Teilhabe ermöglichen - Kompass für die Soziale Arbeit - Anja Teubert - E-Book

Teilhabe ermöglichen - Kompass für die Soziale Arbeit E-Book

Anja Teubert

0,0

Beschreibung

Ziel des Bundesteilhabegesetzes ist die Teilhabe aller in Bildung, Beruf und Gesellschaft & ein Anspruch, dem auch die Soziale Arbeit verpflichtet ist, z. B. in Einrichtungen der Jugend- oder Behindertenhilfe. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat "Leben mit Behinderung Hamburg" ein Handlungskonzept entwickelt, das die personenzentrierte Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung unterstützt. Die Stärke des Konzepts (methodisch angelehnt an die Sozialraumorientierung nach Hinte) liegt darin, durch Wirkungsdialoge eine partizipative Zusammenarbeit zu entfalten. Hierzu werden & im Sinne eines Kompasses & die Bedingungen für personenzentriertes Arbeiten auf operativer, normativ-strategischer und politischer Ebene anschaulich beschrieben. Das Buch nutzt hierfür Fallbeispiele und erklärt so den Prozess dieses neuen personenzentrierten Arbeitens. Auf diese Weise werden die Leserinnen und Leser dazu befähigt, das Handlungskonzept auch in ihrer Einrichtung zu etablieren bzw. im Alltag personenzentriert zu arbeiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 339

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Contents

Cover

Titelei

Geleitwort

1 Einleitung

2 Die Ausgangslage für die Konzeptentwicklung

2.1 Das Unterstützungssystem für Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Hamburg

2.2 Der Leistungserbringer Leben mit Behinderung Hamburg

2.3 LMBHH (re)‌agiert auf sich verändernde Anforderungen

3 Das Handlungskonzept Mein Kompass

3.1 Handlungsleitende Prinzipien

3.2 Der Mein Kompass-Prozess

3.3 Grunderhebung

3.3.1 Grunderhebung – Eine Seite über mich

3.3.2 Grunderhebung – Meine Lebensgeschichte

3.3.3 Grunderhebung – Mein Netzwerk

3.3.4 Grunderhebung – Meine Kommunikation

3.4 Vorbereiten der Unterstützungsplanung

3.4.1 Wahl der Erhebungsperson

3.4.2 Beteiligung weiterer Personen am Erhebungsprozess

3.4.3 Methode und Setting der Erhebung entscheiden

3.5 Erheben

3.6 Vereinbaren

3.6.1 Basisleistungen

3.6.2 Ziele

3.6.3 Maßnahmen

3.6.4 Dokumentation

3.6.5 Vereinbarungsprozess

3.7 Umsetzen

3.8 Überprüfen und auswerten

3.9 Berichterstattung

4 Gelingensbedingungen für personenzentriertes Arbeiten

4.1 Eine kurze Betrachtung des Feldes

4.2 Fachlich-konzeptionelle Grundlagen

4.2.1 Die politische Ebene

4.2.2 Handlungsleitende Prinzipien

4.2.3 Die normativ-operative Ebene

4.2.4 Die normativ-strategische Ebene

4.2.5 Weitere Gelingensbedingungen für Personenzentriertes Arbeiten

5 Auf dem Weg zu einer personenzentrierten Organisation

5.1 Die politische Ebene

5.2 Die normativ-strategische Ebene bei LMBHH

5.2.1 Mein Kompass als Projekt

5.2.2 Wirkungsorientierung

5.2.3 Kontinuierliche Organisationsentwicklung

5.2.4 Fachliche Reflexion

5.2.5 Kommunikation

5.3 Die normativ-operative Ebene – personenzentriert handeln

5.3.1 Fachliche Reflexion und Partizipation

5.3.2 Reflektiertes, Willens- und Ressourcenorientiertes Arbeiten, Unterstützung der Eigeninitiative

5.3.3 Die Arbeit mit und an den Bedingungen im Sozialraum

5.3.4 Die fachlich-reflexive Organisation Leben mit Behinderung

6 Schlussworte

Literaturverzeichnis

Die Autor:innen

Prof. Dr. Anja Teubert leitet den Studiengang Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart.

Martin Rösner leitete den Bereich Unterstütztes Wohnen bei »Leben mit Behinderung Hamburg«.

Anja Teubert/Martin Rösner

Teilhabe ermöglichen – Kompass für die Soziale Arbeit

Personenzentriert und wirkungsorientiert handeln

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-039254-0

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-039255-7epub: ISBN 978-3-17-039256-4

Geleitwort

»Menschen können nicht irgendein Leben führen, sondern nur ihr eigenes«Remo Largo

Das eigene Leben leben, mit der dazu passenden Unterstützung – die Forderungen nach individueller Lebensführung und selbstbestimmter Teilhabe für Menschen mit Behinderungen sind vielfach deutlich formuliert – in Gesetzestexten, Fachliteratur, den sozialen Medien. Was bedeuten diese Forderungen für Organisationen, die Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung bereitstellen? Wie müssen diese aussehen, damit sie dem Anspruch nach einem eigenen Leben auch mit Assistenz gerecht werden können? Und was braucht es, um diese passgenau ermitteln zu können?

Sicherlich am einfachsten ist es, wenn der Mensch weiß, was er will, und dies kommuniziert – und wenn die Unterstützung so aussieht, wie sie gebraucht und gewollt wird. Aber wie damit umgehen, wenn der Mensch seinen Willen und die benötigte Unterstützung für ein teilhabendes Leben nicht äußern kann? Für die Begleitung heißt das: Wege finden, um gut ins Gespräch zu kommen und den Menschen dabei zu unterstützen, herauszufinden, was ihn ausmacht, was er braucht und will. Und vor allem: WIE er es braucht und will. Die Details machen das Leben zum eigenen Leben und die Unterstützung passend und nur der Mensch ist Experte für sein Leben.

Mit Mein Kompass haben wir uns bei Leben mit Behinderung Hamburg auf den Weg gemacht, Personenzentrierung konkret zu machen: mit Methoden, die Partizipation und ein genaues Hinhören ermöglichen, einem Prozess, der allen Beteiligten Orientierung und verbindliche Strukturen bietet, und Formaten, die dazu einladen, die professionelle Haltung zu thematisieren und zu reflektieren. Entstanden ist ein Handlungskonzept, das aktuelle theoretische Ansätze wie Personenzentrierung und Sozialraumorientierung, aber auch Systemtheorie, Partizipation, Empowerment, Diversität und positive Psychologie mit praktischen Ideen und Ansätzen verknüpft. Nach dem Prinzip »Einfach machen« wird es fortlaufend an die Praxis der Klient:innen und ihrer Unterstützer:innen angepasst.

An dieser Stelle sei den Geschäftsleitungen von Leben mit Behinderung Hamburg und Wibke Juterczenca, Björn Abramsen und Claudia Evers aus dem Mein Kompass-Team herzlich für die besondere Art der Zusammenarbeit gedankt.

Céline MüllerProjektleitung Mein Kompass

1 Einleitung

Personenzentrierung, Personenorientierung oder Sozialraumorientierung sind Schlagworte, die die sogenannte Behindertenhilfe und die Eingliederungshilfe der Kommunen seit Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) im Jahr 2016 beschäftigen. Der durch das Gesetz eingeleitete Paradigmenwechsel von der Einrichtungs- zur Personenzentrierung stellt alle Beteiligten vor die Herausforderung, sich vom fürsorgenden Beschützen zum am Menschen orientierten Begleiten zu entwickeln. Wir können also von einem Cultural Change sprechen, der nicht nur einzelne Organisationen wie Leistungserbringer betrifft, sondern gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse unterstützt. Herausforderungen ergeben sich aus dieser Gesetzesänderung auf drei Ebenen:

Auf Ebene der Organisation: Wie leite ich eine Organisation, die Selbstbestimmung ermöglichen möchte, wenn sie gewohnt ist, Menschen zu beschützen und ihnen vieles abzunehmen? Wie schaffe ich Strukturen, die die Mitarbeitenden dabei unterstützen, die gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben zu erfüllen und dabei deren fachliche Reflexionskompetenz zu unterstützen und für die Weiterentwicklung der Arbeit in der Organisation zu nutzen?

Auf der Ebene der Mitarbeitenden: Wie verlasse ich routinierte Wege in der Arbeit mit den Menschen, die das selbstständige Denken und Handeln bislang eher verhindert haben? Wie kann es mir gelingen, bisherige Arbeitsweisen unter Umständen in Frage zu stellen? Wie entwickle ich meine fachlich-reflexive Handlungskompetenz kontinuierlich weiter?

Auf der Ebene der Menschen mit Behinderung: Wie kann es den Unterstützenden gelingen, diesen zu vermitteln, dass sie Rechte haben? Wie kann erreicht werden, dass Aufgaben, die eine Person selbst und auf ihre Weise erledigen könnte, auch von dieser übernommen werden, wenn sie bisher die Erfahrung gemacht hat, dass es unter Umständen einfacher ist, Verantwortung an andere abzugeben? Wie also kann es gelingen, diese Menschen in ihrer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu stärken?

Mit diesem Buch wollen wir am Beispiel von Leben mit Behinderung Hamburg (LMBHH) nachzeichnen, welchen Weg diese Organisation gegangen ist und noch geht. Es richtet sich an Studierende der Sozialen Arbeit, Fach- und Leitungskräfte im Unterstützungssystem und an politisch Verantwortliche. Denn die Entwicklung des Handlungskonzepts Mein Kompass und dessen Implementierung in der Organisation ist aus unserer Sicht beispielgebend für professionelle sozialarbeiterische Arbeit und macht deutlich, wie herausfordernd und wichtig dieser Prozess ist.

Über die Darstellung des Handlungskonzepts soll deutlich werden, welche theoretischen Grundlagen hinter diesem Konzept stehen. Außerdem wird beschrieben, was sich mit Einführung des Konzepts auf organisatorischer und handlungspraktischer Ebene bei LMBHH verändert hat und noch verändern soll. Es werden die Herausforderungen und Stolperstellen beschrieben und mögliche Auswirkungen auf die Akteur:innen skizziert. Mit Akteur:innen bezeichnen wir alle Menschen, die mit der Leistungserbringung, -rahmung und -finanzierung betraut sind und die Leistungsberechtigten selbst.

Außerdem soll verdeutlicht werden, an welchen Stellen der Blick von außen für die fachliche Reflexionskompetenz von Fachkräften hilfreich sein könnte und wo der Blick in die Praxis der Weiterentwicklung von Fachkonzepten und theoretischen Grundlagen dienlich ist. Hierzu werden wir teilweise mit fachpraktischen und fachwissenschaftlichen Kommentaren arbeiten (grau hinterlegt) und mit Fallbeispielen (grauer Balken am linken Rand) die Umsetzung verdeutlichen. Zudem werden Ergebnisse einer zum Abschluss des Projekts durchgeführten qualitativen Studie zu den Gelingensbedingungen für personenzentriertes Arbeiten einfließen. Dabei wird insbesondere auch die Einführung von Wirkungsdialogen (▸ Kap. 4.2.4) beschrieben, die u. a. wesentlich dazu beigetragen haben, die Bedeutung der Arbeit nach dem Handlungskonzept Mein Kompass für die Fachkräfte und die Menschen mit Behinderung erfahrbar zu machen.

Dazu werden die Ausgangslage für die Entwicklung des Handlungskonzepts Mein Kompass (▸ Kap. 2) sowie das Konzept selbst vorgestellt (▸ Kap. 3) und bezugnehmend auf Kapitel vier bereits fachlich kommentiert. Unter der Überschrift »Gelingensbedingungen für personenzentriertes Arbeiten« werden nach der Betrachtung des Feldes fachlich-konzeptionelle Grundlagen vorgestellt (▸ Kap. 4). Diese finden sich auf der politischen, normativ-operativen sowie strategischen Ebene einer Organisation und geben damit den Rahmen für das fachlich-reflexive Arbeiten nach dem Handlungskonzept Mein Kompass.

Die Kapitel 3 und 4 machen deutlich, dass die Praxis im Feld unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt ist und ein Handlungskonzept stets prozesshaft und damit fachlich-reflexiv entwickelt werden muss, wenn es Wirkung entfalten soll. Das wird dann in Kapitel fünf aufgegriffen, indem der Weg von LMBHH zu einer personenzentriert ausgerichteten Organisation in Anlehnung an die zuvor dargestellten fachlich-konzeptionellen Grundlagen auch anhand von Praxisbeispielen beschrieben wird (▸ Kap. 5). Dabei wird deutlich, welche Herausforderungen dieser Paradigmenwechsel für eine Organisation wie LMBHH mit sich bringt.

Weiter geht es um die Mitarbeitenden und die Bedeutung einer fachlich-reflexiven Handlungskompetenz in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung, die wir als Personen, Adressat:innen, Nutzer:innen, Menschen oder auch planende Personen bezeichnen (wenn sie mit dem Mein Kompass-Prozess gestartet haben).

In dem dreijährigen Prozess bei LMBHH stellte sich uns immer wieder die Frage, was zu einer Akzeptanz und Umsetzung des Handlungskonzepts Mein Kompass im Unternehmen beitragen könnte. So sind sukzessiv Bedingungen identifiziert worden, die in der Praxis getestet, validiert oder verworfen, also kontinuierlich überprüft wurden. Der Prozess wurde in ausführlichen Protokollen dokumentiert. Aus diesen von den Prozessbeteiligten überprüften Protokollen wurde ein Exzerpt erstellt, in dem die Gelingensbedingungen für Personenzentriertes Arbeiten bei LMBHH extrahiert und erläutert wurden. Dieses Exzerpt wurde unterschiedlichen, am Thema interessierten Menschen zur Lektüre und Kommentierung als Vorbereitung auf eine Gruppendiskussion vorgelegt. Beteiligt an den Diskussionen waren Vertreter:innen von Leben mit Behinderung Hamburg, Sozialarbeitende, Heilerziehungspflegende, Sozialwissenschaftler:innen, Politiker:innen, Vertretende von Wohlfahrtsverbänden und des Landes Baden-Württemberg sowie Interessenvertreter:innen, aber auch vier fachfremde Personen1, die mit ihrem ›gesunden Menschenverstand‹ und alltäglichen Erfahrungen im Hinblick auf die Personengruppe der Menschen mit Behinderungserfahrungen die Ergebnisse kommentiert haben. Insgesamt 20 Diskussionsteilnehmende haben sich zuvor mit den im Prozess mit LMBHH identifizierten Gelingensbedingungen auseinandergesetzt. Sie erörterten u. a. die Frage, ob diese auf alle Einrichtungen übertragbar oder als einrichtungsspezifisch zu betrachten sind und inwieweit es gewinnbringend sein könnte, Bedingungen zu definieren, die den Paradigmenwechsel vom einrichtungs- zum personenzentrierten Arbeiten ermöglichen könnten.2 Abschließender Konsens aller Teilnehmenden war, dass die Bedingungen nicht einrichtungsspezifisch, also auch auf andere Leistungserbringer übertragbar sind, dass es hilfreich sein kann, diese zu kennen und dass es wichtig sei, auch den Leistungsträger mit in den Fokus zu nehmen. Interessant war ebenfalls, dass an unterschiedlichen Stellen dennoch ein Vergleich zwischen den Bedingungen in Hamburg und Baden-Württemberg betont wurde, obwohl alle Teilnehmenden in der allgemeinen Gültigkeit der identifizierten Faktoren übereinstimmten. Diese Ambivalenz zwischen Anerkennung der Notwendigkeit von Veränderung und gleichzeitiger Abwehrreaktion Veränderungen gegenüber scheint uns repräsentativ für die Situation im Unterstützungssystem der Eingliederungshilfe. Die Ergebnisse der Gruppendiskussionen und die Reflexion des Prozesses bei LMBHH zeigen, dass die Herausforderungen, die dieser ›Culture-Change‹ mit sich bringt, keinesfalls zu unterschätzen sind: Es wird Mut und Hartnäckigkeit sowie ein starker Willen zur Veränderung benötigt, um den Paradigmenwechsel zu vollziehen und Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen eine selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Endnoten

1Das waren Diskutierende aus der Informatik, der Unternehmensberatung, des Grafik-Designs und Versicherungswesens sowie der Landes- und Kommunalpolitik.

2Die beiden Gruppendiskussionen wurden anschließend transkribiert und anhand eines Kategoriensystems qualitativ ausgewertet.

2 Die Ausgangslage für die Konzeptentwicklung

Am 26. März 2009 hat die Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Damit wurde sie Teil der deutschen Rechtsordnung (Kotzur & Richter 2012). Alle staatlichen Stellen müssen sich nach Artikel 4 UN-BRK verbindlich an sie halten. Der Staat hat sich mit der Ratifizierung verpflichtet, die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen politisch zu fördern, um sie in der aktiven Rolle in ihrem Leben zu bekräftigen. Autonomie, Selbstbestimmung sowie das gleichberechtigte Miteinander von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland sind Kernpunkte der UN-BRK. Von diesen Änderungen betroffen ist somit die gesamte deutsche Bevölkerung, unter ihnen 7,8 Millionen Menschen, die amtlich als schwerbehindert anerkannt sind. Dazu gehören alle anderen Menschen mit Behinderungserfahrungen, die aufgrund fehlender Unterstützung, vorhandener Barrieren oder schlicht einem Nicht-Bescheid-Wissen über die den Menschen zustehenden Rechte von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden. Mit der UN-BRK wurde in Deutschland und den anderen Staaten ein Paradigmenwechsel eingeleitet, der das vorhandene auf Fürsorge und Spezialisierung ausgerichtete Unterstützungssystem verändern soll. Die in der Behindertenhilfe tätigen Fachkräfte setzten sich damals maßgeblich aus Heilerziehungspfleger:innen, Erzieher:innen, Physiotherapeut:innen und anderen Pflegekräften zusammen. Das bis dahin geltende und noch immer prägende medizinische Paradigma hat die Sicht auf die Menschen maßgeblich geprägt: Die Beeinträchtigung stand im Vordergrund, diese galt es zu kompensieren. Menschen wurden bzw. werden auf ihr »Defizit« oder ihre »Krankheit« reduziert und teilweise schon früh durch das Unterstützungs- und medizinische System begleitet, um sich möglichst einer von der Mehrheit definierten Normalität anpassen zu können (Gebrande 2021).

Besonders deutlich wird dies, wenn die Arbeit der Eingliederungshilfe in den Kommunen betrachtet wird, weil hier vor Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes nur wenig Zeit in die Hilfeplanung investiert wurde. Nun ist eine dezidiertere Unterstützungsplanung vorgesehen, der das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung zugrunde liegt, welches Grundlage der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ist. Mit Hilfe eines Bedarfsermittlungsinstruments sollen Leistungsberechtigte nun nach ihren Wünschen (Wunsch- und Wahlfreiheit), nach ihren Ressourcen und ihren Vorstellungen von einem selbständigen, selbstbestimmten Leben gefragt werden. Das Gesetz sieht vor, dass Bedarfserhebungsinstrumente derart aufgebaut sind, dass Antragstellende zu den neun in der ICF definierten Lebensbereichen hinsichtlich ihrer bestehenden Teilhabemöglichkeiten Stellung beziehen. Damit soll ein Bild darüber geschaffen werden, in welchen Bereichen Menschen an der gesellschaftlichen Teilhabe behindert werden. Im besten Fall wird dadurch auch deutlich, welche Barrieren auch für andere als den antragstellenden Menschen zu Behinderungserfahrungen führen könnten. Damit könnte veranlasst werden, diese Barrieren grundsätzlich zu beheben, was zur Folge hätte, dass Unterstützung im Einzelfall minimiert werden kann.

Die ICF ist ein internationaler Standard zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen. Damit soll eine einheitliche Kommunikation über die Auswirkungen von Gesundheitsproblemen unter Beachtung des gesamten Lebenshintergrunds eines Menschen ermöglicht werden (WHO 2005).

Der Behinderungsbegriff der ICF betont die Bedeutung sozialräumlicher, lebensweltlicher Barrieren für die Exklusion von Menschen. Das reformierte SGB IX begreift Behinderung nicht mehr als Eigenschaft und Defizit einer Person, es rücken nunmehr die Kontextfaktoren, Interessen und Wünsche des betroffenen Menschen in den Vordergrund. Die gesundheitliche Beeinträchtigung wird nicht mehr isoliert von anderen Faktoren betrachtet. Menschen werden aufgrund von Kontextfaktoren an der Teilhabe behindert und sind nicht per se behindert, weil sie von Beeinträchtigungen betroffen sind.

Um die Interessen der Menschen dezidiert zu unterstützen, sieht das neue Gesetz auch die Einrichtung von sogenannten ›Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTB)‹ vor. Das sind Stellen, die Menschen dabei unterstützen sollen, ihren persönlichen Weg im Sinne des Empowerments zu gehen, sie auf die Gesamtplanung vorzubereiten und in ihrer Persönlichkeit zu stärken, damit sie sich dem Unterstützungssystem nicht ausgeliefert fühlen. Idealerweise sollen diese Stellen mit Erfahrungsexpert:innen (Peer-to-Peer-Counseling) besetzt sein. Im Zusammenhang mit der Entwicklung von Mein Kompass oder anderen Konzepten zum Personenzentrierten Arbeiten in der Eingliederungshilfe ist der Ruf nach unabhängigen Beratungen oder Unterstützungen symptomatisch für das Feld: Es stellt eine große Herausforderung dar, einrichtungszentriertes Denken zu hinterfragen, zu überdenken und dann konsequent die Person in den Fokus zu stellen. Daher ist der Steuerungsauftrag, den die Gesetzgeberin dem Leistungsträger übertragen hat, nachvollziehbar. Dabei wird jedoch übersehen, dass diese Steuerungsaufgabe dazu führen kann, dass der Machtunterschied zwischen Leistungsträger und -erbringer dadurch vergrößert werden kann. Denn es ist zu beobachten, dass die Funktion des Steuerns oft nicht zielgerichtet im Sinne der Menschen, sondern im hierarchischen Sinne verstanden wird. Dies kann zu Vorurteilen auf Seiten der Leistungserbringer (›wir zeigen dem Leistungsträger, dass wir besser wissen, was gut für die Person ist‹) oder auf Seiten der Leistungserbringer (›wir müssen die Bedarfsermittlung durchführen und die Zielerreichung entsprechend unserer Rolle überwachen, indem wir sagen, was getan wird – denn wir wissen besser, was die Person braucht‹) führen. Insofern ist durch die Einrichtung der EUTBs im besten Fall erreicht worden, dass die Machtverhältnisse reflektiert werden und die Zusammenarbeit im Sinne der Leistungsberechtigten modifiziert wird. Allerdings bleibt damit die Verantwortung bei den Leistungsanfragenden.

2.1 Das Unterstützungssystem für Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Hamburg

Hamburg hat sich bereits vor Verabschieden des Bundesteilhabegesetzes mit Förderfaktoren für die Weiterentwicklung der konzeptionellen Basis der örtlichen Eingliederungshilfe auseinandergesetzt. Nach einer Periode der Ambulantisierung von 25 % der stationären Plätze bei vier großen Leistungserbringern wurden, angestoßen durch einen der großen Leistungserbringer, ab 2014 Trägerbudgets eingeführt. Die Ziele der Trägerbudgets werden in den Präambeln der Rahmenvereinbarungen festgehalten. Gemeinsame Positionen werden in zwei Leitplanken-Papieren beschrieben.

Im Jahr 2019, zu Beginn des zweiten Trägerbudgets, vereinbarten die beteiligten Leistungserbringer und die Sozialbehörde Hamburg die Eingliederungshilfe konzeptionell nach dem Fachkonzept Sozialraumorientierung nach Wolfgang Hinte weiterzuentwickeln. Grundlage hierfür waren die von fünf Leistungserbringern entwickelten »Fachlichen Leitplanken in der sozialraumorientierten Eingliederungshilfe« (Sozialkontor et al. 2019). Hierin findet die gemeinsame fachliche und politische Orientierung im Unterstützungssystem ihren deutlichsten Ausdruck.

Zuvor sind Ende 2017 die Leitplanken zu Wirkungsorientierung in der Eingliederungshilfe verabschiedet worden. Sie enthalten die vier Kapitel: BTHG, Charakteristika sozialer Dienstleistungen, Nutzen- und Nutzer:innenorientierung sowie Offen lernendes System. In diesem Papier wird u. a. die Bedeutung des Abbaus von Barrieren in der Mit- und Umwelt als Ansatzpunkt von Veränderung benannt. Die Erfassung und Beurteilung der Wirksamkeit der Leistungen soll die Koproduktion der Adressat:innen und die hohe Komplexität und Langfristigkeit der Prozesse reflektieren. Die Kontrolle der Wirksamkeit soll Leistungsberechtigte stärken und effizient im Verhältnis von Aufwand und Nutzen sein. Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe wird von den Unterzeichner:innen als gemeinsamer Lernprozess verstanden, indem sich die verschiedenen Akteur:innen in einer übergreifenden wirkungsorientierten Evaluationskultur miteinander vernetzen und Ansätze unterschiedlicher Reichweite entwickeln, erproben und nutzen.

Das Trägerbudget

Mit dem Trägerbudget in der Hamburger Eingliederungshilfe erhalten mittlerweile sieben große Anbieter von Unterstützungsleistungen einen auf mehrere Jahre angelegten festen Geldbetrag, der als monatliche Pauschale eingeht. Damit wird beidseitige Planungs- und Finanzierungssicherheit gewährt und es wird ermöglicht, Ressourcen in die fallunspezifische Arbeit im Sozialraum oder für notwendige Kooperationen freizugeben und im Einzelfall auch mal intensiver oder weniger intensiv mit einer Person zu arbeiten. Die Trägerbudgets beförderten die Ablösung der einzelfallorientierten Finanzierung, es erleichtert den Trägern, Unterstützungsleistungen personenzentrierter zu gestalten und erweitert die Möglichkeiten zur Erprobung neuer Angebote und Maßnahmen innerhalb der Leistungssysteme.

In einer Rahmenvereinbarung (BASFI 2023), der rechtlichen Grundlage des Trägerbudgets, werden alle EGH-Ressourcen eines Leistungserbringers auf vertraglicher Grundlage gebündelt. Die Kalkulationsgrundlagen für das trägerbezogene Budget bilden Leistungsmengen und dafür vereinbarte Preise. In geringem Umfang werden geplante Mengenveränderungen oder übergreifende Projekte im Trägerbudget planerisch berücksichtigt. Budgets werden in Hamburg bislang jeweils für vier Jahre vereinbart.

Weder der Landesrahmenvertrag, die Leistungsverträge noch die Ansprüche von Leistungsberechtigten werden durch das Trägerbudget verändert. Jede Person weiß, welche Art der Leistung bewilligt wurde. Durch die entstandene Planungssicherheit kann nun vermehrt in die qualitative Weiterentwicklung investiert werden. Die Gruppe der beteiligten Leistungserbringer arbeitet seither vermehrt gemeinsam mit dem Leistungsträger an den Bedingungen im Sozialraum.

Budget 2014 – 2018

Mit der ersten Rahmenvereinbarung ging es darum, »neue Spielräume [zu] erschließen, wie Teilhabeleistungen wirksamer gestaltet werden können.« (LMBHH 2014, S. 1) Es sollten weitere Systembarrieren für personenzentrierte Leistungen abgebaut und hierfür verlässliche Rahmenbedingungen vereinbart werden. Die Vertragspartner »verpflichteten sich, die Umsetzung dieser Vereinbarung und die Weiterentwicklung der Systeme in einem offenen Dialog zu organisieren und notwendige Anpassungen im Konsens vorzunehmen.« (ebd., S. 1) In der Rahmenvereinbarung wurden zu erbringende Leistungen quantitativ und qualitativ benannt. Die Durchführung sozialraumorientierter Projekte wurde, ebenso wie die fortlaufende Dokumentation des Leistungsgeschehens, nach Struktur sowie Fallzahlen und -kosten vereinbart. Die (Zwischen-)‌Ergebnisse der ersten Budgetperiode wurden 2016 gemeinsam festgehalten (Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, Amt für Soziales et al. 2016).

Auf dem Handlungskongress Teilhabe geht doch! – Hamburger Lösungen zur Eingliederungshilfe: Trägerbudgets, Quartiersprojekte, Partizipation3 wird im Februar 2018, zum Ende der ersten Budgetperiode, eine optimistische fachliche und politische Bilanz gezogen. Unter anderem wird die Bedeutung des Abbaus von Barrieren in der Mit- und Umwelt als Ansatzpunkt von Veränderung benannt.

Budget 2019 – 2023

Mit der zweiten Rahmenvereinbarung, die 2019 für die folgenden vier Jahre geschlossen wurde, wird an die zuvor vereinbarten Ziele angeschlossen. In der Präambel (LMBHH 2019) werden zunächst die Ergebnisse der ersten kurz skizziert: Der Raum für Innovation, um die Eingliederungshilfe ressourcenorientierter zu gestalten, wurde geöffnet, die sozialräumliche Ausrichtung der Leistung wurde verstärkt und die Transparenz wurde durch Partizipation und ein trialogisches Monitoring verbessert.

Ziel der neuen Rahmenvereinbarung ist es, »den eingeschlagenen Weg der Innovation für Personenzentrierung und Sozialraumorientierung fortzusetzen.« (LMBHH 2019, S. 2) Die beidseitige Verantwortung für Menschen mit komplexen Assistenzbedarfen wird benannt und deren Teilhabechancen werden fokussiert.

An der Entfaltung der Teilhabechancen für Menschen mit komplexen Assistenzbedarfen soll der Erfolg dieses Vorhabens beurteilt werden. Ebenso wird vereinbart, die Leistungsberechtigten intensiver an der Ausgestaltung der Assistenzleistung zu beteiligen und die persönlichen Anliegen der Leistungsberechtigten im Planverfahren mittels angemessener, konkreter Ziele stärker zu berücksichtigten.

Kommentar

Mit der Verabschiedung der Leitplanken haben die im Unterstützungssystem Verantwortlichen auf strategischer Ebene u. a. deutlich gemacht, dass sie gemeinsam den Menschen in den Mittelpunkt stellen und sich explizit verpflichtet, in einem Entwicklungsprozess zu bleiben.

Die Herausforderung stellt sich mit der Dissemination der gewonnenen und als Leitplanken vereinbarten institutionalisierten Erkenntnisse nun für die Akteur:innen auf der operativen Ebene. Es gilt, diese so aufzubereiten, dass nachvollziehbar ist, wie das in der Praxis erfolgen kann. Die neuen Möglichkeiten, die dadurch für die Praxis entstanden sind, müssen also erfahrbar und konkret werden.

Mit dem Einrichten eines veränderten Finanzierungssystems, das ermöglicht, auch im Sozialraum Bedingungen zu verändern, war ein wichtiger Schritt zur Konkretisierung dieser bedeutsamen Vereinbarung getan.

Der Gesamtprozess des Trägerbudgets wird in einer trialogisch besetzten Lenkungsgruppe mit Vertretenden des Leistungsträgers, der sieben Budgetträger, der Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege und der Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen e. V. (LAG) kontinuierlich reflektiert.

Trägerbezogene Controlling-Gespräche mit dem Leistungsträger finden vierteljährlich statt. Jedes Treffen hat einen zuvor vereinbarten Themenschwerpunkt. Daneben werden regelmäßig fachliche und operative Fragen besprochen. Auf der Seite des Leistungserbringers nehmen regelmäßig zwei bis drei Mitglieder der Geschäftsleitung und themenbezogen ein:e Themenverantwortliche:r teil. Von Seiten des Leistungsträgers nehmen drei bis fünf Verantwortliche von ministerieller und bewilligender Seite teil. Ergebnisse werden dokumentiert und weiterverfolgt. Nutzer:innen als Erfahrungsexpert:innen nehmen bislang noch nicht an diesen Gesprächen teil.

2.2 Der Leistungserbringer Leben mit Behinderung Hamburg

LMBHH4 wurde 1956 als erster deutscher Elternverein gegründet, um für Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das Recht auf Bildung und Arbeit sowie die Möglichkeit des stadtteilintegrierten Wohnens als Alternative zum Leben in einer (Heil-)‌Anstalt waren in den 60er und 70er Jahren erste wichtige Felder in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Der Aufbau von Unterstützungsangeboten wurde zunächst unter dem Dach des Elternvereins, ab 1975 durch eine gemeinnützige GmbH, heute die LMBHH Sozialeinrichtungen, im Eigentum des Elternvereins organisiert. LMBHH agiert auf dem Hintergrund geballter Lebenserfahrung als starke Interessenvertretung für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen. In Hamburg fungiert er für Politik und Behörden als wichtiger, respektierter und gesuchter Gesprächspartner. Außerdem ist der Elternverein ein bedeutendes, weil engagiertes Mitglied in der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen (LAG)5.

Elternverein und Sozialeinrichtungen

Der Elternverein mit seinen ca. 1.500 Mitgliedern ist einhundertprozentiger Eigentümer der LMBHH Sozialeinrichtungen gGmbH, der Betriebsgesellschaft für Dienste und Einrichtungen. Er hat einen sechsköpfigen ehrenamtlichen Vorstand. Die Mitglieder des Vorstands sind, wie alle ordentlichen Mitglieder des Elternvereins, in der Regel Menschen mit Behinderung und/oder ihre Angehörigen. Der Vorstand wird durch einen fünfköpfigen Beirat beraten. Die Mitglieder des Beirats dürfen keine Vorstandsmitglieder sein.

Der Vorstand setzt die Geschäftsführung der LMBHH Sozialeinrichtungen gGmbH ein. Die vom Vorstand gewählten Mitglieder eines Aufsichtsrats beraten die Geschäftsführung der Sozialeinrichtungen. Die Geschäftsführung entwickelt Konzepte zur strategischen Entwicklung des Unternehmens in Abstimmung mit dem Aufsichtsrat und sorgt für deren Umsetzung.

Das Ziel von LMBHH ist in dem von Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen und Mitarbeitenden 2002 erarbeiteten Leitbild beschrieben: »Dem Streben behinderter Menschen nach ihrem eigenen Lebensweg schaffen die Mitarbeiter/innen und Eltern gemeinsam verlässliche und lebendige Grundlagen.« (LMBHH 2023a)

Die Sozialeinrichtungen erbringen im gesamten Stadtgebiet Hamburgs Unterstützungsangebote in den drei Bereichen Wohnen, Arbeit und Familie. Es werden ca. 250 Familien, ca. 700 Menschen im Bereich des Wohnens und ca. 400 Menschen im Bereich Arbeit von ca. 1.000 Mitarbeitenden unterstützt.Die Wohnangebote reichen von der stundenweisen Unterstützung in der eigenen Wohnung bis zur umfänglichen 24-Stunden-Unterstützung in Wohngemeinschaften. Dort leben jeweils zwei bis zehn Menschen zusammen. 70 % der im Wohnen unterstützten Menschen haben mittlerweile einen eigenen Mietvertrag.Im Bereich Arbeit werden an zwölf Standorten »wesentlich behinderte Menschen im Sinne des Paragraphen 99 SGB IX« unterstützt, die »aufgrund der Schwere der Behinderung keine oder noch keine Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben nutzen können.« (Sozialbehörde 2023). In Kooperation mit verschiedenen Firmen, Kirchengemeinden, Vereinen und anderen sozialen Einrichtungen werden Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf auch an Orten des regulären Arbeitslebens tätig.Familien können aus einem breit gefächerten Unterstützungsangebot wählen: (Ferien-)‌Horte, stundenweise (pädagogische) Betreuung und Förderung, Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche, Ferienreisen sowie umfängliche Beratungsangebote für Familien und Kinder.

Führungsstruktur bei LMBHH Sozialeinrichtungen

Unterstützungsleistungen werden in lokalen, multiprofessionellen Teams organisiert und erbracht. In den Teams arbeiten Sozialarbeitende, (Heil-)‌Erzieher:innen, Pflegefachkräfte, hauswirtschaftliche (Fach-)‌Kräfte, Mitarbeitende ohne oder mit anderweitigen Ausbildungen und Freiwillige (Freiwilliges Soziales Jahr) zusammen. Die Teams werden in der Regel von Sozialarbeitenden geführt.

Alle Führungskräfte sind jeweils einer Bereichsleitung unterstellt. Es gibt vier regionale Bereichsleitungen im Geschäftsfeld ›Unterstütztes Wohnen‹ und jeweils eine Bereichsleitung für ›Unterstütztes Arbeiten‹ und ›Unterstützung in der Familie‹.

Das Geschäftsleitungsteam besteht aus dem Geschäftsführer und seiner Stellvertreterin, den Bereichsleitungen für Unterstützungsleistungen und Personal. Im Geschäftsleitungsteam sind über die Verantwortung für Einrichtungen hinaus auch Zuständigkeiten für übergreifende Themen wie Mein Kompass und Wirkung verteilt.

Bereichsleitungen und Leitungen erstellen im Herbst eines jeden Jahres eine Jahresplanung für das Folgejahr. In der Jahresplanung sind inhaltliche und wirtschaftliche Ziele vereinbart. Die erstellte Jahresplanung wird in der Geschäftsleitungsrunde und anschließend im Aufsichtsrat diskutiert und schließlich vom Vorstand des Elternvereins beschlossen.

LMBHH ist zwar hierarchisch ausgerichtet, versucht aber, im partizipativen Sinne, orientiert an Zielen, zu führen. Fachlichkeit stellt für LMBHH einen hohen Wert dar. Das zeigt sich in einem umfassenden internen Fortbildungsprogramm, das konzeptionell an den aktuellen Bedarfen und wissenschaftlichen Diskursen ausgerichtet ist.

Zudem hat die konzeptionelle Weiterentwicklung im Sozialunternehmen einen hohen Wert, was sich daran zeigt, dass Mitarbeitende für Konzeptarbeit teilweise freigestellt werden und Ressourcen erhalten. Zum Teil wird dies als Projektauftrag in die Organisation gegeben. Dazu werden Zuständigkeiten auf Seite der Bereichsleitungen festgelegt. Die dann zuständige Projektleitung stellt sich ihr Team zusammen und berichtet regelmäßig in der Geschäftsleitungsrunde. Neue Ideen, Weiterentwicklungen, Anpassungen sind stets willkommen und erhalten einen Raum. So wurde ein Projektauftrag verfasst, der folgendes Ziel in Auftrag gibt: LMBHH verfügt über eine einheitliche Hilfeplanung, die den:die Klient:in als handelnde Person stärkt.

2.3 LMBHH (re)‌agiert auf sich verändernde Anforderungen

Dieser Auftrag fußt nicht nur auf den aktuellen Entwicklungen, eingeleitet durch das BTHG und unterstützt durch die Entwicklungen in Hamburg. Getragen ist die Entwicklung des Handlungskonzepts Mein Kompass vor allem durch eine Kultur, die geprägt ist von Selbstbestimmung, Empowerment und dem Nutzen sozialräumlicher Ressourcen. Diese sind Teil der konzeptionellen DNA von LMBHH, was sich in der Entwicklung unterschiedlicher Konzeptionen und Instrumente zeigt, die in der Organisation genutzt werden.

Bereits 1995 wurde ein Instrument der Hilfeplanung mit dem Motto »Ich gestalte mein Leben nach meinen Wünschen! Welche Ziele sind mir dabei besonders wichtig?« eingeführt. Die Unterstützung des eigenen Lebenswegs ist Leitsatz des 2002 von Menschen mit Behinderung, Angehörigen und Mitarbeitenden erarbeiteten Leitbilds (LMBHH 2023a). Mit dem Projekt Wunschwege werden seit 2012 die Persönliche Zukunftsplanung (Doose 2020) und ihre Methoden erprobt und weiterentwickelt. LMBHH war Projektpartner des EU-Projekts Neue Wege zur InklUsion (LMBHH 2023b). Das Team von Wunschwege hat im EU-Projekt mitgearbeitet. Eine 2014 auf Organisationsebene durchgeführte inklusive Zukunftsplanung (sensing event) stieß erste Organisationsentwicklungsmaßnahmen an. Ein Leitfaden für Personenzentrierung (LMBHH 2023c), der als Richtschnur für die Verbesserung von personenzentriertem Denken und Handeln bei LMBHH dienen sollte, wurde erarbeitet. Nach dem EU-Projekt wurde ein inklusives Moderator:innenteam für Zukunftsplanung ausgebildet. Damit werden Menschen mit Behinderung aktiv in die konzeptionelle Umsetzung der Arbeit von LMBHH eingebunden.

Die Interessen und Wünsche der Nutzer:innen waren bereits vor der Einführung des HMB-W-Verfahrens6 Ausgangspunkt der 1995 entwickelten personenorientierten Unterstützungsplanung. Mit der Einführung des HMB-W-Verfahrens wurde das Konzept an die vorgegebene Bedarfserhebung angepasst und kompatibel gemacht. Die ursprüngliche Idee einer personenzentrierten Bedarfserhebung mutierte zu einem Bedarfsermittlungssystem, das Unterstützungsbedarfe defizitär abbildete und zu einer Maßnahmenpauschale führte, die die Arbeit von LMBHH finanzierte. Je mehr Defizite festgestellt werden konnten, umso höher wurde die HMB-W-Punktzahl, die die Höhe der Pauschale bestimmte. Somit hat die damalige Anpassung des Instrumentes zur Bedarfserfassung dazu geführt, dass Interessen und Wünsche der Personen in den Hintergrund gerieten und eine einrichtungszentrierte Haltung verstärkt wurde. Die Teilehabewünsche des leistungsberechtigten Menschen sollen im Gesamtplanverfahren nach dem BTHG jetzt wieder in den Mittelpunkt gestellt werden.

Kommentar

Die genannten Entwicklungen und Konzepte, die hier mit »in der DNA von LMBHH« liegend beschrieben werden, sind Ergebnis einer höchst partizipativ entstandenen Organisationsgründung: Eltern sind für ihre Kinder aktiv geworden und gründen einen Verein, der diese partizipative Haltung weiterträgt und durch eine entsprechende Organisationsstruktur dafür sorgt, dass konzeptionelle Prozesse, das Leitbild und andere fachliche Grundlagen auch aus der Perspektive von von Behinderung betroffenen Menschen reflektiert werden. Der LMBHH Elternverein war und ist noch heute Korrektiv für die Ausrichtung von LMBHH Sozialeinrichtungen.

Deutlich wird zudem auch hier schon, dass die Finanzierungslogik einen Einfluss auf die konzeptionelle Entwicklung hat: Die eigentlich gewollte ressourcenorientierte Haltung in der Unterstützungsplanung machte einer Defizitorientierung Platz, weil die defizitäre Beschreibung von Unterstützungsbedarfen Voraussetzung der Finanzierung von Unterstützungsleistungen ist.

Möglicherweise wäre eine Aufarbeitung dessen, was mit Einführung des HMB-W-Verfahrens erfolgt ist und sicherlich Spuren hinterlassen hat, hilfreich für den erneuten Paradigmenwechsel. Das Gefühl mit der personenzentrierten Ausrichtung auf dem richtigen Weg gewesen zu sein, die möglicherweise gefühlte Ohnmacht nach Einführung des neuen defizitorientierten Instruments, könnte seine Spuren hinterlassen haben und dazu beitragen, dass der erneute Paradigmenwechsel in Teilen widerständig aufgenommen und umgesetzt wird.

Angespornt durch die UN-BRK fokussiert LMBHH mit der Strategie 2010 – 2015 explizit die Stärkung der Personenzentrierung und Wirkungsorientierung. Nach vertiefter Auseinandersetzung mit den kommenden Veränderungen im BTHG wird für 2016 und die kommenden Jahre entschieden, die Hilfeplanung von der Bedarfsermittlung zu trennen und ein personenzentriertes Fach- und Planungskonzept zu entwickeln. Damit soll die fachliche Arbeit vor Ort gestärkt und die Abhängigkeit vom Leistungsträger durch eine klare personenorientierte Positionierung verringert werden.

Kommentar

Nicht immer enden sinnvolle und notwendige Veränderungen von Bedingungen in einer wirklichen Verbesserung der Rahmenbedingungen für ein selbstbestimmtes Leben und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen. Die mit dem BTHG beabsichtigte Fokussierung auf personenzentrierte Unterstützungsleistungen wurde von LMBHH begrüßt.

Skeptisch waren wir allerdings gegenüber der Wirkung der BTHG gewählten Mittel. Die Trennung von Leistungen zum Lebensunterhalt und Fachleistung schafft zwar mehr Wahlmöglichkeiten für Menschen. Ein modernes, personenzentriertes Teilhaberecht (NDV 2023) erfordert allerdings mehr als eine Wahl zwischen verschiedenen vertraglich und rechtlich normierten Unterstützungsleistungen. Es erfordert maßgeschneiderte individuelle Unterstützungssettings. Diese brauchen sowohl personenzentrierte Gesamtplanverfahren als auch Leistungserbringer, die in der Lage sind, Unterstützungsleistungen zu individualisieren.

Auch die Verankerung der Überprüfung der Wirksamkeit im SGB IX, Kapitel 8 Vertragsrecht, befördert Unsicherheiten hinsichtlich der Intention, die Leistungserbringung zu überprüfen. Wirksamkeit ist Ergebnis vieler Faktoren wie z. B. barrierefreie soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Zugänge, Motivation der Person, Unterstützung durch ihr Netzwerk und passgenaue Unterstützung durch Leistungserbringer. Die Verankerung im Vertragsrecht erweckt den Eindruck, als wäre der Leistungserbringer der einzige Garant für gleichberechtigte Teilhabe. Ein Prozess, in dem alle beteiligten Instanzen auf die Rahmenbedingungen für Wirksamkeit schauen, fehlt. Personenzentrierung wie Wirkungsorientierung haben das Potenzial, die Rahmenbedingungen der Eingliederungshilfe in Richtung einer Verbesserung der Lebenslagen von Menschen mit Behinderung wirkungsvoll zu verändern. Dies wird aber nur erreicht werden, wenn alle Beteiligten individuell und gemeinsam an diesem Prozess mitarbeiten.

Das Handlungskonzept Mein Kompass und die Bereitschaft zur Organisationsentwicklung sind ein Beitrag von LMBHH zu diesem Veränderungsprozess. In den folgenden Ausführungen wird in Kapitel drei das Handlungskonzept und seine Entstehung dargestellt und kommentiert (▸ Kap. 3). Kapitel vier befasst sich mit theoretischen Grundlagen, die im Prozess von Bedeutung waren und durch Reflexion bewusster wurden (▸ Kap. 4). Trotz der von außen wahrgenommenen hohen Fachlichkeit sind die im Handlungskonzept aufgeführten handlungsleitenden Prinzipien nicht aus einer theoriegeleiteten Auseinandersetzung mit dem von Hinte et al. (2003) entwickelten Fachkonzept Sozialraumorientierung entstanden, sondern vielmehr aus der Notwendigkeit, Haltung und Handeln prinzipiengeleitet zu reflektieren und in einer für die Organisation verständlichen Sprache in das Konzept aufzunehmen.

Auf Grundlage dieser Erkenntnisse und der Reflexion mit Studierenden und Praktiker:innen aus dem Feld der Sozialen Arbeit sowie der Auseinandersetzung in den Gruppendiskussionen werden die handlungsleitenden Prinzipien als Gelingensbedingungen für personenzentriertes Arbeiten weiterentwickelt. Kapitel fünf beschreibt schließlich den Weg von LMBHH in Bezug auf die Gelingensfaktoren, die beim Gehen identifiziert und als repräsentativ für andere Einrichtungen eingeschätzt wurden (▸ Kap. 5).

Endnoten

3Die Ergebnisse wurden aus der Sicht der Leistungserbringer von Peiffer (LMBHH) und Hanne Stiefvater (Evangelische Stiftung Alsterdorf) in einem Vortrag zusammengefasst. (BHH Sozialkontor et al. 2018, S. 7)

4Der Elternverein LMBHH hieß bis 1996 Verein zur Förderung und Betreuung spastisch gelähmter Kinder, LMBHH Sozialeinrichtungen hießen Kurt-Juster-Heim Gesellschaft für Behinderte mbH.

5Die LAG ist ein Zusammenschluss von fast 70 Organisationen, ihrer Freund:innen und Angehörigen, die im Geiste der Hilfe zur Selbsthilfe zusammenarbeiten, um die Interessen behinderter und chronisch kranker Menschen in der Freien und Hansestadt Hamburg zu koordinieren.

6Hilfebedarf (für) Menschen (mit) Behinderung Wohnen nach Heidrun Metzler, auch Metzler-Verfahren genannt.

3 Das Handlungskonzept Mein Kompass

Mit Mein Kompass wurde die Entscheidung konkretisiert, ein Konzept für die Planung und Vereinbarung von Unterstützungsleistungen zu entwickeln, mit dem es den Menschen und den sie unterstützenden Mitarbeitenden erleichtert werden soll, den Weg zu finden, den sie jeweils zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit gehen wollen. Neben der Selbstbestimmung geht es auch darum, ins Gespräch zu kommen, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu entwickeln und Maßnahmen zu verabreden, die dazu führen, dass zuvor vereinbarte Ziele erreicht werden.

Wir sprechen von Mein Kompass als Handlungskonzept, weil es Prozesse, Instrumente und Methoden beschreibt, die sowohl ein einheitliches Vorgehen für Planung, Umsetzung, Dokumentation und Evaluation von (individuellen) Unterstützungsleistungen festlegt als auch einen Strauß von Methoden und Instrumenten bereithält, aus dem personenbezogen gewählt werden kann.

Das Konzept enthält eine Einführung und eine Beschreibung des gesamten Planungsprozesses. Ein Handbuch mit dem Titel »Mein Kompass – So geht's« unterstützt die Nachvollziehbarkeit des Prozessablaufs und die Umsetzung in der praktischen Arbeit. Fachliche Überlegungen werden vertieft und durch Fachliteratur ergänzt, Prozessschritte differenzierter dargestellt und es werden weiterführende methodische Hinweise für die praktische Arbeit gegeben.

Darüber hinaus hat das Projektteam eine Materialkiste entwickelt, die die Kommunikation mit den Menschen unterstützt. Sie enthält eine große Anzahl von Methoden, inklusive Anleitungen für eine personenzentrierte Gesprächsführung und Dokumentation. Konzept und Handbuch werden in einer Print-Version in jede Einrichtung und jeden Dienst versandt und sind auch in Leichter Sprache im Intranet von LMBHH veröffentlicht und damit allen Mitarbeitenden und Nutzer:innen digital zugänglich. Jede Einrichtung und jeder Dienst verfügt über eine Materialkiste.

Es handelt sich hier um ein in hohem Maße entwicklungsoffenes Konzept, weil alle Dokumente kontinuierlich angepasst und weiterentwickelt werden. Damit sollen Ideen und Erfahrungen der Mitarbeitenden und Nutzer:innen selbst aufgenommen werden können. Gleichwohl ist den Verantwortlichen klar, dass die Sprache eines fachlichen Konzepts eine Hürde darstellt. Auch das soll weiterentwickelt werden.

3.1 Handlungsleitende Prinzipien

Handlungsleitende Prinzipien (▸ Kap. 4.2.2) stellen einen wichtigen Bestandteil von Mein Kompass und der Arbeit bei LMBHH insgesamt dar. In die Formulierungen fließen Elemente der persönlichen Zukunftsplanung (NWP 2023), der ›Leitfaden Personenzentrierung‹ LMBHH (2023c) und der in Hamburg zwischen den Budgetträgern vereinbarten Leitplanken in der sozialraumorientierten Eingliederungshilfe (Sozialkontor et al. 2019).

Die handlungsleitenden Prinzipien stehen ganz am Anfang des Handlungskonzepts (LMBHH 2023d). Sie stellen die für die Unterstützungsplanung notwendige Arbeitshaltung dar. Im Konzept werden zusätzlich zu den in der Sprache der Organisation formulierten Prinzipien beispielhaft Wege zu ihrer Berücksichtigung aufgezeigt und teilweise mit praktikablen Handlungsmöglichkeiten für Mitarbeitende im Mein Kompass-Prozess und mit betrieblichen sowie bereichs-/trägerübergreifenden Prozessen (z. B. Peer Evaluation) ergänzt. Bei der Formulierung der Prinzipien hat LMBHH darauf geachtet, diese kurz und knapp zu fassen.

Wege finden – genau hinhören

Die immer wieder vorzunehmende Erkundung und Formulierung des Willens des Menschen ist Grundlage und Ausgangspunkt unserer Dienstleistung. Der:die Adressat:in ist dabei die handelnde Person.

Dies wird umgesetzt durch eine personenzentrierte Unterstützungsplanung und barrierefreie Kommunikation.

Kommentar

Die Erkundung und Formulierung des Willens bedarf ausreichend Zeit und einer individuell angepassten und damit barrierefreien Kommunikation.

Die Betonung, dass der Mensch, um den es geht, handelt, nicht die Fachkraft oder Assistenz, hängt auch mit dem handlungsleitenden Prinzip der Unterstützung der Eigeninitiative zusammen. Hier ist zu beachten, dass reflektiert werden muss, wie eine Person ins Handeln kommen kann, welche Voraussetzungen dafür jeweils nötig sind.

Nicht ohne uns über uns

Nutzer:innen werden als Expert:innen ihrer Lebenssituation ernst und wahrgenommen. Wir versetzen sie durch personenzentrierte Kommunikation in die Lage, Entscheidungen zu treffen.

Die Entscheidungsfindung wird durch die Methoden der personenzentrierten Zukunftsplanung unterstützt. Die Evaluation der Dienstleistungen von LMBHH erfolgt durch Peers auf der Grundlage des NUEVA-Konzepts.7 Klientinnen und Klienten werden aktiv darin unterstützt, ihre Aufgaben als Interessensvertretung wahrzunehmen.

Kommentar

Der erste Satz dieses Prinzips hat es in sich. Er führt neben der Reflexion der eigenen Sichtweise oder Haltung bezüglich der Person, mit der aktuell gearbeitet wird, zur Frage, ob Ziele und Maßnahmen, die fachlich geboten scheinen, gute Maßnahmen sind, auch wenn sie von Nutzer:innen nicht akzeptiert werden. Die Frage wird hier insofern eindeutig beantwortet, als dass Menschen als Expert:innen ihres eigenen Lebens benannt werden und in die Lage versetzt werden müssen, zu verstehen, welche Ziele und Maßnahmen für ihr Leben eine Rolle spielen. Entscheidungen gegen ihren Willen werden damit grundsätzlich ausgeschlossen, solange die Menschen sich oder anderen nicht in erheblichem Maße schaden.

Die Befähigung von Nutzer:innen ist so zu verstehen, dass es die Aufgabe der Institution und ihrer Mitarbeitenden ist, Informationen aufzubereiten und Optionen verständlich zu kommunizieren. Es geht also darum, Nutzer:innen zu ermöglichen, eigene, abgewogene Entscheidungen bezogen auf ihre Ziele und die für die Zielerreichung hilfreichen Maßnahmen zu treffen.

Die hier benannten Arbeitsmittel zur Umsetzung dieses Prinzips gehen daher über die individuelle Unterstützungsplanung hinaus. Eine Persönliche Zukunftsplanung oder Biografiearbeit (Wiemann & Lattschar 2019; Nemetschek 2011) kann beispielsweise genutzt werden, um in einer Lebenssituation des Übergangs Bilanz zu ziehen und sich neu auszurichten (▸ Kap. 4.2.2, viertes handlungsleitendes Prinzip).

Die Ergebnisse der Peer-Evaluation NUEVA werden auf Einrichtungs- und Organisationsebene unter Beteiligung von Nutzer:innen umgesetzt. Dazu gibt es klare Prioritäten und Prozesse. Die Stärkung der Interessenvertretung beinhaltet die Bereitstellung unterstützender Ressourcen für gewählte Vertreter:innen (Assistenz, Transport, Kommunikationsmittel). Hier wird das grundlegende Prinzip der Partizipation verdeutlicht und ebenfalls die Kommunikation als notwendige Voraussetzung dafür. Außerdem werden fachlich-konzeptionelle Grundlagen definiert, die die Qualität der Arbeit mit den Menschen sichern und willkürliches Handeln verhindern sollen.

Mut machen – den Menschen stark machen

Wir machen Menschen Mut, ihre eigenen Ressourcen zu nutzen und Unabhängigkeit von professioneller Hilfe zu erlangen.

Die Erwachsenenbildung von LMBHH und Bildungsnetz Hamburg bietet dazu eine große Palette von Lernfeldern. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, zu verstehen, dass die Unabhängigkeit vom Unterstützungssystem möglich und sinnvoll sein kann. Über unterschiedlichste Bildungsangebote sollen die Menschen mit diversen Bedarfen an Bildung auch unabhängig von professionellen Unterstützern die Möglichkeit bekommen, sich besser kennenzulernen und weiterzuentwickeln.

Kommentar

Mut zu machen, kennzeichnet sehr eindeutig den Ansatz des Empowerments und ist damit eine grundlegende Haltung, die nicht nur im Zusammenhang mit der Umsetzung des Handlungskonzepts von Bedeutung ist. Mit diesem Prinzip wird die Hilfe zur Selbsthilfe und damit Selbständigkeit noch stärker betont. Fachkräfte brauchen neben einem Blick für und Kenntnisse über Ressourcen die Überzeugung, dass Menschen auch ohne oder mit weniger professioneller Unterstützung leben könnten. Sie werden durch dieses Prinzip darin bestärkt, kreativ nach Ressourcen und Lösungswegen zu suchen. Das Herausarbeiten von Ressourcen und Stärken der Menschen setzt voraus, dass die Fachkräfte in der Lage sind, diese wahrzunehmen, danach zu suchen und inaktive Ressourcen angemessen zu aktivieren.

Wenn Mitarbeitende wollen und aushalten können, dass Menschen ihren eigenen Weg mit ihren eigenen Ressourcen gehen, kann dieses Prinzip seine Wirkung entfalten. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, auf Menschen zu treffen, die nicht bereit sind, ihren eigenen Weg zu gehen. Auch das ist zu berücksichtigen (▸ Kap. 4.1, Exkurs: Das Trilemma der Inklusion, ▸ Kap. 4.2.2, zweites handlungsleitendes Prinzip).

Verbündete finden – Orte entdecken

Wir erkennen und aktivieren personelle und sozialräumliche Ressourcen und bauen diese mit potentiellen Verbündeten auf und aus.

Mit den ebenfalls intern entwickelten Konzepten für die Bereiche Arbeit und Freizeit (Auf Achse (LMBHH 2023e) und In Betrieb8) werden Möglichkeiten erschlossen, jenseits von Institutionen Kontakte aufzubauen. Das Freizeitprogramm Stadttreiben (LMBHH 2023 f) trägt Aktivitäten und Orte zusammen, die gut zugänglich sind. Der Möglichkeiten-Katalog (LMBHH 2023 g) ergänzt dies durch spezielle Angebote für Senior:innen. Der Hamburger Kulturschlüssel (LMBHH 2023 h) bietet ehrenamtliche Begleitung zur Kulturveranstaltung.

Kommentar