Tausendfache Vergeltung - Frank Ebert - E-Book

Tausendfache Vergeltung E-Book

Frank Ebert

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Beschreibung

Im September 1996 strandete an der Ostküste Südkoreas ein nordkoreanisches Unterseeboot. Nahezu alle Besatzungsmitglieder sowie die mit dem U-Boot eingeschleusten nordkoreanischen Geheimagenten kamen in der Folgezeit ums Leben. Das kommunistische Regime Nordkoreas schwor seinem Erzfeind im Süden, der Republik Korea, für das Misslingen der Mission „Tausendfache Vergeltung“. Die rätselhaften Umstände dieses aufsehenerregenden Vorfalls, mit dem sich sogar der UN-Weltsicherheitsrat befasste, greift der bekannte Fachbuchautor, Kommentator und Buchkritiker Frank Ebert in seinem Romandebüt auf. Der weitgereiste Autor hatte Gelegenheit, die Schauplätze der Handlung selbst zu besuchen. In dem fesselnden Roman widerstreiten gegenläufige Interessen von Politik und Wirtschaft, von Geheimdiensten und Medien, von Wahrheit und Menschlichkeit. Der amerikanische Journalist Al Ventura gerät mit seinen Recherchen nicht nur ins Fadenkreuz des nordkoreanischen Geheimdienstes. Die Enthüllungen unbequemer Tatsachen laufen auch den politischen Interessen der USA zuwider.

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, November 2020

Autor: Dr. Dr. Frank Ebert

Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Autorenportrait: Foto Studio Carl

Korea-Karte: ii-graphics | stock.adobe.com (abgewandelt)

Lektorat: Heike Funke

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-95716-333-2

ISBN E-Book: 978-3-95716-312-7

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Frank Ebert

Tausendfache Vergeltung

Dieses Buch beruht auf Tatsachen.

Im September 1996 strandete an der Ostküste Südkoreas ein nordkoreanisches Unterseeboot der Sang-o-Klasse. Nahezu alle Besatzungsmitglieder sowie die mit dem U-Boot eingeschleusten nordkoreanischen Geheimagenten kamen in der Folgezeit ums Leben. Das kommunistische Regime Nordkoreas schwor seinem südlichen Erzfeind, der Republik Korea, für das Misslingen der Mission tausendfache Vergeltung.

Die rätselhaften Umstände dieses aufsehenerregenden Vorfalls bilden den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Romanhandlung. Namen, Figuren, Orte, Ereignisse, Organisationen und Einrichtungen blieben unverändert, sofern sie in einem realen Zusammenhang verwendet werden. Im Übrigen sind sie bloße Fiktion.

Inhaltsverzeichnis

1. Los Angeles, International Airport

2. Seoul, Redaktionsbüro der Los Angeles News

3. Seoul, Stadtteil Namsandong

4. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

5. Seoul, Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika

6. Los Angeles, Chefredaktion der LAN

7. Seoul, Residenz des Botschafters der Vereinigten Staaten von Amerika

8. Seoul, Korea Press Center

9. Seoul, Itaewon

10. Seoul, Itaewon

11. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

12. Rom, Trattoria Giovagnoli

13. Los Angeles, Chefredaktion der LAN

14. Pjöngjang

15. Pjöngjang

16. Pjöngjang, Koryo-Hotel

17. Wonsan

18. Gangneung

19. Gangneung, Hotel Dong Hae

20. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

21. Gangneung

22. Mount Chonghak

23. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

24. Provinz Gangwon-do

25. Seoul, Korea Press Center

26. Seoul, Itaewon

27. Seoul, Severance Medical Center

28. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

29. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

30. Provinz Gangwon-do

31. Provinz Gangwon-do

32. Tonghae

33. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

34. Wladiwostok

35. New York, Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen

36. Wladiwostok

37. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

38. Seoul, Itaewon

39. Gangneung, Medical Center

40. Seoul, Nashville-Club

41. Mount Hyangno

42. Mount Hyangno

43. Mount Hyangno

44. Seoul, Itaewon

45. Seoul, Itaewon

46. Provinz Chungchongbuk-do

47. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

48. Seoul, Yonsei-Universität

49. Seoul, Itaewon

50. Seoul, Dongdaemun

51. Seoul, Seoul-Tower

52. Seoul, Redaktionsbüro der LAN

53. Seoul, Insadong

54. Los Angeles, Chefredaktion der LAN

55. Seoul, Itaewon

56. Seoul, Dienstgebäude der ANSP

57. Seoul, Gimpo International Airport

58. Los Angeles, Chefredaktion der LAN

59. Los Angeles, City Hall

60. Los Angeles, Rowland Heights

Glossar

Autorenportait

1 Los Angeles, International Airport

Lustlos und apathisch hingen sie in der glühenden Mittagshitze vor dem Tom-Bradley-Abflugterminal herum. Das Thermometer zeigte knapp neunzig Fahrenheit-Grade an. Hier war weit und breit der einzige Fleck, an dem sie ungestraft die gleichförmigen Lautsprecherdurchsagen, die sich in kurzen Abständen monoton wiederholten, ignorieren konnten: „Welcome to Los Angeles International Airport. This is a non-smoking airport …“

Und hier war die allerletzte Chance für eine Zigarette vor dem Abflug, auf den die meisten von ihnen noch stundenlang warteten. Diejenigen, die mit amerikanischen Linien flogen, würden sich die nächste Zigarette erst nach der Landung anstecken können. Drinnen liefen überall Klimaanlagen, und die wachsame Flughafenpolizei, der kaum etwas entging, brachte jeden erbarmungslos zur Strecke, der gegen das strikte Rauchverbot verstieß. Man beugte sich dem strengen Reglement, ohne weiter über seinen Sinn nachzudenken.

Al drückte nach einem letzten tiefen und genüsslichen Zug seine Kippe aus. Dann wandte er sich dem Eingang zu. Ein Zollbeamter, dem im Terminal das Rauchen ebenfalls verboten war und der sich eine Fünfminutenpause abgeklemmt hatte, tippte Al auf die Schulter.

„Sie haben etwas vergessen, Sir – Ihre Tasche!“

Der Uniformierte deutete auf das Gepäckstück, das wenige Schritte von Al entfernt scheinbar herrenlos auf dem Betonboden stand.

„Ach ja. Was für ein Glück, dass Sie … – danke, Officer.“

„Sie sollten besser auf Ihr Gepäck achten. Der Lautsprecher weist dauernd darauf hin“, belehrte ihn der Beamte. „Nicht dass noch Bombenalarm ausgelöst wird.“

„Ja, natürlich. Sie haben recht. Vielen Dank nochmals.“

Al griff nach seiner dicken, schwarzen Aktentasche, die er an das Geländer neben dem Eingang gestellt hatte, um die Hände für das Anzünden seiner Zigarette frei zu haben. Er nickte dem Zollbeamten noch einmal freundlich zu, bevor er das Gebäude betrat. Nicht auszudenken, wenn er die Tasche tatsächlich vergessen hätte. Das Ticket nach Seoul, sein Pass, die anderen persönlichen Dokumente und Utensilien. Nur gut, dass die beiden Koffer bereits eingecheckt waren.

Die künstliche Kühle der Luft in dem Abfertigungsgebäude schlug ihm entgegen. Er musste tief durchatmen, als ob er den Rauch, den er draußen inhaliert hatte, wieder loswerden und gegen die klimatisierte Luft austauschen wolle. Mit einem Blick auf seine Uhr stellte er fest, dass er noch über eine Stunde Zeit bis zum Aufruf seines Fluges hatte. Es würde bestimmt noch für eine Zigarette vor dem Terminal reichen.

Gelangweilt schlenderte er zwischen den anderen Passagieren durch die weitläufige Halle, eine Hand lässig in der Tasche seiner ausgebleichten Jeans, vorbei an modischen Boutiquen, überquellenden Zeitungsläden und teuren Souvenirgeschäften, in denen Reisende und Verkaufspersonal emsige Betriebsamkeit verbreiteten. Sollte er jetzt schon den Duty-free-Shop aufsuchen? Auch das hätte noch Zeit, zumal er nur Zigaretten kaufen wollte. Die könnte er aber auch noch später erstehen, im Bordverkauf der Maschine.

Die Zeit wollte nicht verrinnen. Al lauschte in sich hinein. Seltsam war ihm zumute, aber nicht, als würde er die Staaten auf unbestimmte Zeit verlassen. Er verspürte nicht einen Hauch von Heimweh. Die Traurigkeit, die sein Herz vor Wochen überkommen hatte, war ihm inzwischen zum ständigen und ebenso vertrauten wie verhassten Begleiter geworden. Wie ein Schatten folgte sie ihm überall hin. Sie verließ ihn nur, wenn er schlief. Doch beim Aufwachen war sie wieder da, übermächtig und drückend. Er ließ dieses Gefühl einfach zu, weil er nicht wusste, wie er sonst mit ihm fertig werden sollte. Aber es war anders als das Heimweh, das er sonst verspürt hatte, wenn er zu einer langen Reise aufbrach. Die Vergangenheit lag hinter ihm. Wozu sich an Dinge hängen, die vorbei waren? Es ließ sich nicht mehr ändern.

Die Langeweile trieb ihn, sich in einer Schlange anderer Passagiere anzustellen. Nein, er wollte nicht schon wieder rauchen. Er nahm besser einen Kaffee. Mit dem vollen, glühend heißen Becher in der Hand wandte er sich abrupt um.

„Passen Sie doch auf!“

Der spitze Aufschrei der Dame traf Al wie ein Schlag. Die zierliche Person stand – zwei Köpfe kleiner als er – mit weit aufgerissenen Augen und abgespreizten Armen wie erstarrt vor ihm. Der Kaffee, der soeben noch in Al’s Becher gedampft hatte, rann an ihrem hellblauen Kostüm herab. Während sie mühsam um Fassung rang, bildeten sich unter ihren zierlichen Füßen und dem dunkelblauen Bordcase kleine Pfützen. Unablässig triefte der hellbraune, milchige Kaffee hinein.

Al hatte die graziöse Lady schlicht übersehen. Früher wäre ihm das nicht passiert. Er hätte es immer bemerkt, wenn sich jemand hinter ihm anstellte. Schon von Berufs wegen war er neugierig. Aber als er sich jetzt umgedreht hatte, wäre er beinahe über das Bordcase gestolpert. Das Resultat stand nun in Form eines begossenen, zeternden Persönchens leibhaftig vor ihm. Ein breitschultriger Flughafenpolizist schien neben ihr aus dem Boden gewachsen zu sein. Sein säuerliches Gesicht und wie er seine Uniform glattzog, ließen nichts Gutes ahnen. Bevor der Polizist losbrüllen konnte, ergriff Al die Initiative:

„Oh, Madame, es tut mir unendlich leid – wie konnte ich nur …? Äh, also ich meine … – Entschuldigung …“

„Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben. So kann ich doch nicht wegfliegen. Sind Sie immer so rücksichtslos?“, schleuderte ihm die Frau entgegen.

„Ich weiß nicht, wo ich heute meinen Kopf habe. Wie kann ich das denn wiedergutmachen, Madame?“

„Wiedergutmachen? Was wollen Sie denn da wiedergutmachen?“, schimpfte die Dame weiter. „Ich brauche neue Kleidung. Und hier, mein Handgepäck, überall trieft dieser Kaffee herab. Ekelhaft!“

Angewidert schleuderte sie mit ihren Händen.

„Hören Sie“, mischte sich jetzt der Polizist ein und trat drohend einen Schritt auf Al zu, „die Lady hat einen langen Flug vor sich. Würden Sie etwa so losziehen wollen, hä?“

Er stemmte seine kräftigen Arme in die Hüften.

„Natürlich nicht. Ich sagte ja bereits, dass es mir leidtut. Es war ja auch nicht absichtlich … So etwas kann doch mal vorkommen“, protestierte Al kleinlaut, bevor der Polizist weitermachte:

„Haben Sie etwas getrunken?“

Der Polizist bildete sich doch nicht etwa ein, Al’s Atem könnte mit Whiskeyaroma durchmischt sein? Argwöhnte der Ordnungshüter vielleicht, einen angetrunkenen Passagier vor sich zu haben? Die Flughafenpolizei fackelte mit Alkoholisierten nicht lange. Sie warf sie kurzerhand aus dem Gebäude.

Keinesfalls wollte Al seinen Abflug riskieren.

„Ja – äh, also das heißt … genau genommen noch nicht“, gab er zurück.

„Was denn nun?“, hakte der Polizist ungeduldig nach, während ihn die Dame am Ärmel zupfte.

„Lass es gut sein, George. Es ist nun einmal nicht mehr zu ändern“, beschwichtigte ihn die Dame.

Obwohl ihr die Überraschung des Moments noch ins Gesicht geschrieben stand, schien sie sich schnell mit der unangenehmen Situation abzufinden.

Erst jetzt musterte Al sie eingehender. Ihre Mandelaugen, ihr glänzendes, schwarzes Haar, ihre Figur, ihre Stimme – hatte sie nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Shing-hee, mit seiner Shing-hee, die er so sehr geliebt hatte? Nur für oberflächliche Menschen sehen alle Asiaten gleich aus. Nicht für Al.

Er wusste zu unterscheiden. Shing-hee! Sie war nicht nur für ihn immer etwas Besonderes. Nein, sie war einfach einzigartig und unvergleichlich gewesen. Für einen Moment hatte er mächtig gegen den Trauerkloß anzukämpfen, der in ihm hochzusteigen begann.

Der Vorfall schmerzte ihn. Das hatte er wirklich nicht gewollt. Und nun setzte sich diese Frau, die allen Grund hatte, auf ihn böse zu sein, für ihn bei der Flughafenpolizei ein.

Wirklich bemerkenswert. Wie alt sie sein mochte? Schwer zu sagen. Die kleinen Fältchen um die dunklen Augen, die auch ihr dezentes Make-up nicht verbarg, ließen ihr Alter zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren vermuten. Shing-hee war achtunddreißig Jahre alt geworden.

„Nun tun Sie doch endlich was“, brummte der Polizist ungehalten.

„Lass es jetzt gut sein, George, bitte!“, drängte die Lady. „Wir kriegen das schon wieder hin. Weißt du was? Ich gehe dort drüben zur Toilette und ziehe mich rasch um. Wozu hat man die Sachen im Handgepäck, nicht wahr? Der Inhalt wird ja hoffentlich verschont geblieben sein. Bis gleich.“

Sie seufzte kurz. Dann zwinkerte sie den beiden Männern zu, bevor sie mit schnellen Schrittchen forttrippelte. Das Stakkato ihrer Absätze reicherte das Geschepper ihres Bordcase auf dem polierten Marmorboden um eine persönliche rhythmische Note an.

Al fühlte sich zu einer Erklärung genötigt, um jeden Verdacht gegen sich auszuräumen. Er wandte sich dem Polizisten zu:

„Glauben Sie mir bitte, Sir, die Sache ist mir wirklich wahnsinnig unangenehm. Aber in letzter Zeit bin ich manchmal etwas durcheinander.“

„Haben Sie das öfter?“

Al schüttelte den Kopf.

„Nein, ich kenne das eigentlich nicht.“

„Sie riechen doch nach Whiskey – oder täusche ich mich?“

„Ich fürchte: ja. Nichts gegen einen Schluck – aber ich glaube, es ist mein Rasierwasser.“

Der Polizist streckte seinen Hals vor und fächelte sich mit einer Handbewegung den Duft zu.

„Mmh“, brummte er, „könnte sein …“, und zog seinen Kopf zurück, wobei er nicht besonders überzeugt wirkte.

„Sie haben wirklich keinen Alkohol getrunken?“

„Nein“, versicherte Al, bevor er in seiner Erklärung weiterfuhr: “Sehen Sie, meine Frau ist kürzlich tödlich verunglückt – bei einem Verkehrsunfall. Stellen Sie sich das vor: Sie gehen morgens aus dem Haus, wie an jedem Tag, und bekommen einen Anruf. Sie werden in das Büro des Sheriffs von Orange County bestellt, sollen sofort hinkommen. Am Telefon will keiner den Grund nennen. Erst auf der Polizeistation erfahren Sie, was geschehen ist …“

„Oh, Mann, das tut mir leid. Es muss für Sie ein furchtbarer Schlag gewesen sein.“

Der Flughafenpolizist kam Al auf einmal nicht mehr so grob vor.

Al, der wieder an dem Kloß in seinem Hals zu würgen begann, erzählte dem Polizisten leise, was passiert war. Wie Shing-hee morgens nach dem gemeinsamen Frühstück fröhlich in ihren Wagen gestiegen war, wie sie den immer gleichen Weg in die Redaktion nach Downtown fahren wollte und aus unerklärlichen Gründen plötzlich die Kontrolle über den Wagen verloren hatte. An dem Brückenpfeiler des Freeway war die Aufprallstelle immer noch deutlich zu sehen. Als der Rettungshubschrauber mit ihrem zerschmetterten, reglosen Körper auf dem Dach der Unfallklinik landete, war sie bereits tot.

„Die Ursache für den Unfall?“, wollte George neugierig wissen.

Al zuckte die Achseln.

„Bis heute ungeklärt.“

Die beiden Männer standen eine Weile schweigend da. Betreten stierten sie vor sich hin.

Sie wirkten auf die Lady, die sie von ferne erspähte, inmitten des Gewühls der Passagiere wie verlorene, einsame Insulaner.

„Nanu, so nachdenklich?“

Die Lady trug jetzt ein buntes Sommerkleid, in dem sie fast noch adretter aussah als vorher in ihrem hellblauen Kostüm.

Die Kaffeeflecken hatte sie von ihren Schuhen und dem Bordcase notdürftig abgewischt. Letzte Spuren waren nicht zu übersehen.

„Weißt du, Jung Sook, dieser Gentleman hat mir gerade seine Geschichte erzählt. Eine traurige Geschichte, eine sehr traurige Geschichte“, antwortete George.

Georges mürrischer Gesichtsausdruck war inzwischen der mitleidsvollen Miene eines Hundegesichts gewichen. Er blickte auf die riesigen Metallzeiger der Terminaluhr.

„Tut mir leid, Jung Sook, ich muss meinen Dienst fortsetzen.

Ich komme aber später noch einmal vorbei – bis dann.“

George zog seine Uniform wieder glatt und rückte die Mütze zurecht. Er verschwand im Gewimmel der Passagiere.

„Darf ich auch erfahren, worum es geht?“, erkundigte sich die Lady neugierig.

„Oh ja, natürlich. Aber ich wollte mich zunächst bei Ihnen in aller Form entschuldigen, Madame. Für den Schaden komme ich selbstverständlich auf.“

„Halb so schlimm, es geht schon wieder“, kokettierte sie.

„Ich habe noch eine gute halbe Stunde Zeit bis zum Boarding. Darf ich Sie zu einem Drink einladen?“

„Gerne.“

„Wann geht Ihr Flug?“

„Ach, erst zwanzig nach drei. Aber Sie wissen ja, wie das mit den Sicherheitsmaßnahmen ist. George sagt immer, es sei besser, frühzeitig am Flughafen zu sein.“

„Ja, da hat er sicher recht. Ich fliege übrigens auch um fünfzehn Uhr zwanzig.“

„Etwa auch mit der Maschine nach Seoul?“

Al nickte.

„Dann sitzen wir in derselben Maschine. Ich habe allerdings einen Platz im Raucherabteil reservieren lassen. Bei Korean Air geht so etwas noch.“

„Oh! Da ich nicht rauche, werden wir wohl kaum zusammensitzen. Nun ja …“

Sie wirkte plötzlich etwas verlegen. Ihre linke Schuhspitze zeichnete eines der unruhigen Muster des Marmorfußbodens nach.

„Und wann fliegen Sie zurück?“

„Überhaupt nicht.“

„Überhaupt nicht?“

„Nein. Ich habe ein One-Way-Ticket. Wissen Sie, bis vor Kurzem arbeitete ich in Los Angeles. Aber ich ziehe es vor, nach Südkorea zu gehen.“

„Na so was. Ein Amerikaner, der freiwillig nach Korea auswandert“, staunte sie. „Sie werden dort also auch arbeiten?“

„Ja. Als Journalist für die Los Angeles News. Arbeiten und leben – auf unbestimmte Zeit.“

„Kennen Sie das Land?“

„Nicht nur das Land, Madame. Auch die Leute. Meine Frau war Koreanerin. Außerdem war ich schon früher in Korea, als ich noch bei der Navy war. Aber das ist lange her.“

Al unterstrich seine Aussage mit einer ausladenden Handbewegung.

„Sie sind geschieden, nicht wahr?“, wollte die Dame nun auf Koreanisch wissen.

„Nein, verwitwet.“

Al antwortete in ausgezeichnetem, nahezu akzentfreiem Koreanisch. Sie bewunderte seinen sanften Wortfluss.

„Meine Frau ist vor sechs Wochen tödlich verunglückt – bei einem schweren Verkehrsunfall“, fuhr er fort. „Mysteriöse Geschichte. Alle Verwandten meiner Frau leben in Korea. Da hat mich mein Chef gebeten, das Redaktionsbüro unserer Zeitung in Seoul zu übernehmen.“

„Ach so!“, entfuhr es der Lady erstaunt.

„Wie das eben so ist, wenn einen der Chef ,bittet‘. Was blieb mir anderes übrig, als einverstanden zu sein. Besser ein Job in Seoul als arbeitslos im Orange County. Hier habe ich nichts mehr verloren.“

„Dann besteht die Chance, dass man sich sieht … ich meine – in Seoul?“

Die Frage klang ebenso einladend wie verlegen.

„Nun ja …“

Al wusste nicht recht, was er antworten sollte.

„Also … ich denke, ich werde mich erst einmal orientieren.

Ach, übrigens – ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt.

Albert Ventura. Nennen Sie mich einfach Al. Darf ich Ihnen meine Karte geben?“

„Gerne. Danke.“

Sie kramte in ihrer Handtasche und überreichte Al mit einer kaum merklichen Verneigung ebenfalls eine Visitenkarte.

„Frau Dr. Kang Jung Sook“, murmelte er, „Kunstprofessorin“, und steckte das Kärtchen ein. „Ah ja, der Drink! Also, wozu darf ich Sie einladen, Frau Doktor?“

„Ein Wasser, bitte.“

„Das gibt wenigstens keine Kaffeeflecken“, lachte Al etwas gezwungen.

„Ich glaube, der Abfertigungsschalter öffnet gleich. Du solltest dich jetzt besser anstellen, Jung Sook“, mahnte George, der unvermittelt wieder aufgetaucht war.

„Stell dir vor, George, Herr Ventura fliegt auch nach Seoul“, erklärte Frau Kang.

Wortlos nahm George ihr Bordcase auf. Wie ein Kind sein Spielzeug zog er es hinter sich her.

„Es ist wirklich nett, dass du mir so behilflich bist“, schmeichelte sie.

„Schon gut“, brummte George.

„Dann verschieben wir den Drink auf später – im Flugzeug?“, meinte Al.

„Ja, natürlich. Das hat doch Zeit. Es ist viel wert, starke Männer als Freunde zu haben, nicht wahr?“, fügte sie beiläufig hinzu.

„Was ist, Mister? Wollen Sie Ihre Tasche nicht mitnehmen?“, fragte George Al ungläubig. „Ich bin nicht scharf darauf, Bombenalarm auszulösen.“

Al schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Natürlich – klar … Verdammt, das ist heute schon das zweite Mal, dass ich sie fast hätte stehen lassen. Wo habe ich nur meinen Kopf?“

„Wenn Sie das nicht wissen, Mister“, raunte George.

Sie reihten sich vor dem Abfertigungsschalter der Korean Air an. Das Bodenpersonal wickelte die Formalitäten routinemäßig ab. George begleitete die beiden Fluggäste an den Kabinen der Passkontrolle vorbei zur Leibes- und Handgepäckvisitation. Er verabschiedete sich mit einem Küsschen von Jung Sook und mit einem kräftigen Handschlag von Al.

„Es geht mich zwar nichts an, aber – sind Sie mit dem Mann befreundet?“, fragte Al.

„Befreundet? Nun, sagen wir, gut bekannt“, antwortete sie.

„Ich glaube, das ist eine Geschichte, die ich Ihnen während des Fluges erzählen kann. Die Maschine ist ja nicht ausgebucht. Wenn Sie möchten, können wir uns ein bisschen unterhalten – von mir aus auch im Raucherabteil. Der Flug ist lange genug“, schlug sie vor.

Al war einverstanden, obwohl ihm nicht nach Konversation zumute war. Schon gar nicht wollte er Hals über Kopf in eine neue Beziehung schlittern. Aber eine Unterhaltung während des Fluges würde ihn auf andere Gedanken bringen. Einstimmung auf seine neue Heimat? Warum nicht? Er hatte ohnehin nichts Besseres vor.

Mit wenigen Minuten Verspätung erhob sich der Jumbo der Korean Air donnernd von der Startbahn. Die schwere Maschine reckte ihren schlanken Hals einem wolkenlosen blauen Firmament entgegen. Gleich einem riesigen Vogel zog sie in einem stetigen Steigflug ihren massigen Körper kraftvoll nach. Nachdem der Jumbo die Smogschicht über Los Angeles durchstoßen hatte, drehte er in eine leichte Linkskurve ein. Sein Kurs trug ihn auf die unendlichen Weiten des Pazifiks hinaus.

Stunden später setzte die Maschine quietschend auf der Landebahn des Internationalen Flughafens Seoul-Kimpo auf.

Frau Kang hatte ihr Gepäck zügig erhalten. Al musste noch einige Zeit warten, ehe das Förderband seine beiden prall gefüllten Koffer preisgab. Vertraute, strenge Gerüche durchzogen alle Ecken des Abfertigungsgebäudes: fernöstliche Gewürze aller Art, vor allem Knoblauch …

„Es war wirklich sehr interessant, mit Ihnen zu fliegen“, schwärmte Frau Kang, während sie nach einem der begehrten schwarzen Luxustaxis Ausschau hielt. „Sie müssen mir versprechen, dass wir uns wiedersehen.“

Jung Sook überlegte, wie sich ihre neue Bekanntschaft weiterentwickeln würde. Ein wenig Rührung empfand sie für den sympathischen, intelligenten Journalisten. Wie tollpatschig er doch war, als sie ihn kennengelernt hatte. Es mochte sein, dass sie ihn sogar ein wenig bewunderte. Zugegeben – anfänglich wirkte er recht unbeholfen. Und doch machte er nicht den Eindruck eines trockenen Theoretikers. Nein, er schien ein Mensch zu sein, der sich vor nichts fürchtete, der zupacken konnte und für alle Probleme eine Lösung wusste.

Galant reichte er ihr das Bordcase. Sie bedankte sich höflich.

Vor allem aber fand sie ihn als Mann interessant. Er war so erfahren, so reif und abgeklärt. Seine große, kräftige Statur, das militärisch kurzgeschnittene, grau durchwirkte Haar, sein fein geschnittenes Gesicht mit dem südländischen Teint und dem schelmischen, fast ein wenig verwegenen Ausdruck … Ja, er imponierte ihr.

„Schade, dass ich Sie nicht mitnehmen kann. Aber Sie müssen ja in eine andere Richtung, Al“, drückte sie ihr Bedauern aus und entschwand.

„Ich bitte Sie, Frau Kang, das Vergnügen war ganz meinerseits.

Ich melde mich, sobald ich Boden unter den Füßen habe“, rief Al ihr müde nach.

Sie winkte ihm noch aus dem Taxi zu, als sie kurz darauf an dem wie ein Maultier bepackten Mann an der Haltestelle der Flughafen-Expressbusse vorbeibrauste.

2 Seoul, Redaktionsbüro der Los Angeles News

William Antony Cooper leitete seit zwei Jahren das im achten Stock eines Wolkenkratzers der Seouler Innenstadt untergebrachte Redaktionsbüro der Los Angeles News. Er konnte es kaum erwarten, seinen Nachfolger zu sehen. Kaum einer der ausländischen Diplomaten, Journalisten und Geschäftsleute, die er kannte, war bereit, länger als zwei, bestenfalls drei Jahre hier zu arbeiten. Es gab weiß Gott begehrtere Auslandsdienstposten, vor allem klimatisch günstigere. In knochentrockenen, eiskalten Wintern erstarrte die Halbinsel unter der grimmigen Kälte, die aus der Mongolei hereinzog. Im Sommer lastete unerträgliche feuchte Schwüle über dem Land.

Cooper empfand abrupte Witterungsunterschiede stets als persönlichen Anschlag. „Was für ein Weichei du bist, Bill“, frotzelten seine sonnenverwöhnten Kollegen aus Los Angeles, wenn er sie am Telefon volljammerte. Das miese Wetter konnte er getrost Al überlassen. Das – und alles andere auch. Mit der koreanischen Mentalität kam er ohnehin so wenig klar wie mit einer Nähmaschine. Wie konnte einer nur aus Kalifornien hierher gehen! Noch dazu freiwillig. Er konnte Al’s Motive nicht begreifen. Aber – musste er das? In ein paar Tagen würde er dem ungeliebten Land den Rücken kehren. Der ewige Sonnenschein Kaliforniens erwartete ihn …

„Hey, Al. Mensch, Wahnsinn! Ich meine natürlich: Herzlich willkommen“, korrigierte sich Cooper beim Anblick seines Nachfolgers.

Er hüpfte hinter Bündeln von Papier von seinem Drehstuhl auf, stürzte mit weit ausgestreckten Armen auf Al zu und packte ihn kräftig bei den Schultern, um sogleich seine Hand kräftig zu schütteln.

„Hallo, Bill! Wie geht’s?“

Cooper lachte breit.

„Ich fasse es nicht. Wahnsinn! In weniger als hundert Stunden bin ich zu Hause – und du fragst, wie es geht?“

Cooper schüttete sich aus vor Lachen.

„Das wirst du sehen, Al. Hier regiert das Chaos – manchmal“, schränkte er sogleich ein, um nicht vor Al als unfähiger Redaktionsleiter dazustehen.

Al suchte nach einer passenden Bemerkung, um Bills Feststellung zu widersprechen. Ihm fiel keine ein. Der erste Eindruck, den er von dem Zustand des Büros gewann, war mehr als chaotisch. Die Pinboards an den Wänden quollen vor Zetteln und Bildern über. Auf den Schreibtischen türmten sich neben Computern Berge von Faxen, aufgestapelte Ausgaben der Los Angeles News und anderer Zeitungen, Mappen unterschiedlicher Stärke und Packen mit Fotos. Für einen Außenstehenden musste es aussehen, als ob das Chaos die Mitarbeiter fest im Griff hätte. Al schwankte, ob Bill mit der Leitung des Büros überlastet oder überfordert war. Hier würde er zunächst Ordnung schaffen müssen.

„Das hier ist kein Honiglecken, nicht nur Im-Sessel-Sitzen, wie daheim in L.A.“, fuhr Bill fort und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Die Leute in L. A. machen sich da oft falsche Vorstellungen …“

„Hör’ mit dem Blödsinn auf“, verlangte Al und entschied sich dafür, dass Bill überfordert sein musste. Der Mann wirkte gehetzt und nervös. Er verbreitete mit allem, was er sagte, Hektik und versprühte den Eindruck, als wäre jede Minute, die er länger hier verbringen musste, verschwendete Zeit. Sein Redefluss war nicht zu bremsen.

„Nächste Woche soll ich deinen Job in L. A. übernehmen. Freue mich schon drauf“, hechelte Bill. „Endlich wieder in Ruhe Berichte schreiben. Heim ins Mutterhaus, zu Väterchen David.“ Er rieb sich die Hände. „Ja, der gute, alte David – er hat schon gewusst, warum er dich hierher schickt.“

„Ich glaube, du machst dir falsche Vorstellungen von der Arbeit im Hauptquartier“, warf Al ein und fragte sich, was der Sarkasmus sollte. Der Begriff „Hauptquartier“ war eine von Al’s Sprachschöpfungen, die er seinem militärischen Wortschatz entlehnt hatte. Keiner außer ihm nannte die Chefredaktion „Hauptquartier“.

Al war sich jetzt ganz sicher, dass Bill überfordert und nicht nur überlastet war. So dummes Zeug konnte nur einer daherreden, der mit seiner Arbeit nicht zurechtkam. Und warum kam er nicht zurecht? Weil ihm die richtige Einstellung fehlte. Al hatte die richtige Einstellung. Als Journalist einer weltweit verbreiteten Zeitung musste er immer damit rechnen, im Ausland eingesetzt zu werden, wenn er vorwärtskommen wollte. Und Al wollte vorwärtskommen. Schon damals bei der Marine war er bereit, für eine gerechte Sache einzutreten – und zwar dort, wo sein Einsatz gefragt war. Egal wo. Überall. Nicht wie die Stubenhocker, die die Welt nur aus dem Fernsehen kennen und die auf alle Probleme eine Antwort wissen. Hätte er in Los Angeles bleiben wollen, hätte er auch Gerichtsreporter beim Orange County Herald werden können, einer drittklassigen Provinzzeitung. Bill wäre damit wahrscheinlich auch überfordert!

„Bill, ich muss dich was fragen“, warf Al ein, als Bill seinen Redefluss unterbrach, um Luft zu holen.

„Später, Al, können wir alles später besprechen“, winkte Bill hastig ab. „Uns wird nicht viel Zeit für deine Einweisung bleiben. Die wichtigsten Kontakte – dann musst du selbst klarkommen“, fuhr er fort und schob Al auf den Gang hinaus.

„Verlieren wir keine Zeit, fangen wir bei den Kollegen an.“

Gegen Bills kleinkrämerisches Gedrängel wirkte Al’s vornehme Zurückhaltung wie das Verständnis eines Lehrers gegenüber pubertierenden Schülern.

Sie traten in eines der anderen Zimmer. Die Tür war geöffnet.

„Das ist Tom. Er schmeißt den Laden, wenn du raus musst. Und du wirst verdammt oft raus müssen. Das hier ist nichts für Stubenhocker“, lachte Bill in einer schadenfroh-ironischen Mischung.

Was weißt du schon, dachte Al und schwieg. Es schien ihm das Beste zu sein, mit Bill keine Diskussionen zu führen. Mit dem Mann konnte er nicht diskutieren.

Thomas Miller, ein unscheinbares, hageres Bürschchen mit einem pickeligen Milchgesicht, wirrem, rötlichem Haar und einer Nickelbrille machte mit seinen knapp dreißig Jahren auf Al den Eindruck eines pingeligen Buchhalters. Er arbeitete seit einigen Jahren für die LAN im Washingtoner Büro und war vor etwa einem halben Jahr nach Seoul gekommen.

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir“, säuselte Tom und streckte Al ungelenk seine Hand entgegen.

„Nun hör’ dir das an, Bill! Sagt der doch glatt ,Sir‘ zu mir“, entrüstete sich Al, wobei er Toms Hand kräftig quetschte. „Hast du deine Leute zu Leibeigenen erzogen? – Tom, ich bin Albert Ventura. Und ich habe verdammt nichts dagegen, wenn man mich Al nennt. Im Hauptquartier heiße ich nur Al, klar?“

„Okay – Al“, antwortete Tom kleinlaut und rieb sich die gedrückte Hand.

„Und ich bin Sandy – Sandy Clay“, drängelte das kleine, mollige und fröhlich dreinblickende Wesen, das noch keine Chance gehabt hatte, sich an Tom vorbei Gehör zu verschaffen. Sandy arbeitete nun schon seit über einem Jahr im Seouler Büro.

„Ach, Sie sind das?“, stellte Al überrascht fest.

„Ja. Vom Telefon kennen wir uns bereits. Auf gute Zusammenarbeit, Al“, quietschte sie vergnügt.

„Weißt du, Al, Sandy ist unsere gute Seele. Ohne sie läuft hier nichts, schon gar nicht die Kaffeemaschine“, fühlte sich Bill verpflichtet zu scherzen.

„Sandy kümmert sich um den ganzen technischen Kram. Sie setzt nachts deine Berichte in die Redaktion ab und sie wirft auch den Chef aus dem Bett, wenn es sein muss – da kennt sie keine Verwandten“, ergänzte Tom.

„David Benjamin Goldmann nachts wecken? Das hätten wir nicht einmal bei einem Erdbeben gewagt“, raunte ihr Al mit forschendem Blick zu, wobei er den Namen seines Chefs mit Würde und betonter Ehrerbietung aussprach.

Das Mädchen schien gutmütig und fleißig zu sein.

Kichernd verzog sich Sandy in ihr Büro. Auch Tom war wieder an seine Arbeit gegangen. Irgendwo quäkte das AFKN, der Nachrichtensender der amerikanischen Truppen in Korea …

„Wie geht es jetzt weiter, Bill?“, wollte Al wissen, der es als Wohltat empfand, dass Bill für einen Moment den Mund hielt. „Am besten machst du es dir hier bequem, solange ich noch da bin.“

Bill zog Al in einen der leer stehenden Räume.

„Hier hast du auch eine Urne für deine Qualmerei.“ Als er Al’s verdutztes Gesicht sah, verbesserte er rasch: „Äh, ich meine einen Aschenbecher. Am Wochenende kannst du mein Zimmer übernehmen, ich bin gerade beim Aufräumen. Ich werde noch einige dringende Sachen erledigen. Dann könnten wir essen gehen. Ich lade dich ein. Bis gleich.“

Bill drehte sich auf dem Absatz um.

„Einverstanden“, rief Al hinterher und atmete auf. Die Hektik, die dieser Mann verbreitete, fiel wie eine Last von ihm ab. Al schloss die Tür hinter sich. Mit der bloßen Hand wischte er den Staub von der blank polierten, überdimensionalen Schreibtischplatte, untersuchte den Schrank und hängte seine Jacke hinein. Er machte sich daran, den Inhalt seiner Aktentasche sorgfältig auf dem Schreibtisch auszubreiten – seine Terminmappe, das Diktiergerät, einige Diktierkassetten, die nötigsten Schreibutensilien. Es würde noch einige Wochen dauern, bis er sich vollständig einrichten konnte. Seine Habseligkeiten verbargen sich in einem Schiffscontainer, der ihm in jenem Augenblick auf einem Frachter über den Pazifik entgegenschaukelte.

Er setzte sich an den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Behutsam stellte er den schweren, goldmetallfarbigen Rahmen mit Shing-hees Bild vor sich hin. Er legte sein Kinn auf seine Arme, die er auf der Tischplatte verschränkt hatte, sah das Bild lange an und blies dabei nachdenklich den Qualm vor sich hin. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass ihm diese wunderbare Frau nie mehr gegenübertreten würde. Ein paar Monate vor ihrem Tod hatte er das Foto selbst aufgenommen, das letzte Bild von ihr. Damals, kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag, hatten sie einen kurzen Wochenendurlaub entlang der Pazifikküste unternommen. Auf dem Weg von Los Angeles nach Santa Maria hatte Shing-hee Al gebeten, in Los Alamos zu halten.

Shing-hee hatte immer davon geschwärmt, ihren Lebensabend gemeinsam mit Al in Los Alamos zu verbringen. Al hielt dieses gottverlassene Nest mit seinen zwei Straßenkreuzungen inmitten einer Wüstenlandschaft für das Ende der Welt. Er konnte nie verstehen, was Shing-hee an den wenigen Häusern so aufregend fand. Nicht einmal eine Bar gab es. Er hätte eines der schmucken Häuschen in Long Beach oder in Santa Monica vorgezogen. Von ihm aus hätten sie auch in Rowland Heights im Orange County wohnen bleiben können. Im Hintergrund des Bildes flossen Kakteen und blühende Bäume ineinander. Shing-hee lächelte ihn mit leicht geneigtem Kopf aus dunklen, faszinierenden Augen an. Ihr Haar fiel sanft auf die rechte Schulter. Für einen Moment glaubte er, ihre Gegenwart zu fühlen. Damals war Frühling in Kalifornien …

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riss Al aus seiner Versonnenheit. Er erschrak.

„Ja.“

„Oh, Al, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ein Kaffee gefällig?“, grinste Sandy und stand bereits mit einer Tasse vor ihm. Wie aufmerksam von ihr. „Oder lieber Tee?“

„Tee? Tee trinke ich nicht einmal, wenn ich krank bin“, antwortete Al. „Das mit dem Kaffee geht in Ordnung, Sandy. Ich mag ihn schwarz – und stark“, setzte er hinzu.

„Ich werd’s mir merken.“

„Al!“, rief Bill ein paar Türen weiter aufgeregt. Er hatte Mühe, trotz seiner schneidenden Stimme den Nachrichtensender zu übertönen, der immer noch quäkte.

„Die Nervensäge!“, murmelte Al und erhob sich.

„Al, wir könnten dann bald … Ich bin gleich so weit.“

Eine Hektik verbreitete dieser Mensch!

„Okay, Bill. Lass mich nur meinen Kaffee noch austrinken.“

„Nun mach doch schon“, drängelte Bill.

3 Seoul, Stadtteil Namsandong

Al und Bill bahnten sich ihren Weg durch das hektische Treiben der Innenstadt. Inmitten der Schluchten der Hochhäuser wimmelte es von rastlosen Menschen. Autos drängelten hupend durch das pulsierende Leben einer gigantischen Hauptstadt in der Mittagsschwüle.

Al musste sich im Treiben der Zwölfmillionenstadt erst zurechtfinden. Er schnaufte hinter Bill her. Dessen forscher Schritt kam Al vor, als ob der nervöse Mann noch heute nach Hause fliegen wolle. Statt die achtspurige, breite Namdaemunno-Straße sicher und bequem mithilfe einer der Fußgängerunterführungen zu kreuzen, zerrte er Al an der Straßenoberfläche über die Fahrbahnen – ein höchst gefährliches, halsbrecherisches Unterfangen, das um ein Haar einen Unfall zur Folge gehabt hätte. Der Daewoo hatte gerade noch rechtzeitig bremsen können. Der Fahrer des Wagens war vor Schreck kreidebleich in seinem Auto sitzen geblieben; er hatte nicht einmal Zeit gefunden, sich an dem permanenten urbanen Hupkonzert zu beteiligen. Die anderen Autofahrer schimpften und fluchten über zwei wahnsinnige, selbstmörderische Fußgänger.

Al starb tausend Tode. Im Achselbereich seines T-Shirts bildeten sich ausgedehnte Schweißränder.

„Das mache ich nicht noch einmal mit“, keuchte Al, als sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatten.

„Was hast du? Das geht so viel schneller, es ist einfach …“

„Wahnsinn, ja!“

„Das kommt nur daher, weil du keine Kondition hast. Ich sagte dir vorhin schon, dass sich die Kollegen zu Hause falsche Vorstellungen von dem Leben hier machen“, rechtfertigte sich Bill. „Oder du solltest einfach ein paar Zigaretten weniger rauchen.“

„Blödmann“, brummte Al.

Bill deutete auf ein kleines Restaurant neben dem wuchtigen, alten Südtor, das die Koreaner Namdaemun nennen.

„Dort haben sie die besten Naengmyon weit und breit – oder magst du keine kalten Nudeln?“

Bill fuhr sich mit der Zunge genüsslich über die Lippen.

Der Vorschlag kam Al entgegen:

„Genau das Richtige bei der Affenhitze. Das erste vernünftige Wort von dir!“

„Und noch etwas“, setzte Bill hinzu. „Sie haben Tische und Stühle hier und Messer und Gabeln. Du brauchst also weder auf dem Boden zu sitzen noch dich mit Stäbchen herumzuquälen. Und wir können uns ungestört unterhalten, die sind da nicht so …“

„Ja, denn sonst haben es die Koreaner nicht so gerne, wenn man beim Essen viel quatscht“, meinte Al.

Die absurde Hoffnung, eine ruhige Mittagspause verbringen zu können, hatte er längst aufgegeben.

„Hoffentlich merkst du dir das und hältst den Mund“, setzte er ärgerlich hinzu, ohne dass Bill es hören konnte.

Die Bemerkungen über das Sitzen auf dem Boden, das Essen mit Stäbchen und die schweigende Einnahme der Mahlzeiten wurmten Al. Schließlich war er mit den koreanischen Sitten bestens vertraut. Bills Gerede kam ihm wie ein Angriff auf die koreanische Kultur insgesamt vor. Er empfand die Kritik als unsachlich – und als unberechtigte Stichelei gegenüber der toten Shing-hee. Sie hatte Al einst den Zugang zu den Ursprüngen und den tieferen Sinn jener bestechenden, alten, geheimnisvollen Kultur vermittelt.

Aber Bill? Bill schien sich nicht der Mühe unterzogen zu haben, für asiatische Kultur Verständnis aufzubringen, geschweige denn sie auch nur im Ansatz zu begreifen. Seicht und oberflächlich, wie er war, musste er jahrelang mit Scheuklappen durch Korea gerast sein.

Amerikanische Fast-Food-Restaurants waren seine Heimat geblieben. Was hatte David B. Goldmann nur für einen Banausen nach Seoul geschickt! Spätestens jetzt war Al zutiefst davon überzeugt, dass dieser Mann hier wirklich fehl am Platze war.

In dem überfüllten Lokal herrschte drangvolle Enge. Sie warteten einen Moment und setzten sich an einen Tisch, der gerade frei wurde.

Bill dachte auch während der Mahlzeit nicht daran, still zu sein.

„Wir müssen noch sehen, wie wir das machen, Al“, sagte er undeutlich mit halbvollem Mund und stopfte die nächste Portion Nudeln hinterher.

„Was? Was machen wir?“

„Na, die Wohnung. Du wirst doch meine Wohnung übernehmen?“, fragte Bill unsicher. Ohne Al’s Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Wirklich eine wahnsinnig tolle Wohnung. Im Stadtteil Itaewon, gleich hier hinter dem Namsan-Berg.“

„Der Namsan-Berg ist …“

„Genau, Al! Der Berg, auf dem der Seoul-Tower steht. Wahnsinn, wie du das alles schon weißt. Es ist ganz in der Nähe, gar nicht weit von hier“, versicherte Bill.

Wie er das Essen in sich hineinschlang! Als wollte er sich mit dem eiligen Verzehr kalter Nudeln einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde sichern.

„Mmh, ja. Also echt, die Wohnung … Ich meine, sie ist wirklich wahnsinnig spitze“, schwärmte Bill. „Allerdings, einen Haken hat sie …“

Al runzelte die Stirn.

„Im Winter brauchst du Luftbefeuchter, in allen Zimmern. Und jetzt, wo es Sommer wird, Trockengeräte. Wahnsinn, sag ich dir!“

Während des Sprechens beschrieb er die Gegenstände mit dem Besteck in der Luft.

„Aber keine Angst – ist alles da. Kannst du übernehmen, das heißt, natürlich nur, wenn du willst. Du musst nicht, klar. Aber du kannst, wenn du möchtest.“ Bill lehnte sich zurück.

„Nur schade, dass du wenig Zeit haben wirst, um deine vier Wände zu genießen“, seufzte Bill. „Aber im Ernst: Du wirst doch nicht länger auf ein teures Hotellogis angewiesen sein wollen. Wenn du möchtest, kannst du dir die Wohnung gleich heute Abend ansehen.“

„Ja, ja …“

Al hörte nur noch mit einem halben Ohr hin. Er zog es vor, die anderen Gäste zu mustern. Hätte er nicht diesen Schwätzer neben sich sitzen, würden ihm die Nudeln tatsächlich schmecken.

„Und dann der Dienstwagen, Al. Nicht mehr das neueste Modell, hat manchmal seine Mucken. Liegt wohl daran, dass Goldmann wie wahnsinnig spart. Aber mir hat die Kiste gereicht. Ich weiß natürlich nicht, welche Ansprüche du stellst.

Vielleicht hast du ja auch bessere Beziehungen zum Hauptquartier als ich …“

„Im Augenblick würde ich gerne in Ruhe essen!“, entfuhr es Al ungehalten.

„Entschuldige. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit. In vier Tagen fliege ich“, schwärmte Bill. „Wahnsinn!“

Teils amüsiert, teils verständnislos schüttelte Al den Kopf. Er hatte er noch nicht erlebt, dass sich jemand Berge von Essen einverleiben und dabei ununterbrochen reden konnte. Bills Gedanken schienen sich zu überschlagen.

„Fertig“, stellte Bill erleichtert fest. „Ich bin fertig, Al.“

Bill schob die Serviette, mit der er sich seinen vollen Mund abgewischt hatte, auf den leeren Teller und schluckte den letzten Bissen hinunter.

„Wahnsinnig gut, die Dinger. Das Einzige, was man als Amerikaner in Korea verträgt.“

Empört sah Al ihn an.

„Lass dir ruhig Zeit, Al“, setzte Bill mit einem Blick zur Uhr nach. „Ich lasse schon mal die Rechnung bringen. Hoffentlich dauert das nicht so wahnsinnig lange …“

Al bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Doch in dieser unruhigen Atmosphäre verzichtete er gerne darauf, aufzuessen.

Er steckte sich eine Zigarette an.

Bill redete unablässig weiter:

„Ich dachte mir, Tom und Sandy könnten dir heute Nachmittag einiges über die Redaktionsarbeit erklären.“

„Die Buchhalterseele und der Straßenkreuzer?“, fragte Al ungläubig.

„Lass mal. So wirr Tom auch aussieht – der Junge ist wahnsinnig clever. Du kannst dich auf ihn verlassen. Auf Sandy auch. Hundertprozentig!“

Al glaubte ihm bedenkenlos. Am Vormittag hatte er die einigermaßen aufgeräumten Büros der beiden gesehen. Ihm war klar, wer der Verursacher des organisierten Chaos in der Redaktion war.

„Das geht in Ordnung“, bestätigte Al. „Allerdings – ich hätte da noch eine Kleinigkeit zu erledigen – privat“, ließ er Bill geheimnisvoll wissen.

„Wo bleibt denn die Bedienung, verdammt noch mal?“

Bill schlug gereizt auf den Tisch.

„Spätestens morgen sollten wir zu Bob Woods gehen, Al.“

„Bob Woods? Wer ist das?“

„Robert O. Woods! Du musst ihn kennenlernen – Presseattaché in unserer Botschaft. Das ist eine Type! Wahnsinn, der Kerl. Trägt meistens Fliege. In Fachkreisen heißt er ,Fliegen-Bob‘. Kolossal wichtig. Außerdem wird er dir bei der Akkreditierung behilflich sein. Er kennt Tod und Teufel. Aber jetzt sollten wir wirklich los.“

Bill stand auf und zog sich umständlich den Hosenbund hoch.

„Hallo, zahlen bitte …“

Fahrig schleppte er Al zum Büro zurück. Al weigerte sich standhaft, die Straße noch einmal oberirdisch zu überqueren. Beiden perlte der Schweiß von der Stirn, als sie die Redaktionsräume erreichten. Aus Sandys Zimmer plärrte der amerikanische Nachrichtensender Popmusik. Sandy sang schräg mit – irgendeinen unverständlichen Text. An den Decken der Büroräume surrten gleichmäßig riesige Ventilatorenblätter.

Ohne sie, die die stickige, heiße Luft umschaufelten, war die Hitze auf der Etage unerträglich.

In Toms Zimmer schellte sich das Telefon wund.

4 Seoul, Redaktionsbüro der LAN

„Gut, Se Ung. Bis halb sechs – am Chogyesa-Tempel.“

Al legte den Telefonhörer auf und sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Um halb sechs Uhr war er mit seinem Schwager Se Ung, dem Bruder seiner toten Frau, verabredet. Zum ersten Mal seit Shing-hees Tod würde er einem Mitglied der Familie Bae gegenübertreten. Er konnte nicht behaupten, dass ihm seit seiner Ankunft vor drei Tagen leichter zumute war. Im Gegenteil – ein mulmiges Gefühl bemächtigte sich seiner Magengrube. Sein Schwager hatte sich am Telefon ausgesprochen kühl angehört, als sie soeben den Termin verabredeten. Dass er mit Al überhaupt sprechen wollte, ließ ihm einen winzigen Hoffnungsschimmer.

„Ich gehe dann, Bill“, rief er Cooper zu, der in seinen Papierstapeln wühlte.

„In Ordnung, Al“, antwortete Bill knapp, ohne aufzusehen. „Und bitte, sei morgen pünktlich!“, setzte er nach.

Dieser Kleingeist! Als ob Al nicht selbst wissen würde, wann er zum Dienst zu erscheinen hätte, wenn sie einen Termin in der amerikanischen Botschaft hatten. Wieder einmal zog er es vor, nicht zu antworten, und verließ wortlos das Büro. Als er aus der Schwingtür des Hochhauses auf die Straße hinaustrat, kam es ihm vor, als würde ihm eine unsichtbare Hand den Hals zuschnüren. Er atmete tief durch und schlug den Weg nach Insadong ein, der engen Straße mit ihren Antiquitätengeschäften und Kunstgalerien.

Sein Weg führte ihn die Sejongno-Straße hinaus zu den prächtigen Anlagen des Toksugung-Palastes. Auf den steinernen Stufen mit den imposanten mittelalterlichen Bauten posierten Hochzeitspaare vor der malerischen Kulisse für Fotoaufnahmen. Dann schlenderte er an einigen der Kaufhäuser entlang, die das Rathaus umgeben. Er passierte mehrere Hochhäuser mit ihren zahlreichen ausländischen Botschaftsbüros und verweilte vor dem Koreanischen Pressezentrum. Es schien, als wollte ihn der gigantische Wolkenkratzer mit seinen über zwanzig Stockwerken erschlagen. Die US-amerikanische Botschaft war in einem eigenen, aber älteren und durch einen Vorgarten etwas von der Straße zurückgesetzten flachen Gebäudekomplex untergebracht.

Als er die Straße weiter hinaufging, fiel sein Blick auf das breite, bunt bemalte Tor des Kyongbokkung-Palastes, das die breite Sejongno-Straße nach Norden hin abschließt. Links und rechts bog auf mehreren Spuren vor dem Tor der Straßenverkehr ab, wie eine Reverenz an die längst vergangenen, aber immer noch lebenden Traditionen.

Shing-hee hatte ihm damals bei einem Spaziergang durch die Palastanlage die Geschichte der Choson-Dynastie nähergebracht. Geradezu ehrfurchtsvoll hatten sie von dem strengen, konfuzianischen Herrscherhaus erzählt: Es hatte nicht nur den Palast samt seinen prunkvollen Pavillons, Sälen und Hallen im vierzehnten Jahrhundert erbauen lassen und damit das heutige Seoul gegründet. Es hatte vor allem das koreanische Alphabet, das Hangul, eingeführt. Shing-hee hatte Al bei der Gelegenheit auch durch das Nationalmuseum geschleppt. An der Stelle des ehemaligen Museumsgebäudes klaffte heute hier lediglich eine tiefe Baugrube. Al konnte sich noch sehr gut an den imposanten Steinbau aus den Zwanzigerjahren mit seinen hunderttausend Exponaten erinnern. Er war damals zutiefst beeindruckt gewesen. Inmitten der hochbetagten Palastbauten hatte er das Museum aber irgendwie als unpassend empfunden. Nun, offenbar dachten auch Verantwortliche so.

Er folgte dem Straßenverlauf in östlicher Richtung. Nach einem kurzen Blick zum französischen Kulturzentrum hinüber, hinter dem sich die Dienststelle des CIA befinden musste, erreichte er auf einem kleinen Umweg den antiken Chogyesa-Tempel.

Eine Weile ging er vor dem Tempel nervös auf und ab. Seine Gedanken kreisten um seine verstorbene Frau und um ihre Familie. Shing-hees Eltern hatten der Hochzeit mit ihm damals nicht zugestimmt. Zu tief fühlten sie sich den alten konfuzianischen Traditionen verhaftet. Fleißig und nationalbewusst waren sie – und bei aller Bescheidenheit sehr stolz. Der Vater hatte im Krieg gegen die kommunistischen Eindringlinge aus dem Norden für seine Heimat gekämpft. Nach dem Krieg hatte er ein Konfektionsgeschäft aufgebaut und später geheiratet. Aus der Ehe waren die Tochter Shing-hee und deren jüngerer Bruder Se Ung hervorgegangen. Der allmähliche Aufschwung und ein bescheidener Wohlstand ermöglichten den Eltern, die Kinder ein Geschichtsstudium absolvieren zu lassen. Als selbstverständliche Gegenleistung hatten sie von ihren Kindern Gehorsam erwartet und Respekt vor den elterlichen Entscheidungen. Se Ung fand eine Tätigkeit im auswärtigen Dienst der Regierung. Damit waren die Eltern einverstanden. Die Auslandsverwendungen ihres Sohnes in New York und in Deutschland erfüllten sie mit Stolz. Ein Diplomat, der aus einer Schneiderfamilie hervorgegangen war! Dabei kannten sie die wirkliche Tätigkeit ihres Sohnes beim ANSP bis heute nicht.

Erbitterte Auseinandersetzungen hatte es in der Familie gegeben, als Shing-hee den amerikanischen Kapitänleutnant Albert Ventura mit nach Hause brachte und bald ihre Absicht kundtat, ihn zu heiraten und mit ihm nach Kalifornien zu gehen. Weiß Gott, sie hatten sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt! Jetzt brach der Tod ihrer einzigen Tochter den alten Leuten das Herz. Al hielt es für besser, sie vorerst nicht aufzusuchen. Sie würden ihm die Schuld anlasten. Stattdessen wollte er abwarten, bis die frische Narbe es ihnen möglich machte, mit ihm zu sprechen.

Shing-hees Bruder war Al als aufgeschlossener junger Mann in Erinnerung. Er hatte ihn zum letzten Mal vor zwei Jahren gesehen, als er für zwei Wochen in Los Angeles zu Besuch war. Es war dem Bruder aus zwingenden beruflichen Gründen nicht möglich gewesen, kurzfristig an der Beerdigung seiner Schwester teilzunehmen.

Al erreichte das Eingangstor nach Insadong. Jeder seiner Schritte fiel ihm schwerer, nicht nur, weil die Nachmittagshitze unerträglich auf der Stadt lastete. Dort erwartete Se Ung ihn bereits. Was würde er nun von ihm zu hören bekommen?

Die beiden Männer gingen mit allmählich langsamer werdenden Schritten aufeinander zu. Wortlos drückten sie sich die Hände, sahen verschämt zu Boden.

Nach einer Weile sagte Se Ung: „Was willst du hier?“

Al atmete tief durch. Die Frage traf ihn wie ein Keulenschlag. Se Ung wiederholte die Frage, eindringlicher, nachdrücklicher. Al verstand nicht. Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

„Müssen wir das hier besprechen, auf der Straße?“, fragte Al. „Lass uns in das Teehaus dort drüben gehen“, schlug er vor. Se Ung nickte wortlos.

Sie betraten das in einer Seitenstraße gelegene, im altkoreanischen Baustil errichtete, romantisch-bezaubernde Teehaus. Al musste seinen Kopf tief einziehen, um ihn sich nicht an der niedrigen Holztür anzuschlagen. Würziger Teeduft erfüllte den kleinen Raum, dessen einzige Gäste sie waren. Sie zogen nach koreanischer Tischsitte ihre Schuhe aus und nahmen auf den dicken Kissen auf dem Fußboden vor einem der niedrigen Holztischchen Platz. Ein ebenso freundliches wie schüchternes junges Mädchen goss aus einem silberfarbenen Teekessel dampfenden Ginsengtee in tönerne Tassen.

„Also, was willst du?“, wiederholte Se Ung.

„Das klingt wie eine Anklage“, antwortete Al gefasst. „Du bist Shing-hees Bruder!“

„Ja – ich war Shing-hees Bruder“, verbesserte Se Ung mit gesenktem Kopf, „bis zu ihrem Tod.“

„Meinst du, es geht mir nicht nahe, was passiert ist?“, fragte Al. Aber es kommt mir vor, als würde deine Familie mich für Shing-hees Tod verantwortlich machen.“

Se Ung wandte den Kopf ab, sah wie teilnahmslos durch eines der kunstvoll gearbeiteten, gitterartigen Fenster des Teehauses. Er schien leise zu schluchzen.

„Se Ung, du hast doch gesehen, wo wir gelebt haben, wie wir gelebt haben – und dass wir glücklich waren. Das hast du doch gesehen, vor zwei Jahren, nicht wahr?“, fragte Al nach einer Weile und fasste seinen Schwager dabei am Arm.

„Ja, das habe ich gesehen“, räumte Se Ung gebrochen ein.

„Ich habe deine Schwester geliebt wie niemanden sonst“, schloss Al an.

„Und dann gehst du von dort weg? Wie ist das denn alles passiert, was euer Leben zerstört hat? Was willst du hier?“, fragte Se Ung erneut, bevor er nachsetzte: „Ich denke heute noch an die erbitterten Auseinandersetzungen in unserer Familie, als Shing-hee den amerikanischen Kapitänleutnant Albert Ventura mit nach Hause brachte, ihn heiraten und mit ihm nach Kalifornien gehen wollte. Eine schwere Prüfung für unsere Eltern.“

„Schon wieder so vorwurfsvoll … Weiß Gott, eure Eltern hatten sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt. Aber Shing-hee und ich auch!“

„Al, Du kannst dir das nicht ausmalen. Ihr Tod bricht den alten Leuten das Herz“, setzte Se Ung nach.

„Das glaube ich dir. Sie haben nie akzeptiert, dass wir geheiratet haben. Noch nicht einmal nach unserer Hochzeit, an der sie nicht teilgenommen haben, konnten sie mich als rechtmäßigen Schwiegersohn anerkennen. Ihr Leben lang haben sie zu mir ‚Herr Ventura‘ gesagt …“

Al ließ den Arm seines Schwagers wieder los und richtete sich auf. Er hatte das Gefühl, mit ihm jetzt vernünftig reden zu können.