Tauchgang - Günter Overmann - E-Book

Tauchgang E-Book

Günter Overmann

4,8

Beschreibung

Ist er's oder ist er's nicht? Ist Clemens Westerhoek jener Obergefreite, der 1945 vor Kriegsende desertierte und sich von Italien nach Deutschland zu seiner Frau durchschlug, oder ist er der SS-Sturmbannführer Friedrich Schorr, der sich Westerhoeks Biografie erschlichen hat? Über rund 60 Jahre erstreckt sich Günter Overmanns deutsche Biografie, die Leben und Lebensbrüche einer ganzen Generation spiegelt.

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Günter Overmann

TAUCHGANG

Roman

Elster Verlag • Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2012 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Elster Verlagsbuchhandlung AG

Hofackerstrasse 13, CH 8032 Zürich

Telefon 0041 (0)44 385 55 10, Fax 0041 (0)44 305 55 19

[email protected]

www.elsterverlag.ch

ISBN 978-3-906065-63-2

E-Book-Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Umschlag: Alex Werth, Zürich

1

«Sie?»

«Überrascht?» Sie hätte nicht fragen müssen. Man sah es ihm an. Die Augen des alten Mannes – noch immer stahlblau, der Blick wach, aufmerksam, stechend – blinzelten einen Moment lang verwirrt, bevor er die gewohnte Selbstsicherheit zurückgewann.

«Wären Sie das nicht an meiner Stelle? Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen.» Der alte Mann lächelte. Verbindlich, undurchdringlich. Bewegte sich aber nicht. Stand in der Haustür, die Klinke in der Hand, als würde er sich darauf stützen. Was er nicht tat, wie Sabine wusste. Er brauchte zwar zum Gehen einen Stock, stand aber ohne Hilfe.

Sabine lächelte ebenfalls, versuchte, eine Maske aufzusetzen. Wusste nicht, ob es ihr gelang. «Vielleicht. Wahrscheinlich. Darf ich trotzdem eintreten, Herr Westerhoek?» Sie spürte, wie Westerhoeks Augen sie musterten. Fühlte sich nackt, wäre am liebsten umgekehrt. «Sie zögern. Kann ich verstehen. Wenn ich lieber gehen soll …?»

«Nein, kommen Sie, Frau …? Entschuldigen Sie, ich bin ein alter Mann. Ich habe Ihren Namen vergessen.»

«May. Sabine May.»

Der Alte nickte. «Kommen Sie …»

Er drehte sich um, ging ins Haus, ohne sich darum zu kümmern, ob Sabine ihm folgte oder nicht. Oder, wahrscheinlicher, er war sicher, dass sie es tat.

Sie sah sich um, während sie hinter ihm die Diele betrat, einen weiten, lichten Raum, der größer aussah, als er wirklich war. Die Wände aus blassgelbem Sandstein, der Boden bedeckt mit tiefroten Ziegeln, links eine Nische für die Garderobe, rechts eine einfache Tür aus dunkel gebeiztem Holz, die Gäste-Toilette. Sonst nichts. Keine Bilder, keine Pflanzen, nur an den gegenüberliegenden Wänden zwei Bänke, ebenfalls aus Sandstein. Alles vollkommen symmetrisch, aber im Gegensatz zu den Räumen seiner vom Bauhaus inspirierten Kollegen wirkte dieser warm, weich, die Ordnung nicht steril. Eines der Markenzeichen des Architekten Westerhoek.

Keine Fenster in den Wänden, aber dennoch war es hell. Tageslicht, wie Sabine wusste. Inzwischen war sie vorbereitet. Sie schaute hoch, Fensterbänder schlossen an drei Seiten hoch oben direkt unter der Traufe die Wände ab. Darüber der offene Dachstuhl des berühmten schwebenden Dachs; so genannt, weil es durch das Fensterband aussah, als hätte es keine Verbindung zur Mauer. Und das Licht, das durch diese Fensterbänder fiel, zeichnete je nach Tages- und Jahreszeit unterschiedliche Schatten auf die Wände; ein Kniff, mit dem Westerhoek seinen schweren, wuchtigen Gebäuden Leichtigkeit, Schwerelosigkeit verlieh; eine fast tänzerische Unbeschwertheit, die in seltsamem Kontrast stand zu der militärischen Strenge, mit der der Architekt trotz seines steifen Knies vor Sabine herschritt.

Sie gingen durch das Atrium, Westerhoeks Wohnhäuser waren alle im römischen Stil um einen – hier japanisch – bepflanzten Innen- und Lichthof herum gebaut, sodass sie sich nach außen, zur Straße hin, wie Burgen abschließen konnten mit nur wenigen Fenstern, die eher Schießscharten glichen. Alles war vertraut, Sabine hatte das Gefühl, sich auszukennen, schon einmal hier gewesen zu sein – was sie nicht war, sie hatte nur Fotos gesehen, viele Fotos. Der Architekt führte Sabine in einen Raum, den man wohl am ehesten als Bibliothek bezeichnen konnte. Auch hier bestanden die Wände aus Sandstein, der Boden aus Ziegeln, doch von Wänden und Boden war kaum etwas zu sehen. Drei der Wände waren bedeckt von umlaufenden Bücherregalen, die bis zum auch hier wiederkehrenden Fensterband reichten, das Holz der Bretter ebenso dunkel gebeizt wie das der Tür in der Diele, die Streben heller, rötlicher, wiederum, um dem Regal die Schwere zu nehmen. Die vierte Wand war aus Glas, öffnete den Raum zum Atrium.

Der Boden war bedeckt mit farbigen Teppichen, die nach Sabines Eindruck aus Nordafrika stammten, aber sicher war sie sich da nicht. An einem Ende des Raumes stand ein mit Leder bezogener Schreibtisch, der peinlich aufgeräumt war, Papiere und Stifte lagen exakt parallel zur Tischkante, die Stifte waren zudem nach dem Farbspektrum geordnet. Am anderen Ende des Raumes zwei Sessel, ein Tischchen, eine Stehlampe. Alles aus den Zwanzigerjahren, wie Sabine schätzte. Vielleicht auch aus den Dreißigern – ja, wenn sie genau hinschaute, schien es ihr, als habe sie solche Möbel schon auf Bildern, in Filmen aus der Nazizeit gesehen. Für einen Moment verweilte ihr Blick auf den Möbelstücken, wie ein Blitz schoss ein Bild durch ihr Hirn: Westerhoek als junger Mann in schwarzer Uniform, wie er an dem Tisch steht.

Für den Moment verlor sie sich in ihrem Blick, verlor sie sich in der Hoffnung, der Illusion, dieses Bild könnte wirklich sein, doch der Architekt holte sie aus ihren Gedanken, bot ihr mit einer Geste Platz an und fragte, ob sie etwas trinken wolle. «Tee, Kaffee, Wasser?»

«Machen Sie sich keine Umstände.»

«Es macht keine Umstände. Ich sage meiner Haushälterin, was sie bringen soll, und sie tut es. Dafür wird sie bezahlt.»

«Gut, dann ein Wasser bitte.»

«Nicht lieber etwas Stärkeres?»

«Nein, danke.» Westerhoek hob leicht die Augenbrauen angesichts der Heftigkeit, mit der Sabine ablehnte, nickte dann aber kurz und ging, um der Haushälterin Bescheid zu sagen. Sabine setzte sich. Schloss die Augen. Leichter Schwindel erfasste sie, als ob sie seit langer Zeit zum ersten Mal wieder geraucht hätte. Aber es war nicht Nikotin, das den Schwindel auslöste, auch wenn der Raum deutlich nach Westerhoeks Zigarillos roch. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, eingelassen zu werden; wusste plötzlich nicht mehr, warum sie hier war. Hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.

Westerhoek kam zurück, setzte sich zu ihr, und für den Moment spürte man sein Alter. Mit seinem steifen Knie hatte er sich, auch als er noch jünger gewesen war, nicht in einer flüssigen, eleganten Bewegung setzen können. Aber jetzt war es ein Kraftakt. Westerhoek stützte sich mit beiden Armen auf die Lehne des Sessels, drehte sich mühsam, fiel dann im Drehen fast in den Sessel. Stöhnte. Lächelte entschuldigend.

«Materialermüdung. Das gesunde Knie macht langsam auch nicht mehr mit. Es musste ja auch über viele Jahre all die Arbeit tun. Manchmal ist es schon eine Last, so alt zu werden wie ich.»

Eine Last, die man ihm nicht ansah. Das Haar war zwar weiß, aber voll. Das Gesicht bedeckt von Falten, aber braun. Vital. Das leicht hervorstehende Kinn machte einen genauso energischen, unternehmungslustigen Eindruck wie Sabine es von Fotos aus den Fünfzigerjahren kannte; die große Nase, die buschigen Augenbrauen verliehen dem Gesicht nach wie vor etwas Adlerartiges, so, als ob Westerhoek trotz seiner fast vierundneunzig Jahre jederzeit vom Himmel herabstoßen und zuschlagen könnte.

Er trug, außer zum Lesen, keine Brille und, soweit Sabine erkennen konnte, auch keine Kontaktlinsen. Schien bis auf die Arthritis gesund zu sein. War noch immer eine imposante Erscheinung, fast zwei Meter groß, nicht dick, nicht mager. Gekleidet in die, wie Sabine es nannte, Architektenuniform: einen schwarzen Anzug, der bei Westerhoek einen leicht chinesisch anmutenden Schnitt hatte, mit grauem Rollkragenpullover. Dazu blank gewienerte schwarze Schnürstiefel.

Sein entschuldigendes Lächeln erlosch. Nach einem Moment setzte er an, das gesunde Bein über das steife zu schlagen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, unentschlossen, ob er dem Schmerz trotzen und weitermachen sollte. Doch der Schmerz war zu stark, Westerhoek gab auf. Und wie er anschließend da hockte, fast ein wenig resigniert, die Beine nebeneinander, die Hände auf den Knien, wirkte er ein bisschen wie ein Schuljunge.

«Ich muss Sie wohl nicht fragen, was Sie zu mir führt.» Westerhoek drehte sich zu Sabine, schaute sie an. Auch die Drehung fiel ihm nicht leicht und verursachte offensichtlich Schmerzen. Sabine schwieg. Brachte keinen Ton heraus. Es war eine spontane Idee gewesen, hinaus zu Westerhoek zu fahren. Eine Idee, die sie jetzt schon bereute. Westerhoek schaute sie an und wartete.

«Warum haben Sie mich eingelassen?» Sie bemühte sich, die Verzweiflung, die Hilflosigkeit in ihrer Stimme unter Kontrolle zu halten. Spürte aber gleichzeitig, wie wenig es ihr gelang.

«Sie standen vor meiner Tür und haben mich darum gebeten.» Sabine meinte, Spott zu hören. «Sie wollen etwas mit mir klären. Also?» Westerhoek wurde ungeduldig. «Ich bin zu alt, um lange zu warten. Und auch zu alt für überflüssige Höflichkeit.»

Sabine schaute zur Tür in der Hoffnung, die Haushälterin käme mit den Getränken und würde ihr Gelegenheit geben, ihre Gedanken zu ordnen. Doch nichts.

«Wollen Sie sich bei mir entschuldigen?», fuhr der alte Mann fort. «Nicht nötig. Mir ist ja nichts passiert.»

«Mich bei Ihnen entschuldigen?» Wie eine Blöde wiederholte sie, was er gesagt hatte. Schüttelte energisch den Kopf. Zögerte. Schaute ihn dann an.

«Das sollte ich wohl …»

«Aber Sie meinen es nicht ernst? Sie denken immer noch, ich wäre schuldig?» Er schaute sie an und zwang sie, ehrlich zu sein.

«Ja.» Mehr vermochte sie nicht zu sagen.

Westerhoek nickte langsam. «Und was erwarten Sie jetzt von mir? Ein Geständnis?»

«Das werden Sie mir kaum geben, oder?»

«Wenn es etwas zu gestehen gäbe, Sie wären die Erste. Das verspreche ich Ihnen. Aber so leid es mir tut: Es gibt nichts zu gestehen.» Jetzt wurde er auch noch charmant. Mitleidig. Onkelhaft.

Da kam zum Glück die Haushälterin und servierte Getränke.

Als sie wieder gegangen war, hatte Sabine sich so weit beruhigt, dass sie wieder sprechen konnte. «Selbstverständlich gibt es etwas zu gestehen. Sie heißen in Wahrheit nicht Clemens Westerhoek, Sie wurden nicht am 14. Februar 1915 geboren. Sondern Sie sind Friedrich Schorr, ehemals SS-Sturmbannführer. Geboren ein gutes Jahr später. Am 27. März 1916.»

«Dadurch, dass Sie die Behauptung wiederholen, wird sie nicht richtiger.» Westerhoek blieb ruhig. Sabine kaute an ihrer Unterlippe.

«Es war nicht mein Fehler», fuhr der Architekt fort, «dass Sie Ihre Stelle verloren haben.» Er lächelte verbindlich. «Ich verstehe ja, dass Sie sich Hoffnungen machen, sie wiederzubekommen, wenn Sie nachweisen können, dass Sie Recht hatten und ich doch schuldig bin. Aber Sie verrennen sich. Sie sind auf dem Holzweg.» Die Sachlichkeit, mit der Westerhoek ihre Lage analysierte, traf Sabine.

«Ich werde es nachweisen. Verlassen Sie sich drauf.»

«Wohl kaum.»

«Vielleicht habe ich die Beweise ja schon zu Hause. Und möchte jetzt nur eine Stellungnahme von Ihnen.» Ein Schuss ins Blaue. Den sie, wie sie auch sehr genau wusste, besser nicht abgab. Denn Westerhoek schoss zurück. Er winkte ab.

«Wenn Sie Beweise für meine Schuld hätten, wären Sie nicht hier.» Westerhoek zuckte mit den Achseln, trank einen Schluck. Die Haushälterin hatte ihm Kaffee und Cognac gebracht. «Sie haben es versucht, aber Sie haben nichts gefunden. Sonst wären Sie direkt zu Ihren Freunden vom Fernsehen gelaufen. Oder zu der Zeitung mit den großen Buchstaben, falls ich für die interessant genug bin. Aber egal, wo: Sie hätten mich enttarnt. Da Sie das nicht tun …» Er ließ den Satz offen, schmunzelte leicht. Und Sabine hatte das Gefühl, er machte sich lustig über sie. Aber gleich darauf wurde er wieder ernst. «Sie haben einfach schlampig recherchiert. Sie, oder einer Ihrer Mitarbeiter. Akzeptieren Sie das. Finden Sie sich damit ab. Je eher Sie das tun, desto besser.»

2

Triumphierend legt ihr die Hospitantin einen Stapel ausgedruckter Mails auf den Schreibtisch. Sabine liest:

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde

an:

[email protected]

Sehr geehrte Frau Hembsch,

vielen Dank für Ihre Anfrage.

Weder hier im Berliner Teil des Bundesarchivs noch in dem ihm inzwischen angeschlossenen Berlin Document Center liegen Erkenntnisse oder Unterlagen zu Westerhoek, Clemens, geb. 14.2.1915, vor. Aus datenschutzrechtlichen Gründen sind wir leider nicht befugt, Ihnen weitere Informationen zukommen zu lassen.

Mit freundlichem Gruß

Andrea Schelländer, Archivarin

Zentrale Stelle der Justizverwaltungen in Ludwigsburg

an:

[email protected]

Sehr geehrte Frau Hembsch,

im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus existieren hier über Herrn Clemens Westerhoek, geb. 14.2.1915, keine Akten.

Zu weitergehenden Auskünften bin ich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht berechtigt.

Mit freundlichen Grüßen

Large, Justizangestellte

Bundesversicherungsanstalt für Angestellte

an:

[email protected]

Sehr geehrte Frau Hembsch,

für Herrn Clemens Westerhoek, geb. 14.2.15, ist bei der BfA keine Rente beantragt worden, weder von ihm selbst noch von einer seiner Hinterbliebenen.

Weitere Auskünfte können aus perönlichkeitsrechtlichen Gründen nicht gegeben werden.

In der Hoffnung, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben, mit herzlichem Gruß

Schnettke

Militärarchiv Freiburg

an:

[email protected]

Sehr geehrte Frau Hembsch,

das Militärarchiv in Freiburg verwaltet nur allgemeine Unterlagen über die Wehrmacht und die Waffen-SS wie Regimentstagebücher und Verlustlisten, in denen allerdings keine Namen, sondern nur Verlustzahlen vermerkt sind. Über Einzelpersonen können wir erst vom Rang eines Obersten aufwärts Auskunft geben.

Über einen Clemens Westerhoek, geb. 14.2.15, liegen hier keine Informationen vor. Die Personalakten einzelner Wehrmachtsangehöriger werden in der Außenstelle des Bundesarchivs in Aachen-Konelimünster aufbewahrt. Für weitere Recherchen würde ich Ihnen empfehlen, sich dorthin zu wenden.

Mit freundlichen Grüßen

Hörrer

«Ja, und?» Sabine legt die Ausdrucke beiseite, sieht Linda Hembsch fragend an.

«Ich war in Aachen-Konelimünster. Und dann noch einmal in Freiburg beim Militärarchiv.»

«Ja, und?» Sabine wiederholt ihre Frage, ihre Ungeduld wächst.

«Hab mich als Urenkelin von Westerhoek ausgegeben. Sonst wär ich gar nicht an die Akten gekommen.»

«Was hast du rausgefunden?»

«Das ist echt der Hammer.» Linda genießt die Spannung, genießt ihren Erfolg. Okay, soll sie, denkt Sabine. Aber jetzt raus mit der Sprache. «Verdammt, red endlich!»

«Nach allem, was ich da rausgekriegt habe, ist ein Clemens Westerhoek, geboren 14.2.1915 in Bottrop, am 10.4.1945 bei einem Flugzeugabsturz in der Bucht von Portofino in der Nähe von Genua ums Leben gekommen.»

«Was?!»

«Das heißt, es gibt ihn gar nicht, unseren Westerhoek. Vorausgesetzt, es ist nicht zufällig am gleichen Tag am gleichen Ort ein Mann mit dem gleichen Namen geboren worden.»

Sabine atmet langsam, versucht zu begreifen: «Sag das nochmal.»

«Nach allem, was ich weiß, ist unser Westerhoek im April 45 in Italien gefallen. Und wenn es nicht den irrsinnigen Zufall gibt, dass zwei Männer gleichen Namens …

«Bestimmt nicht. Los, erzähl schon. In ganzen Sätzen.»

Linda liest aus ihren Notizen. «Westerhoek war gelernter Elektriker. Er wurde am 1.10.36 zum Wehrdienst einberufen und zum Funker ausgebildet. Diese Ausbildung schloss er am 12.5.38 ab und blieb bei seiner Einheit, bis er am 1.4.39 nach Ableistung seines Wehrdienstes aus der Wehrmacht entlassen wurde.

Am 1.10.39 wurde er wieder eingezogen, kam zu seiner alten Einheit. Die kämpfte in Polen, später an der Westfront. Nach dem Sturz Mussolinis und der Besetzung Italiens durch deutsche Truppen war sie in Süditalien stationiert und nahm 1944 an der Schlacht um Monte Cassino teil, wobei mehr als die Hälfte seiner Einheit umgekommen ist. Westerhoek hat allerdings überlebt.

Bis zum April 1945 wurde die Einheit dann immer weiter zurückgezogen, sie überwinterte in der Nähe von Carrara, nördlich von La Spezia. Bei der Frühjahrsoffensive der Alliierten ab dem 9. April 1945 floh die Einheit von dort und löste sich auf.

Eine Gruppe von Soldaten aus dieser Einheit unter dem Kommando von Hauptmann Werner versuchte, mit der letzten Ju 52, die noch auf dem Flugplatz von Carrara stationiert war, den anstürmenden alliierten Truppen zu entkommen. Westerhoek war einer von ihnen, so steht’s auf der Liste, die ich in Freiburg gefunden habe.» Linda grinst: «Echt, man glaubt’s nicht, eine einzige Maschine hatten die noch, keine Waffen, kein Benzin mehr, aber Papier, um Listen zu führen.»

Sabine lächelt.

Linda spricht weiter. «Die Maschine wurde in der Bucht von Portofino von einer – wahrscheinlich von Partisanen abgefeuerten – Granate getroffen, explodierte, zerbrach und stürzte ab. Keiner der Insassen hat überlebt, soweit bekannt ist. Also auch Westerhoek nicht.»

Sabine ist sprachlos. Wider Willen beeindruckt. Die Kleine hat Recht: Das ist wirklich ein Hammer. Warum ist sie selbst nicht auf diese Idee gekommen? Dabei liegt es auf der Hand. Westerhoek ist über neunzig. 1915 geboren. Das heißt: 1933 war er achtzehn. 1940 fünfundzwanzig. Alt genug, in verantwortungsvoller Position zu sein. Alt genug, Verbrechen zu begehen.

«Bist du sicher?»

Linda nickt und lächelt stolz. «Abgesehen davon, was ich in den Archiven erfahren habe … Und das ist ja so einiges …»

Sabine nickt. Fasziniert und ungeduldig, dieses Mädchen soll sie nicht auf die Folter spannen.

«Ich habe es ihm angesehen.»

«Du hast was …?! Wann?»

3

Sabine kommt aus der Redaktion nach Hause, schleudert die Schuhe von den Füßen, geht zum Kühlschrank, schenkt sich Prosecco ein. Betrachtet verwundert das Glas, es ist noch nicht einmal halbvoll, die Flasche aber leer. Hat sie gestern Abend noch so viel getrunken? Sie öffnet die nächste, füllt das Glas. Trinkt, ohne wahrzunehmen, was sie tut. Füllt das Glas erneut, trinkt wieder.

Sieht es immer wieder vor sich, kann nicht anders. Versucht, den Gedanken wegzuschieben, doch es geht nicht. Kann nur an eines denken: die kleine Linda Hembsch, der Kartoffelkäfer, bei Westerhoek. Wie sie vor ihm am Schreibtisch sitzt. Wie sie dort die Idee bestätigt findet, auf die Sabine selbst hätte kommen sollen. Aber sie ist nicht darauf gekommen.

Sie nimmt das Glas, um es ins Wohnzimmer zu tragen, nimmt nach kurzem Zögern die Flasche mit – warum gleich noch einmal laufen? –, setzt sich, zappt lustlos durch die Fernsehkanäle. Aber sie schaut nicht hin, hört nicht zu. Sieht nur, wie die kleine Hembsch bei Westerhoek im Vorzimmer steht, trotz seiner über neunzig Jahre arbeitet der Architekt noch immer. Ist noch immer jeden Morgen Punkt halb neun im Büro. Sabine sieht, wie Frau Stadler, seine Sekretärin, sie abwimmeln will, genauso wie sie fast alle abwimmelt, die zum Chef wollen. Doch der Architekt tritt plötzlich aus seinem Büro, und Linda lächelt ihn an. Denkt er an seine Enkelin? Denkt er an eine Jugendliebe? Erzählt Linda, das kleine Biest, ihm eine Geschichte? Eine Lüge? Wie auch immer, Westerhoek nimmt sie – unter den bösen Blicken von Frau Stadler – mit in sein Büro. Die Kleine sieht sich um, heuchelt Bewunderung. Nein, sie heuchelt wahrscheinlich gar nicht. Sie ist wirklich voller Bewunderung. Wickelt den Alten mit ihrer Unbeholfenheit, mit ihrer Unsicherheit um den Finger. Löst seinen Schutzreflex aus. Wahrscheinlich ist ihr gar nicht bewusst, was sie tut, denkt Sabine. Aber das macht es nicht besser.

Linda kennt sich sicher aus mit Westerhoeks Oeuvre, kann mit ihm über Traufhöhen und Portikuskonstruktionen fachsimpeln.

Die Kleine bereitet sich vor. Wie Sabine früher. Aber wozu so viel Aufwand für ein Fünf-Minuten-Interview. Da genügen Standardfragen. Und den Rest wird Linda ihr aufschreiben. Wenn sie sich das eine halbe Stunde vor der Sendung ansieht, reicht das völlig.

Linda ist ehrgeizig, das war Sabine bereits beim Vorstellungsgespräch klar. So, wie sie selbst früher einmal war. Ich bin gerade mal Vierzig und schon ausgebrannt, denkt sie, nimmt einen weiteren Schluck. Ich grabe mich nicht mehr nächtelang durch die Werkverzeichnisse des Architekten Westerhoek, Bauvorhaben um Bauvorhaben, um irgendeinen Ansatzpunkt zu finden, und sei er auch noch so klein. Irgendeinen Hinweis auf Pfusch. Oder Bestechung. Oder einen Unfall, an dem der Architekt die Schuld trägt. Irgendetwas, das nur einen Millimeter vom Üblichen, Normalen, Erwartbaren abweicht. Das einzige, was ich gefunden habe, ist die Geschichte mit dem Wagenrad. Aber für die brauchte es nur einen oberflächlichen Blick ins Pressearchiv.

Westerhoek hatte Ende der Sechziger eine seinerzeit vielfach ausgezeichnete Werkssiedlung von Reihenhäusern entworfen, die zu Beginn des neuen Jahrtausends – vorbildlich sozialverträglich zumeist an die Menschen, die seit Jahren in diesen Häusern wohnten – verkauft worden war. Sofort hatten die Leute begonnen, die Häuser, die nun ihnen gehörten, zu verschönern. Oder zu verschandeln, wie Westerhoek meinte. Und er hatte gegen einen Hausbesitzer prozessiert, der statt der immer gleichen, nur farblich von denen der Nachbarn unterschiedenen Haustüren eine aus auf alt gemachtem Kupfer eingesetzt und in den Vorgarten ein mit Blumen bepflanztes Wagenrad gestellt hatte. Westerhoek hatte gefordert, Haustür und Wagenrad zu entfernen, weil sie die künstlerische Integrität seines Entwurfs verletzen, den Prozess jedoch verloren. Nicht besonders aufregend der Vorgang, aber ein guter Einstieg, um den Architekten nach seinem Selbstverständnis zu fragen. Nicht mehr und nicht weniger.

Im Gegensatz zu ihr ist Linda hungrig. Wach. Gierig. Und sitzt bei Westerhoek im Büro. Bei dem Architekten, der sonst nie einen Journalisten zu sich, in sein Haus, und schon gar nicht in sein Büro, sein Heiligtum, lässt. Und sich nur mit äußerster Mühe hat breitschlagen lassen, zu einem Interview in Sabines Sendung zu kommen. Ein Interview, das niemanden interessiert, in einer überflüssigen Kultursendung in einem dritten Programm, das niemand schaut. Aber Linda ist auch noch keine Journalistin. Linda ist ein Nichts, ein Niemand, ein Neutrum. Der ideale Maulwurf. Linda Hembsch, Kartoffelkäfer, Küchenschabe, Maulwurf. Sabine lacht. Doch in ihrem Lachen ist kein bisschen Fröhlichkeit.

Sabine, die Überfliegerin. Blond, schlank, schön, sportlich. Kurzes Kleid, lange Beine bei der Verleihung der Abitur-Zeugnisse. Strahlendes, lachendes Mädchen. Einser-Abiturientin, die sich aussuchen konnte, was sie mit ihrem Leben anfing. Jura, Medizin, BWL. Die sich aber für den Journalismus entschied. Sabine, die Kämpferin für das Wahre, Schöne und Gute.

Sabine, die Unbesiegbare. Die Hungrige, Gierige, Ehrgeizige, doch das ist lange her. Die Flasche ist leer, Sabine schwankt kurz, kämpft für einen kurzen Moment, ob sie eine weitere aufmachen soll, geht dann zum Kühlschrank. Linda Hembsch. Was hat sie ihm erzählt? Was hätte Sabine ihm erzählt, die junge, die hungrige, die gierige Sabine?

«Sie sind ein Zeitzeuge.»

Nein, zu platt. Zu nah dran. Da hätte er Lunte gerochen. Oder vielleicht auch gerade nicht. Wer weiß. Der unscheinbaren, unerfahrenen Linda glaubt er möglicherweise, dass sie sich für den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland interessiert. Dem kleinen Mädchen traut er die Nazi-Jägerin gar nicht zu. Die Nazi-Jägerin, die sie aber zu sein glaubt. Die dann das Gespräch geschickt, scheinbar zufällig, auf die Zeit zwischen 33 und 45 lenkt.

«Wenn Sie 1915 geboren sind, dann haben Sie ja auch die Nazi-Zeit als erwachsener Mensch erlebt …?» Mit ein bisschen Verwunderung in der Stimme, dem Erstaunen, dass es Menschen gibt, die etwas so weit Entferntes tatsächlich erlebt haben. Und der Alte war ihr auf den Leim gegangen.

«Erwachsen … Ich weiß nicht. Bei der Machtergreifung war ich siebzehn …»

«Also ich habe mich mit siebzehn schon ziemlich erwachsen gefühlt.» Koketter, selbstironischer Augenaufschlag, der den Architekten zum Schmelzen bringt.

Er schmunzelt. «Wenn Sie einmal so alt sind wie ich, werden Sie wissen, dass Sie es nicht waren.»

«Mag sein. Aber ich werde mich dennoch sehr genau erinnern können, was damals los war, oder nicht?» Und dann erkundigt sich die kleine, hinterhältige Schleimerin danach, wie Westerhoek auf die Idee gekommen sei, Architekt zu werden. Eine Frage, die keine seriöse Journalistin jemals stellen würde. Die aber vielleicht gerade deshalb so wirkungsvoll ist. Der Alte antwortet und verplappert sich. Sagt irgendetwas, das Lindas Verdacht bestätigt. Nein. Nicht irgendetwas. Sabine weiß, was. Linda hat es ihr voller Stolz erzählt.

Der Architekt schaut Linda an. Oder vielleicht schaut er auch an ihr vorbei aus dem Fenster. Ins Leere. Richtet seinen Blick wieder auf das neunzehnjährige Mädchen. Scheint aber jemand anderen zu sehen, jemanden, der weit, weit entfernt ist. Und Linda glaubt zu spüren, ist sich plötzlich sicher, dass sie Recht hat. Dass der Alte etwas verbirgt. Etwas Wichtiges. Etwas, das seit Jahren, möglicherweise Jahrzehnten in ihm schlummert. Das er aber erzählen möchte. Jetzt und hier, dem unscheinbaren Mädchen. Wie man einem Barkeeper oder einen Fremden im Zug die größten Geheimnisse anvertraut.

Der Architekt schaut sie an. Und scheint etwas in ihr zu sehen, das nichts mit ihr zu tun hat, nichts mit ihrem Aussehen, der Art, wie sie sich kleidet, nichts mit ihrem Blick. Noch nicht einmal mit ihrem Lächeln, von dem sie weiß, dass sie damit eine Saite in ihm zum Klingen bringt. Du spinnst, denkt Linda dann plötzlich. Was weißt du denn, was in einem Über-Neunzigjährigen vorgeht. Vielleicht hat er Kreislaufprobleme. Konzentrationsschwierigkeiten. Wird tattrig. Doch dann seufzt er.

«Wissen Sie, das alles ist lange vorbei. Und das ist gut so. Es war keine gute Zeit.» Westerhoek klopft auf sein Bein. «Ich war Sportler. Wollte 1940 wieder zur Olympiade. Dann hab ich den Schuss abgekriegt … und das war’s. War aber auch egal. Als der Krieg endlich vorbei war, wäre ich sowieso zu alt gewesen.» Westerhoek schweigt wieder lange. Verliert er sich im Damals? «Wissen Sie … Unsere Träume von damals, die sind alle zerplatzt. Untergegangen in den Trümmern von 45.»

In dem Moment kommt Frau Stadler herein, serviert Kaffee und Plätzchen. Und zerstört die Magie des Augenblicks. «Seien Sie froh, dass Sie heute leben …» Westerhoek hat sich gefangen. Und lächelt. Mit einem Mal wieder ein alter Mann, der mit sich und seiner Vergangenheit im Reinen ist.

So war es. So hatte die Kleine es ihr wenigstens erzählt. Und weitergeforscht. Mit Ergebnis. Sabine trägt Glas und halbleere Flasche in die Küche zurück, geht pinkeln, putzt sich die Zähne, legt sich ins Bett. Schläft traumlos. Schreckt am nächsten Morgen um fünf hoch, ist nassgeschwitzt, hellwach und hat eine klare Idee, was sie tun wird.

Die sie aber beim Kaffee wieder verwirft.

4

Die drei Motoren dröhnten. Dröhnten so laut, dass es weh tat; das Metall der Außenhaut vibrierte, ein heller, fast pfeifender, nicht minder schmerzhafter Kontrapunkt. Plötzlich kam trockenes Geknatter hinzu und ein Geräusch, das wie Hagelkörner klang, die auf ein Blechdach trommeln.

«Was …?! Was ist das?» Ein blasser Junge schrie. «Diese Scheißkerle schießen mit MGs auf uns.» Der Obergefreite, der neben ihm saß, antwortete, obwohl er den Jungen bei dem Lärm nicht verstand. Er wusste, was der Junge sagte. «Aber mit MGs können die nicht viel ausrichten.» Der Obergefreite wollte den Jungen beruhigen, doch der verstand ihn genausowenig wie er zuvor den Jungen. Dennoch krächzte er weiter heiser gegen das Dröhnen an. Er wusste, es half. Wenn vielleicht auch nicht dem Jungen, sondern ihm selbst. «Bis die so ‘ne Ju runterholen, das dauert. Die macht einiges mit.» Pfeifen im dunklen Wald.

Der Junge krümmte sich auf seinem Sitz zusammen, war offensichtlich kurz davor, sich in die Hose zu machen. Ließ den Kopf auf seinen Helm sinken, der auf das Marschgepäck gebunden war, das vor den Soldaten im Gang stand, verschränkte die Hände hinter dem Schädel, schloss die Augen. Der Obergefreite legte ihm eine Hand auf die Schulter, versuchte, ihm den Trost zu spenden, den er, wie alle anderen in der Maschine, selbst nötig hatte.

Sechzehn Soldaten hockten da auf Klappsitzen entlang der Bordwand, starrten ins Leere; sechzehn Gesichter, harte, weiche, junge, alte; ausgemergelte, verbrauchte, hoffnungslose, unrasierte, dreckige, gezeichnete Gesichter; Männer, die so taten, als mache ihnen das alles nichts aus, als hätten sie schon ganz andere Sachen erlebt; Männer, denen man ansah, dass sie am liebsten geheult hätten; Männer, die abwesend wirkten, konzentriert, als rechneten sie kühl ihre Überlebenschancen aus, falls das Flugzeug tatsächlich abstürzen sollte. Aber auch sie hatten nur Angst wie alle anderen.

Der Obergefreite starrte über die Schulter des Hauptmanns, der ihm gegenüber saß, aus dem Fenster. Der Hauptmann, ein junger Kerl, noch keine fünfundzwanzig, der kurz vor dem Abflug, kurz bevor sie den Flugplatz aufgeben wollten, bei ihnen aufgetaucht war und das Kommando an sich gerissen hatte, schien noch an den Endsieg zu glauben. Zumindest tat er so. Also verhielt man sich so, als ob der Hauptmann wirklich daran glauben würde, und man selbst auch. Sicher war sicher.

Auf dem Flügel konnte der Obergefreite die Tankanzeige erkennen, konnte sehen, dass sie schon auf Rot stand. Lange würden sie nicht mehr durchhalten. Das Benzin reichte nicht für den Endsieg. Aber auch ohne Benzin: Dass die Partisanen das Flugzeug beschießen konnten, zeigte, dass die Wehrmacht keine Kontrolle mehr über das Gebiet hatte. Dass sie nicht würden sicher landen können.

Das Motorengeräusch veränderte sich, in den Ohren des Obergefreiten knackte es, das Prasseln hörte auf, das Geknatter verstummte. Die Piloten hatten die Maschine höher gezogen, die Kugeln erreichten das Flugzeug nicht mehr. Dafür gab es neue Geräusche, neue Bewegungen: Ächzen, Knarren, plötzlich sackte die Maschine in ein Loch, wurde abgefangen, schaukelte, sackte wieder, wurde wieder hochgezogen, eine Achterbahnfahrt über einen Feldweg mit vielen Schlaglöchern. Stöhnen, Schmerzensschreie, weil sich jemand stieß; ein Kamerad, der weiter vorn saß, kotzte. Die Kotze flog den anderen ins Gesicht.

Der Obergefreite wurde hoch geschleudert, prallte mit dem Kopf ebenfalls hart an das Gepäcknetz, das über den Klappsitzen hing. Ein Gepäcknetz, an der Decke darüber Lederverkleidung. Dies war eine umgerüstete Passagiermaschine, mit diesem Flugzeug waren Menschen in Urlaub geflogen, zu Verwandten, zu Geschäftsbesuchen. Mit diesen Flugzeugen waren die Bonzen zu ihren Versammlungen geflogen, die Generäle zu ihren Besprechungen, Kinder zu ihren Eltern. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben.

In einem anderen Leben. Einem Leben, das der Obergefreite nie geführt hatte. Er war im Februar dreißig geworden. Dreißig Jahre, davon mehr als acht bei der Wehrmacht. Fast ein Drittel seines Lebens. Ein alter Hase. Ein alter Haudegen. Noch vor dem Krieg ausgebildet, im April 39 aus der Wehrmacht entlassen; kurz danach kam die Generalmobilmachung. Also wieder Einberufung. Polen. Dann Frankreich. Norwegen, Dänemark, schließlich Italien. Russland war ihm Gott sei Dank erspart geblieben.

Mehr als acht Jahre. Immer im gleichen Funkwagen, immer am gleichen Platz, den Kopfhörer auf den Ohren, vor sich das Funkgerät, darüber das Rad, um die Richtfunkantenne zu drehen, rechts Signalgeber und Feldtelefon, um wenn nötig den Sender zu aktivieren, der einige hundert Meter entfernt in der Hauptbaracke des Flugplatzes stand. Neben dem Telefon Block und Bleistift, die Protokollkladde, das Buch mit den Verschlüsselungen. Acht Jahre Morsezeichen, acht Jahre Verbindung mit Flugzeugen, die Bomben abwarfen. Die Fotos machten, Fallschirmjäger absetzten, Truppen zu ihrem Einsatz, Menschen den Tod brachten. Und die manchmal selbst nicht zurückkamen.

Dora Ludwig Dora Paula. Sein erster Absturz, beileibe nicht sein letzter. Dora Ludwig Dora Paula. Eine Heinkel bat um ein QDM, um eine Peilung. Zunächst ganz ruhig, ganz routiniert. Der Obergefreite hatte die Antenne gedreht, um die Richtung, aus der die Zeichen kamen, peilen zu können, aber die Zeichen waren zu schwach, wanderten, er fand die Richtung nicht, konnte der Maschine keine Koordinaten für den Rückflug zum Flugplatz geben. Dann wurde der Rhythmus der Töne immer abgehackter, immer knapper, er spürte die Angst des Funkers. Seine eigene Verzweiflung wuchs im gleichen Maße, er drehte, drehte, drehte, bekam aber kein klares Signal. Schließlich hörte er nur noch, wie der Funker «SOS Brennstoffmangel» gab, im Klartext, was verboten war. Dann verstummte das Signal. Vier Menschen waren tot.

Durchkommen. Irgendwie durchkommen. Fast hatte er es geschafft, lange würde es nicht mehr dauern. Lange würde er nicht mehr durchhalten müssen. Er hatte oft genug Glück gehabt, oft genug Glück gebraucht: in Monte Cassino, obwohl er auch dort nicht an vorderster Front gewesen war. Als sie auf dem Marsch von englischen Tieffliegern angegriffen worden waren; der Obergefreite hatte noch immer den Geschmack von Erde im Mund, so tief hatte er sein Gesicht in den Graben gepresst. Als der Flugplatz bombardiert worden und der Benzintank in die Luft geflogen war. Da war er mit einigen anderen auf einem nahegelegenen Bauernhof gewesen, um Proviant zu besorgen.

Als er geholfen hatte, bei einer Ju ein Rad am Fahrwerk auszuwechseln, obwohl er damit eigentlich gar nichts zu tun hatte. Aber es war langweilig auf dem Flugplatz, da hatte er eben mit angefasst, so, wie er es gewohnt war in der Zechensiedlung, in der er aufgewachsen war. Bei dem Radwechsel war der Wagenheber abgerutscht, die Maschine hätte ihn um ein Haar zerquetscht.

Durchkommen, irgendwie durchkommen. Es konnte nicht sein, dass es ihn jetzt noch erwischen sollte, jetzt, nach mehr als acht Jahren Scheiße, jetzt, wo es fast zu Ende war, jetzt, wo er es fast geschafft hatte. Fast. Denn was sie erwartete, wenn sie runterkamen, wusste niemand. Wenn sie überhaupt heile runterkamen.