Tänzer und Stolperer - Bernhard Ott - E-Book

Tänzer und Stolperer E-Book

Bernhard Ott

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Beschreibung

Wie kann diese Welt wieder ins Lot kommen? Das beschäftigt nicht nur uns Menschen, das beschäftigt auch Gott. Dass Gott sein Reich aufrichtet, heißt nichts anderes, als dass er seine Welt wieder ins Lot bringen wird. Dabei setzt er bei der Transformation des Menschen an: Nichts braucht diese Welt dringender als aufrechte, integre und dienende Menschen. Tugenden und Charakter sind gefragt. Genau davon spricht die Bibel. Sei es die Weisheit des Alten Testaments oder das Leben und die Lehre von Jesus – immer geht es darum, wie Menschen in Beziehung zu ihrem Schöpfer wahrhaftig Menschen werden können. Bernhard Ott zeigt anschaulich, dass es beim christlichen Glauben nicht darum geht, dass wir vom Menschsein erlöst, sondern zum Menschsein befreit werden. Mit dem Menschen und mit der ganzen Schöpfung wird es dann gut, wenn wir die Musik des Himmels hören und danach tanzen. Ausgehend von der Bergpredigt und im Gespräch mit Dietrich Bonhoeffer und Martin Buber fragt der Autor in diesem Buch nach den Werten und Tugenden des Reiches Gottes und wie diese in unserem Leben Gestalt gewinnen können.

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Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-793-5

Dieses Buch in gedruckter Form: ISBN 978-3-86256-156-8

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar

Lektorat: Dr. Thomas Baumann

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson

Umschlagabbildungen: Kyle Cottrell, Andre Hunter/unsplash.com

Satz: Neufeld Verlag

2. Auflage der gedruckten Ausgabe 2021

© 2019 Neufeld Verlag Neudorf bei Luhe

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

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INHALT

Prolog

Ein erster Überblick

Was verstehen wir unter Tugenden und Charakter?

Teil 1: Wahrnehmungen

Auf der Suche nach Menschen mit Charakter

Christoph Stückelberger: »Integrität – die Tugend der Tugenden«

Martin Buber: »Über Charaktererziehung«

Dietrich Bonhoeffer: »Sind wir noch brauchbar?«

Teil 2: Klärungen

Reich Gottes, Bergpredigt und Charakterbildung

Der Mensch als Gottestänzer

Der Mensch wird zum Stolperer

Gott sucht seinen Tänzer

Eine Szene aus dem 1. Akt: Gott sucht einen Gottestänzer

Eine Szene aus dem 2. Akt: Ein Siegeslied

Eine Szene aus dem 3. Akt: Hoch lebe Zion

Drei Szenen aus dem 4. Akt: Friedefürst, Gottesknecht und Menschensohn

In der Tanzschule der Weisheit

Grundentscheidung beim Eingangsportal

Der König und die Königsherrschaft Gottes

Flucht und Zuflucht

Profil des Gottestänzers

Dem Frieden nachjagen

Beinahe gestolpert

Exodus Version 2.0

Die richtige Brille aufsetzen

Die Dramaturgie verstehen

Die Stadt auf dem Berg (Matthäus 5)

Das Eingangstor: Die Tugenden des Reiches Gottes (Matthäus 5,2–12)

Die Vision: Die »Vorzeigestadt« (Matthäus 5,13–16)

Das Ziel: Werdet vollkommen (Matthäus 5,17–48)

Der wahre Gottesdienst (Matthäus 6)

Worum geht es?

Falscher Gottesdienst verdirbt den Charakter

Wahrer Gottesdienst kultiviert guten Charakter

Im Zentrum der Charakterbildung

Vorsicht! Stolpergefahr (Matthäus 7)

Vorsicht! Missverständnis

Acht Stolpersteine

Teil 3: Konsequenzen

Martin Buber: »Der Weg des Menschen«

Dietrich Bonhoeffer: »Stationen auf dem Weg zur Freiheit«

Tischgespräche

Was ist eigentlich das Evangelium?

Wozu Mission?

Was ist denn Sinn und Auftrag von Kirche und Gottesdienst?

Was ist die Verantwortung der Christen in der Welt?

Was soll theologische Bildung leisten?

Epilog

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Verzeichnis Der Verwendeten Bibelübersetzungen

Zum Autor

PROLOG

Stellen wir uns die Welt als eine Bühne vor, auf der wir das Leben wie ein Drama inszenieren. Als christlicher Theologe sehe ich in der biblischen Erzählung so etwas wie das Drehbuch, das uns unser Schöpfer in die Hand gegeben hat. Es geht also ganz konkret darum, wie wir unser Leben gestalten – persönlich, in unserem sozialen Umfeld, aber auch als Gesellschaft. Bühne – Drehbuch – Inszenierung; das sind Metaphern, die uns durch dieses Buch begleiten werden.

Als Prolog führt uns eine kleine Geschichte mitten ins Thema des Dramas hinein:

Es war einmal ein kleiner Bub.

Ein pfiffiger Kerl. Und quicklebendig. Sein Vater saß in der gleichen Stube und wollte Zeitung lesen. Unmöglich. Zu viel Lärm. Da kam dem Strapazierten urplötzlich ein rettender Gedanke: Papi greift aus dem nahen Gestell ein altes Buch. Schlägt es auf und reißt ein Blatt mit der Abbildung einer Weltkarte heraus. Er zerstückelt es und ruft dem Buben zu: »Hej, Timi, ich habe ein interessantes Spiel für dich! Setz die Fetzen dieser Weltkarte richtig zusammen, da hast du Klebstreifen. Wenn’s dir gelingt, bekommst du einen Euro.«

Und schon sitzt Timi in einer Ecke und arbeitet still. Der Vater freut sich über die Ruhe. Sie wird lange dauern bei der schwierigen Aufgabe.

So denkt er.

Weit gefehlt! In wenigen Minuten hält der kleine Pfiffikus dem erstaunten Vater die fehlerlose Arbeit unter die Nase. Kopfschüttelnd fragt dieser immer wieder: »Wie konntest du nur … und in dieser kurzen Zeit … und eine Karte der Welt, die du gar nicht kennst?«

»Ganz einfach, schau da!« Und Timi zeigt dem Vater die andere Seite des Blattes, wo groß ein Menschenantlitz abgebildet ist. »Ich habe einfach das Menschenbild zusammengesetzt und dann stimmte es auf der anderen Seite auch mit der Welt!«

Der Vater schweigt. Lange. Dann sagt er nachdenklich immer wieder vor sich hin: Ja wirklich, so ist’s: Stimmt’s mit dem Menschen, dann stimmt’s auch mit der Welt.1

Johannes Niederers Geschichte bringt eine große Frage auf den Tisch: Was muss geschehen, damit es mit dieser Welt »wieder stimmt«? Und er lässt die Frage auch gleich durch den kleinen Timi beantworten: Es muss mit dem Menschen wieder stimmen, wenn es mit der Welt wieder stimmen soll. Wenn seine These stimmt – und ich gehe in diesem Buch davon aus –, dann müssen wir beim Menschen ansetzen. Das heißt aber auch, dass wir bei uns persönlich beginnen müssen.

Mit einer Liedstrophe von Kurt Rommel formuliere ich das am Anfang dieses Buches als Gebet:

Lass uns in deinem Namen, Herr, die nötigen Schritte tun.

Gib uns den Mut, voll Glauben, Herr, mit dir zu Menschen zu werden.

Ich bin in der schönen Lebensphase, in der ich als Großvater meine Enkel aufwachsen sehen darf. Vom ersten Tag an sind sie ganz Menschen und gleichzeitig beginnt die Reise der Menschwerdung. Sie lernen an der »Erfahrung mit den Dingen« (Jean-Jacques Rousseau),2 im Raum der Familie und in der Begegnung mit Fremden. Sie gehen zur Schule, erlernen Berufe und studieren. Hoffentlich werden sie Menschen auf dieser Reise.

Das ist für mich aber auch die Lebensphase, in der ich auf meine Lebensreise zurückschaue. Was ist aus mir geworden? Bin ich ein Mensch geworden? Da geht es nicht nur darum, was ich weiß, was ich kann, was ich geleistet habe oder was ich besitze, sondern vielmehr darum, wer ich geworden bin. Das ist das Thema dieses Buches. Es geht um Persönlichkeit, um Identität und um Charakter.

Ein erster Überblick

In Teil 1 befassen wir uns mit der Bühne. Ich werde die Ausgangslage skizzieren. Die These, dass mit dieser Welt etwas nicht stimmt, soll entfaltet und begründet werden. Das ist ein eher düsteres Bild.

Ich bin mir eines gewissen Risikos sehr wohl bewusst. Es gibt eine fromme Untugend, die man immer wieder von christlichen Kanzeln hört, die darin besteht, zuerst diese Welt übertrieben schlecht zu reden, um dann den christlichen Glauben als einzige Lösung aller Probleme anzubieten. Oder etwas pointierter gesagt: Dem Patienten »Mensch« wird eine Diagnose gestellt, die so nicht stimmt, um ihm dann eine Medizin zu verschreiben, die er nicht braucht.

Dieses Klischee will ich tunlichst vermeiden. Ich habe für meinen Einstieg drei Zeugen aufgeboten: Christoph Stückelberger, Dietrich Bonhoeffer und Martin Buber. Sie helfen mir, verantwortungsvoll zu skizzieren, was die These »es stimmt nicht mit der Welt« konkret bedeutet und weshalb wir bei der Menschenbildung, konkret bei der Charakterbildung, ansetzen müssen.

In Teil 2 widmen wir uns der biblischen Erzählung. Sie ist in der christlichen Tradition das normative Drehbuch. Dabei geht es nicht darum, zu kopieren, was die Menschen damals geglaubt und getan haben, sondern zu kapieren, worum es Gott eigentlich geht.

Nach einem Anmarschweg durch den ersten Teil der Bibel, den wir gewöhnlich Altes Testament nennen, werde ich von der Bergpredigt her zeigen, wie sich Jesus die Erneuerung des Menschen und der Gesellschaft vorstellt.

In Teil 3 gehen wir zurück auf die Bühne. Zuerst kommen Martin Buber und Dietrich Bonhoeffer noch einmal zur Sprache. Wir werden ihnen ja schon im ersten Teil begegnen. Beide haben in Krisenzeiten mit großer Klarheit gesehen, was mit der Welt nicht stimmt. Und beide haben in der Charakterbildung einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des Problems gesehen.

Was ich in diesem Buch schreibe, formuliere ich nicht im luftleeren Raum. Meine Überlegungen, Argumente und Thesen sind Teil ganz verschiedener Gespräche. In einem Bild ausgedrückt: Ich habe mich in den vergangenen Jahren an viele Tische der Theologie, der Pädagogik, der Philosophie und der Psychologie gesetzt, zugehört und mitdiskutiert. An vielen Stellen dieses Buches würde ich gerne in einen Fachdialog mit entsprechenden Experten eintreten. Das ist aber dem Stil dieses Buches nicht angemessen und interessiert auch nicht alle. Manche Hinweise finden Interessierte in den Endnoten. Einige Themen werde ich jedoch im Schlusskapitel konkret aufgreifen. Ich möchte zeigen, in welcher Weise die These, die ich hier vortrage (dass Menschenbildung als Charakterbildung ein wesentlicher Beitrag des christlichen Glaubens zu einer heilvollen Gestaltung der Welt ist), zu gegenwärtigen theologischen und kirchlichen Fragestellungen spricht. Da geht es unter anderem um folgende Themen und Fragen: Was verstehen wir unter dem Evangelium? Was ist Mission? Was ist Wesen und Auftrag der Kirche? Worum geht es im christlichen Gottesdienst? Was ist Ziel und Zweck theologischer Bildung?

Was verstehen wir unter Tugenden und Charakter?

Ich werde in diesem Buch immer wieder von Tugenden und Charakter sprechen. Es ist deshalb wichtig, dass ich gleich zu Beginn sage, was ich darunter (nicht) verstehe. Der Begriff Charakter ist mehrdeutig. Mindestens drei Bedeutungen können unterschieden werden:3

1. Charakter kann im Sinne von Persönlichkeitsstruktur verwendet werden. Wir sprechen dann von verschiedenen Charaktertypen. Schon die Griechen haben Charaktertypologien gekannt und in neuerer Zeit ist eine eigentliche Charakterkunde entstanden. Bekannt ist etwa die Einteilung von Fritz Riemann in die zwei Polaritäten Distanz- und Nähetyp sowie Ordnungs- und Freiheitstyp. In diesem Sinn wird Charakter als eine mehr oder weniger gegebene Persönlichkeitsstruktur gesehen, die nur sehr eingeschränkt verändert werden kann. Solche Charaktertypen werden nicht moralisch-ethisch bewertet. Es muss sich niemand für seine Persönlichkeitsstruktur entschuldigen. In diesem Buch gebrauche ich den Begriff Charakter nicht in diesem Sinn.

2. Manchmal bezeichnen wir eine Person als markanten Charakter. Wir sagen dann: Das ist aber ein besonderer Charakter. Damit meinen wir ein herausstechendes, auffälliges Profil, sei es durch das Aussehen (ein Charakterkopf), durch das Auftreten (Sein, Reden und Handeln) oder durch die besondere Leistung, die diese Person vollbracht hat. In diesem Sinn verweist der Begriff Charakter auf Menschen, die in irgendeiner Weise besonders herausragen – auf Helden. So gebrauche ich den Begriff Charakter hier auch nicht.

3. In diesem Buch reden wir von Charakter als einem Bündel von Tugenden (und Untugenden), die sich ein Mensch, mehr unbewusst als bewusst, angeeignet hat.4 Tugenden werden als innere Dispositionen verstanden, die ein Mensch so verinnerlicht hat, dass sie sein Wesen und Tun beständig prägen. So verstandener Charakter wird geformt. Der Charakter ist so etwas wie der Autopilot in meinem Leben. Es sind die inneren Werte und Haltungen (Tugenden), die mich dazu bringen, gewisse Dinge zu tun oder nicht zu tun, ohne jedes Mal darüber nachzudenken, was ich jetzt tun soll. In diesem Sinn ist der Charakter eine Art innerer Steuerungsmechanismus. In den Worten von N. T. Wright:5

Die »Tugenden« sind die verschiedenen Charakterstärken, die zusammen dazu beitragen, dass jemand zu einem voll aufblühenden Menschen wird.

In diesem Sinn ist Charakter nicht Schicksal, sondern Charakterbildung liegt in der Verantwortung des Menschen. Charakter kann kultiviert, gestaltet, gebildet werden. Das Thema Charakterbildung hat eine lange Geschichte. Die Griechen sind hier grundlegend, besonders Aristoteles. Die Frage nach der Charakterbildung hat in der Diskussion um Ethik und Pädagogik in den letzten Jahrzehnten neu an Interesse und Bedeutung gewonnen. Die Beiträge von Stanley Hauerwas und Alasdair MacIntyre bis zu N. T. Wright sind dabei wegweisend.6

In diesem Buch möchte ich auf die Dringlichkeit der Charakterbildung aus christlicher Sicht aufmerksam machen, und zwar in allgemeinverständlicher Sprache für Menschen, die nach dem Sinn des Lebens fragen und denen die Entwicklungen in dieser Welt am Herzen liegen.

The longer we live, the more we owe.

Stanley Hauerwas

»Je länger wir leben, umso mehr verdanken wir anderen.« Mit diesem Satz beginnt Stanley Hauerwas das Vorwort zur zweiten Auflage seiner Buches Character and the Christian Life.7 Diesem Satz kann ich nur zustimmen. Das, was ich in den folgenden Kapiteln schreibe, wäre nicht denkbar ohne die vielen Impulse von den Menschen, mit denen ich in den vergangenen mehr als 40 Jahren unterwegs war, nicht zu sprechen von all den Anregungen, die ich aus der Literatur empfangen habe. Ich lege hier keine neuen Erkenntnisse vor. Ich möchte lediglich noch einmal tun, was ich in den vergangen Jahren immer wieder versucht habe zu tun, nämlich die alte Botschaft in die neue Zeit hinein zu sagen, so dass es die alte Botschaft bleibt, aber die neue Zeit betrifft. Mit der »alten Botschaft« meine ich natürlich die Botschaft der Bibel, und die neue Zeit bezieht sich auf die Herausforderungen, in denen wir uns gegenwärtig befinden.

So will ich es nicht unterlassen, all denen zu danken, die mit mir durch die vergangenen Jahre gegangen sind.

TEIL 1WAHRNEHMUNGEN

AUF DER SUCHE NACH MENSCHEN MIT CHARAKTER

Sind wir noch brauchbar? Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht

Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte,

einfache, gerade Menschen werden wir brauchen. Wird unsere innere

Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und

unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben

sein, dass wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?8

Dietrich Bonhoeffer

In diesem ersten Teil geht es um eine Art Bühnenbesichtigung dieser Welt. Dabei lassen wir uns das Leitmotiv von Johannes Niederers kleiner Geschichte geben und fragen: Was stimmt denn mit dieser Welt und den Menschen nicht? Dieser Frage will ich nachgehen. Ich lasse dazu drei Stimmen zu Wort kommen. Alle drei haben in ganz besonderen Krisenzeiten den Finger auf einen kritischen Punkt gelegt.

Christoph Stückelberger: »Integrität – die Tugend der Tugenden«

Am 11. Dezember 2015 wurde Christoph Stückelberger von der Protestantischen Universität im Kongo (Université Protestante au Congo, UPC) für sein langjähriges Engagement für ethische Standards in Wirtschaft, Politik und Bildung weltweit mit dem Ehrendoktortitel gewürdigt. In seiner Vorlesung sprach er zum Thema »Integrität: Eine aktuelle und globale Tugend«.9 Ein knappes Jahr später, am 2. November 2016, gab er im Rahmen seiner Emeritierung an der Theologischen Fakultät der Universität Basel seine Abschiedsvorlesung zum selben Thema, diesmal unter dem Titel »Integrität: Die Tugend der Tugenden. Der christliche Beitrag zu einer globalen Tugend für Wirtschaft und Politik«.10

Warum sind diese akademischen Aktivitäten eines älter werdenden Professors für unser Thema relevant? Kaum jemand hat sich so engagiert für ethisch verantwortliches Handeln weltweit eingesetzt wie Christoph Stückelberger. Schier rastlos hat er während Jahrzehnten internationale Unternehmen, Non-Profit-Organisationen, Regierungen und Hochschulen beraten und angeleitet, ethische Standards in ihren Verfassungen, Leitbildern und Regelwerken zu verankern und deren Einhaltung einzufordern.

Weltweit lehrt er bis heute an Universitäten Ethik. Er ist der Gründer und Leiter der Internetplattform GlobEthics, einer elektronischen Bibliothek mit Tausenden von Texten zu Themen der Ethik in Wirtschaft, Politik und Forschung in einer globalisierten Welt, die von Zehntausenden von eingeschriebenen Nutzern besucht wird.

Was Stückelbergers Vorlesungen in Kinshasa und Basel besonders bemerkenswert macht, ist eine neue Betonung der Tugend. In der Vorbemerkung zu seiner Basler Vorlesung beschreibt er noch einmal die Grundüberzeugung, die ihn zu seinem immensen Schaffen angeregt hat:

Angewandte Ethik war deshalb immer mein Schwerpunkt, besonders Wirtschaftsethik, politische Ethik und Umweltethik. Dabei war mir seit meinem Studium die Strukturenethik besonders wichtig, also die Frage, wie man nicht nur ethische Orientierung für das Handeln des Einzelnen (Individualethik) und die direkten zwischenmenschlichen Beziehungen (inter-personelle oder Personalethik) erarbeiten kann, sondern wie Gesetze und Standards so gestaltet werden können, dass sie christlichen ethischen Werten entsprechen und so Handlungshilfen darstellen, gleichsam Krücken zum Gehen oder Leitplanken auf einer Straße. Die meisten, wenn nicht alle, Menschen sind ethisch überfordert, wenn sie nicht einen rechtlichen und gesellschaftlichen Orientierungsrahmen haben.

Vor diesem Hintergrund gesteht er dann, dass ihn sogenannte Tugendethik, die sich vornehmlich mit den Haltungen und dem Verhalten des Einzelnen befasst, nie sonderlich interessiert habe. Sie erschien ihm zu sehr als moralischer Appell an den Einzelnen, der zu kurz greife.

Nun aber, an der Schwelle zum Ruhestand, fügt er hinzu:

In den letzten Jahren habe ich aber die Bedeutung und den Wert der Tugendethik vermehrt betont. Dies aus der praktischen Erfahrung, dass die Vielzahl von Regelungen, Standards, internationalen Konventionen und nationalen Gesetzen zwar sehr notwendig sind, aber nicht greifen, wenn sie nicht von inneren Überzeugungen der Bevölkerung und besonders der Führungskräfte in allen Bereichen der Gesellschaft getragen sind.

Stückelberger beobachtet, was uns ja wohl auch gelegentlich beunruhigt, nämlich »dass scheinbar selbstverständliche Tugenden wie Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit stark abzubröckeln scheinen«. Ja er spricht angesichts des amerikanischen Wahlkampfs vom Herbst 2016 geradezu von einer »Verluderung des Politikstils«. Für Stückelberger ist es deshalb notwendig, dass wir »in der Ethik also ›back to basics‹ gehen […], gleichsam Grundregeln des Anstandes wieder buchstabieren«.

Stückelberger kommt zur Einsicht, dass Ehrenkodizes, Best-Practice-Richtlinien und schärfere Verordnungen nicht automatisch ehrliche, dienende und integre Menschen hervorbringen. Werte können zwar verbindlich festgelegt werden, aber erst die Tugenden der handelnden Individuen sichern ihre Umsetzung. Stückelberger betont, dass man »nicht von tugendhaften Institutionen, sondern nur von tugendhaften Menschen sprechen« könne. Er kommt deshalb zu folgendem Schluss:

Menschen und Institutionen treffen Entscheidungen basierend auf Faktoren wie Machtstreben, Opportunitäten, Emotionen, Glaube und anderen. Entscheidungen, basierend auf Ethik, orientieren sich an Werten und Tugenden. Werte sind Orientierungspunkte und ethische Prinzipien, aufgrund derer Entscheidungen gefällt werden. Tugenden sind Haltungen und Verhaltensweisen von Individuen. Während Institutionen oder Staaten einen Wertekodex haben, wie zum Beispiel in einem Leitbild oder der Präambel der Staatsverfassung, kann man nicht von tugendhaften Institutionen, sondern nur von tugendhaften Personen sprechen.

Damit bin ich bei der Frage, die mich umtreibt: Wie können wir Menschen wirklich Menschen werden? Menschen, die fähig sind, aufrecht und mit innerer Stärke, respektvoll im Umgang miteinander, verantwortungsvoll mit den uns anvertrauten Gütern dieser Welt, in Gerechtigkeit und Frieden zu leben? Und was kann und soll der christliche Glaube dazu beitragen? Was ist die Mission der christlichen Kirche in diesem Zusammenhang? Trägt das Evangelium von Jesus Christus dazu etwas bei? Ich meine: Ja!

Ich weiß, es ist eine alte Diskussion, ob wir bei den Strukturen beginnen sollen oder beim Einzelnen. Es braucht wohl beides. Es ist unheimlich schwer, in ungerechten Strukturen ein guter Mensch zu sein. Und es ist – so Stückelberger – scheinbar auch nur begrenzt möglich, mit »schlechten« Menschen eine gute Gesellschaft zu gestalten.

Vor Jahren hat das der Schweizer Philosoph Theophil Spoerri so auf den Punkt gebracht: »Die Welt ist so, wie sie ist, weil wir so sind, wie wir sind«, und er fährt fort:11

Die Quelle allen Unheils ist, dass wir durch unser Profitdenken, unseren Konsumhunger, unsere Geltungsgier und unseren unheimlichen Hang zur Gewalt die Welt und alle Substanzen des Lebens verwüsten. Wir wollten die Welt gewinnen und verloren dabei unsere Seele. In der Zeit des Wohlstands haben wir uns gewöhnt, nur an uns selber zu denken, nur für uns selber zu sorgen. Wir meinen, ohne den anderen auskommen zu können. Wir haben verlernt, miteinander zu reden, miteinander zu leben.

Und seine Schlussfolgerung klingt dann so:

Wenn die Welt so ist, wie sie ist, weil wir so sind, wie wir sind, dann kann sie dadurch geändert werden, dass wir uns ändern. Der Weg zur neuen Welt, den wir alle suchen, ob wir von rechts oder links sind, ob wir vom Westen oder Osten, vom Norden oder Süden kommen, fängt bei jedem einzelnen unter uns an. Der Weg zur neuen Welt ist nichts anderes als der Weg zum neuen Menschen.

Zurück zu Stückelberger. Er macht noch eine weitere, bemerkenswerte Beobachtung. Er stellt zuerst fest:

Zur Förderung von Integrität ist ein rechtlicher und wirtschaftlicher Rahmen sehr wichtig. Gesetze und Regulierungen sowie deren Implementierungsmechanismen sind entscheidend, um Individuen zur Integrität zu führen. Zahlreiche Instrumente zur Förderung von finanzieller Transparenz im Bankenwesen, öffentlichen Beschaffungswesen, transparenten Wahl- und Abstimmungsverfahren inkl. Universitätsverwaltungen und Berufungsverfahren sind in den letzten Jahren geschaffen worden. Sie sind wichtige Stützen und gleichsam Krücken

(Gehhilfen) für die Integrität.

Stückelberger glaubt an die positive Wirkung von guten Strukturen und verbindlichen ethischen Standards. Dafür hat er ja fast seine ganze berufliche Laufbahn investiert. Aber er stellt – etwas ernüchtert? – auch fest:

Gleichzeitig beobachte ich nun vermehrt eine Delegation von Werten und Tugenden an rechtliche Autoritäten. Am deutlichsten ist dies im Finanzsektor. Banker und besonders Privatbankiers waren früher hoch geschätzte Persönlichkeiten mit Integrität. Als Folge der zahlreichen Missbräuche und Skandale im Bankensektor und dem dramatischen Verlust des Vertrauens in Banker, wurden die Kontrollmechanismen so verschärft, dass heute die Compliance Manager, also jene, die die Einhaltung der Regeln überwachen, gleichsam die modernen Inquisitionsinstanzen, die Macht in der Finanzwelt darstellen, wie ich in der Ethikberatung von Firmen und Banken immer wieder feststelle. Damit werden Werte und Tugenden an die Aufsichtsbehörden delegiert, die extrinsische Motivation ersetzt die intrinsische.

Hier wird nun eine Kernfrage angesprochen, die uns weiter beschäftigen wird: Ist mein ehrliches und gerechtes Handeln lediglich von außen motiviert (extrinsisch), weil Gesetze und Verordnungen es verlangen und weil Bestrafung droht? Oder bin ich von innen heraus (intrinsisch) so umgestaltet, dass ich ehrlich und gerecht handle? Und was trägt der christliche Glaube dazu bei? Was heißt das für Kirchen und theologische Bildungseinrichtungen?

Der evangelische Theologe Christoph Stückelberger greift bei seiner Suche nach dem tugendhaften Menschen auf die Bibel zurück. Er sieht in Psalm 15 einen klassischen Text alttestamentlicher Tugendlehre:12

Herr, wer darf deine Hütte betreten?Wen lässt du wohnen auf deinem heiligen Berg?Wer ohne Tadel einhergehtund recht tut und redet die Wahrheit von Herzen;wer mit seiner Zunge nicht verleumdetseinem Nächsten kein Arges tut …und seinen Nächsten nicht schmäht;wer tut, was er geschworen hat,selbst dann, wenn es ihm Nachteil bringt;wer sein Geld nicht auf Wucher gibtund sich nicht dazu bestechen lässt,schuldlose Menschen um ihr Recht zu bringen.Wer sich an diese Regel hält,der steht für immer auf sicherem Grund.

In diesem Text sieht Stückelberger »eine eindrückliche Beschreibung einer Person mit Integrität, mit elf Charakteristika: Geradlinig, ehrlich, wahrhaftig, in der Sprache kontrolliert, fair, gewaltfrei, mutig, an der Wahrhaftigkeit orientiert, Versprechen einhaltend, korruptionsfrei, standfest«.

Im Blick auf das Neue Testament fügt Stückelberger dann hinzu:13

Das Neue Testament geht aber entscheidend über das Alte bezüglich Integrität hinaus, indem die Integrität nicht primär in der Befolgung des Gesetzes und der vielen Ordnungen besteht, sondern im Praktizieren der Liebe im Sinne der Bergpredigt.

Stückelberger weist uns also zur Bergpredigt, wenn es darum geht, Menschen mit Charakter zu werden.14

Er schließt seine Vorlesung mit dem wegweisenden Statement:15

Der spezifisch christliche Beitrag liegt dabei nicht so sehr im Inhalt dieser Tugend als in der Befähigung der Glaubenden, Integrität zu leben

aus der befreienden Zusage des Segens Gottes,

aus dem Mut und der inneren Unabhängigkeit, die aus der Christusbeziehung entsteht,

und mit der Energie und Gewissheit des Heiligen Geistes.

Das ist ein Steilpass für unsere weiteren Überlegungen zum Thema in den folgenden Kapiteln. Doch zuerst rufe ich noch zwei weitere markante Zeugen aus dem 20. Jahrhundert auf: Martin Buber und Dietrich Bonhoeffer.

Martin Buber: »Über Charaktererziehung«

Wir drehen das Rad der Zeit 100 Jahre zurück. Der Jude Martin Buber fragt: Was braucht es, damit eine blühende Gesellschaft entsteht? Wie können Menschen herangebildet werden, die in der Lage sind, eine gesunde Nation aufzubauen? Wie kann das Zusammenleben der Menschen in Gesellschaften und Staaten gelingen? Diese Fragen stellten sich viele Juden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als sie begannen, sich unter der Führung von Theodor Herzl den alten Traum eines jüdischen Nationalstaates auf dem Terrain des historischen Israel zu verwirklichen. 1898 schloss sich auch der damals 20-jährige jüdische Student Martin Buber der zionistischen Bewegung an.16 Buber wurde allerdings gegenüber den eher politischen und zunehmend nationalistischer werdenden Strömungen im Zionismus immer skeptischer. Er war überzeugt, dass eine »Renaissance« des Judentums mehr als Land, Nation und Politik brauchen würde. Ohne eine »jüdisch-geistige Renaissance«, ohne geistliche Identität und Charakterbildung gab er dem zionistischen Projekt keine Chance. Schon bald nach der Jahrhundertwende distanzierte sich Buber zunehmend von Herzls zionistischer Bewegung. Die Vision einer Renaissance des jüdischen Volkes blieb ihm aber ein Herzensanliegen.

Buber war davon überzeugt, dass eine nachhaltig tragfähige jüdische Identität nur in der Wiederentdeckung der religiösen Wurzeln des Judentums gefunden werden könne. Er sprach von einem »hebräischen Humanismus«, manchmal auch von einem »biblischen Humanismus«, der in der hebräischen Bibel verwurzelt ist. Er war auch davon überzeugt, dass diese geistig-geistlichen Quellen im Judentum nur durch eine gezielte Bildungsarbeit fruchtbar werden könnten. In den folgenden Jahrzehnten investierte Buber deshalb einen Großteil seiner Energie in die Volksbildung – bis 1938 noch in Deutschland, dann unter den jüdischen Einwanderern in Palästina.

Bubers Beitrag zur Pädagogik ist durch viele Vorträge und Aufsätze dokumentiert.17 Drei herausragende Vorträge sind in einem kleinen Bändchen mit dem Titel Reden über Erziehung veröffentlicht.18 Die drei Vorträge spitzen sich gewissermaßen auf den dritten hin zu, der den Titel trägt »Über Charaktererziehung«. Diese Rede stammt von einer Tagung jüdischer Lehrer in Tel Aviv im Jahr 1939. Der Vortrag beginnt mit dem Satz:

Erziehung, die diesen Namen verdient, ist wesentlich Charaktererziehung. Denn der echte Erzieher hat nicht bloß einzelne Funktionen seines Zöglings im Auge, wie der, der ihm lediglich bestimmte Kenntnisse oder Fertigkeiten beizubringen beabsichtigt, sondern es ist ihm jedesmal um den ganzen Menschen zu tun.

Buber ist davon überzeugt, dass es zum Aufbau einer Gesellschaft nicht reicht, lediglich Kenntnisse (Wissen) zu vermitteln oder Fertigkeiten einzuüben. Es braucht vielmehr die Charakterbildung des Menschen. Nicht, was Menschen wissen oder können, wird letztlich den tragfähigen Grund der Gesellschaft bilden, sondern, was sie sind. Da geht es um Haltungen, Werte und Tugenden – zusammengenommen um den Charakter. Mit anderen Worten: Kopf und Hand reichen nicht, es braucht das Herz – die Mitte des Menschen.

Menschen mit Charakter sind für Buber Menschen, die sich nicht in der Masse mittreiben lassen, sondern bereit sind, persönlich »Verantwortung für Leben und Welt« zu übernehmen.19 Lehrende sollen deshalb in den Lernenden »den Mut wecken, das Leben wieder auf die eigenen Schultern zu nehmen.«20 Menschen mit Charakter reifen über den Individualismus (jeder schaut nur vor sich) und den Kollektivismus (mitlaufen in der Masse) hinaus zu einem verbindlichen Miteinander freier, aber verantwortlicher Personen.21

Dazu ist es für Buber wichtig, Freiheit richtig zu verstehen. Den Visionen der sogenannten Reformpädagogik jener Zeit hält Buber in einem Vortrag von 1926 in Heidelberg entgegen, dass diese zu einseitig lediglich auf Befreiung und Freiheit und auf die »Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kind« vertraue.22 In diesem Vortrag formulierte er seine berühmt gewordenen Sätze über eine falsch verstandene Freiheit. Befreiung von falschen Zwängen ist nötig – etwa vom kollektiven Zwang der Vermassung –, aber das darf nicht in eine beziehungslose und unverbindliche Freiheit führen: »Der Gegenpol von Zwang ist nicht Freiheit, sondern Verbundenheit« (Buber 2005:26). Ja, es ist wichtig, dass sich der Mensch aus der Vermassung befreit, aber das kann und darf nicht zu einem verantwortungslosen Individualismus führen. So sagt Buber über die Freiheit: »Ich bin ihr zugetan, ich bin allzeit bereit, um sie mitzukämpfen.« Aber dann auch: »Ich liebe die Freiheit, aber ich glaube nicht an sie« (Buber 2005:27). Befreiung und Unabhängigkeit sind wichtig, aber nicht das Ziel. Sie sind ein Steg, sagt Buber, aber kein Wohnraum. Der Lebensraum ist für Buber im Verbundensein, in der Verbindlichkeit, in Gemeinschaft. Charakterbildung führt deshalb über den Steg der Freiheit in den Lebensraum verbindlicher Gemeinschaft.

Menschen mit Charakter sind für Buber Menschen, die nicht nur in Träumen, Ideen und Theorien leben, sondern der Wirklichkeit ins Auge schauen und das Leben gemäß dem ihnen vom Schöpfer verliehenen Potenzial verwirklichen. In einem Vortrag zum Thema »Bildung und Weltanschauung«, den er 1935 im jüdischen Lehrhaus in Frankfurt hielt, macht er deutlich, dass er von Weltanschauungen, die lediglich in der Ideenwelt herumspekulieren, nicht viel hält. Im Angesicht des wachsenden Nationalsozialismus sagt er:23

Es kommt, beim Lehrenden wie beim Lernenden, darauf an, ob seine Weltanschauung sein lebensmäßiges Verhältnis zu der »angeschauten« Welt fördert oder ihm diese verstellt. Die Tatsachen sind; es kommt darauf an, ob ich sie so treu zu erfassen strebe, wie ich vermag. Meine Weltanschauung kann mir darin helfen; wenn sie nämlich meine Liebe zu dieser »Welt« so wach und stark hält, dass ich nicht müde werde wahrzunehmen, was wahrzunehmen ist.

Im Klartext heißt das: Menschen mit Charakter machen die Augen auf und sehen, was in dieser Welt eigentlich abläuft. Sie verschließen ihre Augen nicht und ziehen sich nicht in die sicheren Gefilde von Idealen und Theorien zurück.

Dabei ist Bubers Horizont nie auf die empirisch wahrnehmbaren Wirklichkeiten dieser Welt begrenzt. Von seinem hebräischen Glauben her »liest« er die Welt aus der Perspektive dessen, der sich in der hebräischen Bibel offenbart.

Entscheidend ist aber letztlich die Frage: »Was fängst du mit deiner Weltanschauung an?«24 Am Ende zählt, »ob einer seine Weltanschauung nur verficht und ›durchsetzt‹ oder sie lebt und bewährt«.25 Für Buber gilt: »Die Wahrheit einer Weltanschauung wird nicht in den Wolken erwiesen, sondern im gelebten Leben: wahr ist, was bewährt wird.«26

Charakterbildung, so Buber, weckt Menschen auf, die Wirklichkeit zu sehen – in seinem Kontext die wachsende Manipulation der Massen durch den Nationalsozialismus – und verantwortlich zu handeln. Der manipulativen Massenverblendung (er spricht von »Ungebildetheit«) hält er eine »zeitwahre, zeitgerechte Bildung« entgegen, »die den Menschen hinführt zum gelebten Zusammenhang mit seiner Welt und ihn aufsteigen lässt zu Treue, zu Erprobung, zu Bewährung, zu Entscheidung, zu Verwirklichung.«27

So kann er am Schluss seines Vortrags über Weltanschauung pointiert zusammenfassen:

Die Bildungsarbeit, die ich meine, ist Führung zu Wirklichkeit und Verwirklichung. Der Mensch ist zu bilden, der zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Scheinverwirklichung und echter Verwirklichung zu scheiden weiß, der den Schein verwirft und die Wirklichkeit wählt und ergreift, gleichviel welche Weltanschauung er erwähle.

Verantwortung ist in Bubers Denken in diesem Zusammenhang ein weiterer Schlüsselbegriff, der nähere Betrachtung verdient.28 Verantwortung hat – wie das deutsche Wort schon sagt – mit antworten zu tun. Buber kann deshalb sagen: »Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt«. Und er fragt gleich: »Antworten worauf?« Antwort: »Auf das, was einem widerfährt, was man zu sehen, zu hören, zu spüren bekommt.«29

Der verantwortliche Mensch ist deshalb für Buber aufmerksam. Ein hörender, ein sehender, ein wahrnehmender Mensch. Er lässt sich ansprechen, um dann auch zu antworten – und um so Verantwortung zu übernehmen.

Von seinem hebräischen Humanismus, das heißt, von seinem biblischen Glauben her, versteht Buber den Menschen nicht als isoliertes Individuum. Der Mensch ist vielmehr in seinem tiefsten Wesen und immer Mensch-in-Beziehung. Das Wort Ich kann deshalb für Buber auch gar nicht für sich alleine stehen. Es ist immer schon in Verbindung mit einem Es oder mit einem Du.30 Manche von Bubers Formulierungen sind zu gerne zitierten Redewendungen und Weisheitsworten geworden:

Am Anfang ist die Beziehung (S. 22).

Alles wirkliche Leben ist Begegnung (S. 15).

Der Mensch wird am Du zum Ich (S. 32).

Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundwortes Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es (S. 8).

Ich-Es und Ich-Du sind denn auch die beiden Grundworte (eigentlich Wortpaare) in Bubers Verständnis vom Menschen. Ich-Es steht für Beziehungen, in denen ich das aktive, betrachtende Subjekt bin, gegenüber einem passiven Objekt, sei es ein Mensch oder ein Gegenstand. Ich-Es-Beziehungen führen zu Sacherkenntnissen, zu Sachwissen. Das ist die Beziehung, die die Wissenschaft zu ihren Erkenntnissen führt, und das ist deshalb auch die Art von Beziehung, die wir zum Fachwissen haben, das wir in Schule und Studium erwerben. Ich-Es-Beziehungen und Ich-Es Erkenntnisse haben ihren wichtigen Platz im Leben, aber es gibt mehr: Ich-Du-Beziehungen.

In einer Ich-Du-Beziehung bin ich nicht länger das alleine aktive Subjekt, das einen passiven Gegenstand (Objekt) analytisch betrachtet und erfasst, ich werde vielmehr in eine wechselseitige Beziehung von zwei Subjekten hineingenommen, in eine dialogische Beziehung.

Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche ich das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend (2012:12).

Der ganze (heile) Mensch, wie Buber ihn von der hebräischen Bibel her sieht, findet in der Ich-Du-Beziehung seine Bestimmung – letztlich in der Ich-Du-Beziehung zu seinem Schöpfer. Seine Rede »Über Charaktererziehung« schließt er denn auch mit dem Satz:31

Der Erzieher, der dazu hilft, den Menschen wieder zur eigenen Einheit zu bringen, hilft dazu, ihn wieder vor das Angesicht Gottes zu stellen.

Wir können von Buber her also sagen: Menschen mit Charakter sind Menschen, die von Kollektivzwängen befreit sind. Sie sind eigenständige Persönlichkeiten, jedoch verbunden und verantwortlich. Sie sehen die Wirklichkeit unverstellt. Sie können Schein von Sein unterscheiden und übernehmen in der Welt Verantwortung. Es sind Menschen, die nicht bei beobachtender und betrachtender Analyse stehen bleiben, sondern sich von der Wirklichkeit ansprechen, berühren und bewegen lassen. Sie gehen über sachliche Ich-Es-Beziehungen hinaus und machen sich verletzlich in Ich-Du-Beziehungen. Sie fliehen nicht in eine Welt der Träume und Ideen, sie realisieren vielmehr das Leben verantwortlich in dieser Welt. In diesem Sinne schultern sie das Leben.

Die Frage, die uns hier nun beschäftigen wird, lautet: Wie können wir solche Menschen werden?

Ich werde in Teil 2 von der Bibel, insbesondere von Jesus und von der Bergpredigt her, versuchen eine Antwort zu geben. Anschließend (Teil 3) werden wir zu Martin Buber zurückkommen und nachfragen, wie er die Frage beantwortet.

Doch nun zuerst noch zu Dietrich Bonhoeffer.

Dietrich Bonhoeffer: »Sind wir noch brauchbar?«

Wir sind in derselben Phase der Weltgeschichte, aber gewissermaßen in einem anderen Film. Dietrich Bonhoeffer, der 28 Jahre jünger als Martin Buber war, legte einen akademischen Blitzstart hin.32 Mit 17 Jahren beginnt er sein Theologiestudium. Es folgt die Promotion 1927 (mit 21 Jahren) und Habilitation 1930 (mit 24 Jahren). Er reist viel im Ausland und vernetzt sich international. Obwohl er von der akademischen Qualität der theologischen Arbeit in Amerika enttäuscht ist, prägen ihn das Leben in der Studentengemeinschaft, die Begegnung mit der Spiritualität der »schwarzen« Kirchen, ja überhaupt die soziale Situation der »Schwarzen« (er sprach noch von der »Negerfrage«) nachhaltig. Doch aus der akademischen Laufbahn wird nichts. Am deutschen Himmel ziehen die düsteren Wolken des Nationalsozialismus auf. Von seiner Theologie und von seinem Glauben her kann und will Bonhoeffer mit der Richtung der meisten damaligen Christen in Deutschland nicht mitgehen. Er beginnt, gegen den Strom zu schwimmen.

1933 übernimmt die nationalsozialistische Partei die Macht in Deutschland. Jetzt muss man Farbe bekennen. Auch Bonhoeffer. Er sieht, wie sich die evangelische Kirche und viele ihrer Pfarrer und Theologen dem Kurs Hitlers anschließen. Bonhoeffer geht in der eigenen Kirche in die Opposition. Er beginnt, eine alternative Pfarrerausbildung aufzubauen. Diese wird 1937 vom Staat geschlossen. Schon 1936 wird ihm die Lehrbefugnis an der Universität entzogen. Bonhoeffer schließt sich zunehmend dem politischen Widerstand gegen Hitler an. Er organisiert Rettungsaktionen für Juden. Er riskiert Kopf und Kragen. Im April 1943 wird er verhaftet, am 7. Februar 1945 hingerichtet. Soweit die Skizze eines dramatischen Lebens.

In einem Berliner Gefängnis zieht Bonhoeffer zum Jahreswechsel 1942/43 Bilanz.33 Der Text ist mit dem Titel »Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943: Nach 10 Jahren« überschrieben und bezieht sich damit auf die Machtübernahme durch Hitler 1933. Bonhoeffer will »gewonnene Ergebnisse auf dem Gebiet des Menschlichen« reflektieren. Er fragt »Wer hält stand?« in einer Zeit, in der die Menschen, wie kaum jemals zuvor, den Boden unter den Füßen verloren haben: »Ob es jemals in der Geschichte Menschen gegeben hat, die in der Gegenwart so wenig Boden unter den Füßen hatten […]?«

Die Vernünftigen, argumentiert Bonhoeffer, haben versagt. Die Fanatiker sind gescheitert. Diejenigen, die sich nur auf das eigene Gewissen berufen, sind überfordert. Wer sich einfach nur auf die Pflichterfüllung beruft, ist in die Irre geleitet worden. Und wer in die persönliche Tugendhaftigkeit flieht, drückt sich vor der Verantwortung. Selbst wer in kühner Freiheit »seinen Mann« steht und in das Schlimme willigt, um Schlimmeres zu verhüten, kann zu Fall kommen.34 Bonhoeffer fragt noch einmal: »Wer hält stand?«– und antwortet:

Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf. Wo sind diese Verantwortlichen?

Bonhoeffer sucht Menschen mit Charakter. Nur sie werden in der schweren und schwierigen Zeit bestehen können.

Bonhoeffer sucht Menschen mit Zivilcourage, die sich nicht unkritisch den Machthabern unterordnen, sondern »in der freien Verantwortung des freien Mannes« handeln.

Dazu ist die Überwindung der Dummheit nötig. Die ist für Bonhoeffer »nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt«. Daraus ergibt sich für Bonhoeffer, »dass nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte« und fügt hinzu: »Das Wort der Bibel, dass die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei (Psalm 111,10), sagt, dass die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.«

Einher mit der Dummheit geht die Menschenverachtung. Als Menschen mit Charakter, so Bonhoeffer, »widerstehen wir der Gefahr, uns in Menschenverachtung hineintreiben zu lassen«.