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Wunderbar klar und hilfreich! Seit dem Erscheinen seines Bestsellers «Wu wei» erreichte Theo Fischer eine Flut von Leserbriefen mit Fragen zum Taoismus. Die zentralen Themenkomplexe hat er nun herausgefiltert und beantwortet sie in diesem Buch. Gleichzeitig widmet sich Theo Fischer auf der Basis seiner langjährigen Seminararbeit auch weiterführenden Aspekten des Taoismus. So entsteht ein nützlicher und inspirierender Ergänzungsband zu «Wu wei».
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Seitenzahl: 282
Theo Fischer
Wu wei. Fragen und Antworten
Brief an die Leser
Lernen
Die Kunst des Nichthandelns
Befreien Sie sich von Ihren Bindungen
Das Phänomen Aufmerksamkeit
Die Gedanken und der Denker
Die Lebensweise des Tao
Tao statt Positives Denken
Der innere Dialog und das I Ging
Unsere Gesellschaft und das verleugnete Selbst
Liebe und Partnerschaft
Die Kunst des Loslassens
Was ist das Tao?
Die Spiritualität im Tao
Übungen für den Alltag
Zusammenfassung
Epilog
Literatur
Liebe Leserin, lieber Leser,
in den ersten Jahren nach Erscheinen meines Buches «Wu wei» erreichten mich regelmäßig Leserbriefe. Ich beantwortete sie getreulich, und bald besaß ich einen ganzen Ordner voller Post. Neben der Zustimmung zu den Gedanken taoistischer Lebensart wurden vielschichtige Fragen gestellt, die ich unter anderem in meinen Seminaren zu beantworten versuchte. Im Rückblick auf Tausende Briefe, Mails und Diskussionen während der Seminartätigkeit zeigt sich, dass sich die Problemkreise, um die sich die Leserfragen drehen, bündeln lassen. Die Antworten darauf sollen deshalb den Schwerpunkt dieses Buches bilden.
Darüber hinaus sind mit den Jahren Fragen zu Sachverhalten aufgetaucht, die ich im «Wu wei» damals nicht behandelt habe. Ich werde versuchen, das Versäumte hier nachzuholen. (So ist zum Beispiel der wichtige Komplex Gesundheit im «Wu wei» nur nebenbei im Kapitel Die Lebensweise des Tao gestreift worden.)
Die Problematik bei Detailfragen über das Tao steckt in dem Umstand, dass ich eigentlich jedes Mal die ganze komplexe Philosophie an einem Stück behandeln müsste, weil jedes Element mit jedem anderen verknüpft ist – und weil ein herausgegriffenes Thema, ohne dass es im Kontext zum Ganzen erklärt wird, leicht zu Missverständnissen führt. Nichtsdestoweniger muss ich, den linearen Möglichkeiten unserer Sprache folgend, die Dinge der Reihe nach angehen. Ich werde mich weitgehend nach der Themenfolge des Originals richten und auch dem Positiven Denken und dem I Ging Raum widmen, denn erstaunlicherweise gibt es heute noch gerade zu diesen beiden Komplexen häufig Anfragen.
Ich habe versucht, meine Ausführungen so deutlich und verständlich zu halten, wie die Materie es zulässt. Das komplexe Ganze, einschließlich der zum Teil kryptischen Weisheiten eines Laotse oder Chuang tzu, werden Sie in seiner ganzen Tiefe dann verstehen, wenn Sie, in sich selbst forschend, auf die Wahrheit stoßen, die in Ihnen bereits schlummert. Ich biete Ihnen mit dieser Arbeit gewissermaßen eine Vorlage zur Selbstbedienung in dem Sinn, dass meine Texte Ihnen Dinge bestätigen, die Sie ohnehin längst als Ahnung im Herzen tragen. Was ich Ihnen hier anbiete, soll Ihrem eigenen inneren Wissen zum Durchbruch verhelfen. Die Erkenntnis der Wahrheit kommt niemals von außen. Sie wird von innen durchbrechen, wenn Sie die Kammer Ihres Gemüts von allen Vorurteilen leer gefegt haben und das Fenster Ihres Geistes ohne alles Verlangen offen halten. Dann mag der Wind der Erkenntnis Einzug halten und Ihr Leben verändern.
Ihr
Originaltext «Wu wei»: Es gibt ein Lernen, das uns verstehen lässt, was wir sind. Aus diesem Verständnis entsteht eine völlig neue Art des Handelns: Wu wei. Das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen. Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.
Unterscheidet sich dieses Lernen von der gewohnten Art unseres Lernens?
Das neue Lernen, das uns die Wahrheit über unsere Position im Universum und über unsere wirkliche Identität erkennen lässt und das zu einem völlig anderen Modus des Handelns führt, unterscheidet sich fundamental von allen anderen Lernvorgängen: weil es bei diesem Lernen nicht darum geht, sich den Lehrstoff einzuprägen. Erinnern Sie sich an die Schulzeit, als Sie Gedichte lernen mussten. Man wiederholte die Texte so lange, bis man sie auswendig und beinahe im Schlaf herunterleiern konnte. Deshalb kann ich heute noch Schillers «Glocke» zitieren, aber ich könnte nicht behaupten, sie damals verstanden zu haben. Und um Verstehen, um Einsicht, um Erkenntnis geht es bei dem neuen Lernen. Es ist im Sinne des taoistischen Denkens ein Prozess, der aus der Aufmerksamkeit kommt. Darum wird auch in den folgenden Lektionen bei jedem Thema die Aufmerksamkeit, das Beobachten der Dinge, eine fundamentale Rolle spielen. Die Lebenskunst des Tao basiert darauf, dass wir alle Dinge intensiv wahrnehmen. Und zwar nach Möglichkeit so intensiv, so voller Leidenschaft und Freude am Leben, dass das üblicherweise die Sinneseindrücke begleitende, kommentierende Denken immer leiser wird und zum Hintergrundgeräusch verblasst. Das Geheimnis, das es in den folgenden Ausführungen zu entschlüsseln gilt, besteht, kurz und bündig gesagt, darin, dass wir im Gewahrsein des um uns her pulsierenden Lebens – uns zugleich selbst wahrnehmen. Denn nach der alten Weisheitslehre vom Tao sind wir von der Außenwelt nicht so getrennt, wie wir es empfinden, sie gehört zu unserer Identität. Unser Selbst, unser Bewusstsein ist nicht auf den sterblichen Körper begrenzt. Darum gewinnt diese Einsicht auch für alles künftige Handeln erhebliche Bedeutung, denn ich gehe mit etwas, das ich selbst bin, anders um, als wenn es ein Fremdkörper wäre. Laotses Lehre bewahrt uns vor der Illusion, uns bloß für Geschöpfe dieses metaphysischen Grundes, dem er den Namen Tao gab, zu halten. Dieser Grund hat sich geteilt, und der eine Teil, den die Chinesen Chi getauft haben, hat sich in die Menschheit, hat sich in das Universum verwandelt.
Unteilbar und an einem Stück. Wir kennen die Theorie vom Zusammenhang der Welt auf seiner kleinsten physikalischen Ebene. Aber, so seltsam dies anmutet, kaum ein Mensch zieht daraus in Bezug auf sein Alltagsverhalten irgendwelche Konsequenzen. Man tut weiterhin so, als ob die Dinge getrennt voneinander wären. Und dies ist nicht unbedingt falsch: Es gehört zu diesem großen kosmischen Spiel, dass die Mitspieler so tun, als ob die Getrenntheit der Dinge Realität wäre. Es macht freilich einen gewaltigen Unterschied, ob ich in meinem Verhalten Konformität mit den Notwendigkeiten des Spiels, also mit den Spielregeln der Gesellschaft, ausdrücke – oder ob ich diese Ideologie von der Getrenntheit auch glaube. Sobald ich mich von den Überzeugungen und Bedingungen meiner Gesellschaft befreie, ohne dass ich mich gegen ihre Regeln und Gesetze vergehen müsste, habe ich mich von den mir auferlegten Bindungen losgesagt. Ich handle künftig nicht mehr so, als ob ich getrennt vom größeren Anteil meiner Identität wäre, ich dehne meine Individualität zu einem Radius von unendlichem Durchmesser aus. Und dies alles wird möglich durch das zitierte andere Lernen. Ich erkenne durch meine unvoreingenommene, von keinem Vorurteil, von keiner Überzeugung getrübte Beobachtung, dass mein Leben und seine Herausforderungen ebenso zu meinem Selbst gehören wie mein Ich-Gefühl und mein lebenslang gesammeltes Wissen.
Mit dem neuen Lernen, das nichts aufzeichnet, werden in Ihrem Leben Weichen gestellt. Von Tag zu Tag setzt sich dieser Lernprozess fort, ohne dass Sie dazu besondere Beweggründe bräuchten. Sie geben einfach auf, wie gewohnt jedes Ding, jede Erscheinung, jede Begegnung, die Ihnen wichtig erscheint, zu kommentieren. Unser altes Programm im Gehirn ist so konditioniert, dass es quasi pausenlos etwas will: Wir wollen etwas nicht haben, wir wollen etwas verändern, wir wollen etwas in der Zeit verkürzen, wir wollen etwas hinausschieben, wir wollen etwas in den Griff bekommen, wir wollen etwas rückgängig machen, wir wollen vergessen, wir wollen Rache, wir wollen Versöhnung, wir wollen geliebt werden, wir wollen in Ruhe gelassen werden, wir wollen Abwechslung, Abenteuer, progressives Erleben, wir wollen uns nicht langweilen, wir wollen Genuss – diese Liste ließe sich ellenlang fortsetzen. Und wenn Sie mich nun fragen, wie man sich denn von diesem dauerhaften Betrieb unseres Wollens befreien könne, darf ich Sie um ein wenig Geduld bitten. Im Verlauf unserer Exkursion ins Land des Nichthandelns sollte es eigentlich geschehen, dass Sie die Frage nach dem Wie gar nicht mehr stellen müssen. Hier sei nur so viel gesagt: Nichthandeln beginnt damit, dass Sie die Dinge vor Ihren Sinnen selbst zu Wort kommen lassen, statt sie durch Ihr Wollen immerzu korrigieren, benennen, annehmen oder ablehnen zu wollen. Und dieser erste Schritt drückt sich darin aus, dass Sie sich selbst beobachten, über sich lernend, ohne die Notwendigkeit, das, was Sie an sich bemerken, auch im Kopf behalten zu müssen. Es wird Ihnen aber in Zukunft jedes Mal bewusst, wenn Sie in die alte Untugend zurückfallen. Und dies ist zugleich Bestandteil des Genesungsprozesses. Sie werden zunehmend ungehaltener über die eigenen, Ihnen inzwischen selbst komisch anmutenden Marotten.
Die beschriebene Art des Lernens ersetzt, davor sei gewarnt, keinesfalls das klassische Lernen dort, wo Wissen gebraucht wird. Ich muss lernen, wie man ein Auto fährt, ein Chirurg muss wissen, wie man eine Herztransplantation durchführt, und der Klempner muss etwas von Rohrleitungen und Dichtungen verstehen. Allerdings darf diese Art Wissen nicht mit Intelligenz verwechselt werden. Durch Erfahrung und Fleiß erworbenes Wissen ist und bleibt mechanisch – und es wird niemals vollständig sein. Denn was immer Sie wissen, es gibt weitaus mehr Informationen, über die Sie nicht verfügen, als jene, die Sie sich aneignen konnten. In der Volksmeinung ebenso wie in der Wissenschaft wird Intelligenz als ein Ergebnis des Denkens angesehen, als das Endprodukt intellektueller Logik und Vernunft. Der Grad dieser Kategorie von Intelligenz lässt sich in Testverfahren messen und wird als IQ in einer numerischen Skala ausgedrückt, die sich von «schwachsinnig» bis «höchst intelligent» bewegt. Es wird hier eine Fähigkeit bewertet, die auf Wissen gründet: Wer viel weiß, gilt als intelligenter als der Unwissende. Die Fähigkeit, Erfahrung konsequent und fehlerfrei in Handlung umzusetzen, zählt zu den Parametern, an denen Intelligenz gemessen wird. Konstruktives Denken, das bei Intelligenztests aus dem Zipfel eines Musters das ganze Muster herausliest, erhält bei Auswertungen die höchste Punktzahl.
Seit Descartes mit seinem berühmten Ausspruch «Ich denke, also bin ich» dem Denken eine überdimensionale Bedeutung verlieh, wird Denkvermögen mit Intelligenz gleichgesetzt. In der Tat entspringt Denken der gleichen kosmischen Quelle wie jene transpersonale Intelligenz, die weder Ihnen noch mir gehört. Freilich mit dem gravierenden Unterschied, dass Denken auf Wissen und damit auf die Vergangenheit angewiesen ist, wenn es funktionieren soll, Intelligenz im taoistischen Sinn aber keinen Bezug zur Zeit hat. Unser Denken bewegt sich in einem Milieu, das kontinuierlich Sicherheit sucht. Intelligenz dagegen hat keine Vorstellung von Sicherheit, sie sucht nicht danach, und sie braucht sie auch nicht, weil Intelligenz Sicherheit ist! Für uns stellt sich nun die Frage, wie wir eine Lebensweise realisieren sollen, die nicht aus dem Bekannten, die nicht aus dem Wissen kommt. Ob es ein schöpferisches Handeln gibt, das nicht mit dem Aufruhr des Lebens und nicht mit dem ganzen sozialen und wirtschaftlichen Druck belastet ist. Ob es ein Handeln aus einem Geist heraus gibt, der sich von allem Wissen befreit hat.
Es gibt eine Kreativität, die nicht vom Menschen erzeugt wird. Wir alle könnten von diesem besonderen Geist sein, der wahrhaftig frei von den Belastungen ist, die man ihm aufgebürdet hat. Zu der Zeit der alten Taoisten besaßen Schlagworte wie Intelligenz oder Kreativität keinen Wert, man liest in ihren Schriften vom Berufenen, vom Wesenhaften, vom Weisen. Mit diesen Begriffen wird ein Mensch beschrieben, der Einsicht in die Begrenztheit seiner Erfahrung und seines Wissens gewonnen hat und dessen Geist darum klar und ohne den Schatten eines Widerspruchs ist. Der Weise hat begriffen, dass sein subjektives Wissen einem Eimer Wasser gleicht, den er dem Strom des Lebens entnommen hat. Das Wasser mag vorher geflossen sein, aber eingesperrt in dem Gefäß bewegt es sich nicht mehr. Der Mensch des Tao versteht die Nutzlosigkeit seines begrenzten subjektiven Wissens und setzt es in seinem Handeln nicht mehr ein. Er gibt den Eimer stehenden Wassers auf – und erschließt sich damit einen Ozean. Das Potenzial der Evolution, das gesamte Wissen der Menschheit, der permanente Schöpfungsvorgang öffnet sich dem Einsichtigen. Intelligenz wird wirksam, sobald wir keine Lösungen mehr mit Hilfe unseres Wissens suchen. Dann befruchtet sie unseren Verstand, und unser Denken setzt die empfangenen Impulse in Handlung um. Das Prinzip des Nichthandelns verwirklicht sich, wenn Denken und Intelligenz miteinander harmonieren.
Originaltext «Wu wei»: Unser heutiges Dasein ist an eine Unzahl Bedingungen geknüpft. Scheinbar sind wir frei, aber tief im Innern spüren wir, dass diese Freiheit ein Trugschluss ist, dass wir an allen Ecken und Enden gebunden sind: an die Spielregeln der Gesellschaft, an die Voreingenommenheit unserer Rasse oder Nation oder der Bildungsschicht, der wir angehören. […] Sie und ich bilden darin kaum eine Ausnahme. Wenn nun jemand an Sie heranträte mit der kühnen Behauptung, Sie könnten alle Schwierigkeiten und Engpässe des Lebens beseitigen, allein dadurch, dass Sie lernten, ausschließlich in der Gegenwart zu leben und Ihren Problemen wach und aufmerksam ins Auge zu sehen?
Im Heute leben, in der Gegenwart, im Jetzt, klingt so plausibel und einfach. Aber wenn ich versuche, in der Gegenwart zu leben, ertappe ich mich dabei, dass ich ständig abgelenkt werde. Warum ist das so schwierig, und gibt es einen Weg, der es leichter macht?
In den klassischen Schriften des Taoismus werden Sie vergeblich nach Empfehlungen über die Handhabung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft suchen, weil es aus der Sicht der alten Weisen den Unterschied zwischen den dreien gar nicht gibt. Die Unterteilung der Zeit, mit der wir uns abquälen, haben wir selbst geschaffen, genau wie die Jahreszeiten, den Kalender und die Längen- und Breitengrade. Unser Geist muss sich von allem Maß freimachen, das Menschen erfunden haben. In dem Moment, da ich ganz klar und deutlich verstehe, dass Zeit, wie wir sie in unserer Zivilisation behandeln, mich von der Quelle des Seins trennt, verlieren die Normen des Gestern, Heute und Morgen ihre Macht über mich. Von der Illusion Zukunft befreit, bleibt das reale, unmittelbare Erleben übrig. Ein Gefühl von Zeitlosigkeit stellt sich ein. Zwischen Vergangenheit und Zukunft schrumpft die Gegenwart quasi zum Nichts, der Augenblick des hypothetischen Urknalls, der Tag meiner Geburt und auch der Todestag verkleinern sich auf den nicht mehr messbaren Bruchteil einer Sekunde. Dabei bleibe ich mir bewusst, dass ich dies alles gemäß der Konstruktion meines Sinnesapparats und meines Gehirns in einer logisch ablaufenden Reihenfolge erlebe. Die Gegenwart scheint sich vor meinen Sinnen in die Zukunft hineinzubewegen. Dennoch verstehe ich nun, dass ich mich bei aller Erfahrung, die Tag für Tag auf mich einströmt, immer an ein und demselben Platz, in ein und derselben Zeit befinde, im Jetzt. Dieses Jetzt hat sich seit dem Uranfang der Dinge um keine Sekunde bewegt. Die winzige Spanne, der wir den Namen Gegenwart geben, ist ohne Zeit, es ist das Unendliche, das schon da war, als es noch nicht einmal das Nichts gab. Von dort aus findet Schöpfung statt, als permanenter Vorgang, als der Tanz der Teilchen, die in millionstel Sekunden zerfallen, sich neu bilden und wieder dahinschwinden. Und im Jetzt ruht das Tao, und nur hier können wir in Berührung mit ihm kommen. Meister Eckhart sagte in seinen «Deutschen Predigten und Traktaten» sinngemäß, auf Gott bezogen, das Gleiche: Einzig im Augenblick des Jetzt findest du Verbindung mit dem Schöpfer, weil er nur da zu erreichen ist.
Sobald Sie verstehen, dass die Unterscheidung zwischen den Zeitformen nur als Idee in unseren Köpfen existiert, löst sich auch das Problem mit den Ablenkungen. Sie verbringen Ihre Tage wach und aufmerksam, ohne dass Sie sich besonders anstrengen. Ihre Augen sehen Dinge, Ihre Ohren hören Töne, Ihr Geruchssinn nimmt Düfte wahr, und ihre Tastnerven berühren Oberflächen. Und währenddessen gehen auch Ihre Gedanken ihren verworrenen Tätigkeiten nach. So, wie Sie in einem Schaufenster eine schöne Keramikvase bewundern können, gleichzeitig das Mittagessen planen und obendrein den Duft von Kaffee aus der Tür der nahen Rösterei schnuppern – ist es auch Ihrem wachen Geist ohne Probleme möglich, synchron zu denken und zugleich Ihre Sinne das Ihre erleben zu lassen. Sie sind sich aller Regungen bewusst. Wovon sollten Sie dann abgelenkt sein? Sie erleben alle Dinge jetzt, auch Ihr Denken findet jetzt statt. Und wenn Sie die Urlaubsreise für das nächste Jahr planen, dann geschieht dies doch ebenfalls jetzt – oder nicht? Die so wahrgenommenen Szenarien reflektieren sich unverfälscht im Spiegel Ihres Bewusstseins, und dieses ist nicht getrennt von dem universalen Bewusstsein des Tao.
Dennoch sollten wir die Schwierigkeiten, die zwischen uns und einem Leben im Hier und Jetzt stehen, noch einmal gründlich unter die Lupe nehmen. Ich möchte Sie zum Auftakt unserer Untersuchung gern zu einer kleinen Übung auffordern: Hätten Sie Lust, zum besseren Verstehen der folgenden Ausführungen einmal einen Tag lang für jedes Mal, wo Sie auf die Uhr schauen, einen Strich zu machen? Am Abend bilden diese Striche Ihr Bedürfnis nach Kontrolle Ihrer Zeit ab. Wir haben immer ein Stückchen Zukunft vor uns, schauen regelmäßig und meist reflexartig auf die Uhr, ob es denn noch nicht so weit ist – und übersehen völlig, dass wir damit eine winzige Spanne Leben zu überspringen versuchen. Unser vorausgerichteter Blick, unsere Gedanken, die einer Aufgabe, einem Termin entgegeneilen, suggerieren uns, wir würden gerade dadurch das Geschehen des Lebens im Griff halten. In Wirklichkeit schummeln wir uns durch hastige Blicke auf die Armbanduhr und unsere Beschäftigung mit dem «Demnächst», «Bald», «Nachher» an dem Punkt vorüber, an dem die Dinge tatsächlich stattfinden – dem Jetzt. Die unwillkürliche ständige Zeitkontrolle zählt zu unseren Maßnahmen, mit dem Tempo des Tagesgeschehens mitzuhalten. Unser einem künftigen Ziel entgegengerichteter Sinn bekommt auf diese Weise überhaupt nichts in den Griff, noch nicht einmal heiße Luft. Unsere innere Gehetztheit ist nicht identisch mit körperlicher Geschwindigkeit, und sie hat auch nur eine schwächliche Beziehung zu entschlossenem Tun. Diese gedankliche Hetze bewirkt so wenig, wie sich mein Auto bewegt, wenn ich mich gegen den Anschnallgurt stemme.
Wir erkennen zwei zentrale Dinge in dem skizzierten Problem: einmal unseren chronischen Hang zum Voranstreben, unser inneres Tempo, unsere Konzentration auf die Zukunft auf Kosten des jetzt pulsierenden Lebens. Und zum anderen die Einsicht, wie schwierig es ist, nur noch dem Augenblick zu leben. Was den ersten Punkt angeht, habe ich manchmal den Eindruck, dass sich die Menschen zwar ein langes Leben wünschen, aber alles tun, um das Erleben dieses ausgedehnten Daseins wie im Zeitraffer auf markante Szenen zu konzentrieren, die aber alle in der Zukunft liegen. Die Zeitspannen zwischen den ins Auge gefassten Zielpunkten bleiben schlichtweg ungelebt. Appelle an unsere Vernunft, doch mit diesem ständigen emotionalen Jagen aufzuhören, verklingen ungehört. Was unser Gehirn hier mit uns anstellt, widerspricht allen Gesetzen der Logik – und dennoch wollen wir uns ein Maximum an Erlebnissen einverleiben, nicht unähnlich der Art, wie wir gierig unser Essen in uns hineinschlingen. Zum zweiten Punkt wäre anzuführen, dass wir die Gegenwart als den einzigen Ort, in dem wir handeln und entscheiden können, zwar kennen, aber dass die Matrizen in unserem Gehirn sich dem Jetzt als dem einzigen Heilmittel gegen Tempo und Geistesabwesenheit verweigern.
Die Vorstellung, kontinuierlich und ohne Unterbrechung in der Gegenwart zu verweilen, klingt erstrebenswert. Insbesondere, weil uns klar ist, dass das Jetzt in Wahrheit der einzige Raum ist, in dem jemand leben kann – es gibt keinen anderen. Erst unser Denken und das nachfolgende Fühlen zeichnen das Bild der Zukunft, der man entgegenstrebt. Es ist, als ob wir unsere Vorstellungen vom Morgen mit einem Diaprojektor auf eine Leinwand werfen würden. Wenn ich mir ein Urlaubsbild vom Palmenstrand an die Wohnzimmerwand projiziere, kann ich es anschauen, aber mir ist trotzdem klar, wie nutzlos es wäre, jetzt Schuhe und Strümpfe auszuziehen, um am Strand entlang im Wasser zu waten. Leider durchschauen wir das Täuschende an der Zukunft im Alltag nicht so klar wie den einzig aus Lichteffekten bestehenden Palmenstrand an der Zimmerwand.
Lassen Sie uns zur Veranschaulichung des Problems noch einen Moment bei diesem Gleichnis bleiben. Der Palmenstrand ist das Symbol für ein in die Zukunft gerichtetes Denkverhalten. Und er ist in Wahrheit ein Produkt der Vergangenheit! Ich betrachte in der Gegenwart ein Bild, das ich in der Vergangenheit fotografiert habe. Genauso verhält es sich mit unserem Umgang mit der Zukunft: Für unsere Projektionen entnehmen wir aus der Diasammlung unseres Gedächtnisses alte Momentaufnahmen, die Ähnlichkeit mit unseren Vorhaben besitzen. Wir schieben Bilder der Vergangenheit in den Projektor unserer Vorstellungskraft und projizieren sie voraus in die Zeit. Das bedeutet, wir blicken in eine Zukunft, die aus Elementen der Vergangenheit zusammengezimmert ist. Während wir uns einbilden, wir würden vorausblicken, schauen wir wie gebannt in den Rückspiegel!
Wie war das, als Sie aus eigener Einsicht versucht haben, konsequent im Jetzt zu verweilen? Wer es schon einmal probiert hat, kennt die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Anfangs tat es wohl, hellwach und dem Augenblick geöffnet den Tag zu verbringen. Doch allmählich merkten Sie, wie die alten Muster zurückkehrten und die Zukunft in Gestalt von Bedenken, wie es weitergehen soll, in Ihr Bewusstsein eindrang. Die Schwierigkeit, im Jetzt zu bleiben, hat ihre Wurzel in unserer chronischen Existenzangst. Sie ist auch dann vorhanden, wenn wir uns vollkommen sicher fühlen, wenn wir den Eindruck haben, alle Dinge wären im Lot. Als ob ein kleiner Vogel in unserem Hinterkopf mit leisen Schnabelhieben ständig Störsignale an unser Denken senden würde, tickt dort die Sorge um unseren Fortbestand. Ein Blick in den zeitlichen Nebel vor unserem geistigen Auge genügt, um alles Wohlbehagen über derzeit gelingende Maßnahmen beiseitezuwischen und der Zukunftsangst Tür und Tor zu öffnen. Selbst wenn wir einsehen, dass Zukunft eine Illusion unseres Denkens ist, wird unser Blick dorthin stets von einer gewissen Sorge begleitet.
Es ist recht simpel, von der Kanzel oder dem Rednerpult eines Seminars herab den Leuten zu predigen, sie mögen im Jetzt leben, in der Gegenwart bleiben, und alles würde gut. Wie soll jemand inmitten seiner Pflichten und der Unruhe um ihn her die Vision vom ewigen Jetzt realisieren? Wie soll ich denn um Himmels willen vermeiden, auf das zu blicken, was an Aufgaben vor mir liegt? Vor mir! Das heißt in der Zukunft, zu einer späteren Stunde oder an einem anderen Kalendertag, die beide auf mich zukommen werden, ohne dass ich es verhindern könnte. Wenn ich einen Geschäftstermin habe, in einer halben Stunde den Einkaufschef eines Konzerns treffe, wo es um Millionen geht, werde ich mich sehr wohl mit dem Vorhaben beschäftigen müssen. Ich kenne den Herrn, der mich erwartet, also ist mein Bild von ihm der Vergangenheit entnommen. Die Angebote, die ich in der Mappe mit mir führe, die Konditionen sind vorbereitet, ich kenne sie auswendig – weil sie in der Vergangenheit, nämlich letzte Woche, geboren worden sind. Ich kann die Zeit nicht aus meinen Aktivitäten heraushalten, so hübsch das in einer metaphysischen Theorie auch klingen mag.
Hier muss es einen Weg der Vernunft geben, der mir die Lösung meiner Aufgaben ebenso ermöglicht, wie er mir die Chance gibt, in diesem Raum zu verweilen, der zeitlos ist, weil es ihn vom ersten Augenblick der Geburt des Universums an unverändert gibt. Es ist notwendig, die Grundsätze des Taoismus auf eine Art zu leben, die auch realisierbar ist, die zwar das volle Engagement verlangt, aber ansonsten keinen flagranten Bruch mit unseren notwendigen alltäglichen Routinen bedeutet. Ich brauche eine Lebensphilosophie, die gelingt und die keine obskuren Forderungen an mich stellt. Es nützt mir nichts, wenn ich, einer halbgaren Idee folgend, den geistigen Blick voraus in die Regale des Supermarkts unterdrücke, während ich meinen Einkaufszettel schreibe. Oder dass ich es mir versage, mir das gemütliche Lokal auszumalen, in dem ich am Abend mit meiner Liebsten verabredet bin. Bis zu einem bestimmten Grad wirkt die Zeit unvermeidbar in unsere Tätigkeiten hinein. Ich würde meine Fähigkeit zum Vorausplanen verkümmern lassen, wenn ich mich jeder gedanklichen Vorschau verweigern würde. Die Frage von oben greift nun tiefer: Gibt es eine Versöhnung zwischen Zeit, Pflicht, der Forderung nach Aufmerksamkeit und einem Leben in der Gegenwart? Und an welcher Stelle wird die Beziehung zum Tao sichtbar, wird sie verständlich?
Um hier Auskunft zu geben, muss ich tief eindringen in den Schöpfungsprozess und die Rolle, die uns darin zufällt. Es ist vorstellbar, dass das Tao, unbewegt und nichts unternehmend, wie Laotse betont, die Schöpfung so ähnlich besorgt, wie Plato es beschrieb: Im Geist des Verursachers entsteht das Bild einer Welt, und die schiere Energie des Grundes erzeugt die Wirklichkeit. Es ist ein kosmisches Spiel, und wir gehören als Hauptdarsteller zu den Spielfiguren darin. Unser Geist ist unverändert der Geist des Schöpfers, denn wo sonst sollte er herkommen. Das Tao tut nichts, es bleibt der unbewegte Beweger. Die Arbeitslast des kontinuierlichen Schöpfungsvorgangs wurde delegiert: an uns. Da der menschliche Sinn der Sinn des Tao ist, geschieht Schöpfung fortan über das Medium unserer eigenen Wahrnehmung. Es ist ein Doppelspiel: Das Leben, die Realität findet nur statt, weil wir sie beobachten. Aber – und hier entgleitet die Geschichte dem Verstand und wird taoistisch paradox – wir können sie nur darum beobachten, weil sie stattfindet. (Es ist wie mit diesem Bild von den zwei Händen, die sich gegenseitig zeichnen.) Alle Indizien und Rückschlüsse aus der Teilchenphysik deuten darauf hin, dass wir als Beobachter des Spiels über metaphysische Kräfte verfügen, deren wir uns nur nicht bedienen, weil wir nichts darüber wissen. Doch es wäre an der Zeit zu begreifen, dass unsere Welt so fundamental anders ist, als wir sie uns auch nur vorstellen können.
Wenn ich zu verstehen beginne, was Schöpfung ist, wenn ich meine Rolle in diesem gewaltigen Spiel, dem wir den Namen Leben gaben, durchschaue, dann wird auch klar, dass sich diese unendliche Energie, mit der ich ohnehin Tag für Tag die Welt meiner Wahrnehmung hervorrufe, gut und gern auch für mein subjektives Wohlergehen einsetzen lässt. Die einzige technisch unverrückbar vorgegebene Bedingung für das Gelingen lautet: Ich muss die Zeit als Faktor herauslassen. Die Anschrift des Urgrundes inklusive der Adresse des kosmischen Kraftwerks lautet: dieser Augenblick! Ansonsten bedarf es weder des Einsatzes meines Willens noch meines Intellekts. Auch das durch mein Erleben gewachsene Ich, das sich so abgetrennt vom Tao fühlt, ist entbehrlich – es wird nicht gebraucht. Einzig die unmittelbare Beobachtung der Dinge bewegt und verändert diese. Im Verzicht auf alle Regeln, Konditionen und Normen, die der Mensch erfand, gelange ich zu einer Erkenntnis, die mit dem Wohnort meines wahren Wesens, das zeitlos ist, harmoniert.
Originaltext «Wu wei»: Echt und dauernd im Geiste in der Gegenwart verweilen, die Geschehnisse aufmerksam beobachten, wahrnehmen, ohne zu analysieren, wäre der erste Schritt zur Verwirklichung des Tao in unserem Leben. Den Geschehnissen ihren Lauf lassen, ohne Widerstand zu leisten, sie nur betrachten, das ist Handeln im Nichthandeln, das ist Wu wei. Der zweite (und der einzige zusätzliche) Schritt ist die Notwendigkeit, sich innerlich von allen Bindungen zu befreien, von jeder Art Autorität, ganz gleich, ob diese von außen kommt oder in Ihnen selbst ist in Gestalt von festgefahrenen Denkschablonen, religiösen Bindungen oder Ähnlichem.
Meine Bindungen geben mir Sicherheit. Nennen Sie mir einen Grund, warum ich auf diese Sicherheit verzichten sollte. Was hat diese Forderung überhaupt mit dem Taoismus zu tun?
Lassen Sie uns damit beginnen, wie die Freiheit von Bindungen und das taoistische Denken zusammenhängen, denn hier liegt auch der Schlüssel zur Verwirklichung des Nichthandelns. Gleich zu Beginn möchte ich klarstellen, dass wir vom Tao als von etwas unendlich Heiligem reden, das wirklich ist und nicht eines der esoterisch verallgemeinerten Symbole östlicher Religionsphilosophien. Wir reden vom Urgrund aller Erscheinungen. Ein Mensch, der den WEG – wie das Leben der Taoisten genannt wird – geht, realisiert mit jedem Atemzug, mit jeder Bewegung den Geist des Tao. Er folgt dem Tao nicht aus Furcht vor Strafe, auch treiben ihn keine korrupten Motive an. In den taoistischen Schriften ist nichts von Verheißungen zu finden, die Belohnungen für religiösen Gehorsam versprechen. Wer dem Weg des Tao folgt, schafft in seinem Leben jene Harmonie mit dem Lauf der Dinge, die es an sich durch sein Stattfinden bereits haben sollte. Keiner der alten Weisen, weder Laotse noch Chuang tzu, ist je mit Geboten hausieren gegangen. Die christliche Maxime «Ich bin der Herr dein Gott und du sollst keine anderen Götter neben mir haben» hat im Taoismus keinerlei Bedeutung. Dem Urgrund ist es unendlich gleichgültig, ob wir uns in alle möglichen Bindungen und Abhängigkeiten verstricken. Wir werden nur davor gewarnt, und das ist bereits alles. In diesen Warnungen ist auch die Beschreibung zu finden, wie ein Geist beschaffen sein muss, damit sich ihm der Zugang zur Quelle allen Seins öffnet. Es ist ein Geisteszustand, der frei von Konflikten ist und dem ein Handeln entspringt, das nicht von den Konditionen einer korrupten Gesellschaft diktiert wird.
Wir müssen erkennen, dass alle Personen, Dinge und Ideen, an die uns eine tiefe Abhängigkeit fesselt, zerstörerisch auf unseren Geist einwirken. Die scheinbare Sicherheit, die Sie in Bindungen finden, hat ihre Schönheitsfehler: Zum einen existiert diese Sicherheit als Tatsache gar nicht, sondern ist eine hundertprozentige Ausgeburt Ihrer Phantasie. Und diese Pseudosicherheit hat ein paar finstere ständige Begleiter, nämlich Mangel an Freiheit, Eifersucht, Zorn, Hass und vor allem die Angst, zu verlieren, woran Sie haften. Zum anderen ist die wichtigste Bindung jene, die wir zu unserem Selbst als einem vom Ganzen isolierten Individuum entwickelt haben. Das Bild, das wir von uns kultivieren, setzt zugleich die Grenzpfähle, welche die Welt und unser Selbst voneinander scheiden. Unser Denken verwendet dieses abgesonderte Selbst als Schutzwall gegen die Gefahren des Lebens. Und dieses Selbst generiert sein Bildnis aus all seinen Erfahrungen, seinen Überzeugungen, also nicht zuletzt aus seinen Bindungen. Unsere Abhängigkeiten sind der Kitt, der unser inneres Porträt zusammenhält. Womit gesagt werden darf: Unsere Bindungen haben wir eigentlich gar nicht, sie sind Bestandteil unseres Selbst. Anstatt dass wir in uns die große Bewegung des Lebens spüren, welche die Menschheit ist, anstatt dass wir, über unsere Subjektivität hinausgehend, erkennen, dass wir die Welt, dass wir Himmel und Erde sind, sind wir Gefangene unserer Abhängigkeiten. Unser Denken und unsere Grundannahmen über uns reduzieren uns als Individuen auf das Volumen unserer Bindungen.
Die Notwendigkeit der Befreiung von unseren Gebundenheiten erkennt die taoistische Philosophie in der Notwendigkeit, sich von seinem kleinen, begrenzten, vom Ganzen isolierten Selbst zu befreien – es abzulegen, beiseitezulassen, wie Laotse es ausdrückt. Sehen wir uns an, was er zum Thema Befreiung zu sagen hat:
Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd. Sie sind dauernd und ewig, weil sie nicht sich selbst leben. Deshalb können sie ewig leben. Also auch der Berufene: Er setzt sein Selbst hintan, und sein Selbst kommt voran. Er entäußert sich seines Selbst, und sein Selbst bleibt erhalten. Ist es nicht also: Weil er nichts Eigenes will, darum wird sein Eigenes vollendet?
In den einleitenden Sätzen seines siebten Spruches liefert Laotse uns den Hinweis auf ein Sein ohne Ende. Er stellt den Berufenen mit Himmel und Erde gleich. Das Tao in seiner Identität, die Himmel, Erde und den Menschen des WEGES einschließt, handelt durch Nichttun, ohne dass es einen Versuch gibt, über das schiere Vorhandensein hinaus ein Selbst zu produzieren, das sich in den Vordergrund drängt.
Versuchen wir, Laotses Äußerungen aus der Perspektive eines Denkmodells Baujahr 2008 zu betrachten. Unter dem Wirken des Tao geschehen gewaltige Dinge, aber der Urgrund bleibt dabei die Einfachheit selbst. Bliebe als Nächstes zu klären, was das nun für ein Selbst ist, das dieser Berufene hintanstellt. Wie wird man das Selbst los? Selbstlos? Das Wort hat doch einen Beigeschmack. Man denkt an den Opfergang einer Mutter, die Aufopferung und Hingebung im Dienst an Menschen, man denkt an all die Idealisten, die ihre egoistischen Interessen scheinbar einer großen Idee opfern, all ihre Zeit erhabenen Zielen zur Verfügung stellen. (Und man übersieht dabei, dass genau diese Aufopferung auch nur wieder die Variante eines Egotrips ist.) Dies alles kann Laotse nicht gemeint haben, wenn er seinen Berufenen als einen Menschen charakterisiert, der sein Selbst beiseitegeräumt hat. Wenn ich mich extrem bescheide, auf alles Wünschen und Planen verzichte, mich in Selbstlosigkeit übe – wo stehe ich dann? Ich befinde mich dann nach wie vor inmitten eines brausenden, tobenden Lebens. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich so stark zurückgenommen habe, dass Freuds «Schmerzvermeidung durch Lustverzicht» auf mich zutrifft. Ich bin zu einem dieser verzagten, mehr oder weniger lebensunwilligen, lustlosen Typen geworden, dem alles lieber ist, als Verantwortung zu übernehmen. Womit noch immer nicht klar ist, wie die Zurückstellung dieses noch zu definierenden Selbst funktioniert, damit es zu positiven Wirkungen kommt.
Nichtsdestoweniger gibt es am Vorhandensein unseres Selbst an sich nichts zu kritisieren. Es existiert und wirkt in unser Leben hinein. Man könnte es vielleicht so definieren: Mein Selbst schließt meinen Körper ein, das denkende Gehirn, alles Erleben, die ganze Wahrnehmung des täglichen Daseinsverlaufs. Dagegen hat auch Laotse nichts einzuwenden. Sein Berufener verfügt ja auch über ein Selbst, sonst könnte er es schließlich nicht hintanstellen. Doch der Berufene lässt nicht zu, dass sein individuelles Selbst andauernd in den Lauf der Dinge eingreift. Er macht es Himmel und Erde nach und lässt den Dingen ihren Freiraum, um sich zu entfalten. Es würde sich lohnen, liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle für ein kleines Experiment innezuhalten: Versuchen Sie sich doch einmal für wenige Minuten in ein Gefühl einzuleben, als ob der Himmel über Ihnen und die Erde unter Ihren Füßen zu Ihrem Selbst gehören würden wie Ihr Gedächtnis oder Ihre Gliedmaßen. Geben Sie nicht gleich auf, wenn es nicht so leicht geht. Denken Sie daran, wie oft Sie beinahe unwillkürlich in Träumereien von Ereignissen verfallen, die erst noch stattfinden müssten. Träumen Sie sich in dieses Gefühl hinein, es ist immerhin ein Traum, der etwas Wirkliches nachvollzieht. Wenn Ihnen dieses Gefühl von der Einheit dieser drei Elemente, nämlich Ihnen als Person plus Ihres Lebensraums samt allen Inhalten, gelingt, werden Sie auch ein Gefühl dafür entdecken, wie Laotse Nichthandeln versteht: Sich eins mit Ihrer Welt erlebend, merken Sie zugleich, wie die Dinge sich gegenseitig beeinflussen und fortgesetzt zu Resultaten führen. Und es wird sich in Ihrem Geist Klarheit einstellen, dass Sie als die Einheit von Selbst, Himmel und Erde am Zustandekommen dieser Resultate stets beteiligt sind. Daraus folgt beinahe zwanglos die Reaktion, in Zukunft die Kraft Ihrer Aufmerksamkeit viel stärker aufs Ganze zu richten. Sie wenden den konzentrierten, angestrengten Blick von Ihrem Selbst und vom Eigenen ab – und entdecken, wie das Selbst sich universaler erlebt und wie Ihr Eigenes ohne Mühe und Not wie von der Brandung herbeigespültes Strandgut an Ihren Ufern landet. Kurzum: Mit dem Verblassen des individuellen Identitätsprofils wächst im Berufenen eine andere Dimension an Sein heran. In der taoistischen Philosophie kommt die Befreiung aus der Erkenntnis, dass das Einzelselbst nichts und die große Einheit des Alls alles ist. Laotse setzt uns mit Himmel und Erde gleich – einfach, weil wir das sind. Der Berufene ist das alles, und das Verhalten der Erscheinungen sollte das Spiegelbild unseres Denkens, Fühlens und Handelns sein. Die Welt braucht kein Selbst, sie ist eines. Und dieses Selbst – sind Sie!