zu weiden begonnen hatte. Kritolaos sah sich um, dann blickte er hoch zu den Kuppen der umstehenden Hügel, um sich zu vergewissern, dass der Ort vollkommen einsam war. Dann warf er seinen Mantel ins Gras und reichte Talos den Bogen.
»Ich bin also zu alt, stimmt’s?«, fragte er in ironischem Ton. »Hör mir gut zu, du Grünschnabel«, fuhr er unter seinen Falten zwinkernd fort. »Wer lehrte den großen Achilles den Umgang mit dem Bogen?«
»Der Vater seines Vaters, im Wald des Epirus.«
»Bravo«, lachte der Alte zufrieden. »Ich hatte schon befürchtet, dass du mit zunehmendem Bartwuchs verblödest. Wie du siehst, ist es die Erfahrung der Alten, die den unwissenden anmaßenden Jungen gewährt, zu Männern zu werden, die dieser Bezeichnung würdig sind.«
Talos rieb sich eine Weile das Kinn, denn die Bezeichnung Bart schien ihm doch recht übertrieben für den zarten Flaum, der in seinem Gesicht spross. Dann umfasste er den Bogen fest mit beiden Händen und wurde plötzlich ernst.
»Nicht so, beim Herakles, das ist kein Stock, mit dem man Ziegen in ihr Gehege treibt. Sei vorsichtig . Hier, sieh mal, dies hier mit der Silberschicht, das ist die Zwinge, oder auch der Griff, den du mit der linken Hand fest umschließen musst.« Der Junge nickte und tat, was ihm gesagt wurde.
»Sehr gut«, fuhr der Alte fort. »Mit der rechten Hand musst du die Sehne spannen, die den Pfeil abschießt.«
»Aber hier ist keine Sehne«, sagte Talos verblüfft.
»Das glaub ich gern, wenn da eine wäre, könntest du die Waffe wegwerfen. Die Sehne spannt man erst ein, wenn man den Bogen benutzt, dann nimmt man sie wieder ab. Sonst würde sie ganz brüchig werden und ihre Elastizität und damit ihre Kraft verlieren. Aber mach dir keine Sorgen, hier ist die Sehne«, sagte er und kramte in seinem Quersack. »Sie ist aus einer Rindersehne, ich selbst habe sie vor Wochen hergestellt, ohne dass du es wusstest. Jetzt müssen wir sie nur noch in den Bogen einspannen. Pass gut auf, stell den Bogen mit einem Ende auf den Boden und halte ihn mit der linken Hand in dieser senkrechten Position gut fest. Genau, so ist’s gut. Nun hake die Sehne an dem unteren Ring ein und dann befestige das andere Ende oben am Bogen.«
»Aber sie ist nicht lang genug!«
»Natürlich nicht, das würde noch fehlen! Wenn es so wäre, hätte der Bogen nicht genügend Spannkraft und deine Arme würden nicht ausreichen, ihn zu spannen. Um die Sehne einzuhaken, musst du dich mit deinem ganzen Körpergewicht oben auf den Bogen legen, bis er sich biegt, und mit der rechten Hand ziehst du die Sehne nach oben, bis du sie durch den Ring schieben kannst, der sich oben am Bogen befindet. Ist doch ganz leicht, oder?«