Tao heißt leben, was andere träumen - Theo Fischer - E-Book

Tao heißt leben, was andere träumen E-Book

Theo Fischer

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Beschreibung

«Beobachtung – wir können auch Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit dazu sagen – ist ein wesentlicher Bestandteil der taoistischen Lebenskunst. Im Grunde ist die Wechselwirkung zwischen unserem Bewusstsein und der uns umgebenden Materie so beschaffen, dass wir nichts beobachten können, ohne dass es sich verändert. Die Herbstfärbung des Laubes der Bäume dauert Wochen, und wir bemerken die Veränderung erst, wenn die Wälder sich in ein gelbes, braunes und weinrotes Farbenmeer verwandelt haben. Dennoch: In Lebenslagen, wo Sie unter dem Druck von Sorgen und Nöten mit aller Intensität auf Ihr Problem schauen, wird nach meiner Erfahrung innerhalb einer kurzen Zeitspanne der Beginn einer Veränderung sichtbar werden. Das Gleiche gilt für die Realisierung Ihrer Träume und Pläne – soweit die Bilanz Ihres Glückshaushaltes JA dazu sagt. Die erträumten Dinge werden unweigerlich auf Sie zukommen.»

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Seitenzahl: 362

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Theo Fischer

Tao heißt leben, was andere träumen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Macht der Beobachtung

Ein entscheidender Faktor

Der Freie Wille

Reflexionen über das Denken

Niederlagen kontra Selbstvertrauen

Rechte Lebensart

Wahrheit als Lebenselement

Träumen, träumen und vielleicht auch leben

Lebenskunst

Zu sich selbst Stellung nehmen müssen

Ein neuer Lebenshorizont

Signale

Lebenskrisen

Spontaneität und Bauchgefühl

Wie macht man das?

Vergangenheit und der Modus des Erinnerns

Die Kraft und die Herrlichkeit

Literaturverzeichnis

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

als ich vor 22Jahren mein erstes Buch über das Tao vorbereitete, nahm ich ein Paket mit 500Blatt Fotokopierpapier und schrieb es im Laufe etlicher Monate auf beiden Seiten mit Notizen voll. Ich grübelte anschließend lange über den beinahe tausend Seiten voller Gekritzel, bis es mir zu viel wurde. Ich nahm das ganze Paket – und warf es in den Papierkorb! Dann setzte ich mich an meine alte Reiseschreibmaschine und schrieb binnen sechs Wochen, quasi im Strom des Unbewussten, den Text nieder, den Sie heute noch in meinem Titel Wu wei, die Lebenskunst des Tao nachlesen können. Wie sich herausstellte, wurde ein besonderes Buch daraus, das über die vielen Jahre hinweg nichts von seiner Magie verloren hat. Ähnlich ergeht es mir heute mit dem vorhandenen Textmaterial zu meinem neuen Titel Tao heißt leben, was andere träumen. Die Notizen sind elektronisch auf der Festplatte registriert, sie füllen in der Datei rund 200Seiten mit ungefähr 2300Zeichen pro Seite. Was umgerechnet auf von Hand niedergeschriebene Einfälle vermutlich ein ähnliches Volumen wie meine damaligen Notizen für Wu wei ausmacht. Ich werde zwar die Texte nicht in den Papierkorb befördern, aber trotz der Möglichkeiten, vorhandenes Material weiterzuverarbeiten, werde ich wohl auch diesmal spontan in die Tastatur tippen, was mir frisch und unverbraucht in den Sinn kommt. Die Versuchung ist groß, in diesem Vorwort bereits die ganze Fülle der Chancen und Möglichkeiten des WEGES (wie die Orientierung an der taoistischen Lebensweisheit genannt wird) komprimiert zusammenzufassen, doch dies würde den Rahmen einer Einleitung sprengen. Und schließlich ist im ersten Kapitel Platz genug dafür da. Meine Rolle in diesem Spiel, das sei betont, ist ganz gewiss nicht die eines Gurus. Ich betrachte mich noch nicht einmal als Lehrer. Ich will, kurz und knapp gesagt, die Aufgabe eines Wegweisers übernehmen, der am Rand Ihres Lebensweges auftaucht und zu Ihnen sagt: «Du bist schon öfter fehlgegangen. Versuche es doch einmal in dieser Richtung.»

Zu verwirklichen, wovon andere träumen, wird Ihnen gelingen, wenn Ihnen etwas anderes gelingt: nämlich die taoistischen Prinzipien im eigenen Alltag in die Praxis umzusetzen. Und zwar mit Ihrem ganzen Sein. Sie werden in den folgenden Kapiteln autobiographischen Berichten darüber begegnen, wie machtvoll die Magie des Tao sich in meinem eigenen Leben entfaltet hat. Und was mir und meiner Frau gelungen ist, müsste bei Ihnen eigentlich auch funktionieren. Die taoistische Philosophie ist keine Glaubenslehre. Sie ist Lebenskunst pur. Investieren Sie für den Anfang ein wenig rationalen Glauben, einen Vertrauensvorschuss gewissermaßen. Sie werden ihn nur für so lange brauchen, bis Ihre eigenen Erfahrungen ihn ablösen.

Die Macht der Beobachtung

Ich stand auf dem kleinen steilen Sträßchen, das nach oben in den Wald führte, und sah dem in Richtung Wald rasenden großen Citroën nach. Er hatte mindestens hundert Sachen drauf und war voll gepackt mit jungen Leuten. Die Fenster waren trotz der Kühle offen, sodass die dröhnende Musik bis hinunter ins Dörfchen zu hören war. Wieder einmal eine Gruppe von Parisern, die in den Vogesen ein paar Tage Ferien in dem allein stehenden Haus droben im Wald machten. Unser Bauernhaus, 150Meter oberhalb des Dorfes gelegen, war das letzte vor dem Waldrand. Das Sträßchen verlief durch unser Land, man musste es überqueren, um Wasser aus dem Brunnen gegenüber zu holen. Und in diesem Jahr war während der Feriensaison jeder Schritt aus dem Haus und auf das gegenüberliegende Grundstück zum Risiko für Mensch und Tier geworden. Unser Hund und unsere Katzen lebten gefährlich, seitdem ein im Elsass lebendes Rentnerehepaar das verlassene Haus dort droben gekauft und über die Saison an Urlauber aus der Großstadt vermietet hatte. Es kamen so gut wie ausschließlich Gruppen von Jugendlichen, denen die abgelegene Lage des Waldbauernhofes so richtig in den Kram passte, um für ein paar Tage sozusagen die Sau herauszulassen. Wir planten damals bereits den Umzug nach Italien, und die Verkaufschancen während des Sommers wurden bei der Unruhe, welche diese Typen aus Paris veranstalteten, quasi zum Risiko. Ich stand also da und blickte frustriert und hilflos der entschwindenden Staubwolke nach. Ich ließ zu, dass sekundenlang die ganze Misere der Situation in mir aufloderte, ohne dass ich Widerstand dagegen leistete oder nach Lösungen verlangte.

Was ich hier erzähle, geschah an einem Sonntagmorgen. Am nächsten Tag waren die Wochenendurlauber wieder zurück in die Stadt gereist. Ich machte mich mit dem Hund auf den Weg zum täglichen Spaziergang hinauf in den Wald. Als ich das fragliche Haus erreichte, stand dort auf dem Vorplatz ein Auto mit aufgeklappter Kofferraumhaube. Zwei ältere Leutchen trugen Sachen aus dem Haus und luden sie in ihren Wagen. Ich trat näher und begrüßte sie – man kannte sich vom gelegentlichen Sehen.

«Was machen Sie denn da?», fragte ich und bekam von beiden einen empörten Wortschwall zur Antwort.

«Wir packen ein, weil wir das Haus verkaufen werden», sagte die Frau.

«Mit diesen Typen aus Paris ist es nicht mehr auszuhalten», redete der Mann dazwischen. «Die Letzten, die hier waren, haben uns, ohne zu zahlen, eine Telefonrechnung von 500Franc hinterlassen, der Telefonapparat hat einen Riss, etliche Teller und Tassen liegen als Scherben auf dem Boden herum, das bessere Porzellan und alles Besteck sind verschwunden, die haben es wohl mitgenommen.»

«Ein Federbett ist aufgerissen», fuhr die Frau fort, «ich werde Tage brauchen, bis alles wieder sauber ist.»

«Haben Sie das Anwesen schon irgendwo angeboten?», erkundigte ich mich.

«Ja, wir haben, ehe wir herkamen, einen Makler beauftragt», sagte der Mann, «Aber der räumt dem alten Gemäuer wenig Chancen ein.»

Ich überlegte kurz. Dann fragte ich: «Was hielten Sie davon, wenn ich mich in Deutschland nach einem Käufer für Ihr Haus umsehen würde? Dann hätte ich einen gewissen Einfluss auf künftige Nachbarn.»

Die guten Leutchen stimmten auf der Stelle begeistert zu. Sie verrieten mir noch einen weiteren Grund für die Aufgabe des Objektes. Ursprünglich war die Anschaffung und Vermietung als Ergänzung ihres Renteneinkommens gedacht. Dann aber mussten sie bei der ersten Offenlegung ihrer Zusatzeinkünfte feststellen, dass man ihnen diese Beträge an der Rente kürzte. Sie sagten, selbstverständlich stehe mir eine Provision zu, falls mir der Verkauf gelinge. Ich nannte spontan zehn Prozent, erklärte aber, diese würde ich auf den Verkaufspreis ihrer Wahl aufschlagen. Man war einverstanden, und ich setzte meinen Spaziergang fort.

Ich gab in der nächsten erreichbaren Ausgabe der Gartenzeitschrift Kraut & Rüben eine Kleinanzeige auf und bot das Haus an. Es kam eine einzige Anfrage herein, von einer Frau aus Köln. Sie kam, sah – und kaufte. Ich bekam meine Provision bar auf die Hand. Die Frau erklärte, ihr Mann sei Invalide, sie müsse Vorrichtungen für Behinderte einbauen lassen, einen Treppenlift zum Beispiel. Sie blieb eine Woche vor Ort und schmiedete Pläne. Als sie schließlich abreiste, informierten wir vorsorglich bereits alle benötigten Handwerker, damit sie beim nächsten Aufenthalt der Käuferin bereitstanden. Doch dieser Aufenthalt fand nie statt. Die Frau kehrte nicht mehr an unseren Ort zurück. Das Haus stand still und verwaist dort oben und war noch unbewohnt, als wir anderthalb Jahre später nach Italien umzogen.

Als ich an diesem entscheidenden Sonntag den wilden Urlaubern nachblickte, rührte sich kein Wunsch in mir, eine höhere Macht möge sie bitte vom Erdboden vertilgen, und dies, wenn’s geht, sofort. Ich empfand überhaupt kein Anliegen ans Schicksal, keine Visionen von einem für alle Zeiten von Pariser Jungbürgern gesäuberten Anwesen strömten durch mein genervtes Gehirn. Ich hatte einfach hingeschaut, dies aber mit jeder Faser meines Seins. Die Konzentration aller Sinne auf ein Problem, ohne den Versuch des Verstandes, es zu lösen, zählt zu den kraftvollsten Mitteln des Nichthandelns im Sinne der taoistischen Lebenskunst. Die Macht des Grundes der Dinge wirkt über das Medium der Beobachtung auf unser Leben ein. Sie ist nach meiner Erfahrung dort am wirksamsten und uns am nächsten, wo wir selbst ohne Chance wären, aus eigenen Kräften eine Situation zu verändern. Was ich hier schildere, habe ich in vielen anderen Szenarien in den verflossenen Jahrzehnten erlebt, und ich werde Ihnen noch davon berichten. Betont sei an dieser Stelle ausdrücklich: Es handelt sich bei Erfahrungen mit der in unser Leben hineinwirkenden Magie des Tao nicht um das Privileg von Auserwählten oder Menschen, die durch unvorstellbare Mühen einen Geisteszustand errungen haben, der ein derartiges Phänomen möglich macht. Mit Hilfe der Macht der Beobachtung werden Träume wahr, werden Lebensziele erreicht und Hindernisse aus dem Weg geräumt, die unser Wohlergehen bedrohen. Ich möchte behaupten, es hat in Ihrem Leben mehr als einmal Situationen gegeben, denen gegenüber Sie sich ähnlich verhalten haben, wie ich es oben beschrieben habe, und die sich anschließend auf wundersame Weise klärten. Nur war Ihnen nicht bewusst, dass Sie da, ohne es zu ahnen, die Wirkkräfte des Nichthandelns eingesetzt hatten. Für dieses Hinschauen gibt es freilich seitens des Tao keinen Garantieschein, dass es auf Kommando jedes Mal funktioniert, wenn Sie gerade in der Stimmung sind, davon Gebrauch zu machen. Insbesondere bleibt die Wirkung dort aus, wo eine Sache bereits mit einem Funken gesundem Menschenverstand zu lösen ist. Oder wo das Kontrastprogramm auf unserem Lebenspfad in bestimmten Situationen entschieden NEIN zu unseren Entscheidungen sagt. Ich würde mich betrogen fühlen, wenn mir ein Mensch oder eine höhere Macht die Gewissheit geben würde, dass meine Wünsche grundsätzlich erfüllt werden. Eine derartige Sicherheit wäre der Garant für ein auf einschläfernde Sicherheit reduziertes Lebensgefühl, dem alle prickelnde Würze des Ungewissen, Abenteuerlichen fehlt.

Beobachtung – wir können auch Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit dazu sagen – ist ein wesentlicher Bestandteil der taoistischen Lebenskunst. Im Grunde ist die Wechselwirkung zwischen unserem Bewusstsein und der uns umgebenden Materie so beschaffen, dass wir nichts beobachten können, ohne dass es sich verändert. Ich möchte sogar behaupten, wir können noch nicht einmal verhindern, dass die Dinge sich durch unser Hinschauen verändern. Freilich mit einem feinen Unterschied: Der allergrößte Teil der vor unseren Sinnen ablaufenden Erscheinungen verändert sich unendlich langsam, sodass wir uns der Veränderungen, wenn überhaupt, nur durch Vergleiche bewusst werden, bei denen zwischen vorher und nachher kürzere oder längere Zeitspannen liegen. Die Bewegung der Zeiger einer Turmuhr mögen wir bereits nach fünf Minuten bemerken, das Aufbrechen einer Tulpenblüte fällt uns dagegen erst im Verlauf von drei bis vier Stunden auf. Die Herbstfärbung des Laubes der Bäume dauert Wochen, und wir bemerken die Veränderung erst, wenn die Wälder sich in ein gelbes, braunes und weinrotes Farbenmeer verwandelt haben. Dennoch: in Lebenslagen, wo Sie unter dem Druck von Sorgen und Nöten mit aller Intensität auf Ihr Problem schauen, wird nach meiner Erfahrung innerhalb einer kurzen Zeitspanne der Beginn einer Veränderung sichtbar werden. Das Gleiche gilt für die Realisierung Ihrer Träume und Pläne – soweit die Bilanz Ihres Glückshaushaltes JA dazu sagt. Die erträumten Dinge werden unweigerlich auf Sie zukommen.

***

Es ist rund zweieinhalbtausend Jahre her, seitdem Laotse die vermutlich über fünftausend Jahre alten taoistischen Überlieferungen in seinem Tao te king zu einer in sich geschlossenen Philosophie zusammengefasst hat. Ihm standen einst keine wissenschaftlichen Resultate zur Verfügung, welche die Richtigkeit seiner Thesen bestätigten. Er selbst stellt in seinem Werk zweimal die Frage nach der Quelle seines Wissens: «Woher weiß ich aller Dinge Art?» – «Aus diesen selbst», antwortet er. Uns sind heute die Theorien bekannt, aber die Allgemeinheit realisiert kaum, dass wir in einer Welt leben, die in ihrer Grundstruktur anders beschaffen ist, als wir gelernt haben. Das Bild, mit dem wir tagtäglich unsere eigene Welt erleben, täuscht. Die Erde samt allen Sternen im Raum sind Gebilde, die zum größten Teil aus nichts, aus Leerräumen zwischen unsichtbar winzigen Energieteilchen bestehen. Sie und ich sind an diesem blitzartigen Entstehen und Wiederverschwinden von Materie offenbar unmittelbar als Akteure beteiligt. Wenn wir Naturphänomene betrachten, stellt sich laut anerkannten Theorien sogar die Frage, ob zum Beispiel der Mond nur da ist, wenn ich ihn sehen kann. Bischof Berkeley setzt einen Punkt darauf, indem er sagt, dass ein Baum, der im Wald ungehört fällt, kein Geräusch erzeugt. In beiden Fällen braucht es die Teilnahme des Beobachters, dass überhaupt etwas stattfindet. Trivial ausgedrückt, würde es bedeuten, dass es unsere Katze nur gibt, solange sie nicht um die Hausecke biegt, und dass sie erst wieder reale Existenz gewinnt, wenn sie auf dem Rückweg durchs Küchenfenster springt und sich ergo wieder materialisiert. Nehmen wir an, Sie wären diese Katze, dann wäre es der beobachtete zweibeinige Dosenöffner, der zu nichts wird, bis die Katze ihm in der Küche wieder begegnet.

Die Vorstellung, dass meine Welt sich auflöst, wenn ich sie nicht wahrnehme, klingt schon ein bisschen verrückt. Ob das so ist oder nicht, hat freilich auf die Wirkungskraft der Magie des Tao keinerlei Einfluss und spielt darum bestenfalls als faszinierende Spekulation eine Rolle. Die Differenz zwischen unserem Sinnenerleben und der tatsächlichen Beschaffenheit dieser Welt scheint Ähnlichkeit mit jener zwischen unserem Erleben der Realität und einem intensiven, bildhaften Wachtraum zu besitzen. Womöglich ist unsere Existenz, wie wir sie als wirklich empfinden, dem Wachtraum gar nicht so unähnlich. Die Unterschiede zwischen Träumen und Erleben bestehen eigentlich nur darin, dass wir Sinneseindrücke jenseits der Einbildung massiver spüren, die Berührung einer Oberfläche, Laute, die an unser Gehör dringen, oder Düfte, die unseren Geruchssinn erreichen. Unsere Traumwelt liefert uns das Erleben nicht so nachdrücklich und unausweichlich wie die Realität. Dennoch besteht zwischen den beiden Phänomenen eine Beziehung. Die andere Grundstruktur der Materie (mit der um die Ecke verschwindenden Katze oder dem sich in nichts auflösenden unbemerkten Frauchen oder Herrchen) liefert uns das Indiz dafür, dass wir als die Wahrnehmenden weitaus stärker an der Gestaltung unserer Welt beteiligt sind, als wir in unseren periodischen Anfällen emotionaler Ohnmacht argwöhnen. Unsere Beobachtung scheint sehr viel mehr direkten Einfluss auf die Dinge zu haben, als wir ahnen. Offenbar braucht die sichtbare Welt uns als den Beobachter, um überhaupt als erlebbare Dimension stattzufinden. Sind wir dann mit unseren ständigen Sorgen und Nöten nicht ausgewachsene Narren, wenn wir nicht die logische Konsequenz aus unserer subjektiven Teilhabe am Schöpfungsgeschehen ziehen und im Sinne unseres Wohlergehens aktiv intervenieren? Und uns in Zukunft einer anderen, weniger passiven Geisteshaltung bedienen? Wenn Sie begreifen, dass die Welt Ihre Beobachtung nötig hat, um in Ihrem Leben stattzufinden – dann haben Sie damit auch die Option, dass sie sich in ihren Bewegungen ein wenig mehr nach Ihren Bedürfnissen richtet!

Die vorliegende Arbeit möchte Ihnen die Erkenntnis schenken, mit der Sie aus Platons Schattenwelt heraustreten, die Macht Ihrer Materie erzeugenden Beobachtung entdecken und sie zielgerichtet einsetzen werden. Ich möchte Sie zu einer Geisteshaltung bringen, in der Traum und Realität, Vision und Handeln zu einer Einheit verschmelzen. Ich gebe mir Mühe, Ihnen in dem Buch nichts zu versprechen, das Sie nicht halten können. Ja, Sie haben richtig gelesen: das Sie nicht halten können. Das Tao wirkt in Ihr Leben durch eine einzige Kraftquelle hinein, und die befindet sich einzig in Ihnen selbst, nirgendwo sonst. In christlichen Predigten ist von der Kraft und der Herrlichkeit die Rede, und es ist damit die Vatergestalt im Himmel gemeint. In unserem Erkenntnisbereich wohnt diese Kraft aber nicht draußen im All, jenseits der Materie – sie schlummert in uns, dem Menschen selbst.

Ein entscheidender Faktor

Ich war vier Jahre alt, als ich es das erste Mal erlebte. Wir wohnten damals in Karlsruhe, und ich durfte meine Mutter in die Stadt begleiten. Für den Rückweg zu unserer Wohnung im ein paar Kilometer vom Zentrum entfernten Vorort Mühlburg hatten wir das Geld für die Straßenbahn gespart und uns für jeden eine Schneckennudel gekauft. Nun waren wir zu Fuß unterwegs. Nach einem Frühlingsregenschauer war die Sonne aus den Wolken hervorgetreten. Ganz plötzlich, ohne jeden äußeren Anlass, stellte sich bei mir ein unbeschreibliches Glücksgefühl ein. Es hielt nach meiner heutigen Erinnerung weniger als eine Minute an, aber ich habe es mein Leben lang nicht vergessen. Die gleiche Erfahrung erlebte ich etwa zehn Jahre später noch einmal. Ich war vierzehn und in Begleitung meines Vaters zu Fuß auf dem Weg von meinem Geburtsort Langensteinbach nach dem Nachbardorf Auerbach, dem mein Vater entstammte. Auf der Landstraße dorthin mussten wir einen Höhenrücken überwinden, und wir befanden uns gerade auf dem Scheitelpunkt, von dem aus man einen herrlichen Ausblick über die Landschaft hatte. Es war März und der Himmel von Wolken verhangen. Und urplötzlich, auch diesmal ohne Grund, war dieses unbeschreibliche Gefühl wieder da. Es berührte mich sicher nicht länger als damals auf dem Weg nach Mühlburg, aber es war ebenso unvergesslich. Später versuchte ich ab und zu, es heraufzubeschwören, doch es verweigerte sich mir. Es schien, als ob dieses Erlebnis unabhängig von meinem Willen selbst bestimmte, ob und wann es bei mir einkehrte. Es brauchte ein halbes Menschenalter, bis das Phänomen nach vielen, vielen Jahren sich wieder zeigte. Ich nenne es heute mein Samstagsgefühl. Denn die spontane Wiederbegegnung fand am Beginn eines Wochenendes statt. An jenem Tag – und diesmal besitze ich deutliche Erinnerungen an meinen Geisteszustand – ging ich gerade mit unseren beiden Hunden spazieren. Es gab Sorgen und Probleme, mein Herz war nicht so unbeschwert wie einst mit vier oder vierzehn. Ich genoss den wunderschönen Tag, und irgendwie war es mir gelungen, für eine Weile alle Last von meinem Gemüt abzuschütteln. Ich fühlte mich eins mit der Luft, der Sonne und der Landschaft. Und ganz ohne jede Ankündigung war das so lange versunkene Glückserlebnis wieder da. Es hielt länger an, als ich es aus der Kindheit kannte. Später wurde mir klar, dieses Erlebnis braucht als Nährboden eine ganz bestimmte geistige Verfassung. Die ich bei diesem Spaziergang offenbar unwillkürlich hergestellt hatte. Von da an lernte ich, meinen Geist schwereloser zu machen, für Minuten allen Ballast abzuwerfen, denn mir war klar geworden, dass diese Berührung mit dem Unbekanntem einem Gemüt versagt bleibt, das ohne Pause auf die eine oder andere Weise mit den Umständen ringt. In den letzten fünfundzwanzig Jahren entzieht sich mir dieses Erlebnis nicht mehr wie einst. Es wird niemals ein Dauerzustand sein, eine solche emotionale Überfülle könnte kein Mensch ertragen. Doch für wenige Momente einen Geisteszustand herzustellen, der diesen ungewöhnlichen Kontakt möglich macht, das ist realisierbar. Mir hat diese Erfahrung den Weg zur Erfüllung vieler meiner Träume und Visionen geöffnet. Ich werde davon noch berichten, doch zuerst will ich versuchen, Ihnen diesen für den WEG des Tao so wichtigen Faktor näher zu bringen.

***

Entscheidend für unser Wohlergehen inmitten einer sich ständig verändernden Welt ist ein Faktor, der ungefähr so leicht zu beschreiben ist wie der Duft von Maiglöckchen – also praktisch gar nicht. Ich will trotzdem versuchen, Ihnen mit einem kleinen Kunstgriff zum Verständnis zu verhelfen. Dann können Sie vielleicht dank der Beschreibung den entscheidenden Faktor in sich entdecken, und der lässt Sie dann das schwer Formulierbare spüren. Wir müssen tief in die Wurzeln unseres Seins eindringen, dorthin, wo auf der Landkarte unseres Wissens die weißen Felder sind. Sie sollen diesen Faktor, der unterhalb der Schwelle Ihres Denkens und Fühlens schlummert, Schritt für Schritt kennenlernen. Es ist ein Wesenszug Ihres Selbst, und er ist der Schlüssel für alle positiven Veränderungen in Ihrem Leben. Mit unzulänglichen Worten ließe er sich am ehesten als das spontane, blitzschnelle Auftreten einer Erfahrung von Leichtigkeit, Unbeschwertheit, stiller Freude und der nicht formulierbaren Zuversicht einer in sich stimmigen Existenz beschreiben. Verbunden damit entsteht eine Ahnung von Unendlichkeit, von Zeitlosigkeit. Sie spüren in Ihrem Inneren einen Wesenszug, der unabhängig von Geburt und Tod vorhanden ist. Schon Platon ist diesem Faktor eines nonverbalen Wissens um den Grund allen Seins begegnet. Er verleiht ihm den Rang schöpferischer Ideen, aus denen erst die greifbare Wirklichkeit hervorgeht. Platon nennt diese Ideen, aus denen heraus unsere Welt sich materialisiert, «zeitunabhängig bestehende Urbilder». Diese Urbilder sind Inhalte eines primären Wissens, das im Menschen schon vor der Geburt vorhanden und zeitlos ist. In moderne Begriffe umgesetzt: Der menschliche Geist verfügt über eine DNA, ein Gen-Protokoll des Universums. Das Urwissen ist nicht intellektuell, es ist ein Phänomen jenseits der sinnlichen Wahrnehmung, das, so Platon, nur auf geistigem Weg erkannt werden kann.

Sie warten darauf, dass ich anfange, Klartext zu schreiben? Tut mir leid, das ist bereits Klartext. Etwas, das nur Sie allein durch Forschen in sich finden können, lässt sich nicht so präzise beschreiben wie die Fassade eines Hauses. Das Schwierige klingt einfach, wenn es erklärt wird – es ist die anschließende Umsetzung, die Probleme macht. Zum Trost sei gesagt: Wenn es Ihnen ein einziges Mal gelungen ist, in den Zustand hineinzufinden, den ich zu beschreiben versuche, können Sie ihn in Zukunft jederzeit wieder aufsuchen. Wir reden von der Berührung mit der eigenen Tiefe, in der auch das platonische Urwissen, die schöpferischen Ideen eingelagert sind. Also: Sie wissen aus Erfahrung, dass Sie fähig sind, in Ihrem Geist für eine oder sogar mehrere Sekunden einen Zustand zu erzeugen, in dem Sie einfach nur vorhanden sind. In dem Sie für Momente nichts fühlen und nichts denken. Sie stellen willkürlich einen Leerraum her, in dem keine der gewohnten Routineabläufe Ihres Gehirns stattfinden. In diesen Augenblicken stellt sich das Bewusstsein eines unbeschreiblich leichten Geisteszustandes ein, verbunden mit einem sanften Glücksgefühl zeitloser Richtigkeit. Sie berühren etwas, richtiger: etwas berührt Sie, es erhebt sich ein Existenzgefühl, in dem es keine Beziehung zu Ihren Sorgen und Problemen, keine zu Zeit, zu Leben und Tod und auch zu keinem Ihrer Besitztümer mehr gibt. In den extrem kurzen Momenten dieses Glückserlebens, in dem Sie nur da sind, verliert alles seine Gültigkeit, was sonst von Bedeutung für Sie ist. Tatsächlich – das ist meine private Meinung – braucht der Akt der geschilderten Berührung mit Ihrer Uridentität gar keine Zeit, die Begegnung ereignet sich in einem zeitlosen Raum, den Sie nur darum nicht als zeitlos empfinden, weil die Abwesenheit von Zeit außerhalb Ihrer Erfahrung liegt.

Die Mönche in den Klöstern des Ostens suchen diesen Kontakt mit dem Unendlichen und haben Namen dafür: Samadhi, Satori, Erleuchtung. Der Geist Buddhas kommt über sie, wenn sie es erleben. Leider bescheinigen westliche Forscher, die sich mit dem Phänomen beschäftigt haben, dass es zwar tatsächlich stattfindet, aber sehr zum Leidwesen der Beteiligten in der Psyche keine Wurzeln schlägt. Satori kommt und geht. Die Taoisten sagen Chi dazu, das heißt LEBEN oder einfach Energie. Doch es wird ein Leben darunter verstanden, das von einem Bewusstsein erfahren wird, das sich selbst unabhängig von Werden und Vergehen wahrnimmt. Das alles schlummert hinter der kleinen Übung der Leichtigkeit, diesen Sekunden, in denen Sie sich total von allem Ballast Ihres irdischen Daseins frei fühlen. Es sind Augenblicke des intuitiven Wissens um die Geheimnisse des Seins – und dieses Wissen beherbergt eine Sicherheit, die Ihr normales Denken und Fühlen nicht herstellen kann. Die Sache klingt zu schön, um wahr zu sein. Aber sie ist es, auch wenn sie einen kleinen Haken hat: Sie müssen bei diesem Erleben realisieren, dass Ihr Geist etwas Wirkliches berührt, realisieren, dass Sie nicht durch Autosuggestion ein esoterisches Hirngespinst fabrizieren, eine Ausgeburt Ihrer Phantasie. Wenn Sie in den Momenten, in denen ES geschieht, das Fühlen und Denken sein lassen, sind Sie bereits angekommen. Sie können diesen zeitlosen Raum in sich jederzeit aufsuchen, im Alltag nach Lust und Laune oder wenn Sie vor Wegkreuzungen stehen und nicht wissen, wohin Sie sich wenden sollen. Ein Problem, das Sie aus diesem Nichtsein heraus in den Brennpunkt Ihrer Beobachtung rücken, kann gar nicht anders, als sich zu verändern. Das ähnelt keinem Naturgesetz – das ist eines! Die Taoisten haben es vor Jahrtausenden erkannt: Nichthandeln beginnt mit dem beschriebenen Geisteszustand. Und Nichthandeln schließt ein, dass Sie sich ohne Reibungsverlust mit den Dingen bewegen. In den Momenten der Berührung mit dem Tao gibt es den Widerstand des Subjektes gegen die Objekte nicht, der sonst immer vorhanden ist. Achten Sie einmal darauf, wie Sie zum Beispiel während eines Gesprächs auf Ihr Gegenüber reagieren. Ist da in Ihnen nicht immer so etwas wie ein Gegendruck zu spüren, den Sie instinktiv beim Zuhören oder Betrachten Ihres Gesprächspartners aufbauen? Achten Sie in Zukunft auf diese instinktiven Reflexe Ihrer Gefühle. Nehmen Sie den Gegendruck aus Ihrer Wahrnehmung heraus. Damit verbunden ist noch ein anderer positiver Effekt. Sie nähern sich auf diese Weise, und diesmal auf Dauer, jenem blitzartig aufleuchtenden Geisteszustand, den ich beschrieben habe. Sie werden öfter als früher fröhlich sein, unbeschwerter, gelassener. Seien Sie ein Mensch, der nicht mehr in Opposition zu den Bewegungen seines Lebens steht.

***

Sie können, wie gesagt, diesen Zustand jederzeit und in jeder Lebenslage für Momente herstellen, Momente, in denen Sie mit aller Intensität auf ein Problem, eine Herausforderung oder auch auf ein Szenarium aus Ihrem Gedächtnis blicken. Ein weiteres Instrument aus der Werkzeugkiste des Nichthandelns möchte ich «Durchlässigkeit» nennen. Wieder taucht im Vokabular ein neuer Begriff auf, der Sie in diesem Moment vielleicht irritiert. Ich bitte Sie, dennoch weiterzulesen. Die immer erbarmungsloser werdenden Zustände in unserer Volkswirtschaft sorgen zunehmend für innere Spannungen und Energieverlust, den unsere Reaktionen auf die Bewegungen des Alltags auslösen. Ein Mittel gegen den zunehmenden Druck wäre, dem Lauf des Lebens gegenüber insgesamt durchlässiger zu werden, die Dinge stehen zu lassen, wie sie sind, und nicht ständig Widerstände dagegen zu erzeugen. Zugegeben, der Zustand, frei von Spannungszuständen zu sein, ist nicht leicht zu realisieren. Es verlangt schon großes Selbstvertrauen, nicht die Nerven zu verlieren, wenn ich mitten auf einem zugefrorenen See stehe und merke, wie das Eis ringsumher Risse bekommt. Ein religiöser, tiefgläubiger Mensch wird in einer solchen Lage auf Gottes Hilfe setzen und sein Schicksal in die Hände einer höheren Macht legen. Der Ungläubige dürfte nach dem Motto «Rette sich, wer kann» handeln und alle Kraft, die Panik zu erzeugen vermag, einsetzen, um sich in Sicherheit zu bringen. Und der Mensch des WEGES? Sendet er Hilferufe an die Adresse des Tao aus? Ganz bestimmt nicht. Denn er weiß, dass das Tao sich hinter seiner Nebelwand des Unbekannten nicht rühren wird. Aber er weiß auch etwas anderes: dass er selbst das zu Fleisch und Blut und Knochen und Gehirnmasse gewordene Tao ist, dass er ein Individuum, aber darüber hinaus der schöpferische Grund ist. Eine Krise wie die beschriebene Situation auf der Eisfläche wird im Menschen des WEGES keine Panik auslösen. Ein Vertrauen wird aufblühen, aber nicht in eine ferne himmlische Macht – auf die Krise wirkt die Kraft des Vertrauens in die verborgene Identität mit dem Tao ein.

Spüren Sie diese Kraft in Krisensituationen? Wenn selbst angesichts ungefährlicher Zustände Sie die Sorge beschleicht, es könnte ohne Vorwarnung anders werden? Wo bleibt diese einer besonderen Qualität von Selbstvertrauen entspringende Kraft, wenn ihr kontinuierlich Gefühle der Ohnmacht entgegenwirken? Für den Menschen des WEGES sollte es eigentlich dieses Pendeln zwischen «Ich schaffe es» oder «Es schafft mich» nicht geben. Selbst wenn Ihr Verstand samt Ihrem Gefühl die Beziehung zum Tao realisiert hat, passiert es immer wieder, dass Sie emotional einbrechen und alles Vertrauen, das Sie zu Recht in sich setzen dürfen, sich zeitweilig in Luft auflöst. Woher kommt das? Kann gegen diese Instabilität etwas unternommen werden? Es kann, und die Lösung findet sich in der Antwort auf «Woher kommt das?». Leider muss ich für die Antwort weit ausholen. Wie bei einem großen Teil der Probleme unseres Wesens beginnt die Geschichte wieder einmal in der Kindheit, in der eine meist wohlmeinende Erziehung uns in konditionierte Menschen verwandelt und uns den größten Teil unserer Spontaneität und Kreativität geraubt hat. Wir können das nicht mehr ungeschehen machen, so wenig, wie Frau Holles Bettfedern sich wieder einsammeln ließen. Wir können etwas anderes tun: Einige der angerichteten Schäden – ebenjene, die uns heute dieses Urvertrauen so schwer machen – sind reparabel. Wie bei der Psychoanalyse freilich unter der Bedingung, dass wir sie als tatsächlich vorhanden erkennen, dass wir in der täglichen Praxis ihr Vorhandensein und ihre Bremswirkung auf unser Glück bewusst erleben.

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen, wie Kindern Konditionen, also Bedingungen eingeimpft werden, die ihr ganzes Leben hindurch unerkannt fortwirken. Es mag Ihnen vielleicht zu simpel erscheinen, als dass man daraus Rückschlüsse auf erwachsene Fehlleistungen ziehen könnte, aber der Eindruck täuscht. Das Beispiel ist sogar signifikant für den späteren Mangel an Ideenreichtum und Kreativität. Ich rede von der Kinderzeichnung. Ja, Sie lesen richtig: Kinderzeichnung. In meinem neuen Buch Wu wei, Fragen und Antworten finden Sie im Kapitel «Übungen» einen Absatz mit der Überschrift Malen für Unbegabte. Die Leser werden aufgefordert, einen Malgrund mit Farbflächen ihrer Wahl zu bedecken und dann kindliche Motive hineinzuzeichnen und sie später ebenfalls zu kolorieren. Wer diese Übung probiert, wird eine interessante Entdeckung machen. Egal, ob jemand gut zeichnen kann oder gerade mal die Umrisse eines Tieres, Menschen oder Hauses zustande bringt – er wird plötzlich merken, dass es mit dem Versuch, eine Zeichnung kindlich naiv wie einst zustande zu bringen, gründlich hapert. Beim Begabten fällt die Zeichnung zu perfekt, zu gelungen aus, beim Unbegabten entsteht nicht etwa ein Gebilde von kindlichem Charme – was da auf die Malfläche gelangt, ist der verzweifelte Versuch, ein Ding so realistisch wie möglich darzustellen. Die kindliche Unbefangenheit gegenüber allen Regeln von Form und Perspektive ist dem Erwachsenen abhandengekommen. Und zwar nicht erst mit vierzehn oder zwanzig – die Entfremdung von der kindlichen Spontaneität hat bereits im ersten Schuljahr begonnen. Und mit jedem weiteren Jahr wurde der Zeichenstil verkrampfter und verlor seinen Zauber. Das erworbene Wissen, wie man zu malen und zu zeichnen hat, und nicht zuletzt natürlich die Benotung reichten aus, um aus strahlend naiven Kinderbildern gekünstelte Werke zu machen, deren einzige Rechtfertigung darin bestand, dass sie Regeln gerecht wurden, von denen das kleine Kind zum Glück noch nichts wusste.

Am Modell der Kinderzeichnung können wir erkennen, wie in unserer frühen Entwicklung an uns herumgedoktert worden ist. Wir müssen natürlich den Gesetzen gehorchen, aber das bedeutet nicht, dass wir alles und jedes, das andere Leute einschließlich unserer lieben Eltern in unsere einst so aufnahmewillige Psyche implantiert haben, für alle Zeiten befolgen müssen. Ich möchte Sie hier zur Rebellion, zum Widerstand gegen alle Konditionierungen aufrufen, die Sie an sich feststellen. Beginnen Sie mit der Kinderzeichnung. Sie enthält alle Zutaten des Elixiers, das Sie lebenslang in der Abhängigkeit von Autoritäten hält, die Ihnen längst nichts mehr zu sagen haben. Aus Gesprächen kenne ich den Einwand: «Ja, das weiß ich alles, aber ich bringe es einfach nicht fertig, diese Denkmuster beiseitezulassen.» Die Antwort auf dieses Argument klingt hart, aber sie ist wahr: «Wenn Ihr Leben davon abhinge, könnten Sie das sehr wohl.» Ob wir uns von den als Konditionierungen erkannten Verhaltensweisen verabschieden oder nicht, hängt davon ab, wie wichtig uns die Sache ist. Denken Sie doch einmal darüber nach, wie frühe, fremde Einflüsse heute noch sogar Ihre Träume beeinflussen. Ist es nicht so, dass die Gebilde Ihrer Phantasie den Figuren gleichen, die in Ihrem Elternhaus kultiviert worden sind? Der «böse Mann», vor dem die Kinder gewarnt wurden, wurde vielleicht als ein modisch gekleideter, glatter Typ mit verschlossenen Gesichtszügen charakterisiert. Oder als schlecht rasierter, zerlumpter Strolch. Wie immer das Bild aussah – wenn heute ein «böser Mann» in Ihren Träumen auftritt, wird er höchstwahrscheinlich dem Prototyp gleichen, den einst Ihre Eltern entwarfen. So wirken Regeln aus der Kindheit kontinuierlich in unser Leben hinein. Unerkannt, unreflektiert, ja gewiss auch gegen unseren Willen. Beobachten Sie, was mit Ihnen geschieht, wenn eine Krise sich nähert. Wie Sie dem von einer Lebenssituation ausgehenden Druck mit abwehrenden Gefühlen und Gedanken begegnen. Ihr Geist rotiert, er bewegt sich in endlosen Schleifen, um immer wieder zu den Mustern Ihrer Kindheit zurückzukehren, die Ihnen versichern, was richtig und was falsch ist. Statt Ihre Lage in einem stillen Geist selbst zu Wort kommen zu lassen, versuchen Sie, jede Situation mit einer Methode zu bewältigen, die Ihnen schon früh beigebracht wurde und bei der die angeborene Intuition keinen Platz hat.

Beobachten Sie, was Sie da mit sich anstellen, und unterlassen Sie es in Zukunft. Dieses Tun, richtiger: Nichttun, verlangt nur Ihre Entscheidung, den kommenden Schwierigkeiten auf Ihrem Lebenspfad mit einem Geist zu begegnen, der keinem Szenarium mehr Widerstand leistet. Der keine vorgegebenen Verhaltensregeln mehr akzeptiert und wie die weiße Wolke am Himmel alles hindurchströmen lässt, was sich auf ihn zubewegt. In diesem Zustand verliert Ihr Geist nicht den Einfluss auf die Ereignisse Ihres Lebens. Im Gegenteil. Solange Sie Widerstand geleistet haben, beherrschte Sie das Gefühl des Unvermögens. Jetzt aber, da Sie sich voller Harmonie ohne jeden Reibungsverlust mit den Dingen bewegen, ist Ihr Geist eins mit dem Geist des Grundes geworden.

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In unserer Begegnung mit den Geschehnissen eines jeden Tages erzeugen wir kontinuierlich eine geistig-nervliche Spannung, was natürlich auch mit einem Verlust an Energie verbunden ist. Und zwar durch eine bestimmte Art, wie wir uns den äußeren Vorgängen gegenüber emotional verhalten. Alle Dinge, die unsere Aufmerksamkeit erregen, lösen gleichzeitig einen bestimmten Typ von Reaktion bei uns aus. Wir haben plötzlich – und dies oft Hunderte von Malen am Tag – das Gefühl, dass etwas getan oder überlegt werden müsse. Immerzu erzeugen unsere Sinneseindrücke eine Art Reibung in unserem Inneren, als würde feines Sandpapier über unser Gemüt schmirgeln. Ständig geschehen Dinge, kleine, größere oder, zum Glück selten, ganz große, die spontan einen inneren Widerstand in uns hervorrufen. Es entsteht ein Gefühl, als ob wir das Leben draußen irgendwie abbremsen, es kurz zum Innehalten zwingen müssten, damit wir uns auf unsere Antwort darauf besinnen können. Manche Zustände lösen sogar ein andauerndes Empfinden dieser Art aus, wir gewöhnen uns an die Notwendigkeit, ständig irgendwie emotional gegen bestimmte Zustände der Realität in Opposition zu stehen.

Sie können erkennen, was ich Ihnen hier mitteilen will, wenn Sie einmal einen Tag lang oder auch nur für eine Stunde beobachten, wie Sie innerlich auf das gewöhnliche Leben rings um Sie her reagieren. Viele Bewegungen lösen reflexartig Unwillen in Ihnen aus, andere, leider seltenere, bewirken, dass unversehens wie ein vereinzelter Sonnenstrahl Freude in Ihnen aufleuchtet. Sie werden aber in beiden Fällen merken, dass Ihre Reaktion auf das von außen in Sie eindringende Leben immer mit einem gewissen Widerstand verbunden ist, den Sie allen Eindrücken gefühlsmäßig entgegenbringen. Und dies sollten Sie ändern. Indem Sie als Erstes die Tatsache dieses Verhaltens einsehen. Und dann einen zweiten Schritt tun, nämlich nicht mehr mit Abwehr auf die Bewegungen Ihres Lebens reagieren. Im Erkennen, dass sie ebenso unnötig wie nutzlos und höchstens selbstquälerisch ist. Gewöhnen Sie sich an, alle Ihre Wahrnehmungen federleicht in sich aufzunehmen, lassen Sie sie gewissermaßen durch sich hindurchströmen, als ob es Sie, den Wahrnehmenden, gar nicht gäbe. Machen Sie sich leicht und so durchlässig wie ein feines Sieb. Ihr ganzes Erleben geht durch Sie hindurch, und in Gehirn und Geist gibt es nirgends Widerstand. Simulieren Sie es wie im Spiel, es kostet Sie nichts. Im Erkennen des Gegendrucks, den Sie immerzu ausüben, halten Sie den Schlüssel für ein schwereloseres Erleben Ihres Alltags in den Händen. Geben Sie jedweden Widerstand gegen den Lauf des Lebens auf, und so schaffen Sie ein Vakuum an subjektiver Identität, hinter dem eine gewaltige Energie schlummert.

Die entscheidende Hilfe in Sachen Durchlässigkeit gegenüber dem Kaleidoskop der Tagesereignisse finden Sie in einem weiteren Phänomen: Es heißt Zustimmung! Denken Sie doch einmal über Ihre Stimmung in den verflossenen Wochen nach. Wie sind Sie den Bewegungen Ihres Lebens begegnet? Gleichgültig, resigniert, hoffnungslos, zornig? Oder vielleicht trotz aller Schwierigkeiten fröhlich, optimistisch, hoffnungsvoll? Die oben skizzierte Leichtigkeit Ihres Gemütes stellt sich ein, wenn Sie Ihrem Leben als Ganzes zustimmen und diese Zustimmung – ja, lassen Sie es mich sagen–, diese Sympathie, diese Zuneigung in jeglichen Vorgang hineinströmen lassen. Dem Leben, ganz gleich, ob Schönes oder Schwieriges an der Reihe ist, diese Zuneigung entgegenzubringen erzeugt ganz automatisch die von allem Druck und Gegendruck befreite Leichtigkeit des Erlebens.

Die Geisteshaltung, die ich Ihnen hier vorstelle, hat keinen Namen. Sie braucht auch keinen, weil es sie ihrem Wesen nach gar nicht gibt. Sie steht für etwas Nichtvorhandenes, für Reaktionen Ihres Denkens, Fühlens und Wollens, die nicht stattfinden. Durchdringung ist ein taoistischer Begriff. In der Alltagspraxis unseres Handelns sagt sie nicht mehr und nicht weniger aus, als dass wir alle Dinge über unsere Sinne in uns hineinkommen lassen, sie aber dort drinnen nicht festzuhalten versuchen. Unser Wille packt nicht zu. Wir schauen, hören, riechen und fühlen nur. Und lassen zu, dass alle Sinneseindrücke, nachdem wir sie wahrgenommen haben, wie ein Windhauch dahinziehen ins Nichts, ohne Spuren in unserem Gehirn zu hinterlassen. So frei von allen inneren Widerständen dem Leben und seiner Realität gegenüber zu sein ist Lebenskunst, ist Nichthandeln in Reinkultur.

Sie haben das schon versucht? Und sind in einem Vakuum gelandet, orientierungslos und mit dem Gefühl, allen möglichen Gefahren schutzlos ausgeliefert zu sein? Weil Sie dachten, Ihr emotionaler Widerstand gegen Realitäten würde Sie schützen? Tatsächlich gilt Ihr Widerstand gar nicht der Wirklichkeit – er richtet sich gegen Ihre Ideen über die Wirklichkeit. Das macht einen fundamentalen Unterschied. Wenn wir denkenden Menschen im Alltag gegen die Bewegungen des Lebens geistig-emotional in Opposition gehen, dann richten wir unseren Widerstand gegen die Illusion, gegen unsere spontanen, vorurteilsbefrachteten Meinungen, aber nicht gegen die Realität selbst. Wenn die Wirklichkeit manchmal schockartig in unser Bewusstsein dringt, wenn wir Tatsachen als Tatsachen erkennen müssen, dann ist dieses Erleben so gut wie nie mit Reaktionen emotionalen Widerstandes verbunden – wir erfahren die Realität in der Regel in einem sprachlosen Zustand. Denken Sie nach: Wann immer Sie in Ihrem vergangenen Leben in Echtzeit mit Tatsachen konfrontiert worden sind, geschah dieses Erleben binnen eines Augenblicks, der frei von jedem Gefühl war. Wenn Sie nun diesen emotionslosen Zustand ohne Gier und Zukunftsangst in sich herstellen – und das gelingt, wenn Sie sich einfach fallen lassen–, dann werden Sie merken, wie plötzlich Ihre ganze geistige Struktur durchlässig für alles Geschehen wird. Es lässt sich leider mit Worten nicht deutlicher beschreiben, was ich sagen möchte. Aber Sie können es versuchen. Machen Sie es wie mit einem Radiosender, der auf der Skala nur an einer einen Hundertstel Millimeter breiten Stelle eingefangen werden kann. Spielen Sie herum, bis Sie zu diesem offenen, transparenten Lebensgefühl gefunden haben. Es wird danach immer wieder Phasen des Widerstandes gegen Ärger und Ungerechtigkeiten geben, das ist logisch und natürlich. Aber Sie können dann jederzeit in den neu entdeckten Zustand zurückkehren, weil er Ihnen nicht mehr fremd ist. Und dies wünsche ich Ihnen für die kommende Zeit.

Der Freie Wille

Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Wir waren 1985 nach Frankreich in die Vogesen gezogen. Neben dem hinteren Torbogen unseres Bauernhauses wuchs eine Kletterrose, die ich später als Coral Dawn identifiziert habe. In diesem Winter fanden wir in einer Gartenzeitschrift ein kleines Inserat, das einen Katalog historischer Rosensorten offerierte. Wir ließen uns den Katalog schicken. Drinnen fanden wir Fotos wunderschöner alter Rosen. Wir waren fasziniert und hätten uns am liebsten sofort ein Dutzend bestellt – wenn wir das Geld dafür übrig gehabt hätten. Aber das wurde für die Renovierung des 250Jahre alten Hauses gebraucht. Also blieben uns nur die Begeisterung und der Entschluss, ein Jahr später darauf zurückzukommen. Und im Frühling 1986 ereignete sich das Besondere: Die relativ moderne Rose neben den Scheunentor, die sonst normale Blüten mit dreißig bis vierzig Petalen besaß, brachte eine Fülle von Blüten hervor – die allesamt die Rosettenform und Anzahl Blütenblätter einer alten Zentifolie aufwiesen. Als ob die Rose unsere unerfüllten Wünsche, unsere Sehnsucht nach den momentan unerreichbaren Sorten erahnt hätte, dachten wir. Irgendwie hatte die Pflanze auf unsere Neigungen reagierend spontan mutiert. Interessant dabei ist, dass sie im folgenden Jahr und alle weiteren Sommer wieder normal blühte. Inzwischen hatten wir uns nämlich den Wunsch nach einer Anzahl historischer Rosen mit romantisch klingenden Namen erfüllt.

Vermutlich überlegen Sie jetzt, was die hübsche Geschichte denn mit dem freien Willen zu tun hat. Nun, ich habe selbst 23Jahre gebraucht, bis ich die Pointe des Vorganges in ihrer ganzen Tiefe begriffen habe. Das mag Sie irritieren, aber ich habe mir noch nie eingebildet oder behauptet, es gäbe für mich nichts mehr zu lernen. Im Gegenteil: Das ganze Leben ist ein kontinuierlicher Lernprozess. Die Story beginnt schließlich mit einer Reihe von Willensakten. Wir beschlossen, den bewussten Katalog zu bestellen. Wir bekamen unseren Willen, denn die Post brachte uns das Gewünschte. Dann trafen wir unsere Auswahl, berieten uns, welche Rose wir wohin pflanzen wollten. Der nächste Schritt, die Bestellung auf einen Termin zu verschieben, an dem wir die Mittel für den Kauf übrig hatten, war ein Akt der Vernunft und der vorläufige Verzicht – ebenfalls vom Willen bestimmt. Richtig bis hierher? Mit der Sehnsucht nach diesen schönen Gewächsen verbunden war freilich auch ein Gefühl des Verlustes und der Entsagung wegen der uns von den Verhältnissen aufgezwungenen Verzögerung. Ich bin kein esoterischer Spinner, und wer unter Ihnen mich kennt, weiß, dass ich im Allgemeinen recht nüchtern bin. Erst vor einigen Wochen, als ich mich mit dem Thema für dieses Buch zu beschäftigen begann, fiel mir das damalige Geschehen wieder ein, und diesmal erschloss sich mir spontan das Geheimnis jenes Blütenwunders. Wie ich 1986 schon annahm, hatte ein Prozess von Synchronizität stattgefunden, genau so, wie der Psychologe C.G.Jung die Beziehung der Dinge zueinander erklärt. Aber die Mutation ihrer Blüten war mehr als ein Indiz für die untrennbare Verbundenheit zwischen der Rose und mir. Physisch war die Rose sie selbst, und ihr gegenüber befand ich mich, das isolierte Individuum. Doch auf der metaphysischen Ebene gab es diese Trennung nicht. Da war ich auch die Rose – und die Rose, das zu vermerken erscheint mir wichtig, war ich. Es gab in dieser faszinierenden Phase nur eine einzige Bewusstseinsebene. Ich hatte mit keinem Gedanken auf die Pflanze eingewirkt, sie möge sich nach meinen Wünschen verhalten. Ich glaube, dass Sie in Ihrer Vergangenheit durchaus auf ähnliche Erfahrungen zurückblicken können. Ob Ihnen diese so markant vorkommen, wir mir die Sache mit der Coral Dawn, oder ob Sie vereinzelte Vorgänge zu jenem Zeitpunkt einfach als etwas Selbstverständliches hinnahmen und wieder vergaßen, spielt eine untergeordnete Rolle. Wichtig erscheint mir die Einsicht, dass solche Dinge jedem begegnen und dass wir sie ohne zu phantasieren der Magie des Tao zuschreiben dürfen. Richtiger: der Verbindung zwischen einem Menschen, der aufgehört hat, permanent geistige Grenzen zwischen sich und den Erscheinungen seines Lebens zu ziehen. Wie ich in den finalen Sätzen dieses Kapitels nochmals betonen werde, sind wir auf der beschriebenen Bewusstseinsebene auf unseren subjektiven Willen und seine Resultate überhaupt nicht angewiesen.

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