Ten Thousand Miles to My Heart - Michelle C. Ahrens - E-Book

Ten Thousand Miles to My Heart E-Book

Michelle C. Ahrens

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Beschreibung

Ein rasanter Liebesroman und gleichzeitig eine Reise in die schönsten Ecken der USA. »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben eine Trekkingtour durch die schönsten Naturschutzparks Amerikas gewonnen« – damit beginnt für Emmi nicht nur eine Reise über den Ozean, sondern auch hinaus aus altem Schmerz und hinein in eine regelrechte Achterbahnfahrt der Gefühle. Denn auf den vielen Meilen Wanderpfad trifft sie immer wieder auf Sawyer, einen kühlen Geschäftsmann, der sie mit seiner analytischen und unnahbaren Art nicht nur schier zur Verzweiflung treibt, sondern unerwartet auch ihr Herz höherschlagen lässt. Was stimmt nicht mit diesem Kerl, der so sehr getrieben von seiner Arbeit scheint und gleichzeitig wirkt, als wäre er auf der Flucht? Fern von daheim, beginnen Emmi und Sawyer ganz langsam ihre Prioritäten neu zu sortieren und aufeinander zuzugehen. Doch beide haben mehr als nur ihren Rucksack im Gepäck. Hat Liebe da überhaupt eine Chance? Der neue Roman von Michelle C. Ahrens – Eine knisternde Liebesgeschichte, die am Ende tiefer führt als nur bis zum Ende einer Trekkingtour.

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Ten Thousand Miles to My Heart

Michelle C. Ahrens

 

 

 

 

Michelle C. Ahrens

Ten Thousand Miles to My Heart

 

Instagram: @michellecahrens.schreibt

 

Content Notes:

Suizid, Stimmungsstörung, Bipolare Störung.

 

1. Auflage 2024

Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2024

Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags

wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf

andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden.

 

www.novelarc.de

www.novelarcshop.de

 

Umschlaggestaltung: Traumstoff Buchdesign

Lektorat:Susann Pacher

Korrektorat: Lektorat Zeilentraum

Credits Envato Elements: JeksonJS, helga_helga

Buchsatz: Novel Arc Verlag

Druck und Bindung: booksfactory.de

Printed in Poland

 

Klappenbroschur: 978-3-98942-025-0

E-Book Ausgabe: 978-3-91023-817-6

 

 

 

Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben:

entweder so, als wäre nichts ein Wunder,

oder so, als wäre alles ein Wunder.

 

Albert Einstein

Prolog

Emmi

München, Bayern

 

Wie durch einen Filter sehe ich meine Oma, die den gläsernen Pokal sowie die Urkunde in Empfang nimmt. Unauffällig wische ich mir über die Augen und drücke die kalte Hand meiner Mutter, die neben uns auf dem Podest steht.

Mein Blick wandert durch den vollbesetzten Saal. Wo ist er? In der zweiten Reihe sitzt meine älteste und beste Freundin Stella, doch der Platz neben ihr ist leer. Das vertraute flaue Gefühl breitet sich in meinem Magen aus und kurz zieht sich meine Brust zusammen.

Der heutige Tag ist für unseren kleinen Familienbetrieb, eine vegetarische Ausflugshütte in den Bergen, der ganz große Wurf. Jetzt ist es offiziell, wir haben den bayerischen Tourismuspreis für Nachhaltigkeit und Umweltschutz gewonnen. Unser Konzept, das meine Oma, Mutter und ich uns auf die Fahnen geschrieben haben, wird wahrgenommen und funktioniert fantastisch.

Mein Herz rast und ich kann mich kaum auf die Dankesworte meiner sonst so resoluten und nie um Worte verlegenen Oma konzentrieren, die anschließend dem Ministerpräsidenten die Hand schüttelt.

Wir verlassen die Bühne und ein Pärchen steht auf, sodass wir wieder zu unseren Stühlen gelangen, wo Stella uns nacheinander in den Arm nimmt. »Wow, ich bin so unheimlich stolz auf euch. Jetzt wird es keiner mehr wagen, sich über euch lustig zu machen.« Stella grinst schelmisch, denn wir alle wissen, wie sich die Leute im Dorf oft die Mäuler zerreißen. Drei Frauen, die gemeinsam eine alte Brotzeithütte führen und dann nur vegetarische und vegane Gerichte anbieten. Unerhört! Irgendwie ist bei uns doch die Zeit ein bisschen stehen geblieben.

Heute könnte alles perfekt sein. Aber eine Person fehlt. Meine Ohren dröhnen von meinem lauten Pulsschlag. Hätte Jonas sich nicht wenigstens heute einmal für mich freuen können? Ich bin doch auch immer für ihn da. Er kann nichts dafür, Emmi. Wieder und wieder bete ich mir diese Worte vor. Trotzdem bleibt der schale Geschmack der Enttäuschung.

»Wollen wir noch etwas essen gehen und den Abend schön ausklingen lassen? Ich lad euch ein.« Oma Kathi legt liebevoll ihre Arme um Stella und mich und drückt uns fest an sich.

»Sorry, Kathi, aber ich muss leider heim. Morgen früh um sechs warten drei Amerikaner auf mich. Die wollen aufs Rubihorn steigen. Da muss ich fit sein. Ich weiß schließlich nicht, welche Bergerfahrung die haben.« Stella zuckt mit den Schultern. Genau wie ich hat sie ihr Hobby zum Beruf gemacht.

Ich streiche über das glatte Glas des Pokals und obwohl ich diesen Moment nur genießen sollte, habe ich Magenschmerzen und bringe schlichtweg keinen Bissen hinunter. Jonas hat versprochen zu kommen, doch vor der Preisverleihung habe ich vergeblich versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen. Verstohlen blicke ich auf meine Armbanduhr, denn in mir herrscht eine Unruhe, die ich mir nicht erklären kann. »Gerne ein anderes Mal, Oma. Heute würde ich auch lieber nach Hause gehen.«

Die intensiven Blicke der drei treffen mich und ich spüre, wie sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildet.

»So einen Tag sollten wir schon feiern. Schließlich werden wir nicht jeden Tag nach München eingeladen und bekommen einen Preis verliehen.« Kämpferisch reckt Oma das Kinn nach vorne.

»Schon gut, Mama. Wir zwei stoßen daheim einfach noch mit einer Flasche Sekt an, wenn auf die Jugend heutzutage kein Verlass mehr ist.« Wie immer ist es meine Mutter, die jede Form von Missstimmung im Keim erstickt. Dafür liebe ich sie, denn auch wenn sie kein Fan von Jonas ist, versucht sie immer, sich neutral zu verhalten. »Lasst uns heimfahren und das Feiern holen wir dann einfach nach.«

Eineinhalb Stunden später hält der alte klapprige Golf meiner Mutter vor dem Haus, in dem ich zusammen mit meinem Freund lebe.

»Wir sehen uns dann morgen um neun.« Kurz beuge ich mich zwischen den Sitzen vor und drücke jeder dieser beiden großartigen Frauen einen Kuss auf die Wange.

Meine Mutter mustert mich noch einmal besorgt durch den Rückspiegel und verabschiedet sich mit einem »Wir haben dich lieb, Schatz.«

Betreten blicke ich zu unserem Wohnzimmerfester im zweiten Stock. Alles dunkel. Jonas muss bereits ins Bett gegangen sein.

Ich schließe die Haustür auf und mit jedem Schritt, den ich in Richtung unserer Wohnungstür mache, zieht sich mein Magen mehr zusammen. Mein Herz pocht wild in meiner Brust. Wann hat es begonnen, dass sich nach Hause kommen so anfühlt?

Beklommen starre ich auf den Haustürschlüssel, bevor ich ihn im Schloss drehe und zaghaft die Tür öffne. Dunkelheit und Stille umfangen mich. Mit steifen Fingern taste ich nach dem Lichtschalter.

 

1

Emmi

San Francisco, Kalifornien – ein Jahr später

 

Meine Lunge brennt wie Feuer, als ich vom Terminal für die International Arrivals zu den Inlandsflügen renne. Ich checke die nächste Anzeigetafel. Schon 14:50 Uhr! Das schaffe ich niemals! Mein Mund ist staubtrocken und Schweiß rinnt zwischen meinen Schulterblättern hinab. Ich verfluche den schweren Wanderrucksack, dessen Gurte mit jedem Meter, den ich renne, tiefer in meine Schultern schneiden. Hätte ich doch nicht so viel hineingepackt.

Der Flug aus München hatte eine Stunde Verspätung und mein Anschlussflug nach Jackson wurde schon aufgerufen. In nur dreißig Minuten startet das blöde Flugzeug und ich habe schlichtweg keinen Plan, wo ich Terminal 3 und Gate 38 finde.

Keuchend quetsche ich mich durch die Menschen, die mit gesenkten Köpfen zu ihren Gates hasten und halte nach dem richtigen Boardingschalter Ausschau.

Ich hasse Flughäfen. Alles ist so unübersichtlich und weitläufig. Dabei war der Flughafen in München ein Witz gegen das Labyrinth hier.

Nach Luft ringend, schaffe ich es zum Gate, ohne mich zu verlaufen.

»Tut mir leid, der Flugsteig ist bereits geschlossen.« Die Mitarbeiterin der Fluglinie klimpert mit ihren stark geschminkten Augen und schiebt mit manikürten Fingern geschäftig die Papiere vor sich zusammen.

»Das kann jetzt nicht Ihr Ernst sein? Verdammt noch mal, ich renne mir doch nicht die Lunge aus dem Leib, nur damit Sie mich jetzt hier stehen lassen.«

In dieser Stresssituation und dann noch auf Englisch die richtigen Worte zu finden, ist wirklich genau das, was mir jetzt noch gefehlt hat. Mein Blutdruck steigt unter dem desinteressierten Blick der Frau weiter an. Sagt man den Amerikanern nicht eine unglaubliche Freundlichkeit nach?

»Bitte, ich habe schon einen Transatlantikflug hinter mir und kann ja wohl nichts dafür, dass Ihre Fluglinie in München mit einer Stunde Verspätung gestartet ist. Ich muss diesen Flieger hier erwischen.«

Betont langsam nimmt mein Gegenüber ihr Handy in die Hand. »Die letzte Passagierin für Flug 6542 nach Jackson ist jetzt da. Kann ich sie noch durchlassen?«

Mit einem unterkühlten Lächeln, gepaart mit einem Nicken und einer knappen Kopfbewegung gibt sie mir zu verstehen, dass ich vom Bordpersonal doch noch grünes Licht bekommen habe.

Ich renne los. Zum Glück hat es noch geklappt.

Die Flugbegleiterin schenkt mir zwar ein Lächeln, doch ihr Gesicht ist angespannt. Alle Passagiere sitzen bereits, und wenn Blicke töten könnten, würde ich meinen Sitzplatz nicht mehr lebend erreichen.

Ich schiebe mich durch den engen Mittelgang, meine Wangen brennen vor Scham. Mein Puls rast noch immer von meinem Spurt, doch endlich stehe ich vor der Reihe 44. Ich öffne die Klappe des Gepäckfaches über den Sitzen. Das war wohl zu hastig. Wie in Zeitlupe fällt mir ein Wanderrucksack entgegen und plumpst auf den darunter sitzenden Mann. Dieser zuckt erschrocken zusammen, stößt einen kurzen Fluch aus und starrt mich wütend an.

»Bitte entschuldigen Sie. Es tut mir so leid.« Meine Haut am Hals juckt schlagartig, ein sicheres Zeichen, dass sich dort schon rote Stressflecken bilden.

Er rollt die Augen und schnaubt genervt. Betont langsam steht er auf, nimmt unsere beiden Rücksäcke, verstaut sie im Fach und setzt sich wieder, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Wie arrogant kann man bitte sein? Ich habe ihn ja nicht absichtlich mit Gepäck beworfen. Tief durchatmen.

Ich blicke auf meinen Boardingpass, da ich mir nicht mehr sicher bin, ob es Platz A oder D war. Oh nein, das darf jetzt nicht wahr sein. »Sorry, ich muss Sie leider nochmals stören. Könnten Sie mich kurz durchlassen, ich sitze nämlich neben Ihnen.«

Er steht erneut auf, nicht ohne einen tiefen Seufzer von sich zu geben. Ist das sein verfluchter Ernst?

Ich zwänge mich zu meinem Sitz, lasse mich schwer darauf fallen und schiebe mir eine verschwitzte Haarsträhne hinters Ohr. Jetzt bin ich seit fünfzehn Stunden auf den Beinen und sehne mich nur noch nach einem Bett, einer warmen Dusche und etwas Richtigem zu Essen. Mit zittrigen Händen ziehe ich den Sicherheitsgurt unter mir hervor, dabei streift mein Ellenbogen den unfreundlichen Typen neben mir und er gibt ein genervtes Schnauben von sich.

Ruckelnd setzt sich das Flugzeug in Bewegung und rollt Richtung Startbahn.

Was mache ich überhaupt hier? Wieso habe ich mich nur darauf eingelassen? Ich sollte eigentlich an einem ganz anderen Ort sein. Ich sollte morgen heiraten.

Die ganze Situation fühlt sich unwirklich und falsch an, auch wenn mir die warme Stimme von Stella noch immer im Kopf herumschwirrt. »Du musst das machen, für dich. Geh raus und lass ihn endlich los.«

Tief in meinem Kopf weiß ich, dass sie recht hat mit dem »Rausgehen« und »Loslassen«, doch es ist einfach so verdammt schwer.

Aber trotzdem: Obwohl ich am Alpenrand aufgewachsen bin, bin ich nicht der Typ, der sich eine Mehrtagestour zutrauen würde. Meine Lieblingsmenschen sind anscheinend anderer Meinung. Außerdem gibt es da noch einen weiteren Punkt, bei dem sich mein Magen zusammenzieht, hinter den ich für meinen Seelenfrieden aber dringend einen Haken setzen will.

Die Sicherheitsbelehrung des Flugpersonals nehme ich nur durch einen Nebel wahr, so sehr pulsiert der einsetzende Kopfschmerz hinter meiner Stirn. Das Flugzeug beschleunigt dröhnend und ich werde fest in meinen Sitz gepresst. Ich lehne mich gegen das Fenster und schaue hinab auf San Francisco, das unter mir immer kleiner wird. Das dumpfe Dröhnen der Motoren hallt in meinen Ohren, während das Flugzeug Kurs auf den Ort nimmt, in dem mein Abenteuer starten soll. Das Abenteuer, das mir hoffentlich hilft, Jonas endlich loszulassen.

 

2

Sawyer

San Francisco, Kalifornien

 

Mit einem harten Schlag kracht mein Rucksack auf meinen Hinterkopf und meine Schulter. Wie kann man nur so ungeschickt sein? Sobald ich der Frau den schweren Wanderrucksack aus den Händen nehme, kann ich innerlich nur mit dem Kopf schütteln. Was hat sie da alles drin? Dass man sie damit überhaupt durch die Sicherheitskontrolle gelassen hat? Und dann muss sie sich auch noch ausgerechnet neben mich ans Fenster quetschen. Mit einem leisen Schnauben lasse ich sie durch. Vielfliegerin ist sie schon mal nicht, so unbeholfen wie sie nach ihrem Sicherheitsgurt angelt.

Das Flugzeug beschleunigt unter dem lauten Dröhnen der Turbinen und ich nehme aus den Augenwinkeln wahr, wie sich meine Sitznachbarin mit ihren Fingern in die Armlehne ihres Sitzes krallt und nervös mit den Beinen wippt.

»Ich fliege nicht so gerne.«

Ach wirklich, wäre mir gar nicht aufgefallen.

Wie ein Schutzschild schlage ich meine Financial Times auf und errichte so eine Mauer zwischen uns. Schon bei der Vorstellung, jetzt eine gezwungene Unterhaltung über ihre Flugangst führen zu müssen, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Auf Seite drei springt mir dann die Überschrift ins Auge, die mir einen stechenden Schmerz hinter den Schläfen beschert. »Renommierter GREEN-THINKING-Award an Greg Wesson vergeben.«

Am liebsten möchte ich aufspringen und laut schreien. Ich kralle meine Hand in die Armlehne, meine fest aufeinandergepressten Zähne knirschen und ich zwinge mich, meine Kiefer wieder zu lockern.

Dieser verdammte Dreckskerl! Das selbstgefällige Grinsen, das mein ehemals bester Freund auf dem körnigen Schwarz-Weiß-Foto zur Schau trägt, ist unerträglich. Mechanisch balle ich meine rechte Hand zu einer Faust. Wie gern würde ich ihm jetzt dieses Lächeln mit einem gezielten Uppercut aus seinem verlogenen Gesicht prügeln.

Ich starre das Foto an und das Adrenalin pumpt weiter durch meinen Körper. Wie oft habe ich Gregs schiefes Grinsen schon gesehen? Wie viel haben wir schon gemeinsam erlebt, gelacht, durchgestanden und gefeiert? Wie viele Jahre sind Greg und ich seit dem Kindergarten durch dick und dünn gegangen? Jetzt steigt beim Anblick seiner verlogenen Visage nur noch ein galliger Geschmack in mir hoch. Wie kann man sich nur so in einem Menschen täuschen?

»Möchten Sie ein Getränk?«

Ich zwinge mich zu einem freundlichen Lächeln, da das Flugpersonal nichts für meine schlechte Laune kann. »Einen Kaffee, bitte.«

»Eine Cola wäre sehr nett.« Meine Sitznachbarin nimmt die kleine Getränkedose entgegen, öffnet sie sofort unter lautem Zischen, und das klebrige Erfrischungsgetränk schäumt über den gesamten Klapptisch vor ihr und durchweicht die Seite meiner Zeitung. Echt jetzt?

 

Beim steilen Landeanflug der Boing 737 zwinge ich meinen Blick auf die Tetonkette, jene majestätischen Berge, denen dieser Nationalpark seinen Namen verdankt. Die Abendsonne lässt die schroff gezackten Berggipfel rosa und golden glühen, ein Anblick, der endlich das Gewicht, das schmerzhaft auf mein Herz drückt, ein bisschen leichter werden lässt.

Überstürzt habe ich diese Trekkingreise gebucht, die mich von hier bis nach Las Vegas führen wird. 680 Meilen Zeit um meine Gedanken zu ordnen und zu überlegen, wie es für mich nun weitergehen kann. Ohne weiteren Kontakt zu anderen Menschen, werde ich ans Limit gehen und Ordnung in mein Gedankenwirrwarr bringen.

Sobald das Flugzeug seine Parkposition erreicht hat, stehe ich auf und reiche meiner Sitznachbarin ungefragt ihren Rucksack, bevor sie noch jemanden mit diesem sperrigen Ding nervt.

Am Flughafen Jackson geht es beschaulich zu. Keine Hektik, keine Menschenmassen und einfach nur Ruhe. Ich nehme meinen Koffer vom Gepäckband und steuere den Ausgang an.

Die große Glastür schließt sich hinter mir und nach dem Flug ist die kühle, klare Luft eine echte Wohltat. Mit geschlossenen Augen halte ich kurz inne und mein Herzschlag wird langsamer, beruhigt sich zum ersten Mal seit Tagen.

Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche und starre es an. Muss ich es jetzt wirklich einschalten? Ich habe keine Lust auf die Nachrichten, die zwischen Vorwürfen und Rechtfertigungen schwanken. Am liebsten würde ich mein Smartphone ignorieren und abtauchen, doch das ist in meiner Position einfach nicht möglich. Mein Finger verharrt kurz, doch dann überwinde ich mich.

Piepend trudeln auch schon die ersten Nachrichten ein. Zwei sind von meiner Assistentin Molly, die mich dringend um einen Rückruf bittet und allein vier Nachrichten kommen von Trish. Am liebsten würde ich sie blockieren, aber ich bin kein Teenager und weiß, dass man ein Problem nicht löst, indem man es ignoriert. Doch ich kann nicht mir ihr sprechen, dazu ist meine Wut zu groß.

Wie konnten Greg und sie mir das nur antun?

Ich schüttle den Kopf und schaue mich um. Irgendwie muss ich schließlich in das Ortszentrum von Jackson gelangen. Die kleine Bushaltestelle wirkt verlassen und ein kurzer Blick auf den Fahrplan genügt, um zu wissen, dass die einzige Möglichkeit noch zu meinem Motel zu kommen darin besteht, mir einen Uber zu rufen. Schnell öffne ich die App und organisiere mir eine Fahrt. In der einsetzenden Dunkelheit warte ich draußen darauf, dass ich abgeholt werde.

»Entschuldigung«, unterbricht eine müde Stimme, die mir vage bekannt vorkommt, meine Gedanken, und ich fahre herum.

Schon wieder diese Frau. Ein paar Strähnen ihrer langen schwarzen Haare kleben ihr an der Stirn und in ihren Augen spiegelt sich echte Besorgnis wider. »Wissen Sie, ob man von hier noch irgendwie nach Jackson kommt? Laut Busfahrplan fährt heute kein Linienbus mehr.« Wie um ihre Aussage zu unterstreichen, hält sie einen zerknitterten Busfahrplan in ihrer Hand hoch.

Was soll die Frage? Wenn keine Busverbindung angezeigt wird, dann wird es da wohl auch keine geben. Bleib höflich, ermahne ich mich.

»Nein, heute geht hier gar nichts mehr, aber ich habe mir gerade ein Taxi gerufen.« Sollte ich ihr jetzt anbieten, bei mir mitzufahren? Sie hat mich im Flugzeug schon genug genervt. Doch sie wirkt so abgekämpft, dass meine gute Erziehung siegt. »Wenn Sie möchten, können Sie gerne mitfahren.« Meine Stimme klingt nicht besonders freundlich und ich versuche, das mit einem schmalen Lächeln abzumildern. Zwar habe ich keine Lust auf Smalltalk, doch dafür kann sie ja nichts.

»Vielen Dank, das wäre sehr nett.« Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Dann ist das Taxi auch nicht so teuer.«

Darüber habe ich mir zwar keine Sekunde Gedanken gemacht, aber ich nicke mechanisch.

Unschlüssig nestelt sie an ihrem olivgrünen Parka.

Obwohl mir wirklich nicht nach einer Unterhaltung ist, zwinge ich mich dazu, nicht unhöflich zu sein. »Machen Sie Urlaub hier?« Ich nicke in Richtung ihres Trekkingrucksacks, den sie neben sich abgestellt hat.

»Ja, irgendwie schon. Und irgendwie auch nicht. Also nicht hier in Jackson. Das hier ist nur der Startpunkt.« Mit einem schmalen Lächeln blickt sie zu mir auf. »Was ich sagen will, ist, dass ich hier anfange zu wandern und um ehrlich zu sein, habe ich so was noch nie gemacht. Doch irgendwie wird es schon werden. Der Anfang ist schon mal super. Mein Gepäck ist nämlich nicht angekommen.« Ihre Stimme, ihre Mimik, ihre Gestik, einfach alles zeigt, dass sie sich gerade unwohl fühlt.

»Das ist natürlich unerfreulich. Sind Sie allein unterwegs?«

Sie nickt und zuckt mit den Schultern. »Ja, nur ich, ein paar GPS-Daten und einige Wanderkarten. Mal sehen, wie das funktionieren soll. Ich bin übrigens Emmi.«

»Sawyer.«

In diesem Moment fährt schwungvoll der bestellte Uber vor. Schweigend sitzen wir wenige Minuten später nebeneinander und ich vertiefe mich in meine Emails. Obwohl ich erst wenige Stunden weg bin, scheint schon alles drunter und drüber zu gehen. Meine Finger fliegen über den Touchscreen, um die dringlichsten Fragen abzuarbeiten und im Geist erstelle ich mir eine Liste, wen ich nach dem Einchecken im Hotel noch anrufen muss.

Emmis Stimme durchbricht in einer Sprache, die ich nicht verstehe, die Stille. Zum ersten Mal schaue ich von meinem Smartphone auf und blicke zu ihr. Fasziniert drückt sie ihre Stirn ans Fenster und bewundert mit großen Augen die Landschaft um uns herum.

»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

»Oh, ich habe wohl einfach nur so vor mich hingeredet. Ich meinte, dass die Berge einfach wunderschön sind.« Dabei schenkt sie mir ein zaghaftes Lächeln.

Unten im Tal ist es bereits dunkel, aber die letzten Strahlen der Abendsonne lassen die Gipfel um uns herum in satten Violett- und Rosétönen erstrahlen. Die Hänge sind dicht bewaldet. Ihr rauer Charakter wird durch die letzten Sonnenstrahlen in ein weiches rötliches Licht getaucht und so erscheinen sie beinahe einladend.

In mir regt sich fast schon Schuldbewusstsein darüber, dass ich meiner Umwelt bis dato keine Beachtung geschenkt habe und ich lasse mein Smartphone sinken. Schließlich will ich das, was geschehen ist, verarbeiten und überlegen, wie es weitergehen soll. Doch wie soll das gehen, wenn ich schon beim oberflächlichen Überfliegen meiner Emails schwitze und tausend Möglichkeiten abwäge, was jetzt im Büro alles schieflaufen könnte? Das ist natürlich völliger Quatsch, denn die Meetings können auch ohne mich stattfinden. Nehmen wir uns nicht alle viel zu wichtig und sind davon überzeugt, dass die Erde stillsteht, nur weil wir einmal ein paar Tage nicht verfügbar sind?

»Das stimmt, es ist beeindruckend.« Ich bin ein nüchterner Mensch und trotzdem zieht mich das Bergpanorama unweigerlich in seinen Bann. Wann habe ich das letzte Mal einfach aus dem Fenster geschaut und die Natur bewundert? Ich kann mich jedenfalls nicht mehr daran erinnern. »Ich freue mich schon auf die erste Etappe meiner Tour morgen.«

»Wohin geht die denn?« Ihre Augen funkeln neugierig.

»Ich werde morgen entlang der Tetons zum String und Leigh Lake wandern. Im Anschluss daran geht es dann in den Yellowstone-Nationalpark.«

Emmi zieht überrascht eine Augenbraue nach oben. »Das ist ja witzig. Ich gehe morgen exakt die gleiche Strecke.« Sie kramt in ihrem Rucksack und fischt ein Faltblatt heraus. »Hier. ›Die schönsten Nationalparks zu Fuß erleben‹, heißt meine Tour.«

Auch das noch. Obwohl ich die Beschreibungen in einer fremden Sprache nicht verstehe, erkenne ich doch auf den ersten Blick das mir bekannte Logo von Sunshine Trekking und dass die Tour der Deutschen genau wie meine durch die Nationalparks bis nach Las Vegas führt.

»Und ich dachte schon, ich bin die einzige Verrückte, die auf eine solche Idee kommt.« Sie schüttelt verwundert den Kopf.

Mit zusammengekniffenen Augen starre ich auf den Flyer. Ich räuspere mich und versuche mich an einem verhaltenen Lächeln. »Das ist ja tatsächlich ein irrer Zufall.« Ich schaue auf die Liste ihrer Unterkünfte. »Wir haben sogar den gleichen Veranstalter und übernachten in denselben Hotels.« Ich hatte die Reise eigentlich gebucht, um für mich zu sein, meine Gedanken sortieren zu können und nicht, um gezwungenen Smalltalk zu führen. Shit, ich will dieser Nervensäge jetzt nicht bis zum Schluss immer wieder über den Weg laufen.

So schwer es mir fällt, zwinge ich mich, nicht allzu ruppig zu klingen. »Na, dann werden wir uns ja oft über den Weg laufen. Zumindest auf den Etappen, die wir im Bus zurücklegen müssen.« Das interessante Konzept dieser Reise ist, dass zwar die Hotels, der Gepäcktransfer und ein Shuttlebus zu den unterschiedlichen Startpunkten enthalten sind, aber man die Tour nur mit Hilfe von Wanderkarten und GPS-Daten allein läuft und nicht in einer Gruppe.

»Aber nur, wenn ich es tatsächlich schaffe, mich nicht zu verlaufen oder von einem Bären gefressen zu werden. Die soll es hier nämlich geben.« So wie sie die Stirn runzelt und die Augenbrauen zusammenzieht ist diese Bemerkung wohl kein Scherz.

»Ja, die gibt es hier wirklich.« Wovor fürchtet sie sich denn bitte nicht? Warum macht sie eine solche Tour, wenn sie sich schon jetzt ausmalt, was ihr alles Schreckliches zustoßen könnte? Außerdem hat sie in ihrem schweren Weggepäck bestimmt alles zur Bärenabwehr, was ein Outdoorladen zu bieten hat. »Woher kommen Sie?«

»Aus Süddeutschland. Bei uns gibt es zwar auch Berge, aber keine Bären.«

In diesem Moment bremst unser Uber scharf ab. Wir haben unser erstes Ziel erreicht. Mehrere kleine Blockhütten mit jeweils einer winzigen Holzveranda sind zwischen hohen Kiefern verteilt. Der kiesgesäumte Parkplatz ist gut gefüllt, und hinter den meisten Fenstern dringt warmes Licht in die Dunkelheit. Über einer Blockhütte prangt in fetten Lettern das Wort »Rezeption«.

Mit großen Schritten steuere ich auf diese zu und drücke die schwere knarrende Holztür auf, während Emmi mit ihrem Rucksack hinter mir herkommt.

Der Innenraum ist mit dunklem Holz verkleidet und ein gewaltiges Elchgeweih prangt an der Wand. In der Luft hängt ein unangenehmer Geruch nach Mottenkugeln, der mich sofort an den Kleiderschrank meiner Großeltern erinnert. Eine alte abgewetzte Ledercouch steht an der Wand, alles wirkt irgendwie abgewohnt.

Ich schlage auf die kleine Glocke am Empfangstresen und ein Typ in enger Jeans und Holzfällerhemd kommt aus einem Nebenraum geschlurft. »Howdy Dude.«

Ich unterdrücke ein Auflachen. Geht es auch ein bisschen weniger klischeehaft? Inzwischen steht auch Emmi neben mir.

Desinteressiert nimmt der Möchtegern-Cowboy unsere Daten auf und tippt sie in seinen vergilbten PC. Dann angelt er zwei Schlüssel vom Brett dahinter und händigt uns diese aus.

Erleichterung macht sich in mir breit, endlich in mein Zimmer zu kommen und den Stress der letzten Tage abzustreifen. Da ich nicht unfreundlich sein möchte, verabschiede ich mich noch kurz von Emmi mit einem lapidaren »Gute Nacht.«

Emmi bläst sich eine Haarsträhne aus den Augen und blickt mich an. »Danke, Sawyer. Man sieht sich.«

Kurz orientiert sie sich, um dann eine Hütte in der entgegengesetzten Richtung anzusteuern. Unwillkürlich frage ich mich, warum sich eine so unsichere Person auf eine solche Reise begibt? Da liegen doch Tausende Meilen hinter ihr. Mir kann es egal sein.

Schnell suche ich meine Blockhütte und sperre die verschlissene Holztür auf. Die Unterkunft ist einfach ausgestattet mit einem Bett, auf dem eine speckige karierte Tagesdecke liegt, einem kleinen Tischchen mit einem Stuhl und einem winzigen Bad.

Schnell hole ich meinen Laptop und mein Handy, logge mich in das WLAN des Hotels ein und will mich gerade konzentriert meinen Tasks widmen, als meine Gedanken durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen werden. Nur widerwillig stehe ich auf und öffne meine Zimmertür.

»Sawyer, es tut mir wirklich leid, dass ich dich stören muss, aber hast du zufällig ein iPhone und wenn ja, könntest du mir ein Ladekabel leihen?«, murmelt Emmi, während sie ihren Blick immer wieder von mir ab und auf ihre Schuhspitzen wendet. »Da mein Flug aus Deutschland Verspätung hatte, ist mein Gepäck ja irgendwo gestrandet und leider ist darin mein Ladekabel.« Sie verdreht die Augen und hebt endschuldigend die Hände. »Ich hatte noch genug Akku, um die Hotline der Fluggesellschaft zu erreichen, damit die mir mein Gepäck zum nächsten Hotel nachsenden, doch jetzt ist er komplett leer.«

Ist das mein Problem, oder was? Ich verleihe doch nicht einfach mein Ladekabel, dafür ist mein Handy mir wirklich zu wichtig. Langsam wird die Stille unangenehm und ich muss ihr eine Antwort geben. Am liebsten würde ich sie mit einer Ausrede wegschicken, doch schon wieder siegt meine gute Erziehung. Mit einem kurzen Blick auf den Stand meines Akkus versichere ich mich, dass mein Handy noch genug Power hat, schnappe das Ladekabel und reiche es ihr. »Hier bitte. Aber gib es mir morgen gleich zurück, wenn wir nach der Tour zu unserem nächsten Stopp gebracht werden.«

Sie lächelt mich an. »Klar, vielen Dank.«

Ich widme mich wieder meinen Aufgaben, bis ich nach unzähligen Mails auf die Uhr blicke. Ein Uhr. Entschlossen klappe ich meinen Laptop zu.

 

Das Letzte, was ich zurzeit gebrauchen kann, ist, vielen Menschen zu begegnen. Um die Einsamkeit und Ruhe der Natur auskosten zu können, will ich früh los. Obwohl ich so lange wach war, schnappe ich mir um sieben Uhr meinen Rucksack und hinterlege meinen Koffer an der Rezeption. Die kühle Morgenluft umfängt mich und Nebel steigt aus den dichten Wäldern rund um die Hütten empor. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu, um nicht zu frieren. Nach einem kurzen Blick auf die Wanderkarte schlage ich den Weg rechts ein und laufe auf einem kleinen, geschlängelten Pfad meinem ersten Ziel, dem String Lake, entgegen. Außer mir ist kein Mensch unterwegs. Ich überquere eine Wiese und das taunasse Gras durchnässt den Saum meiner Trekkinghose.

Trotz der Ruhe um mich herum, schweifen meine Gedanken immer wieder ab. In diesem Moment wird mir bewusst, dass mein Handy schon seit Längerem nicht mehr vibriert hat. Ich krame danach in meiner Jackentasche. Doch sobald ich es entsperrt habe, ist offensichtlich, dass die Ruhe nicht daran liegt, dass niemand mich erreichen möchte, sondern daran, dass es hier keinen Empfang hat. Ungläubig halte ich es an meinem ausgetreckten Arm in verschiedene Richtungen, doch es tut sich einfach nichts.

Es ist eine Sache, ein paar Tage zu verschwinden, aber eine andere, überhaupt nicht erreichbar zu sein. Gestresst kicke ich einen kleinen Stein über den schmalen Pfad und lasse danach meinen Blick über die Gebirgskette rund um mich schweifen. Ich zwinge mich kurz dazu stehenzubleiben und tief durchzuatmen.

Die Luft ist erfüllt von Gerüchen, die ich noch nie so intensiv wahrgenommen habe. Der harzige Duft der Kiefern vermischt sich mit etwas Erdigem. Die schneebedeckten Kuppen der Berggipfel glitzern in der Morgensonne und eine Ruhe, die ich noch nie in meinem Leben gespürt habe, umfängt mich. Ist das hier nicht der Grund, weshalb ich hergekommen bin? Schließlich habe ich genau das gesucht. Tief atme ich ein, um all diese Düfte in mich aufzunehmen und mit dieser Landschaft eins zu werden.

Doch so sehr ich mich zwinge, nur das Hier und Jetzt wahrzunehmen, steigen unweigerlich die Bilder der letzten Wochen in mir auf. Wie hart Greg und ich gearbeitet hatten. Wir waren geradezu besessen von unserer Idee. Mit dieser Entwicklung wollte ich meinem Vater beweisen, dass ich den richtigen Riecher habe. Und hätte Greg mich nicht über den Tisch gezogen, dann würde mein Vater das auch erkennen, denn dann hätten wir jetzt den größten Auftrag in unserer Firmengeschichte eingefahren. Durch unsere Entwicklung hätten wir endlich ein grünes Image, wie es von der kalifornischen Regierung seit Neuestem gefordert wird, um sich für öffentliche Aufträge zu bewerben. Doch diese Vision ist zerplatzt wie eine Seifenblase.

Meine Kehle zieht sich zusammen und das Atmen fällt mir schwer. Ich balle meine Fäuste und erneut breitet sich ein dumpfes Ziehen in meiner Brust aus. Mit festen Schritten gehe ich schwer schnaufend weiter und wische mir den Schweiß von der Stirn.

Am flachen Strand des String Lakes lasse ich mich in das Kiesbett fallen, vor mir die Kulisse des tiefblau glitzernden Sees, eingerahmt von schroffen Bergen. Das Bild der Spiegelung der Felsformation im Wasser ist so faszinierend, dass ich meine Augen kaum abwenden kann. Das Farbenspiel zieht mich in seinen Bann und für einen kurzen Moment kann ich zum ersten Mal alles ausblenden.

Da ich früh los bin, habe ich noch keinen anderen Wanderer getroffen und die Stille, die nur von Vogelgezwitscher unterbrochen wird, legt sich wie ein Verband über die offene Wunde meines Herzens.

Ein paar zitronengelbe Schmetterlinge flattern über die Wildblumen, die sich entlang des Sees in den Wiesen ausgebreitet haben. Wann habe ich das letzte Mal in der Stadt einen Schmetterling gesehen? In der Ferne ertönt das Hämmern eines Buntspechts, ein kleines Rotkehlchen hüpft federleicht über die Kieselsteine am Strand und das Wasser des Sees schwappt in kleinen Wellen ans Ufer. Neben mir hängt eine dicke Hummel an einer violetten Blüte, die sich durch das Gewicht des Insekts nach unten biegt.

Ich strecke die Beine aus und spüre, wie mein Puls sich endlich verlangsamt und sich eine ungewohnte Ruhe in mir ausbreitet. Trotz des frischen Windes um mich herum, wärmt die Frühlingssonne mich und ich schließe die Augen, um sie über mein Gesicht tanzen zu lassen. Dadurch, dass ich früh los bin, habe ich genug Zeit, diese Stille zu genießen.

Vor mir liegt noch eine weite Strecke, deshalb fülle ich meine Trinkflasche im kalten, kristallklaren See auf und lasse das erfrischende Nass gierig meine trockene Kehle hinunterrinnen, um dann meinen Weg mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten auf einem schmalen, steilen Pfad in Richtung Leigh Lake fortzusetzen. Vor mir stürzt ein Wasserfall laut tosend von einem schroffen Berghang in den See. Eine Beschilderung des Wanderwegs suche ich hier vergeblich, lediglich ein leichter orangener Fleck an einer Felswand zeigt mir, dass ich noch richtig bin. Mein T-Shirt klebt an mir, während ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen setze und mich so langsam vorwärtstaste.

Der Weg ist nur noch ein schmaler Geröllpfad, der auf der einen Seite durch eine schroffe Felswand und auf der anderen durch einen steilen Hang mit Zedern, Hemlock- und Weißtannen begrenzt wird. Kurz werden meine Knie weich, als ich mich an ein paar Felsen hochziehe, hinter mir lediglich der steile Abhang. Konzentriert suche ich Halt, bevor ich den nächsten Schritt wage und vermeide tunlichst, mich umzudrehen, um nicht abzurutschen. Definitiv hätte ich ein paar Trainingswanderungen absolvieren sollen, denn diese hat es echt in sich, zum Glück bin ich relativ fit.

Mit verschwitzten Händen klammere ich mich an ein altes Stahlseil, das an der Bergwand befestigt ist. An diesem klettere ich zwischen zwei großen Felsblöcken hindurch, danach knickt der Pfad steil ab und schlängelt sich am Bergkamm dem Gipfel entgegen.

Nach Luft ringend erreiche ich das Hochplateau und werde mit einem spektakulären Blick auf den tiefgrün glitzernden Leigh Lake belohnt, der von schroffen Bergen umfasst tief unter mir liegt. Meine Beine schmerzen, ich lasse mich erschöpft auf einen flachen Stein sinken, inhaliere gierig die kalte Luft und nehme einen großen Schluck aus meiner Wasserflasche.

Ich mustere den Weg, der abwärts führt und schlucke. Hoffentlich habe ich mich da mal nicht übernommen! Doch wie hat mein Vater mir von klein auf eingebläut: »Aufgeben ist niemals eine Option.« Wäre ja auch ziemlich blöd, hier in der absoluten Abgeschiedenheit einfach sitzen zu bleiben. Ich rapple mich auf und schultere erneut meinen Rucksack.

Weiter geht es über eine schmale, unter meinem Gewicht knarzenden Holzbrücke, die über eine tiefe Felsspalte führt. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und konzentriere mich darauf, nur nach vorne und nicht nach unten zu schauen. Zwar leide ich nicht unter Höhenangst, doch diese Holzkonstruktion sieht alles andere als vertrauenswürdig aus.

Erleichtert atme ich aus, als der Pfad endlich wieder abwärts ins Tal führt. Er ist immer noch nicht breiter, doch er fällt nicht mehr so schroff ab. Nach einer Wegbiegung stehe ich an einem Aussichtspunkt. Fasziniert halte ich inne, denn ich kann meinen Blick einfach nicht abwenden, so tiefblau liegt der Leigh Lake unter mir, umfasst von sattgrünen Wäldern, die von den schroffen Felsen der Gebirgswände umsäumt werden. Ächzend nehme ich meinen Rucksack ab und ziehe die Trinkflasche heraus. Der kleine Schluck, der noch darin ist, reicht nicht aus, um meinen Durst zu stillen. Seit dem String Lake habe ich keine Möglichkeit gehabt sie aufzufüllen – außer am Wasserfall, doch dort, auf diesem schmalen Pfad an dem steilen Berghang, habe ich mich das einfach nicht getraut.

Die Wanderung heute ist mit rund 9 Meilen nicht einmal die längste dieser Tour. Mein Magen zieht sich leicht zusammen. Wie konnte ich so naiv sein, ohne Vorbereitung in ein solches Abenteuer aufzubrechen?

Überrascht stelle ich beim kurzen Blick auf meine Uhr fest, dass ich trotz meiner Kondition immer noch gut in der Zeit liege. Es ist nicht einmal Mittag, die Hälfte der Tour ist geschafft und es bleibt noch bequem Zeit den Rest der Strecke zu bewältigen, bis es mit dem Bus weiter zum nächsten Punkt meiner Reise geht. Alles perfekt durchorganisiert und doch kein großartiger Kontakt zu Menschen, genau das, was ich gerade brauche.

Unten am See lasse ich mich erschöpft ins Gras fallen, während die warmen Sonnenstrahlen meine Nase kitzeln. Mein Blick schweift über das glitzernde Wasser, in dem sich die verschneiten Bergkuppen spiegeln. Wieder steigen die Bilder und Gefühle der letzten Tage in mir hoch. Trish, die mir bockig versichert, nichts falsch gemacht zu haben. Meine Enttäuschung, Wut und Verzweiflung darüber, dass mich zwei der wichtigsten Menschen in meinem Leben so hintergangen haben. Diese verdammte Party. Schnell drücke ich meine Gefühle und die Bilder zurück unter die Oberfläche. Denn diese Gedanken fachen nur das Feuer erneut an. Ich stehe auf, schöpfe Wasser aus dem kühlen See und wasche den Schweiß aus meinem Gesicht.

Erneut fülle ich meine Wasserflasche und mache mich mit schweren Beinen auf den Weg zum Parkplatz des Motels, an dem mich um vier Uhr ein Shuttle zu meinem nächsten Ausgangspunkt im Yellowstone-Nationalpark bringen soll.

Trotz des Ziehens in meinen Waden bin ich über eine Stunde früher als erwartet an der Rezeption des Motels, von dem aus ich heute Morgen gestartet bin. Völlig verschwitzt lasse ich mich auf die Holzbank fallen, jeder Muskel meines Körpers brennt und zieht. Wenn der Kaffeeautomat nicht so weit weg wäre, würde ich mir jetzt einen Kaffee gönnen, bevor ich meine Mails checke. Sobald ich mich mit dem WLAN der Hotelrezeption verbunden habe, hört mein Handy gar nicht mehr auf zu vibrieren. Neben meiner Assistentin, die mehrfach versucht hat, mich zu erreichen, sind wieder einige Anrufe von Trish und meinem Vater auf der Mailbox eingegangen. Er teilt mir mit harschen Worten mit, dass er meinen sofortigen Rückruf erwartet. Die scharfen Worte seiner Nachricht hallen mir in den Ohren. Doch ich will ihm nichts erklären, dafür fehlt mir momentan die Energie. Außerdem hat er sowieso kein Verständnis für meine Entscheidung, denn das hatte er noch nie.

Ein paar Mails beantworte ich gleich, einige verschiebe ich in andere Ordner und so ist die Abfahrtszeit schnell gekommen. Komisch, müsste diese Frau aus Deutschland nicht schon längst hier sein?

Noch während ich diesem Gedanken nachhänge, fährt knirschend ein zerbeulter dunkelblauer Kleinbus auf den Kiesparkplatz und bleibt vor der Rezeption stehen. Ein älterer Mann mit wirren weißen Haaren und einem Cowboyhut steigt aus.

»Sind Sie einer von den Sunshine Trekking Wanderern? Wir müssen los, noch andere Wanderer einsammeln.«

Eilig lädt er meinen Koffer ein, den der Portier neben der Eingangstür zur Rezeption abgestellt hat, und will schon weiterdüsen, als ich protestiere. »Moment mal, wir müssen noch kurz warten. Gestern ist hier noch eine junge Frau angekommen, die ebenfalls diese Tour macht.«

»Fürs Warten werde ich nicht bezahlt.«

»Das verstehe ich vollkommen, aber wir können sie schließlich nicht einfach zurücklassen.« Zwar bin ich ebenfalls genervt von Emmi, doch sie einfach im Nirgendwo stehen zu lassen, ist definitiv nicht in Ordnung.

Mit jeden weiteren fünf Minuten, die vergehen, schaut der Busfahrer genervter auf seine Uhr und auch der zweite Kaffee, den ich ihm ausgebe, beruhigt ihn jetzt nicht mehr. Ein Pärchen, das schon auf der Rückbank sitzt, beschwert sich auch ungehalten darüber, hier festzusitzen. Mittlerweile ist Emmi fast dreißig Minuten zu spät.

Der Fahrer wirft seinen Pappkaffeebecher in einen Mülleimer, kratzt sich kurz am Kopf und schwingt sich hinter sein Lenkrad. »Wir fahren. Unmöglich, einfach nicht aufzutauchen.«

In diesem Moment fällt mir ein, dass Emmi ja noch mein Ladekabel hat, und das brauche ich natürlich dringend, denn ohne bin ich komplett aufgeschmissen. »Sie haben völlig recht. Aber können wir nicht noch kurz warten? Sie hat sich gestern mein Ladekabel geliehen und das brauche ich unbedingt zurück.«

»Mir doch egal. Ladekabel bekommt man in jedem Laden, Zeit nicht«, knurrt der Fahrer.

»Sie muss zum nächsten Hotel kommen, denn sie hat nicht einmal einen Koffer. Den hat die Fluggesellschaft verbummelt und liefert ihn nach. Kommen sie schon.«

Der ältere Herr knurrt und fährt sich durch seinen Bart. Das Pärchen auf der Rücksitzbank scheint da schon zugänglicher zu sein, denn die junge Frau erklärt: »Wir können ja auch nicht einfach jemanden ohne alles im Nirgendwo stranden lassen. Geben wir ihr doch wenigstens noch zehn Minuten?« Ihr Begleiter schaut sie ungläubig von der Seite an und sie drückt beruhigend seine Hand. »Wir sind ja schließlich im Urlaub und nicht auf der Flucht.«

Zwar hat sie schon recht, trotzdem hasse ich nichts mehr als verpeilte Menschen. Wie kann man nur so unpünktlich sein? Was denkt Emmi sich dabei, hier alle warten zu lassen?

Während ich noch überlege, wie ich herausfinden kann, wo mein Ladekabel abgeblieben ist, tritt der Motelmitarbeiter vor die Tür, schaut sich fragend um und kommt dann zielstrebig auf unser Auto zu. »Warten Sie zufällig noch auf eine Mitfahrerin? Sie hat gerade bei mir angerufen. Die war völlig aufgelöst, denn sie hat sich verlaufen. Sie ist jetzt am Lakeside Campingplatz.« Er schüttelt seinen Kopf. »Der ist ungefähr 3 Meilen nördlich von hier. Wenn Sie der Straße hier folgen, ist er in circa 2 Meilen links ausgeschildert.«

Unser Fahrer gibt ein verächtliches Schnauben von sich.

Ich kann ihn verstehen. Schließlich hatten wir zur Orientierung sowohl Wanderkarten als auch GPS-Daten. Wie unfähig ist diese Frau, sich da zu verlaufen?

»Na, das soll sie aber mal schön den anderen Gästen erklären, die seit einer Dreiviertelstunde an den übrigen Stationen warten«, faucht unser Fahrer, während er das Fenster schließt, den Gang einlegt und vom Parkplatz rauscht.

Nur wenige Minuten später biegt der Bus holpernd auf eine nicht geteerte Straße ab, die zum Campingplatz führt.

Emmi steht mit hochrotem Kopf am Straßenrand und setzt sich völlig durchgeschwitzt auf die Rücksitzbank unseres Transporters. »Es tut mir so schrecklich leid! Ich wollte wirklich niemandem Umstände machen!« Sie scheint den Tränen nahe zu sein.

In mir regt sich fast schon ein Funke Mitgefühl. Eine Gefühlsregung, die unser Fahrer offensichtlich nicht teilt, denn der funkelt sie aus zusammengekniffen Augen durch den Rückspiegel an.

»Irgendwie muss ich am String Lake falsch abgebogen sein. Leider hab ich wohl nicht richtig auf die GPS-Daten geschaut. Aber an die Karte habe ich mich wirklich streng gehalten.«

»Das kann ja aber nicht stimmen, Mädchen«, knurrt er. »Der Kollege hier hat es ja auch geschafft.«

Emmi sieht aus, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken und das zu Recht. Anstatt stundenlang in der Gegend umherzuirren, hätte sie halt einfach besser aufpassen müssen. Wenigstens habe ich mein Ladekabel zurück.

»Das kann schon mal vorkommen«, unterbricht die junge Frau auf der Rückbank den Fahrer. »Jetzt ist sie ja da.«

Der Fahrer senkt den Blick, brummt nur noch ein paar unverständliche Worte und ich widme mich wieder meinen Emails.

3

Emmi

Jackson, Wyoming

 

Ich wusste es von Anfang an: Diese Reise war keine gute Idee. Mein Orientierungssinn ist grottenschlecht und an jedem Stopp, an dem wir noch weitere Wanderer einsammeln, die mürrisch auf die Verspätung hinweisen, muss ich gegen die Tränen ankämpfen.

Am liebsten hätte ich jetzt ein Loch, in das ich mich verkriechen könnte. Unsichtbar zu sein wäre jedenfalls eine tolle Option. Verlegen senke ich meinen Blick und verstaue die zerknitterte, von meinen schwitzigen Händen durchweichte Wanderkarte in meinem Rucksack.

Verstohlen wische ich meine Hände an meiner Jeans ab. Obwohl mein Kopf voller Bilder aus meiner Vergangenheit ist, mustere ich Sawyer verstohlen von der Seite. Ich könnte verstehen, wenn ich ihm auf die Nerven gehen würde. Mittlerweile hat er wohl unzählige Gründe, mich für chaotisch und desorientiert zu halten. Angefangen damit, dass ich ihn im Flugzeug erst mit seinem Handgepäck beworfen habe, um gleich danach mein Getränk auf seine Zeitung zu kippen und ihn als Krönung noch um sein Ladekabel zu bitten. Oh Shit, genau das muss ich ihm unbedingt noch zurückgeben. Wahrscheinlich hat er nur deshalb den Fahrer davon abgehalten, mich einfach stehen zu lassen.

Sawyer ist vom Typ her gar nicht so, wie ich mir jemanden vorstelle, der auf eine mehrtägige Trekkingreise geht, so verbissen wie er permanent auf sein Handy starrt. Er wirkt wie aus einem Outdoorherrenmodemagazin gefallen, und zwar keinem billigen. Objektiv betrachtet sieht er wahnsinnig gut aus und überragt mich um mindestens zwei Köpfe. Daneben fühle ich mich mit meinen 1,60 fast wie ein Zwerg. Seine kurzen lockigen schwarzen Haare und sein kantiges Kinn verleihen ihm eine kühle, unnahbare Aura, die durch seine grüngrauen Augen und seine distanzierte Art noch unterstrichen wird. Der ganze Mann strahlt sogar in seinem Trekkingoutfit noch Macht, Geld und Wohlstand aus.

Aber: Er kann noch so gut aussehen, trotzdem ist und bleibt er ein arroganter Schnösel. Außerdem habe ich genug mit meinem Gedankenwirrwarr zu kämpfen, dem ich schon seit heute Morgen nicht entfliehen kann. Die ganze Etappe hinweg dachte ich nur an eine Sache, nämlich, dass heute mein Hochzeitstag gewesen wäre. Immer wieder sind mir unzählige kleine Momente mit Jonas durch den Kopf geschossen. Die romantischen Einfälle, die er am Anfang unserer Beziehung gehabt hatte, wie das Winterpicknick im Tiefschnee oder die einzelnen Rosen, die er mir oft einfach so auf mein Nachtkästchen legte. Anfangs gab es unzählige solcher schönen Augenblicke. So viele, dass ich immer dachte, die Schlechten besiegen zu können. Dass unsere Liebe stärker als alles andere sei. Wie naiv ich doch gewesen war.

Irgendwann habe ich mich dann auf einen Baumstamm an den String Lake gesetzt und meiner Trauer einfach Raum gegeben. Zum Glück war ich allein und konnte schluchzend meinen Tränen freien Lauf lassen. Jonas, warum hast du mir das nur angetan?

Nach einer Weile kamen keine Tränen mehr und ich fühlte mich vollkommen leer und ausgebrannt. Wie in Trance bin ich danach gelaufen, ohne wirklich hier zu sein. Es hat sich angefühlt, wie die ersten Tage damals, nachdem er mich verlassen hat. Um ehrlich zu sein, so wie das gesamte letzte Jahr. Ich habe zwar immer mechanisch funktioniert, aber aufgehört zu leben.

Über alledem habe ich dann doch nicht richtig auf die Wegmarkierungen und die GPS-Daten geachtet. Der Jetlag hat sein Übriges dazu beigetragen, dass ich übermüdet die richtige Abzweigung verpasste. Zwar habe ich nach meiner kurzen Pause am See begriffen, dass ich falsch abgebogen bin, doch dann dachte ich, dass ich es wieder hinbiegen kann und einfach einen anderen Weg zurück zu unserem Ausgangspunkt nehme. Den habe ich jedoch nicht gefunden. Was für eine Metapher für den heutigen Tag. Auch vor einem Jahr habe ich nicht erkannt, dass wir beide, Jonas und ich, auf dem falschen Weg waren, oder besser gesagt auf zwei völlig unterschiedlichen Wegen.

Meine Augen brennen von den Tränen, die ich zurückhalten möchte, und verlegen wische ich sie mit meinem Handrücken ab, damit keiner der Anwesenden sieht, wie ich weine. Angespannt starre ich aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft. Wie Feuer brennen die betretenen Blicke des Pärchens neben mir auf meiner Haut und auch Sawyer, der vor mir neben dem Fahrer sitzt, mustert mich durch den Spiegel seiner heruntergeklappten Sonnenblende. Jetzt bloß nicht richtig losheulen. Das ändert nichts und bringt Jonas auch nicht zurück. Außerdem bin ich hier, um ihn endlich loszulassen, verdammt noch mal. Meine Trauer, Wut und Verzweiflung endlich hinter mir zu lassen. All diese Gefühle habe ich heute schon viel zu stark zugelassen und deshalb die Landschaft, den Weg, einfach alles gar nicht richtig wahrgenommen.

Immer mehr Wanderer steigen aus, bis am Schluss nur noch Sawyer und ich übrig sind. Es ist bereits nach acht, als wir mit dem letzten Tageslicht endlich unser Ziel Tower Junction im Yellowstone-Nationalpark erreichen. Der Ort ist umgeben von tiefgrünen Nadelwäldern und hohen Bergen. Die winzige Stadt ist mit ihren Holzhäusern, den überdachten Terrassen und den kleinen Geschäften das perfekte amerikanische Idyll. Unser Hotel, das Mountain Inn, ist ein kleines, altrosa gestrichenes zweistöckiges Holzhaus, dessen überdachte Veranda sich über das gesamte Erdgeschoss erstreckt.

Der Fahrer knallt Sawyers Koffer vor uns auf den Gehsteig und knurrt eine Verabschiedung. Noch während ich in meinem Rucksack nach meinem Geldbeutel krame, um ihm Trinkgeld zu geben, braust er davon. Sawyer betrachtet mich mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck.

»Ich wollte ihm noch Trinkgeld geben.«

»So unfreundlich wie der zu dir war, hat er das gar nicht verdient. Außerdem habe ich ihm schon genug für uns beide gegeben.«

»Was bekommst du dann von mir?«

Er winkt lediglich ab. Siedend heiß fällt mir ein, dass ich auch noch Sawyers Ladekabel habe. »Warte, ich habe noch dein Ladekabel. Danke fürs Leihen. Und nochmals sorry, dass du warten musstest.«

Er nimmt das Kabel, dass ich ihm jetzt entgegenstrecke und erwidert lediglich lapidar: »Danke.«

Damit wendet er sich ab und betritt mit großen Schritten unser Hotel. Ich schnappe meinen Rucksack und erklimme ebenfalls die Stufen zum Eingang. Erleichtert atme ich aus. Neben der Rezeption steht doch tatsächlich endlich mein Koffer. Heute wären ein paar frische Klamotten dann doch eine tolle Sache, zumal ich die Tour in meinen ausgelatschten Turnschuhen bewältigen musste, was ich meiner Freundin Stella niemals verraten darf. Ich kann ihren Vortrag über sicheres Schuhwerk in den Bergen förmlich hören.

Eine herzliche ältere Dame mit grauen Haaren begrüßt uns freundlich und gibt uns noch ein paar Tipps, während ich die nötigen Formulare ausfülle. »Wir haben hier leider keine warme Küche. Aber es gibt ein ganz vorzügliches Diner zwei Häuser weiter. Rose macht euch beiden sicher noch etwas Leckeres.« Sie strahlt uns an und überreicht uns die Zimmerschlüssel.

Da mein Kopf förmlich vor düsteren Erinnerungen zu explodieren droht, schnappe ich mir meinen Koffer und nehme mir noch einen kleinen Übersichtsplan des Städtchens aus dem Halter neben der Rezeption. Kurz überlege ich, ob ich vielleicht Sawyer frage, ob wir zusammen etwas essen gehen, doch er ist völlig in sein Handy vertieft und macht auf mich nicht den Eindruck, als würde er sich gerne mit mir unterhalten. Was solls, auch wenn ich eher ein kommunikativer Mensch bin, der nie gerne allein isst, werde ich das wohl auch noch schaffen.

Mein Zimmer ist in wunderschönen Pastelltönen gehalten, und die bleierne Müdigkeit in meinen Knochen führt dazu, dass ich mich am liebsten sofort auf das amerikanische Kingsize-Bett mit den vielen Kissen werfen und nur noch schlafen möchte. Doch wenn mir jetzt die Augen zufallen, wache ich heute mitten in der Nacht auf, außerdem knurrt mein Magen. Deshalb gehe ich lieber unter die Dusche und genieße das herrlich heiße Wasser, das wie eine leichte Massage meine verspannten Muskeln lockert, trockne mich mit einem weichen cremefarbenen Handtuch ab, angle mir meine bequemste Jeans zusammen mit Jonas‘ altem T-Shirt aus meinem Koffer und schlüpfe hinein. Ich vergrabe meine Nase in dem schon leicht abgewetzten Stoff des ausgewaschenen Nirvana T-Shirts. Obwohl der typische Jonas-Duft natürlich schon längst verflogen ist, bilde ich mir ein, ihn förmlich riechen zu können und die Tränen steigen mir erneut in die Augen. Zumindest fühlt es sich ein bisschen an wie seine Umarmung, wenn ich es trage.

Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, würden wir jetzt in einem wunderschönen Berghof oberhalb von Oberstdorf mit Familie und Freunden unsere Hochzeit feiern. Spektakulärer Blick auf die Alpen inklusive. Wir würden uns verliebt anstrahlen und Jonas würde mich beim Hochzeitstanz in seinen Armen halten. Stattdessen bin ich hier, in der Mitte von Nirgendwo, habe mich verlaufen und keine Ahnung, ob ich diese Farce nicht einfach abbrechen soll.

Wieder beginnen meine Augen zu brennen und diesmal lasse ich es einfach zu. Ich weine so lange, bis irgendwann keine Tränen mehr kommen und ich völlig erschöpft bin.

»Warum hast du mir das angetan?«, flüstere ich in die Stille des Raums, doch das Universum und Jonas schweigen sich beharrlich aus. Warum war ich nicht genug?

Das Einzige, was mich daran hindert, mein Gepäck zu schnappen und zurück nach Hause zu fahren, ist die Tatsache, dass meine Oma mir diesen Trip geschenkt hat. Meine geliebte Oma, die jedes Gewinnspiel ausfüllt, das sie in die Finger bekommt. Wieso musste sie auch bei einem Preisausschreiben von Sportscheck mitmachen und dann gleich den Hauptgewinn abräumen?

Einige ihrer früheren Gewinne stehen bei mir zu Hause. Ein hässliches Erdmännchen aus Plastik, das neben meiner Badewanne in Habachtstellung steht und ein über und über mit Rosen bedrucktes Geschirr, das sie einmal vor Ewigkeiten bei der Bundesgartenschau gewonnen hat und Jonas und mir stolz zum Einzug in unsere gemeinsame Wohnung überreicht hat. Es ist das Hässlichste, was ich je gesehen habe, aber es ist von ihr.

Sie wollte, dass ich mit dieser Reise endlich wieder auf andere Gedanken komme. Und um ihretwegen muss ich das hier durchziehen, so schwierig es auch sein mag. Denn ich weiß selbst, wie viele Sorgen sie und meine Mutter sich das letzte Jahr hindurch wegen mir gemacht haben. Kurz drücke ich meinen Rücken durch. Auch wenn mein Orientierungssinn unterirdisch ist, werde ich mich nicht noch mal blamieren!

Trotzig wische ich die Tränenspuren ab, halte mein Gesicht unter kaltes Wasser und lege nach dem Abtrocknen eine getönte Tagescreme auf. Denn wie sagt Oma immer so schön: »Miese Tage bestreuen wir einfach mit Glitzer und lassen sie funkeln.«.

Komisch, dass sie und meine Mutter noch nicht versucht haben, mich zu erreichen. Sobald ich auf mein Handy sehe, wird mir klar wieso. Ich habe einfach kein Netz. Kaum habe ich mein Handy mit dem WLAN des Hotels verbunden, hört es gar nicht mehr auf, Nachrichten anzuzeigen. Stella, Oma und meine Mutter haben mehrfach versucht, mich über FaceTime und WhatsApp zu erreichen. Kurz rechne ich die Zeitverschiebung durch. In Deutschland ist es jetzt mitten in der Nacht, da kann ich sie unmöglich zurückrufen. Ich öffne WhatsApp und schicke eine Nachricht an Stella und in den Familienchat, dass es mir den Umständen entsprechend gut geht, ich wohlbehalten im Hotel bin und mich später bei allen melden werde.

Ich schnappe meinen Geldbeutel und trete hinaus in die kühle Abendluft, um mich auf den Weg zum Diner zu machen, denn mittlerweile knurrt mein Magen wie verrückt.

Der Geruch von gegrillten Steaks und leise Countrymusik schlagen mir entgegen, sobald ich die altmodische Schwingtür öffne. Ich fühle mich ins Amerika der Fünfzigerjahre versetzt, denn dieses Diner sieht mit seinen roten Tischen und weißen Bänken aus, wie auf einer altmodischen Postkarte. Aus der riesigen verchromten Jukebox, die in der Ecke steht, singt John Denver sein »Leaving on a jet plane« und am liebsten würde ich es ihm gleichtun und von hier verschwinden, denn das alles macht mir Angst und überfordert mich.

Aus unerfindlichen Gründen schweifen meine Gedanken zu Sawyer. Irgendwas scheint bei ihm auch im Argen zu liegen, denn er wirkt weder entspannt noch so, als könne er loslassen. Ständig checkt er sein Handy, dabei bemerkt er gar nicht, wie fest er seine Kiefer dann immer aufeinanderpresst. Er steht ganz offenbar unter starkem Druck. Aber was solls? Ich habe genug eigene Probleme und werde mir sicher nicht über diesen Typ den Kopf zerbrechen.

Nachdem mir ein Jugendlicher einen Tisch in der Ecke zugewiesen hat, blicke ich zu den alten Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand und rutsche unruhig auf dem klebrigen Kunstleder der Bank umher. Ich nehme die eingeschweißte Plastikkarte, die auf dem Tisch steht, damit ich mich daran festhalten kann und konzentriere mich auf die übersichtliche Aufzählung der angebotenen Speisen und Getränke. Es ist also kein Klischee, die Amerikaner stehen wirklich auf Burger, Steaks, Chicken Wings und frittierte Mozzarellasticks.

---ENDE DER LESEPROBE---