Tante Luises Beerdigung - Jürgen von Rehberg - E-Book

Tante Luises Beerdigung E-Book

Jürgen von Rehberg

0,0

Beschreibung

Jochen Hoffmann, ein 74-jähriger Witwer aus Wien, sitzt im Zug von Wien nach Hamburg, um zur Beerdigung von Tante Luise zu fahren. Annette, die taffe Frau aus dem Norden, die unterwegs zusteigt, reißt Jochen aus seinem Gefühlsghetto, in dem er sich seit dem Tod seiner Frau Sabine befindet. Jochen Hoffmann lässt sich auf Annette ein. Es entwickelt sich eine schwierige ON-OFF-Beziehung. Hilfe kommt von Heike, Annettes Tochter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 100

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Ich gebe Ihnen fünfzig Euro extra, wenn Sie den Kerl vor uns überholen.“

Die berechtigte Skepsis, dass er den ICE nach Hamburg nicht pünktlich erreichen würde, ließ Jochen Hoffmann zu dieser drastischen Maßnahme greifen.

Der Taxifahrer sah in den Innenspiegel seines Wagens und antwortete:

„Wenn Sie selbst Autofahrer wären, dann wüssten Sie, dass man über eine doppelte Mittellinie nicht fahren darf.“

„Ich bin Autofahrer, ich habe sogar einen Führerschein, und das mit der doppelten Mittellinie weiß ich auch“, erwiderte Jochen Hoffmann gereizt.

„Und wieso kommen Sie mir dann mit diesem blöden Vorschlag?“

Die Frage des Taxifahrers war zwar nicht besonders kundenfreundlich; aber auf die Sache bezogen, durchaus berechtigt.

„Weil ich unbedingt den ICE nach Hamburg erreichen muss“, antwortete Jochen Hoffmann.

Der Taxifahrer sah in seinem Innenspiegel in das traurige Gesicht seines Fahrgastes. Er machte diesen Job nun schon seit nahezu vierzig Jahren und ein wenig hatte er gelernt, seine Mitfahrer einzuschätzen.

In Jochen Hoffmann sah er einen älteren Herrn, gut gekleidet, gute Manieren, höflich und offensichtlich sehr verzweifelt.

Jochen Hoffmann erschrak, als er plötzlich heftig in seinen Sitz gepresst wurde. Der Mann, der gerade seine Fahr-Prinzipien über Bord geworfen hatte, war kräftig aufs Gas gestiegen, hatte die durchgezogene Mittellinie durchbrochen und den vor ihm fahrenden Verkehrsteilnehmer überholt.

Ein lautstarkes, anhaltendes Hupen des Überholten wies auf die Unrechtmäßigkeit der Untat hin, die der Taxifahrer soeben begangen hatte.

Jochen Hoffmann sah im Innenspiegel des Taxis die Entschlossenheit seines Fahrers, der seinerseits seine Augen starr auf die Fahrbahn gerichtet hielt, was eine gewisse Beruhigung bei Jochen Hoffmann auslöste. Der Taxifahrer raste nämlich gerade weit jenseits der erlaubten innerörtlichen fünfzig Kilometer dahin.

„Warum tun Sie das?“, fragte Jochen Hoffmann vorsichtig.

Herbert Kirchner, Taxifahrer und sein eigener Chef, antwortete:

„Weil sie ausschauen, als hinge Ihr Leben davon ab, dass Sie diesen Zug erreichen.“

Jochen Hoffmann lächelte. Es war nicht der Ausdruck von Freude, sondern von einer Art Ergriffenheit.

„Meines nicht“, sagte er dann, „aber das von einem geliebten Menschen.“

*****

Der ICE von Wien Westbahnhof nach Hamburg Hauptbahnhof verließ pünktlich um 07:45 Uhr den Bahnhof.

Jochen Hoffmann hatte fürsorglich reserviert und saß nun entspannt in einer Kabine mit vier Sitzen auf seinem Fensterplatz in Fahrtrichtung. Er hatte die erste Klasse gebucht, um einen gehobenen Komfort auf seiner langen Reise genießen zu können.

Die kleinen Schilder über den Sitzplätzen zeigten an, dass die drei leeren Sitzplätze reserviert waren, aber noch nicht besetzt. Jochen Hoffmann genoss das Alleinsein. Er hatte genug Lesestoff dabei, dem er sich widmen wollte, sobald das Hinausstarren aus dem Fenster seinen Reiz verloren hätte.

„Die Fahrkarten bitte!“

Ein Zugbegleiter – früher nannte man sie schlicht „Schaffner“ – hatte die Kabinentür mit einem energischen Ruck geöffnet, um die rechtmäßige Nutzung durch die Fahrgäste zu überprüfen.

Nach einer kurzen Kontrolle des benötigten Reisedokuments gab der Beamte die Unterlagen an Jochen Hoffmann zurück, wünschte eine angenehme Weiterreise und schloss mit einem energischen Ruck die Kabinentür, um seine Arbeit fortzuführen.

Jochen musste an Tante Luise denken. Sie war eine der wenigen Verwandten, die ihm noch geblieben waren, und zu der er Kontakt hatte.

Es gab zwar noch einen Bruder, zu dem er keinen Kontakt hatte, und von dem er noch nicht einmal wusste, ob er überhaupt noch lebte.

Das Verhältnis der beiden Brüder war zeitlebens problematisch, und Jochen bedauerte es sehr. Versuche seinerseits hatte es immer wieder einmal gegeben, eine Beziehung aufzubauen; aber sie hielten nicht lange. Irgendwann hatte es Jochen dann aufgegeben.

Mit seinen Kindern aus zwei Ehen verhielt es sich nicht anders. Ein Stück weit war Jochen selbst daran schuld, und er gestand es sich auch ein. Aber die Ablehnung seiner Kinder, die sich nahe am Rand eines Hassgefühls wider den Vater bewegten, ließen auch da keine Beziehung zu.

Es hatte Jahre gedauert, bis Jochen zulassen konnte, dass seine Kinder nichts mit ihm zu tun haben wollten. Wesentlich geholfen dabei hatte ihm Sabine, seine dritte Ehefrau.

Jetzt gab es nur noch Tante Luise, und die war vor drei Tagen gestorben. Sie hatte es immerhin auf stolze achtundneunzig Jahre gebracht.

Jochen hatte etliche Sommerferien bei Tante Luise verbracht. Es waren sehr schöne Tage, fernab seines strengen Elternhauses im 13. Wiener Gemeindebezirk.

Das Haus, in welchem er auch geboren wurde, befand sich seit mehreren Generationen im Besitz der Familie Hoffmann.

Johannes Hoffmann, der Großvater, war noch ein richtiger Patriarch. Als Obrist und Überbleibsel der „KuK-Monarchie“ vertrat er Werte, die in heutiger Zeit undenkbar wären. Da hatte die Anrede „Sie“, auch unter Eheleuten, noch festen Bestand.

Die nächste Generation, die Eltern von Jochen, war da schon moderner unterwegs. Das „Sie“ war zwar weggefallen; aber der Mann war immer noch der unumstrittene Herr im Haus.

Als Tante Luise ihren Heinrich kennen- und lieben lernte, stieß dies auf heftigen Widerstand seitens ihres Bruders Franz, Jochens Vater.

Heinrich Merlinger war Student für Maschinenbau an der Technischen Universität Wien. Anlässlich eines Praterbesuches liefen sich Luise und Heinrich über den Weg.

Sie waren zusammengestoßen und der Inhalt eines Eisstanitzels fand sich auf dem Jackett des Herrn Studenten wieder.

Luise entschuldigte sich tausendmal bei ihrem Opfer, unterstrichen von einer zarten Gesichtsröte, welche den etwas älteren Studenten in Verzückung geraten ließ.

Der Versuch, pekuniär für den Schaden, sprich Reinigungskosten, aufkommen zu wollen, schmetterte Heinrich Merlinger sogleich ab, indem er die völlig verunsicherte Luise aufforderte, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen.

Die Begleiterinnen von Luise, Freundinnen vom Gymnasium, genossen den Vorfall auf das Höchste und untermauerten die etwas verwirrende Situation mit einem dafür angemessenen Kichern.

Luise befand sich in einer Zwangslage. Da waren auf der einen Seite ihre vertrauten Freundinnen, deren Gesellschaft sie nicht einfach verlassen konnte.

Und auf der anderen, ganz sicher aufregenden Seite, befand sich ein gut aussehender, junger Mann, dessen Kleidung deutlich auf den Status eines Studiosus hinwies, und der ihr kleines Herz deutlich erkennbar höherschlagen ließ.

Ein Kompromiss wäre jetzt opportun; aber woher nehmen und nicht stehlen?

In diesem Augenblick bewies Heinrich Merlinger, dass er ein Gentleman war.

„Die jungen Damen in Ihrer Begleitung sind selbstverständlich eingeladen, uns in ein Etablissement Ihrer Wahl zu begleiten, in welchem uns Kaffee und Kuchen gereicht werden können. Ich selbst kenne mich zu wenig aus, um eine passende Wahl treffen zu können.“

Luise schmolz dahin. So viele schöne Worte. Sie klangen wie Musik in ihren Ohren. Das aufmunternde und Zustimmung deutende Kopfnicken ihrer Freundinnen machten Luise die Antwort leicht.

„Ich schlage das <Mokkastübchen> vor. Da gibt es herrliche Mehlspeisen.“

Das begeisterte Herumhüpfen und in die Hände klatschende Gehabe von Luises Freundinnen belegte das zarte Alter, in welchem sich die Mädchen befanden. Zarte 19 Jahre standen einem Studenten für Maschinenbau gegenüber, der bereits seinem 24. Lebensjahr entgegenstrebte.

„Also dann darf ich bitten?“

Mit diesen Worten bot Heinrich Luise seinen Arm an, und Luise hakte sich ein.

Sodann machte man sich eiligen Schrittes auf zu besagtem „Mokkastübchen“, wo es herrliche Kuchen und Torten gab. Im Gefolge Luises Freundinnen, welche sich dem gerade stattfindenden Abenteuer mit großer Aufregung hingaben.

*****

„Kaffee, Tee, Mineralwasser, Sandwiches!“

Mit diesen Worten wurde Jochen Hoffmann aus seinen Gedanken gerissen.

Ein freundlicher, junger Mann in schwarzer Hose, mit weißem Hemd und Fliege stand mit einem Servierwagen vor dem Abteil und steckte seinen Kopf herein.

„Was für Sandwiches?“, fragte Jochen. Die Zeit nach dem Aufstehen war zu kurz gewesen, um noch frühstücken zu können.

„Schinken, Käse, Salami und ein vegetarisches“, kam prompt die Antwort des jungen Mannes.

„Was ist da drauf?“, fragte Jochen.

„Grünkernaufstrich mit Salatblatt und Tomaten.“

Das Wort „Tomaten“ zeugte von einer gewissen Intelligenz des Anbietenden. Obwohl ein Österreicher, vermied er die typisch österreichische Bezeichnung „Paradeiser“ für das Nachtschattengewächs, musste er doch davon ausgehen, dass nicht jeder Reisende zwangsläufig ein Österreicher sein müsste. Und ein englisch sprechender Zuginsasse könnte von dem Wort „Tomate“ eher auf das englische Pendant „Tomato“ schließen, denn auf „Paradeiser“.

„Geben Sie mir bitte einen Kaffee, schwarz, ohne Zucker und ein Käsesandwich.“

Damit war dem Anspruch des Vegetariers Jochen Hoffmann Genüge getan, denn Grünkern war nicht so sein Ding.

„Bitte sehr, mein Herr. Das macht dann 14 Euro.“

Mit diesen Worten und einem freundlichen Lächeln überreichte der „Einpersonen-Geschäftsmann“ die bestellte Ware an den verdutzten Reisenden.

Jochen gab dem tüchtigen, jungen Mann einen Zehn- und einen Fünfeuroschein mit der Bemerkung: „Stimmt so.“

Der junge Mann bedankte sich, wünschte eine gute Weiterreise und schloss die Kabinentür.

Jochen Hoffmann wickelte das Sandwich aus, machte einen kräftigen Biss, und war von der Qualität des Produktes angetan.

Ein weiterer Biss und dazu ein überraschend gut schmeckender Schluck Kaffee ließen die momentane Verärgerung über den „geschmalzenen“ Preis allmählich verschwinden.

*****

Jochen Hoffmann wollte sich gerade wieder seinen Erinnerungen hingeben, während er noch den letzten Bissen seines Sandwiches durchkaute, als eine Stimme aus dem Zuglautsprecher erklang, um die Reisenden in moderatem Tonfall auf die Reise einzustimmen.

„Guden Morgen, meine Damen und Herren! Zugchef Jäger begrüßt Sie mit seinem Diehm im Eurosiedi Wien-Hamburg, über Bassau, Nürnberg, Würzburg, Frankfurd, Frankfurd-Flughafen, Köln, Dortmund, Hamburg und wünscht Ihnen eine gute Reise. Im middleren Deil des Zuges, zwischen der ersten und zweiten Glasse, befindet sich der Speisewagen, in dem Sie gern erwartet werden.“

Es gehört zum umfangreichen Service der ÖBB (die DB macht das natürlich auch, allerdings in bayrisch-fränkischem Tonfall; bisweilen auch in Sächsisch…), die Durchsage in einem nicht ganz astreinen „Oxford-englisch“ zu wiederholen:

„Gud morning, lejdies än dschendelmän. Drejntschief Hanter ent his kruh wellkamms juh in ße jurosiddi Wien-Hamburg, weia Passau, Nürnberg, Frankfurt, Frankfurt-Ährport, Köln, Dortmund, Hamburg ent wisch juh ä plessent dschörnie. In ße middl of ße drejn, bidwiehn ße först ent ße seckent glas, ßer iß auer restorantkahr, wer wi wutt bie bließt tu wellkamm juh.“

Faszinierend an der englischen Version der Durchsage war, dass aus dem Namen „Jäger“ ein „Hunter“ wurde, was rein übersetzungstechnisch gesehen korrekt daherkommt, aber in etwa so ist, als würde der Stadionsprecher bei Olympischen Spielen den französischen Hochspringer Guillaume Forestier mit „Günther Förster“ ankündigen.

Jochen Hoffmann musste lächeln, und er fragte sich, inwieweit ein nicht deutsch sprechender Mitreisender das Gesagte inhaltlich verifizieren konnte.

Dann wanderten seine Gedanken wieder zu Tante Luise und ihrem bewegten Leben.

*****

Heinrich Merlinger und Luise Hoffmann hatten sich in dem Augenblick ineinander verliebt, als sie sich zum ersten Mal in die Augen gesehen hatten.

Das kam jedoch bei ihrem Bruder Franz gar nicht gut an. Allein die Tatsache, dass Heinrich Merlinger Deutscher war, machte ihn automatisch zu einer „Persona non grata“.

Franz war noch zu jung, um im Zweiten Weltkrieg als Soldat zu dienen, indes sein Vater wurde eingezogen und fiel 1942 vor Stalingrad.

Luise ließ jedoch nicht ab von ihrem Heinrich. Je stärker sich der Widerstand im Haus Hoffmann manifestierte, umso mehr klammerte sie sich mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele an den deutschen Geliebten.

Franz, der sich seit dem Tod des Vaters als Oberhaupt der Familie sah, musste sich dennoch dem Entschluss der Mutter Katharina beugen, die den jungen Galan, der das Herz ihrer Tochter Luise erobert hatte, kennenlernen wollte. Sie ließ ihn durch Luise zum Essen einladen.

Heinrich Merlinger nahm dankend an und erschien an einem Sonntagmittag zum Essen. Mit einem Blumenstrauß für Katharina Hoffmann und einem vollendeten Handkuss sammelte er augenblicklich wertvolle Punkte, die er im Verlaufe der nächsten ein, zwei Stunden durch sein perfektes Auftreten noch vermehren konnte.

Franz Hoffmann machte gute Mine zum bösen Spiel, plante jedoch im Geheimen, die Person Studiosus Heinrich Merlinger genauer zu durchleuchten.

Eines hatte er jedoch zu seinem Leidwesen schon herausgefunden. Heinrich Merlinger war kein „ewiger Student“, was Franz in die Karten gespielt hätte. Er hatte sein Studium erst so spät beginnen können, weil er in den letzten Kriegsjahren noch eingezogen wurde.

Und so kam es, dass Luise von Mutter Katharina den Segen bekam, sich mit Heinrich Merlinger fortan treffen zu können, jedoch unter der Prämisse, dass die schulische Leistung nicht darunter leiden dürfe.

Franz ließ nicht locker. Er fragte Heinrich förmlich ein Loch in den Bauch. Als er ihn fragte, was er nach dem Studium machen wolle, bekam er eine enttäuschende Antwort.

Heinrich antworte, dass er im Betrieb seines Vaters arbeiten würde.