The Bad Tuesdays: Blut-Alchemie - Benjamin J. Myers - E-Book

The Bad Tuesdays: Blut-Alchemie E-Book

Benjamin J. Myers

4,8

Beschreibung

Chess gewinnt jetzt manchmal die Kontrolle über die Ereignisse. Auf sich allein gestellt, erprobt sie ihre rätselhafte Kraft im Kampf gegen die Verbogene Symmetrie und deren Helfer. Ihre Brüder werden in einem anderen Universum gefangen gehalten. Aber Box ist entschlossen, sich zu ihr durchzukämpfen. Nur Splinter hat ganz andere Ideen. War er nicht schon am Kanal der ungekrönte König der Kanalratten?

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Benjamin J. Myers

THE BADTUESDAYS:

BLUT-ALCHEMIE

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Für meine Eltern Ted und Sybil

KAPITEL 1

Die Sirenen heulten. Das war das Zeichen: Gleich würde das Gefängnis sich drehen. Box zog die Arme an, denn in wenigen Sekunden würde er durch die Luft fliegen.

«Halt dich fest, Fliegenkopf», warnte Splinter und fädelte seine dünnen Handgelenke durch zwei Gurtschlaufen, die vom Dach der Metallröhre herabhingen.

«Keine Sorge.» Box warf seinem Zwillingsbruder einen düsteren Blick zu, packte dann mit jeder Hand einen Haltegurt und wand seine Unterarme hinein. Er schob seine Füße in die Seilschlaufen, die am Boden befestigt waren. «Alles wegen dir», knurrte er.

Die Röhre war etwa fünf Meter lang, und wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte Box die Decke berühren. An den beiden Enden und in der Mitte war die Röhre mit anderen Röhren verbunden, die so ein riesiges Netzwerk bildeten. Durch die Bullaugen, die die Wände der Röhre wie klaffende Einschusslöcher übersäten, konnte Box den kobaltblauen Himmel sehen, die pfannkuchenflache rotbraune Erde und das gigantische Gitterwerk aus Röhren, die sich in alle Richtungen erstreckten.

Das Gitterwerk war hoch über der Erde an Masten aufgehängt. Mechanische Zangenarme ragten wie tote Zweige nach außen und nach oben, und sie waren es, die die Röhren packten und herumwirbelten, sie von einem Mast zum anderen transportierten und so das Gefängnis jedes Mal, wenn sich das Geheul der Sirenen über der platt getrampelten Erde erhob, neu zusammenfügten.

Box hatte über Flucht nachgedacht, aber ihm war schleierhaft, wie er das bewerkstelligen sollte. Nachdem er und Splinter von den Hundetruppen gefangen genommen worden waren, hatte man sie bis auf die Hosen ausgezogen und sie in einen Metallkäfig gesperrt, der so klein war, dass Box noch zwei Tage, nachdem er wieder herausgelassen worden war, einen steifen Nacken gehabt hatte. Danach waren sie auf einen Planeten gebracht worden, der sich überall und nirgends im Universum befinden konnte. Besser gesagt: in den Universen. Sie hatten keine Ahnung, wo sie waren. Und wie sollten sie aus einem Gefängnis entkommen, das in der Luft hing und ständig seine Form veränderte? Böse funkelte er Splinter an.

Splinter ignorierte ihn und drückte seine knochigen Schultern fest gegen die gebogene Wand. Seine weißen Haare starrten vor Dreck und hingen ihm bis auf die hagere Brust, aus der die Rippen deutlich hervortraten. Er hatte die stockdürren Beine, die in engen schwarzen Hosen steckten, weit gespreizt und drückte die Füße in den Boden. Ihm gegenüber zog Box die Halteriemen zu sich hinab. Seine kräftigen Schultermuskeln wölbten sich vor, und er spannte den Bauch an. Die Gurte knarrten, als er sich mit den Füßen abstemmte, bis sein Körper zwischen Dach und Boden schwebte.

Die Sirenen verstummten und hinterließen einen pfeifenden Nachklang in ihren Ohren. Box biss die Zähne zusammen und machte sich auf das Kommende gefasst. Er hoffte bloß, dass er das jämmerliche Frühstück aus feuchtem Brot nicht erbrechen müsste.

«Genieß die Achterbahnfahrt», flüsterte Splinter. «Und tu mir einen Gefallen: Bitte nicht kotzen.»

«Wenn ich kotzen muss», zischte Box durch die Zähne, «dann sorge ich dafür, dass alles auf dir landet.»

Die Röhre wurde angehoben und fing an, sich zu drehen, anfangs flach wie ein Karussell und dann hoch und runter, wie ein Riesenrad. Box versuchte, die Spannung in Armen und Beinen zu halten, aber vergeblich. Mit dem Rücken wurde er gegen die Wand geschleudert, und dann flog sein Körper mit solcher Wucht nach vorn, dass er glaubte, ihm würde das Rückgrat brechen und die Schultern ausgekugelt werden.

Durch die Bullaugen sah er den Himmel und die Ebene ihre Plätze tauschen, und er sah das unendliche Gewirr aus Röhren kreiseln, während sie von einem Mast zum anderen gereicht wurden. Die miteinander verbundenen Kräne arbeiteten reibungslos und setzten das gigantische Gefängnis neu zusammen.

Mit einem Klageschrei fiel ein Körper aus dem einen Ende einer Röhre, die sich unterhalb von Box senkrecht stellte. Er tanzte in der kühlen Morgenluft und prallte dann auf den platten Erdboden, etwa hundertfünfzig Meter unter ihnen. Bei jedem Umbau fielen Körper hinab. Box grub seine Arme und Füße in die Gurte, bis er den Schmerz kaum noch aushalten konnte.

Mit einem Ruck schob sich die Röhre an ihre neue Position und schloss bündig mit den neuen Nachbarröhren ab. Sie befand sich jetzt näher an dem Turm in der Mitte des Gefängnislabyrinths, dem Turm, von dem die Schreie kamen.

Box rutschte mit den Armen aus den Gurten und sank auf alle viere. «Acht Mal am Tag», stöhnte er. «Das halt ich nicht mehr lange aus.»

«Musst du auch nicht», sagte Splinter, der sich an der Wand entlang nach unten gleiten ließ und die Knie an die Brust zog. «Wir kommen immer näher zum Turm. Das Gefängnis bringt uns dorthin.»

Ein Kreischen ertönte und erstarb dann in der Stille. Box stieß sich ab und kroch zu einem Bullauge. Er spähte hinaus und blinzelte ins grelle Sonnenlicht.

Das Röhrengitter erstreckte sich über dem von der Sonne festgebackenen Boden in alle Richtungen, aber inmitten des Labyrinths stand ein schwarzer Turm. Er war breit und völlig glatt, und die ausgekehlten Wehrgänge waren mit Toren und Fenstern versehen und mit Landeflächen für Flugmaschinen. Das oberste Stockwerk überragte die Masten, und seine gläsernen Wände glitzerten in der Sonne.

Schon als sie noch meilenweit entfernt waren, hatte Box den Turm sehen können, ein einsamer Gipfel in einem Meer aus glänzendem Metall. Er hatte die Fluggeräte beobachtet – winzig wie Punkte –, die langsam vom Horizont zu den Landeflächen krochen und dann wieder wegflogen. Selbst in der Nacht, wenn die Temperatur abstürzte und er und Splinter sich zitternd aneinanderkauerten, um warm zu bleiben, versiegten das Dröhnen des Flugverkehrs und das Blinken der kleinen Lichtpunkte, die durch die Bullaugen zu sehen waren, niemals.

Die Schreie hatten Box und Splinter zum ersten Mal vernommen, nachdem ihre Röhre von den Zangenarmen in den langen Schatten des Turms geschafft worden war. Anfangs hatten sie gedacht, es sei ein scharfer Wind, der schrill durch die Röhren pfiff. Aber je näher sie kamen, desto deutlicher hatten die Schreie die Morgenluft durchschnitten, waren durch die heißen Nachmittage gezogen und hatten auf die eisige Kälte der Nächte eingestochen. Mit sinkender Hoffnung hatten sie erkannt, dass es nicht der Wind war. Dies war ein Geräusch, das nur von einem lebenden Wesen verursacht werden konnte. Oder von einem sterbenden.

Box war aufgefallen, dass die Schreie in regelmäßigen Abständen auftraten. Er hatte nicht darüber nachgedacht, aber irgendwann wies Splinter ihn darauf hin, dass das Geschrei jedes Mal dann anfing, wenn eine neue Röhre an die Seite des Turms angefügt worden war.

Box rollte sich von dem Bullauge weg. «Du bist ein Trottel, Splinter.»

Splinter, dessen schmutziges Gesicht von einem Speer aus Sonnenlicht beleuchtet wurde, der durch eins der Bullaugen fiel, runzelte die Stirn. «Wir mussten von Chess weg, verstehst du das denn nicht?» Er seufzte laut. «Nein, tust du nicht. Du bist einfach zu dämlich. Sie ist gefährlich geworden, Box. Besessen von ihrer angeblichen Macht.»

«Was für ein Haufen Mist! Du bist bloß eifersüchtig. Eifersüchtig, dass sie sich dem Inquisitor entgegenstellte, ganz allein. Eifersüchtig, dass sie anders ist.» Box trat gegen die Metallwand. Es gab ein dumpfes Scheppern, und er fluchte, packte seinen großen Zeh und hopste auf und ab.

Müde schaute Splinter hoch. «Toll, Fliegenkopf. Jetzt hast du bestimmt eine Gehirnerschütterung.»

«Wir hätten bei Chess bleiben müssen.» Box zuckte zusammen. In seinem Zeh pochte es, und er schlug wütend gegen die Wand. «Was immer zwischen ihr und der Verbogenen Symmetrie abläuft, sie ist unsere Schwester, und es ist unsere Aufgabe, auf sie aufzupassen. Egal, was du denkst, egal, was für eine Macht sie haben mag, die Symmetrie wird nicht locker lassen, und wenn sie sie erwischen, ist sie schon so gut wie tot.»

Splinter lächelte. «Unsere kleine Schwester ist ein großes Mädchen. Sie kann auf sich selbst aufpassen. Sie wollte doch immer das Sagen haben: Jetzt hat sie es. Und sie ist doch viel zu besonders, um einfach umgebracht zu werden. Um Chess brauchst du dir keine Sorgen zu machen.»

«Wenn du sie nicht losgelassen hättest, als sie den VOPA betätigte, dann wären wir mit ihr zurückgebracht worden. Wir wären in Sicherheit.»

«In Sicherheit!» Splinter sprang auf und stellte sich, dünn wie ein Streichholz, über Box. «Wieder beim Komitee? Wieder bei dieser verrückten alten Hexe, dieser Ethel? Dann wären wir alles andere als in Sicherheit! Wer schickt uns denn ständig in irgendwelche Todesfallen?»

«In diese Todesfalle hast du uns geschickt!», brüllte Box. Er war vielleicht einen Kopf kleiner als Splinter, aber er war breiter, und Wochen des anstrengenden Kraft- und Kampftrainings und das ständige Festklammern in den Gurten, wenn sich das Gefängnis neu gestaltete, hatten das Fett an seinem Körper in harte Muskeln verwandelt. «Erst vermasselst du unsere Chance, nach Hause zu kommen …»

«Weil es Zeit war, sich davonzumachen!», schrie Splinter. «Ich habe die richtige Entscheidung getroffen, für uns beide.»

«Die richtige Entscheidung?», würgte Box, fassungslos vor Zorn, hervor. «Was war das denn für eine Entscheidung? Hast du dich dafür entschieden, zweimal am Tag durch eine Transportröhre mit Wasser und Brot versorgt zu werden? Hast du dich dafür entschieden, vier Wochen lang in einem Kotzkübel zu leben?»

«Es war eine Entscheidung, die uns Möglichkeiten eröffnet.»

«Möglichkeiten?» Box fuhr sich mit den Fingern in den schwarzen, lockigen Haarschopf. «Was für Möglichkeiten?» Ein verzweifeltes Geheul drang aus dem Turm. «Die Aussicht auf einen entsetzlichen und qualvollen Tod?»

«Nein, Fliegenkopf. Die Möglichkeit, Macht zu erlangen. Echte Macht.» Splinter tippte sich mit einem spindeldürren Finger gegen den Kopf. «Für eine Kanalratte mit Grips gibt es überall Möglichkeiten.»

«Grips? Dass ich nicht lache! Wenn du keine Rauferei angefangen hättest, nachdem Chess weg war, hätten wir uns vielleicht in deinem Zauberkästchen verstecken können, als etwa eine halbe Million Hundetruppen auftauchten. Du hast Ethel den tragbaren Vortex gestohlen und ihn dann nicht mal benutzt, als es am nötigsten war!» Er erinnerte sich an den ziehenden Schmerz der Nervenzange, mit der die Hundetruppen ihn ruhig gestellt hatten.

«Du hast zuerst zugeschlagen», sagte Splinter. Die blauen Augen in seinem verdreckten Gesicht glitzerten.

«Verdammt richtig», sagte Box und ballte die Hand zur Faust.

Ein Spucken und Husten drang rasselnd aus der Röhre, die mit der Mitte der Röhre verbunden war, in der sie selbst saßen. Box’ Faust verharrte mitten in der Bewegung, aber er senkte sie nicht, sondern zog nur den Kopf ein, um in die Nachbarröhre zu schauen.

In den vier Wochen, die sie hier verbracht hatten, waren sie noch nie jemandem begegnet, obwohl er und Splinter tagelang durch die Röhrengänge gelaufen waren. Wenn nicht die Schreie gewesen wären und die Körper, die jedes Mal, wenn sich das Gefängnis neu zusammensetzte, in die Tiefe taumelten, hätten sie glauben können, dass sie mutterseelenallein waren. Aber jetzt war jemand da.

Die Dämmerung jenseits der schmalen Lichtspeere, die durch die Bullaugen strahlten, war dicht wie Rauch. Es war schwer zu erkennen, wer da spuckte und hustete. Box trat von Splinter weg, den Arm immer noch erhoben, und ging in die angrenzende Röhre. Er duckte sich leicht, obwohl die Röhre genauso groß war wie ihre eigene.

«Da drüben.» Splinter deutete in die Schatten, obwohl Box gar nicht zu ihm hinschaute. «Da sitzt jemand an der Wand.»

Langsam ging Box näher. Seine Schritte waren behutsam, seine Hände zu Fäusten geballt. Er konnte die Gestalt jetzt sehen: ein schwarzer, gebogener Schemen, der Wand und Boden miteinander verband. Groß gewachsen, aber menschlich, was eine Erleichterung war.

Wieder ertönte ein scharfes Husten, und die Gestalt beugte sich mit baumelndem Kopf vor. Das Gesicht wurde von langen schwarzen Haaren verdeckt. Die Knie bis an das kantige Kinn gezogen, umschlang der Junge die Beine mit den sehnigen Armen und wiegte sich vor und zurück. Dabei schaute er zu Box und Splinter hoch, die zwei Meter vor ihm stehen geblieben waren. Sein Haar fiel zurück und enthüllte große dunkle Augen und weiche Lippen.

«Du!» Box senkte die Fäuste. «Du müsstest tot sein!»

Saul wischte sich mit dem Handrücken über die Wange und verschmierte einen Blutstreifen, den Splinter für eine Haarsträhne gehalten hatte.

«Das war ich auch fast», sagte er. «Ich hätte fast den Halt in den Gurten verloren und wäre um ein Haar herausgeschleudert worden.» Er hustete wieder und schluckte. «Und dann wäre mir bei der Landung beinahe der Schädel geplatzt …»

«Das meine ich nicht», fiel ihm Box ins Wort. «Ich meine damals, als der General dich geschnappt hatte. Das letzte Mal, als wir dich sahen, wollte dir der General gerade die Kehle durchschneiden.»

«Das wird er wahrscheinlich auch tun.» Saul lehnte sich zurück und streckte die Beine aus, wischte sich das Blut von seiner Hand an den Jeans ab. Seine schmale, muskulöse Brust war von einem Schweißfilm überzogen. «Er wartet auf uns.»

«Auf uns?» Box’ Frage wurde durch einen verzweifelten Schrei beantwortet, der so abrupt endete, dass man glauben konnte, der Turm, von dem er sich gelöst hatte, hätte ihn zurückgerissen.

«General Saxmun Vane frisst.» Sauls dunkle Augen ruhten auf Box. Sie waren nicht mehr so sanft wie damals, als er den Tuesdays auf ihrem Transport in die Fabrik der Verbogenen Symmetrie auf Surapoor geholfen hatte, damals, als sie im Käfig gesessen hatten. Er lachte freudlos. «Wir sind sein Proviant. Das hier ist PURG-CT483, ein Gefängnisplanet. Dieses Röhrenlabyrinth bedeckt die gesamte Oberfläche des Planeten. Es ist zwar kein großer Planet, aber es haben immerhin Millionen Gefangene hier Platz.»

«Warum? Wofür braucht die Symmetrie sie?», fragte Splinter interessiert.

«Wegen ihrer Energie.» Saul stand gebückt an der Röhrenwand auf. Box fiel zum ersten Mal auf, wie groß seine Hände waren. «Kinder sind besser, aber die Verbogene Symmetrie nimmt, was sie kriegen kann.»

«Das also wird mit uns geschehen?», fragte Splinter.

Box begriff nicht, warum sein Bruder eine derartige Neugier an den Tag legte, wo er doch allen Grund hatte, Todesangst zu haben. «Wir müssen hier raus, Splinter. Irgendwie.»

Saul lachte wieder.

Ich mag dich viel weniger als beim letzten Mal, dachte Box.

«Wir sind nicht hier, um Energie zu liefern», sagte Saul. «Dieser Teil des Gefängnisses ist allein für den General reserviert. Hierher schickt die Symmetrie die Gefangenen, die die schrecklichste aller Strafen verdienen. Der General kommt zum Fressen her. Die Gefangenen werden zu ihm geschickt. Er schließt sich mit ihnen dort, in dem Turm, in eine kleine Kammer ein.»

Box betrachtete den hohen schwarzen Gipfel durch ein Bullauge, obwohl es keinen Zweifel gab, welchen Turm Saul meinte.

«Aber er stürzt sich nicht sofort auf sie», fuhr Saul fort. Er trat neben Box und schaute ebenfalls hinaus. «Er wartet, bis die Wirkung seiner Medizin nachlässt.» Box dachte an die Szene in der Fabrik: wie sich der Körper des Generals verwandelte, wie er mutierte, wenn er nicht durch Drogen besänftigt wurde. Er erinnerte sich daran, wie sich die Glieder verdrehten und explosionsartig zu Körperteilen anderer, fremder Kreaturen wurden, die wild und ungebremst um sich schlugen.

«Und dann reißt er sie in Stücke», sagte Saul abschließend.

«Was haben wir denn angestellt?», fragte Box empört.

«Die Exekution eines Inquisitors hat Schlagzeilen gemacht», gab Saul zurück.

«Wir haben den Inquisitor nicht getötet», erklärte Splinter, erwähnte aber nicht, wer es getan hatte.

«Ihr wart Teil des Teams, das dafür verantwortlich ist. Das ist dasselbe. Also steht ihr auf der Speisekarte.»

«Wie viel Zeit haben wir noch, bis wir in dem Turm sind?», wollte Box wissen.

Splinter zuckte mit den Schultern. «Ich vermute, wir kommen als Nächstes dran.»

«Na, klasse.» Box trat mit voller Wucht gegen die Wand und fluchte, als sein Zehennagel umknickte. «Wir müssen hier weg», grunzte er.

«Das geht nicht.» Saul deutete zu einer Reihe von Nieten in der Decke der Röhre. «Das Gefängnis verändert willkürlich seine Form, und man weiß nie, wo man landet. Außerdem sind hier überall Kameras.» Box schaute genau hin und erkannte, dass einige der Nieten glatter waren als die anderen und gläsern schimmerten, wie Fischaugen. «Sie können dich beobachten, wohin du auch gehst, und wohin du auch gehst, sie kriegen dich.»

«Wie kommt’s, dass du so gut Bescheid weißt?» Splinter lächelte bei der Frage.

«Ich war näher an dem General dran, als ich euch gesagt habe», gab Saul zu. «Er brauchte einen Spion bei den Kindern, die von der Verbogenen Symmetrie gestohlen wurden, damit er erfahren konnte, was vor sich ging. Er versprach mir freundlicherweise, nicht meine Milz zu verspeisen, falls ich ihm half. Ich hatte also keine andere Wahl.» Saul seufzte. «Sieht so aus, als würde er meine Milz nun doch bekommen.»

«Warum?»

«Weil ich ihm nichts über Chess verraten wollte.» Saul verstummte und schaute sich um, als ob ihm gerade etwas aufgefallen wäre. «Wo ist Chess?»

«Bestimmt gesund und munter wieder beim Komitee», antwortete Splinter prompt. «Wahrscheinlich liegt sie bei einem Glas heißer Milch im Bett.»

«Splinter!», fauchte Box.

«Was denn?»

«Warum erzählst du ihm das?»

«Was spielt das für eine Rolle? Und außerdem», höhnte Splinter, «magst du Saul doch. Du hast damals gesagt, wir könnten ihm vertrauen. Weißt du nicht mehr?»

Saul hob die Hände. «He, regt euch ab, okay? Ich kann’s euch nicht verdenken, wenn ihr mir nicht traut. Tut mir leid.»

Box starrte weiter aus dem Fenster und dachte fieberhaft nach. Ihm blieb nicht viel Zeit. Seine Muskeln waren angespannt in Bereitschaft, auf das unvermeidliche Heulen der Sirene zu reagieren. Seine Augen huschten über die silbrigen Röhren, die wie Metallwürmer in der Sonne glänzten. Er suchte nach einem Ausweg. Sein Blick fiel auf das Gestell der Masten und die Windungen und Stahlträger der mechanischen Zangenarme. Dann bemerkte er eine Staubwolke, die von einem Tross aus mehreren hundert unbewaffneten Hundemännern aufgewirbelt wurde, die unter ihm über die ausgedörrte Erde marschierten, begleitet von einer Hand voll schwer bewaffneter Soldaten.

«Was sind das für welche?» Ihm waren schon früher ähnliche Ansammlungen schäbig wirkender Hundemänner aufgefallen. Er hatte angenommen, dass sie irgendetwas mit den Truppen zu tun hatten, obwohl ihre grobe Kleidung und die ausgemergelten Körper nicht in das Bild der gut ausgebildeten und professionellen Soldaten passte, die sie auf Surapoor erlebt hatten, oder zu den Wachen, die den Tross da unten eskortierten.

«Die Fleischlinge.» Sauls Gesicht war ganz nah bei dem von Box, aber Box wich nicht zurück. «Böse Schnauzen.»

«Schnauzen?», wiederholte Splinter fragend.

«So werden die Hundeleute auch genannt, Schnauzen, Hundemänner – ist dasselbe.»

«Ein super Wort», meinte Box.

«Schnauzen, die ihr Bataillon verlassen haben, die desertiert sind oder gegen die Militärdisziplin verstoßen haben, oder Kriminelle von den Schnauzenkolonien. Sie werden als Fleischlinge hierher gebracht. Die Fleischlinge sind die Übungsziele für Truppenkadetten. Sie werden gerade zum Trainingsplatz gebracht.»

«Schnauzen machen Schnauzen kalt.» Splinter spuckte aus. «Das gefällt mir.»

«Was passiert mit ihnen?» Box witterte eine Chance.

«Die meisten werden getötet. Die wenigen, die überleben, werden in die Strafbataillone der Hundetruppen versetzt. Das sind Militäreinheiten, die man in die hoffnungslosen Schlachten schickt. Als Kanonenfutter.»

«Wenn ich zu den Fleischlingen käme», sagte Box langsam, «könnte ich mir einen Weg in die Freiheit erkämpfen. Und dann kann ich Chess finden, vielleicht. Ich könnte ihr helfen.»

Saul schaute Box an, als hätte er den Verstand verloren. «Das sind Schnauzen, Box. Du bist ein Mensch.»

«Na ja, fast», warf Splinter ein. Entgeistert schüttelte er den Kopf. «Zeig diesem Fliegenkopf eine Armee von Verdammten, und er ist der Erste, der sich freiwillig meldet.»

«Immer noch besser, als gefressen werden», fuhr Box ihn an.

«Selbst wenn du den Intelligenztest bestehen und bei diesem Idiotenhaufen aufgenommen werden würdest, wie willst du hier herauskommen?» Splinter deutete auf die Wände der Röhre.

Box lächelte seinen Bruder an. «Wart’s ab.»

Die Sirene heulte auf.

Alle drei griffen nach den Gurten, die von der gewölbten Decke hingen. Splinter sah, dass Box sich an seinen bloß festhielt, statt die Arme durch die Schlaufen zu zwängen. Und da begriff er, was sein Bruder vorhatte.

«Sei kein Idiot, Fliegenkopf.» Er musste schreien, um die Sirene zu übertönen.

Box grinste ihn nur mit glänzenden Augen an.

Das Heulen verstummte und die Stille stürmte auf sie ein. Dicht. Abwartend.

«Bitte, Box», sagte Splinter. «Bleib bei mir.»

Das Gefängnis brach auseinander. Metallröhren wirbelten voneinander weg und kreiselten zwischen den Masten.

Box’ Finger und Unterarme brannten von der Anstrengung, sich festzuhalten, während die Röhre in die Luft schoss und ihn mit sich riss. Dann, als er nach unten kippte, wurde Box von seinem eigenen Gewicht gegen das Dach geschleudert und stieß sich den Kopf an einer Reihe von Nieten. Aber er ließ nicht los. Noch nicht.

Er blinzelte, weil ihm das Blut in die Augen lief. Er wartete, bis der Himmel wegrutschte und das Maul der Röhre zum Boden zeigte. Er wartete, bis sein Körper senkrecht wie ein Lot in der Röhre hing und die Füße in Richtung der unteren Öffnung ragten. Er wartete, bis er sah, wie sich eine andere Röhre unter die Öffnung schob. Dann ließ er los.

Box fiel nach unten, aber er schloss weder die Augen noch schrie er. Er war eine Kanalratte. Die Welt hatte ihn gelehrt, dass er nichts wert war. Wenn er kletterte, sprang und kämpfte, hatte er nichts zu verlieren. Ein Schlipsträger hätte erbärmlich geheult und gebrüllt, ehe er haltlos nach unten getaumelt und auf die hart gebackene Erde aufgeschlagen wäre, Box aber konzentrierte sich auf das gebogene Metalldach der Röhre unter ihm, auf die Bullaugen, auf die Stelle, wo sich die Zange des mechanischen Arms um den glänzenden Korpus gelegt hatte. Ihm blieben vielleicht zwei Sekunden. Aber zwei Sekunden waren eine Ewigkeit, wenn einem das Leben nicht mehr zur Verfügung stellte.

Mit einem dumpfen Aufprall, der schmerzhafter war, als er sich anhörte, traf er auf das Metall. Blitzschnell klammerten sich seine Finger an den Rand eines Bullauges. Seinen eigenen Schwung einsetzend, ließ er sich an der äußeren Wand hinab. Gleichzeitig senkte sich die Röhre vertikal nach unten. Darauf hatte Box gesetzt.

Er ließ das Bullauge los und fiel entlang der Röhre nach unten, bis er von der Zange des mechanischen Arms aufgehalten wurde. Mit gespreizten Beinen rutschte er daran entlang und prallte mit einem Aufkeuchen gegen das Gelenk des Arms. Aber er war am Leben. Er fiel nicht mehr. Jetzt musste er sich nur noch an dem Greifarm festhalten, solange dieser mit den Röhren beschäftigt war. Danach würde er zum Mast hochklettern und von dort aus hinunter zur Erde. Und dann würde er sich dem nächsten Haufen Fleischlinge anschließen. Und dann … und dann … Box schloss die Augen. Er würde Chess finden und er würde kämpfen müssen. Wie immer.

Nachdem das Gefängnis neu zusammengesetzt worden war, ließ sich Splinter auf den Boden fallen. Ihm war übel. Er wartete, bis seine Augen den Rest seines Körpers eingeholt hatten. Neben ihm stöhnte Saul auf und sagte: «Jetzt ist es so weit.»

An einem Ende der Röhre prangte eine kreisrunde Scheibe Tageslicht. Am anderen Ende herrschte Nachtschwärze. So schien es jedenfalls. Als Splinter in die Dunkelheit spähte, erkannte er, dass jenseits der Röhre eine Kammer lag, kahl und düster.

Schritte dröhnten in der Kammer. Splinter rührte sich nicht. Saul rückte an ihn heran. Zwei Gestalten tauchten auf: Hundemänner, gekleidet in schwarze Kampfanzüge und die Brustpanzer, die Splinter bereits kannte. An ihren Schultern prangte die silberne Lemniskate, das Zeichen für Unendlichkeit und das Symbol der Verbogenen Symmetrie.

Einer der Soldaten hatte einen Feuerkarabiner an der Hüfte, dessen Lauf frappierend an eine Bohrmaschine erinnerte. Der andere löste eine Nervenzange von seinem Gürtel. Ein Lichtstrahl gab die verunstalteten Gesichter preis – zotteliges Fell, durchbrochen von Streifen menschlicher Haut, knurrende Schnauzen und Augen, die im falschen Körper gefangen zu sein schienen.

Der Hundemann mit der Nervenzange ruckte mit dem Kopf in Richtung der Schatten jenseits der Röhre. Als Splinter und Saul nicht sofort reagierten, kläffte er sie knurrend und brüllend an, wobei er das Maul aufriss und seine langen Reißzähne zeigte.

Splinter rappelte sich auf. «Okay, okay», murmelte er. «Kein Grund, gleich aus dem Pelz zu fahren.»

Saul stand neben ihm, breiter und größer gewachsen als Splinter. «Überlasse mir den General.»

Splinter hielt Saul nicht für so ungerührt, wie er tat, aber er zuckte mit den spitzen Schultern und sagte: «Er gehört dir.» Dann ging er voraus in die Kammer. Er humpelte leicht, weil er sich vor Monaten den Knöchel gebrochen hatte, als die Steindrachen mit einer Kanone auf die Tuesdays geschossen hatten.

Die Kammer entpuppte sich als ein kleiner quadratischer Raum, aus dem eine offen stehende Tür führte. Splinter schaute sich um, und als er kein Blut an den Wänden oder auf dem Boden sah, nickte er zufrieden. Das Morden geschah nicht hier. Er hatte immer noch Zeit. Zeit zu reden.

Aber als er das dumpfe Aufschlagen hörte, mit dem sich die eisenbesetzten Stiefel der offenen Tür näherten, und das Klappern und Klirren der Ketten, konnte er nicht verhindern, dass ihm die Beine zitterten. Mit Augen so rund wie blaue Murmeln starrte er in die Dunkelheit des Gangs hinter der Tür. Er hielt den Atem an.

Die große, langgliedrige Gestalt von General Saxmun Vane löste sich aus der Dunkelheit, und dann stand er über Splinter. Seine wie ein Patchwork-Gewebe zusammengesetzte Rüstung, die es seinem Körper erlaubte, sich zu verwandeln, wenn er nicht durch seine Medizin ruhig gestellt war, war mit dunkelroten Schlieren bedeckt, die wie wässrige Tintenflecken aussahen, und an seiner spitzen, schakalartigen Schnauze klebte geronnenes Blut. Seine gelben Augen starrten träge in Splinters blaue, und die stecknadelkopfgroßen Pupillen nagelten ihn wie Pfeile fest. In seiner behandschuhten linken Faust hielt er ein Bündel silbrig schimmernder Stäbe.

Splinter wich zurück, als der General die Stäbe schwang. Aber er lenkte sie nicht in Splinters Richtung. Am Ende der Stäbe befand sich ein Ring, an dem spitze Nägel befestigt waren, und die rammte er sich jetzt in seine eigene rechte Schulter, wo ein kurzer Stumpf die Stelle markierte, an der sein Arm sitzen sollte.

Der General brüllte Splinter Worte entgegen, die dieser nicht verstand. Es war nicht Chat, die universelle Sprache, die der boxende Philosoph Balthazar Broom den Tuesdays auf Surapoor beigebracht hatte. Es war die Sprache der Hundemänner, und sie wurden von einer automatischen Stimme übersetzt, die aus der Brustplatte des Generals drang. «Sieh dir an, was diese Kreatur, die du Schwester nennst, mir angetan hat!»

Im Gegensatz zu Box und Splinter hatte sich der General nicht im Vortex verborgen gehalten, als Chess die Energie freiließ, die den Inquisitor Behrens vernichtete. Er war von der Explosion getroffen worden, die weite Teile der Fabrik zerstört hatte. Aber er hatte überlebt, hatte lediglich einen Arm verloren. Splinter war erstaunt, dass der General das Inferno überhaupt überstanden hatte. Aber immerhin hatte er es mit General Saxmun Vane zu tun, Kommandant über Millionen von Hundetruppen im Dienst der Verbogenen Symmetrie. Er war aus Eisen gemacht. Natürlich hatte er überlebt.

General Vane stieß die gebündelten Stäbe vor, und jetzt erkannte Splinter, dass es ein Arm war, aus glänzendem Metall gemacht, wie ein Stahlskelett. Die dicken Mittelstäbe waren an der Schulter eingehängt, und Ellbogen und Handgelenk waren durch dünne Metallsehnen miteinander verbunden. Die einzelnen Finger krümmten und streckten sich geräuschlos.

Bloß keine Angst zeigen, dachte Splinter. «Was geschehen ist, ist eine Sache zwischen Ihnen und meiner Schwester», sagte er. Er wich keinen Zentimeter weiter zurück. Er wusste, dass seine Worte dem General durch das Kabel zwischen seinem Ohr und der Brustplatte übersetzt wurden.

«Sie schuldet mir einen Arm!», kläffte er, aber Splinter tat unbeeindruckt. Dann neigte der General den Kopf und betrachtete seinen Metallarm von oben bis unten. «Aber eigentlich dürfte ich mich nicht beschweren. Der hier ist viel besser als der alte.» Und damit schlug er den Arm in den Türrahmen. Splitter spritzten auf und Steinbrocken flogen durch die Luft, bis sich der Arm bis zum Ellbogen in die Wand gegraben hatte.

Nachdem er ihn wieder herausgezogen hatte, schob sich Saul an Splinter vorbei. «General, bitte hören Sie mich an.»

Der General maß Saul mit einem Blick und hieb dann mit seiner linken Faust – der aus Fleisch und Blut – mitten in das Gesicht des Jungen.

«Meine Nase», keuchte Saul, griff sich ins Gesicht und ließ sich zu Boden fallen.

«Du bist es kaum wert, dass man dich tötet», knurrte General Vane, während die mechanische Dolmetscherstimme völlig emotionslos blieb. «Aber du», und damit wandte er sich Splinter zu, «bei dir werde ich es genießen.» Mit den Metallfingern fuhr er sich über das borstige Kinn. «An dir ist zwar nicht viel Fleisch, aber dafür hast du Feuer.» Dann schaute er sich um. «Wo ist der Fleischige?»

Splinter sagte nichts, aber die gelben Hundeaugen, die seinen Blick festhielten, verengten sich zu schmalen Schlitzen, als ob sie in seinen Gedanken lasen. Der General schnaubte verächtlich und marschierte an den Wachen vorbei in die Röhre. Seine Stiefel schlugen metallisch auf den Boden und er musste sich bücken, weil die Decke für seine Gestalt zu niedrig war. Am anderen Ende kniete er sich hin und schaute hinaus. Die zwei Hundewachen traten zwischen ihn und Splinter.

Der azurblaue Himmel und die rostfarbene Erde wurden von der Öffnung der Röhre wie von einem Bilderrahmen eingefasst. Das endlose Gitterwerk aus Röhren schimmerte weiß in der gleißenden Sonne. Die heiße Luft vibrierte. Die Welt war wüstenstill. Jede noch so geringe Bewegung war meilenweit zu sehen.

«Da ist er ja», murmelte der General leise, während die Stimme aus seiner Brustplatte ihre normale Lautstärke beibehielt. Dann, nachdenklich: «Er klettert an dem Versorgungsmast hinunter.» Er stieß ein Geräusch aus, das Splinter für ein Kichern hielt. «Schaut euch an, wie er das macht. Schnell. Stark. Wie ist er entkommen?» Eine Pause folgte, und dann nickte der General. «Indem er alles riskierte. Aber was hat er vor?»

Splinter vermutete, dass man ihn zum Reden bringen würde, wenn er jetzt nichts sagte, und zum Lügen gab es keinen Grund. «Er schließt sich den Fleischlingen an», erklärte er.

Der General grunzte. «Es wäre ein Leichtes, ihn zu töten.» Seine Augen zuckten zu dem Feuerkarabiner des einen Hundesoldaten, ehe er wieder nach draußen schaute. Immer noch kniete er vor der Öffnung. «Aber das wäre nicht fair.» Splinter kam es so vor, als ob der General meinte, was er sagte. «Er hat Geschick, Mut und Stärke bewiesen. Er würde eher kämpfen, als sich einfach töten zu lassen. Er ist kein gewöhnlicher Mensch.»

Splinter schaute auf die winzige Silhouette, die etwa sechzig Meter über der Erde an einem Stahlträger hing. «Er ist eine Kanalratte», sagte er stolz und kämpfte den Schmerz in seiner Brust nieder, der ihm bewies, wie sehr er sich Box jetzt an seiner Seite wünschte.

Aber er war allein.

Sein Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. Er war immer allein. Er war immer derjenige, der sich der größten Gefahr stellte, der sich die cleversten Pläne ausdachte und alle rettete. Und jetzt? Jetzt hatten ihn alle im Stich gelassen und er sah sich einem der gefährlichsten Geschöpfe in den Universen gegenüber. Allein.

Aber er würde es schaffen. Nur er konnte es schaffen. Er war derjenige, der wusste, wie man überlebte. Er war der Größte. Der König der Ratten. Er würde hier rauskommen. Es gab einen Weg. Und von heute an würde sich Splinter nur noch um Splinter kümmern.

Er ließ diese Gedanken hinter sich, als er wieder in die kühle Dunkelheit der Kammer trat. Eine Wache verpasste ihm einen Stoß gegen die Schulter. Saul saß immer noch auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und versuchte, den Blutstrom, der aus seiner Nase quoll, zu stillen. Splinter verschwendete keinen Gedanken an ihn. Saul war so gut wie tot. Der Einzige, der noch eine Rolle spielte, war Splinter.

General Vane durchquerte die Kammer und machte sich zum Gehen bereit. Er sagte nichts – was Splinter überraschte, der etwas mehr erwartet hatte, ehe er zur Schlachtbank geführt wurde. Das war seine einzige Chance, und sie war dabei, ihm zu entgleiten, verschwand in dem Gang hinter der Kammer.

Splinter hatte vorgehabt, kühl zu handeln, zu feilschen und dabei seinen herausragenden Intellekt zu beweisen. Aber jetzt kreischte er bloß. Er kreischte die zwei Worte, denen er sein Leben anvertraute. Er kreischte die Worte, weil er ansonsten – genauso wie Saul – tot war.

«Der Verräter.»

Die Schritte verstummten. Die Worte lagen wie das Klirren von Schwertern in der Luft.

Der General drehte sich um und deutete mit dem Metallarm auf Splinter. Ein Lichtstrahl, der durch eines der Bullaugen in der Röhre seinen Weg in die Kammer gefunden hatte, verfing sich in den beiden Metallstreben, die auf den Seiten seines linken Unterarms entlangführten, Streben, an denen der Bolzen mit seiner Notfallmedizin befestigt war.

«Was weißt du von dem Verräter?» Das bittere Knurren kam wie Donnerrollen durch die Finsternis heran, während die tote Stimme übersetzte.

«Ich weiß, wer er ist. Ich weiß, wo er ist.» Splinters Herz hämmerte. Seine Lippen waren so trocken wie Asche. Er schluckte etwas hinunter, was sich wie Kleister anfühlte. «Ich kann ihnen Lemuel Sprazkin auf einem Tablett servieren.»

Lemuel Sprazkin, der Oberste Warp, dessen missglückte Operation den Körper des Generals in eine ständig mutierende Hölle verwandelt hatte. Lemuel Sprazkin, der von der Verbogenen Symmetrie zum Komitee geflohen war und sich seit zweihundert Jahren versteckte. Die Person, die General Saxmun Vane mehr als alles andere hasste.

«Wie?» Der General stand vor Splinter und beugte sich hinab. Sein saurer Atem wehte Splinter ins Gesicht, während sich die Schnauze ganz nah an ihn heranschob.

«Er vertraut mir», sagte Splinter. «Jedenfalls genug, um sich von mir in eine Falle locken zu lassen.» Jetzt habe ich dich, dachte er.

«Warum sollte ich mich darauf einlassen?»

Diese Frage hatte Splinter erwartet. «Weil Sie damit kein Risiko eingehen. Geben Sie mir meinen Mantel und das Kästchen zurück, und ich werde den Verräter für Sie aufspüren.»

Der General richtete sich auf. Die behandschuhten Finger der linken Hand trommelten gegen seine Hüfte, während er sich mit den Fingern der rechten, stählernen Hand einen Fleischfetzen aus den Reißzähnen pulte. Seine lange, rosafarbene Zunge lag auf dem Rand des Unterkiefers, und ein Speichelfaden zog sich daran entlang nach unten und tropfte zu Boden.

Splinters Selbstsicherheit war zurückgekehrt. Er war zufrieden mit sich. Mit Geschick und Verstand hatte er den General besiegt. Und daher gestattete er sich eine weitere Bemerkung: «Sie brauchen mich, wenn Sie Sprazkin haben wollen.»

Die Reaktion war so schnell, dass Splinter immer noch am selben Fleck stand, als die Metallhand den Keulenstab herauszog, die lange Stahlspitze zischend ausfuhr und der General Splinter damit auf den Arm hieb.

Splinter schrie auf und sank zu Boden. Er umklammerte seinen Arm und schob sich mit den Fersen von den schweren Stiefeln weg. Er zappelte auf dem Boden herum wie ein erstickender Fisch.

«Ich brauche niemanden!», brüllte der General und setzte Splinter die Spitze des Keulenstabs auf die Brust.

«Es tut mir leid, es tut mir leid», wimmerte Splinter. Sein Körper zitterte so sehr, dass er befürchtete, sich selbst auf der Klinge aufzuspießen. Er riskierte einen Blick auf seinen Arm und erkannte, dass die Wunde, die der General geschlagen hatte, mehrere Zentimeter lang war. Blut sickerte heraus, aber Splinter wusste, dass es viel schlimmer hätte kommen können, wenn der General gewollt hätte.

«Ich werde Sprazkin mit oder ohne deine Hilfe zu fassen kriegen. Wenn ich dich benutze, geschieht das aus reiner Bequemlichkeit. Du bedeutest mir nichts. Hast du verstanden?»

Splinter nickte bebend.

Der General kniete sich hin. Die Metallhand hielt die Spitze des Keulenstabs immer noch auf Splinters Brust gerichtet, als wollte er ihn damit festnageln. Mit der anderen Hand packte er Splinters Hosenbein und riss einen Streifen Stoff ab. Dann schob er den Lappen so brutal in die Wunde, dass Splinter aufschrie. Als der Stoff mit Blut durchtränkt war, stand der General auf, steckte den Keulenstab weg und ging zur Tür. Der Lappen hing feucht in seiner Faust.

«Weißt du, was ein hungriger Spuk anrichten kann?»

«Nein», hauchte Splinter dem Rücken des Generals nach. Er wusste lediglich, dass die Verbogene Symmetrie mithilfe von Spuks Personen aufspürte, deren Blut sie bekommen hatte. Sie lauschten über Raum und Zeit hinweg nach dem Herzen, durch das dieses Blut geströmt war, und sie fanden immer denjenigen, nach dem sie suchten.

«Wenn ich eine Druckluftgranate in deine Eingeweide stecken und sie hochgehen lassen würde, wäre das Resultat harmlos im Vergleich zu dem, was ein Spuk anrichten kann.» Die Stimme blieb ruhig, aber der General genoss offensichtlich die Vorstellung, denn über seine Kehle lief ein wohliger Schauer.

«Ich habe dein Blut, Junge. Du hast zehn Tage. Bring mir Sprazkin, oder du wirst wünschen, ich hätte dich jetzt sofort getötet.»

KAPITEL 2

«Guck mal, Mama, da ist jemand am Fenster.»

«Sei nicht albern.» Die Frau mit der Wollmütze nahm das kleine Mädchen an der Hand und zog es weg. «Kinder!», sagte sie mit einem duldsamen Lächeln zu ihrer Begleiterin. «Sie sehen ständig Sachen, die gar nicht da sind.»

Chess zog sich vom Fenster zurück, aber sie konnte das kleine Mädchen in dem roten Anorak immer noch sehen, das jetzt von den beiden Frauen mit Mützen und dicken Jacken in die Mitte genommen wurde. Seine Stiefel schleiften widerstrebend über das zerrupfte Gras, während es von der Burgmauer weggeführt wurde. Die Gesichter der beiden Frauen waren von der kalten Januarluft rosig angehaucht und der Anorak des kleinen Mädchens leuchtete unter dem weißen Winterhimmel wie eine Beere.

Es waren immer die Kinder, die sie bemerkten. Erwachsene sahen verfallene Mauern, verschlossene Tore, die den Zugang zu alten Steintreppen verwehrten, Plexiglasscheiben vor den Stabwerkfenstern und niedrige Holztüren, auf denen KEIN ZUTRITT stand. Aber die Kinder entdeckten sie manchmal, wenn sie ihr Gesicht ganz nah an das Plexiglas des hohen Fensters im Turm schob. Sie sahen sie, weil sie noch nicht gelernt hatten, Dinge, die eigentlich nicht da sein dürften, nicht zu sehen.

Vielleicht war eine der Frauen die Mutter des Mädchens. Ihre Hand war bestimmt stark und warm, und das kleine Mädchen musste sich keine Gedanken darüber machen, wohin es danach ging. Seine Mutter wusste es. Chess stellte sich vor, dass es so war.

Hör doch bloß auf, sagte sie sich. Du weißt gar nichts. Du weißt nicht einmal, wer du bist. Du kennst nicht einmal deinen eigenen Namen.

Sie schloss die Augen, schloss die kleine Familie aus. Sie schloss die bröckelnden Mauern aus, den einsamen Eiswagen, den Mann in der gelben Warnweste, der Müll mit einem Stab aufsammelte, den anderen Mann mit dem Rechen, den weißen Schotterbelag des Parkplatzes, die niedrigen, kahlen Hügel und die stark befahrene zweispurige Straße auf der anderen Seite. Sie drehte dem Fenster den Rücken zu, löste ihre Fäuste, öffnete die Augen und sah den sauber geschrubbten Holzboden, den summenden Radiator, den Klapptisch mit den Stühlen und Jones.

Immer war Jones da. Wenn sie auf die Toilette ging oder unter die Dusche oder wenn sie sich schlafen legte, Jones war da. Jones, die Prä-Aktive, Jones, die laut Ethel so etwas wie eine Fleisch gewordene mathematische Gleichung war, Jones mit ihren langen gelben Haaren, dem skelettartig hageren Gesicht, den leeren rubinroten Augen, die hinter dunklen Brillengläsern verborgen lagen, und den Reaktionen, die schneller waren als Gedanken. Immer wachsam, immer abwartend, vorgeblich zu ihrem Schutz abgestellt, aber in Wahrheit als Wächterin. Jones sollte dafür sorgen, dass Chess genau da blieb, wo das Komitee sie haben wollte.

Chess schob ihre Fäuste in die Taschen ihrer weiten schwarzen Lederjacke und marschierte durch das Zimmer, wobei die Sohlen ihrer weißen Turnschuhe auf den Holzdielen quietschten. Jones’ Kopf folgte ihr mit abgehackten Bewegungen.

Chess zog ihre Hände aus den Taschen und strich sich das Haar zurück. Die kastanienbraunen Strähnen waren zu schmalen Zöpfen mit kleinen Perlen am Ende geflochten. Sie spürte gern ihr Gewicht auf Kopf und Schultern. Es war so ziemlich das einzig Nützliche, was Jones zustande gebracht hatte, seit sie bei ihr war. Chess wurde jetzt seit beinahe zwei Wochen von ihr bewacht, seit sie von ihrer Reise nach Surapoor vollständig genesen war.

Sie erschauerte. Es war hier – noch dazu im Januar – viel kälter als im tropischen Surapoor. Und wann immer sie an Surapoor dachte, tauchte auch die Erinnerung daran in ihr auf, was die Verbogene Symmetrie dort den gestohlenen Kindern angetan hatte. Wie sie ihnen die Energie entzogen hatten. In den Schreikammern. Wie es sich angefühlt hatte, dort eingekerkert und hilflos dem Feind ausgeliefert zu sein. Und dass sie – Chess – entschlossen war, diesem Treiben ein Ende zu setzen. Der Gedanke an die Energie der gestohlenen Kinder, die sie freigesetzt hatte, um den Inquisitor Behrens zu vernichten, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Aber sie wusste nicht, wie und warum ihr das gelungen war.

Chess marschierte zu Jones und blieb stehen, als ihre Zehenspitzen die der Prä-Aktiven berührten. Sie legte die Handflächen aufeinander, als ob sie beten wollte, und richtete ihre Fingerspitzen auf Jones’ Brust. Jones tat im gleichen Moment das Gleiche, sodass sich die Spitzen ihrer Mittelfinger berührten. Sie standen einander wie Spiegelbilder gegenüber.

Dieses Spiel hatte Chess eingeführt, nachdem sie etwa tausend Runden «Schere-Stein-Papier» verloren und geglaubt hatte, sie müsste vor lauter Zorn anfangen zu schreien. Mit dem neuen Spiel verband sie die Hoffnung, Jones wenigstens wehtun zu können.

Aber im Grunde wusste sie, dass es ihr nicht gelingen würde. Immer waren Jones’ Hände schon längst zurückgezogen, wenn Chess’ Hände vorstießen, sodass sie bloß die leere Luft schlug. Dann war Jones an der Reihe. Und Jones verfehlte Chess nie. Sie hätte ebenso gut ein Steak klopfen können. Wenigstens lenkte das Brennen auf ihren Handrücken Chess davon ab, wie sehr sie Box und Splinter vermisste und ihre Freundin Gemma, wie sehr sie es verabscheute, vom Komitee zu ihrem eigenen Schutz gefangen gehalten zu werden, wie sehr sie sich wünschte, Jones zu entkommen.

Aber heute half nicht einmal der Schmerz. Chess hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, Kerkern, Fesseln und den Verfolgern zu entkommen, die jeder Kanalratte auf den Fersen waren, und jetzt wurde sie von denjenigen, die doch auf ihrer Seite stehen sollten – dem Komitee –, unter einer ganzen Wagenladung Eisen begraben.

Sie schleuderte Jones einen Fluch entgegen und schlug mit voller Wucht auf den Tisch. Sie hätte sich mit Leichtigkeit einen Knöchel brechen können, aber Jones Hand war da, ehe sie auf die Tischplatte traf, federte ihre Faust ab und hielt sie auf.

«Ich darf mir wohl nicht einmal selbst wehtun, was?», schrie Chess in das knochenweiße Gesicht. Jones erwiderte wie üblich nichts.

Ethel kam ins Zimmer gestapft, rümpfte die Nase, als sie sah, dass Jones Chess’ Faust über der Tischplatte festhielt, enthielt sich aber eines Kommentars und sagte stattdessen: «Fang schon mal an zu packen.»

Ethels äußere Erscheinung – ein billiger Pullover, ein ausgefranster Tweedrock, Wanderstiefel und eine grüne Daunenweste – verriet nichts darüber, dass sie in Wahrheit Baroness Mevrad Styx war, Großmeisterin des Außenbogens, eine der mächtigsten Personen im Universum. Besser gesagt: in den Universen. Sie wirkte wie eine waschechte Landstreicherin. Aber Chess wusste mittlerweile, dass dies das Problem war: Die äußere Erscheinung sagte nicht immer etwas darüber aus, wer man wirklich war.

Hinter der bebrillten und gedrungenen Gestalt Ethels stand Lats. Lats war ein Mitglied des Schnapper-Teams, das Chess von Surapoor gerettet hatte, und seitdem wachte er über sie. Sein hautloser Körper mit den faserigen Muskelklumpen und den bloß liegenden Knochen türmte sich über Ethel auf. Um seine Schultern hing das komplizierte Röhrenkonstrukt eines Plasma-Gewehrs, während er die eigentliche Waffe vor dem Körper gepackt hielt. Die Ellbogen waren abgespreizt und gaben den Blick frei auf die Muskelstränge, die von seinen Hüften bis zu den Oberarmen reichten. Er trug wattierte Hosen und eine Metallplatte über dem Schlüsselbein, wie sie Chess schon bei General Vane gesehen hatte. Sie wusste mittlerweile, dass dieses Gerät Konvers-Kragen genannt wurde und die Worte des Trägers durch ein eingebautes Mikrofon übersetzte. Mithilfe des Kabels, das zwischen dem Kragen und Lats’ Ohr verlief, wurden die Worte des Gegenübers zurückübersetzt.

Lats zwinkerte Chess zu. Chess erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Er mochte zwar wie ein gehäuteter Gorilla aussehen, aber er war in Ordnung. Dann schaute sie Ethel an und runzelte die Stirn. «Wir ziehen um? Schon wieder?»

«Ich fürchte, ja.» Ethels Stimme klang geschäftsmäßig und gar nicht so, als ob sie sich fürchten würde.

«Das ist das vierte Mal in zwei Wochen», protestierte Chess.

«Ich kann nichts dafür, Liebes. Wir haben eine Herzerstarrung bei dir durchgeführt, nachdem du von Surapoor zurückgekehrt warst, um eventuelle Spuks abzuschütteln. Aber Spuk hin oder her, der Feind hat die unangenehme Angewohnheit entwickelt, dich zu finden, egal wo du bist. Es tut mir leid.» Doch Bedauern war ebenso wenig in ihrer Stimme zu hören wie Furcht. «Es ist einfach eine unleugbare Tatsache, dass der Feind nach einer gewissen Zeit diese Schutztruppe aufspüren wird, und wenn das geschehen ist, haben sie auch dich aufgespürt. Und du weißt doch, Liebes, dass die Verbogene Symmetrie dich im ganzen Universum sucht.»

«In den Universen», verbesserte Chess sie.

«Sehr gut!» Ethel klatschte mit aufrichtigem Entzücken in ihre kleinen, runzeligen Hände.

Chess schlenderte zum Fenster. «Also sind sie wieder im Anmarsch.»

«Wir glauben es. Wir wissen nicht wie, wir wissen nicht wann, aber wir wissen, dass es bald geschehen wird. Also müssen wir umziehen. Sofort.»

Von der Stelle, wo die kurze Antenne eines Funkgeräts aus Ethels Weste ragte, kam ein Knistern.

«Wir sollten uns irgendwo verstecken, wo niemand ist», maulte Chess. «Meilenweit weg von Menschen oder Dörfern. Nicht an blöden Orten wie diesem hier, wo ständig irgendwelche Leute herumlaufen. Es ist kein Wunder, dass die Verbogene Symmetrie uns immer wieder findet.»

«Falsch, Liebes», zwitscherte Ethel. «Eine Sehenswürdigkeit wie diese hier ist perfekt. Gerade weil wir uns an Orten verstecken, wo viele Menschen sind, hat uns die Verbogene Symmetrie nicht erwischt. Noch nicht.» Plötzlich lag der Mund der alten Dame dicht an Chess’ Ohr. «Wenn wir uns inmitten der Öffentlichkeit verstecken, kann der Feind nicht einfach eine schwer bewaffnete Armee schicken und dich verschleppen. Niemand darf wissen, was vor sich geht. Das Letzte, was die Verbogene Symmetrie will, ist Aufmerksamkeit erregen. Überall in den Universen tobt ein Krieg, direkt unter den Augen der Menschen, aber sie sehen es nicht, und sie dürfen es auch nicht sehen.» Sie wischte einen Speicheltropfen, der auf Chess’ Haaren gelandet war, weg. «Stell dir die Aufregung vor, die Panik, Liebes, wenn die Leute wüssten, was wirklich los ist.»

Der Schotter knirschte unter den Reifen eines Busses, der auf den Parkplatz einfuhr. Chess wandte ihre Aufmerksamkeit Ethels vor Schlafmangel geröteten Augen zu. «Wir sollten uns wehren.»

«Du bist entsetzlich aggressiv geworden, Liebes. Ich weiß nicht, ob das gut ist. Liegt es an den Hormonen?» Sie betrachtete Chess von oben bis unten, als ob sich die Hormone auf ihrer Haut tummeln würden. «Du bist ja jetzt in dem Alter.»

«Dafür kann ich nichts», erklärte Chess. Aber sie hatte sich an ihr neues Alter gewöhnt, hatte sich damit abgefunden, innerhalb von sechs Wochen zwei Jahre gealtert zu sein. Der Grund dafür war die abrupte Rückreise von Surapoor. Als sie fortgegangen war, war sie elf Jahre alt gewesen, und jetzt war sie fast vierzehn. Es gefiel ihr. Sie fühlte sich größer und stärker und weniger anfällig, sich von Ethel herumkommandieren zu lassen.

«Sie wollen mich meinen Brüdern nicht helfen lassen …»

«Ich habe dir davon abgeraten, ja», sagte Ethel zugeknöpft.

«Abgeraten!» Chess’ braune Augen weiteten sich zornig. «Mich einzuschließen und mir diesen Freak vor die Nase zu setzen ist ja wohl ein bisschen mehr als nur ‹abraten›!»

Jones reagierte nicht. Sie sagte nichts. Sie sagte nie etwas.

«Sagen wir mal, ich habe dir eindringlich abgeraten», erklärte Ethel, zog eine Papiertüte aus ihrer Weste und hielt sie Chess hin. «Zitronenbonbon?»

Chess funkelte sie an.

«Verstehe, du bist schon sauer genug.»

«Kämpfen ist das Mindeste, was wir tun können.» Chess hieb sich mit der Faust gegen die Hüfte.

«Den Feind kann man nicht so leicht besiegen», wies Ethel sie zurecht.

«Ach nein? Ich habe ihre Fabrik und einen Inquisitor vernichtet.»

«Sie werden sich von Behrens’ Verlust erholen, und die Fabrik wird bereits wieder aufgebaut.»

«Na und? Sie werden Monate dafür brauchen, vielleicht ein Jahr», gab Chess kampflustig zurück.

«Nein, Liebes. Dafür brauchen sie bloß Tage, vielleicht ein paar Wochen. Wir sprechen hier von der Verbogenen Symmetrie, nicht von einem mittelständischen Bauunternehmen. Sie erbauen Planeten, keine Wintergärten. Wir glauben, dass die Zerstörung der Fabrik zu dimensionalen Schockwellen geführt hat, die das Verhalten des Schlingschlundes so durcheinandergebracht haben, dass die Voraussagen, wann er wo auftauchen wird, derzeit ungenau sind. Die Symmetrie war seitdem nicht mehr in der Lage, die gestohlenen Kinder weiterzutransportieren. Deine explosive Natur hat also bereits zahlreichen Kindern das Leben gerettet. Gut gemacht und vielen Dank.»

«Gern geschehen», murmelte Chess und spürte, wie Ethels freundliche Worte von einer Wolke aus Elend überschattet wurden.

«Aber», kam das unvermeidliche Klagelied, «es wird nicht lange dauern, bis der Computer wieder die richtigen Zeitpunkte errechnet. Dann kann der Feind wieder Kinder in die Fabrik schaffen, die bis dahin voll funktionstüchtig sein wird. Dort werden sie verzehrt. Leider.»

«Wie lange?», wollte Chess wissen. «Wie lange wird es dauern, bis das Gehirn bereit ist?»

«Woher soll ich das wissen? Eine Woche, vielleicht zwei, vielleicht schon übermorgen. So etwas kann man nicht aus dem Kalender ablesen, Liebes.» Ethel beobachtete, wie sich auf Chess’ Gesicht Frustration und Niedergeschlagenheit abwechselten, ehe es sich zu einer Miene wütender Entschlossenheit verzog.

«Okay», verkündete Chess. «Das bedeutet, wir müssen schnell handeln. Wir wissen, dass die Verbogene Symmetrie die Kinder braucht, um aus ihnen die nötige Energie zu beziehen. Wir wissen, wo sie den Computer verstecken, mit dem sie die Bewegungen des Schlingschlundes berechnen, der die gestohlenen Kinder aufsammelt. Wir wissen, von wo aus sie diese ganze Operation kontrollieren.» Der Zerebraltorus, jener riesige Ring aus Gehirnmasse, der wie ein Computer funktionierte und die Daten über den Schlingschlund ausspuckte, musste sich immer noch im alten Gefängnis am Fluss befinden, eingehüllt in das giftige Gas, mit dem er ernährt wurde. «Es ist ganz einfach. Wir greifen die Verbogene Symmetrie an, indem wir das Gehirn zerstören, bevor es wieder anfängt zu arbeiten.» Keine Kinder mehr in den Schreikammern. Keine Qual. Keine Folter.

«Unsere Mittel sind begrenzt.» Ethel schaute jetzt aus dem Fenster zu dem Bus.

«Ich weiß», murmelte Chess. «Ein Eiswagen und ein paar Gärtner.»

«Beim Kartenverkauf gibt es auch noch ein paar Agenten in Zivil. Aber», fuhr Ethel seufzend fort, «die beklagen sich meistens darüber, dass es kein fließendes Wasser zum Teekochen gibt. Wie auch immer, das Gemeinnützige Einsatzkommando ist völlig überfordert, und daher können wir derzeit unter gar keinen Umständen eine Front gegen den Feind aufstellen. Außerdem sind die Kinder nicht die einzige Energiequelle für die Verbogene Symmetrie. Die Symmetrie bezieht eine Menge ihrer Kraft aus dem Elend, das sie im Rest der Universen verbreiten. Du wirst die Symmetrie nicht aufhalten, indem du sie daran hinderst, Kinder zu stehlen.»

«Aber was sie mit den Kindern machen, ist falsch und böse!», sagte Chess. «Ich werde sie wenigstens davon abhalten.»

«Sehr ehrenhaft, Liebes. Ich bewundere deine Moral und deinen Mut. Aber da du ohne uns nirgends hingehen wirst, werden wir niemals herausfinden, ob du Erfolg gehabt hättest.»

«Ich hasse Sie!», schrie Chess.

«Das geht jedem so, früher oder später.»

Chess drehte sich von Ethel weg und betrachtete mit gerunzelten Brauen die Gruppe älterer Herrschaften, die aus dem Bus kletterten. Es waren etwa zwanzig, Männer und Frauen in kamelbraunen Jacken, Regenmänteln und breiten Schals. Sie bewegten sich unsicher, rempelten einander an und stolperten über ihre Gehstöcke, wie ängstliche Schafe, als sie sich vor den Türen des Busses versammelten. Aber was Chess ihre Wut vergessen ließ, waren die Sonnenbrillen. Sie erkannte alle möglichen Modelle und Größen, aber alle hatten sie schwarze Gläser. Es war nicht sonnig. Es war nicht einmal besonders hell, und doch trugen alle Fahrgäste Sonnenbrillen.

Chess schaute zu, wie die Herde der Alten in einer zerfransten Gruppe in Richtung des Eingangs der Burgruine schlurfte. Noch ein paar Meter, und die Reste der Burgmauer würden sie vor Chess’ Blick verbergen. Sie tapsten, sie taumelten. Und dann fingen sie an zu rennen.

Chess keuchte entgeistert auf, als die ersten Pensionäre seitlich ausbrachen und zu einem zerklüfteten Pfeiler sprinteten, auf die unteren Steine sprangen und sich auf einen tiefer gelegenen Mauerbereich zogen.

«Oh nein», stöhnte Ethel und riss das Funkgerät aus ihrer Weste. «Hammel.»

«Hammel?» Chess hatte keine Ahnung, wovon Ethel sprach. Fünf weitere Greise erkletterten die äußere Mauer und der Rest war dicht hinter ihnen.

«Bösartige Rentner. Diener des Feindes. Im Austausch gegen Vitalität und ein längeres Leben schlagen sie sich auf die Seite der Verbogenen Symmetrie. Sie sind Meister der Überwachung, des unbewaffneten Nahkampfes und zäh wie Leder. Sie sind zwar runzelig, aber gefährlich.»

«Ein bisschen wie Sie», murmelte Chess unbedacht.

«Du sprühst heute geradezu vor Charme, Liebes», knurrte Ethel, ehe sie ihre Anweisungen in das Funkgerät sprach.

Prompt rannten zwei Wachleute mit dem Wappen der Burg auf den Brusttaschen ihrer Hemden aus dem Kartenhäuschen auf die ersten Hammel zu. Chess schaute nach rechts und sah aus der anderen Richtung den Mann mit der gelben Neonweste einen grasbewachsenen Hang hinunterhetzen. In der Hand hielt er den Müllstab. Hinter ihm kam der Gärtner mit dem Rechen.

Der Gärtner überholte den Müllsammler und erreichte die Hammel als Erster. Er holte mit seinem Rechen aus und wollte damit der Frau, die den Angriff anführte, die Beine wegfegen. Aber noch im Rennen sprang sie in die Höhe. Wirkungslos zischte der Rechen unter ihr zur Seite. Sie steuerte geradewegs auf den Gärtner zu, trat mit ihrem Fuß mit voller Wucht in die Höhe, traf ihn am Kinn und schickte ihn bewusstlos zu Boden.

Hinter ihr trampelte die Hammelherde über die feuchte Erde, schwang sich behände über Mauerreste und steuerte auf den Turm zu, in dem Chess untergebracht war.

«Sie sind hinter dir her, Liebes.»

Chess’ Mund war trocken. «Was machen wir jetzt?»

«Sie aufhalten natürlich.»

Der Müllstab fuhr zwischen die Knöchel eines Mannes in einer blauen Anzughose, der daraufhin gegen eine verfallene Sandsteinsäule taumelte. Aber der nächste Hieb wurde von einem Spazierstock pariert, den ein bärtiger Hammel schwang, der so aussah wie ein uralter Kapitän. Er schlug dem Müllsammler mit dem Stock auf den Arm, packte ihn am Revers und verpasste ihm ein paar Ohrfeigen, ehe er ihn in den nächsten Graben stieß.

Zwei Frauen, denen die Strümpfe bis zu den Knöcheln gerutscht waren, galoppierten auf eine Tür am Fuß der Festung zu, direkt unterhalb von Chess. Chess hörte die dumpfen Schläge und das Aufkeuchen, als ihnen die beiden Kartenverkäufer die Köpfe in die Mägen rammten. Aber obwohl sie zu Boden geworfen wurden, fingen beide an, die Agenten des Komitees mit Schlägen zu traktieren, und rollten um sich tretend über das Gras.

«Das ist die Vorhut.» Ethel wandte sich kurz von ihrem Funkgerät ab. «Zuerst will die Symmetrie sicherstellen, dass der Vogel nicht ausgeflogen ist. Außerdem müssen sie unsere Stärke abschätzen. Dann schicken sie die eigentliche Streitmacht.»

«Ihre Augen.» Chess hatte dem bärtigen Hammel, der den Müllsammler in den Graben gestoßen hatte, ins Gesicht blicken können, weil ihm beim Kampf die Sonnenbrille heruntergefallen war.

«Ich weiß. Wenn ich ein Maler wäre, würde ich die Farbe vermutlich symmetriegrün nennen. Ziemlich grell, nicht wahr?» Sie legte Chess die Hand auf die Schulter, und ohne es zu wollen, rückte Chess näher an sie heran. «Man kann nicht von der Verbogenen Symmetrie am Leben erhalten werden und auch noch verlangen, gut auszusehen.»

Chess schob ihr Gesicht nah an die Plexiglasscheibe, um die beiden Hammel zu beobachten, die es bis zum Fuß der Festung geschafft hatten. Aber sie waren im Schutz des Turms nicht mehr zu sehen.

«Es ist mir egal, wie schwierig die Situation ist», sagte Ethel in das Funkgerät. «Geht auf eure Posten, aber es wird erst geschossen, wenn die Besucher weg sind.»

Gleichzeitig hörte Chess, wie der Motor des Eiswagens angelassen wurde. Das Gefährt holperte den Weg vom Rand des Parkplatzes in Richtung des Eingangstors entlang.

Über ihr war ein Aufprall zu hören und dann das Gepolter von Schritten.

«Sie sind auf dem Dach.» Ethel schaute zu Lats. Er nickte und hebelte das Plasma-Gewehr von seinen Schultern. Er hielt die Waffe, die etwa so groß war wie ein Automotor, mit einer Hand an die Hüfte gepresst, während er mit der anderen ein Kalibrierungsrad an dem Gehäuse betätigte. Das Plasma-Gewehr fing an zu summen.

Der Eiswagen war durch das Tor gefahren und blieb auf der Rasenfläche zwischen Burgmauer und Festungsgebäude stehen. Chess sah, wie sich das Seitenfenster öffnete und zwei Gewehrläufe nach draußen geschoben wurden.

«Noch nicht», befahl Ethel.

«Nein», hauchte Chess, als sie ein knallrotes Etwas über das Gras hopsen sah.

Das kleine Mädchen blieb mit offenem Mund stehen und nahm den Anblick der beiden Kartenverkäufer, die mit zwei alten Damen auf dem Rasen rangen, in sich auf. Ihr Blick wanderte zu dem Müllsammler im Graben, zu dem bewusstlosen Gärtner und der Herde von Hammeln mit ihren Sonnenbrillen, die sich am Fuß der Festungsruine versammelten.

«Mama, Mama!», kreischte es und rannte aus Chess’ Blickfeld. «Die Omas raufen!»

Aber als die Kleine mit den Erwachsenen im Schlepptau zurückkehrte, war der Kampf vorbei. Ein paar Rentner hatten sich am Graben versammelt und verdeckten den Körper des Müllsammlers, während alle scheinbar andächtig einem Vortrag über den Zweck der nebenstehenden Steine lauschten, den ein Mitglied der Gruppe hielt. Ein paar andere hatten ihre Mäntel auf dem Gras – und über dem Gärtner – ausgebreitet und sich darauf niedergelassen, während zwei müde wirkende Kartenverkäufer mit langsamen Schritten zwei gebrechliche alte Damen zurück zu ihrer Gruppe führten.

Hoch über allen hingen zwei Hammel an der Turmwand, so reglos wie Wasserspeier. Aber keiner sah sie, weil keiner nach oben schaute. Keiner hatte einen Grund zum Hochschauen.

«Na komm», sagte die Mutter des kleinen Mädchens. «Du hast heute eine lebhafte Fantasie.»

«Ich kann’s ihr nicht verdenken», sagte die andere Frau. «Hier ist ja wirklich nicht viel los.»

Beide gingen in Richtung des Ausgangs.

«Kriege ich ein Eis, Mama? Bitte!»

«Ich wusste gleich, dass dieser Eiswagen eine Schnapsidee ist», grollte Ethel. «Setz ein Kind ohne Hemd und Hose am Nordpol aus und steck ihm Eiswürfel in die Unterwäsche, und es will trotzdem noch ein Eis haben.»

Das kleine Mädchen rannte auf das Seitenfenster des Eiswagens zu.

«Nicht jetzt!», rief die Mutter. «Du bekommst ein Eis, wenn wir zu Hause sind.»

Das kleine Mädchen zögerte. Ein paar Schritte noch, und es würde geradewegs in die Gewehrläufe schauen.

«Jetzt komm, oder es gibt gar kein Eis.»

Das kleine Mädchen drehte sich um und rannte zurück zu den beiden Frauen.

Alle warteten, während die Besucher zum Parkplatz schlenderten. Alle warteten, während sich die Autotüren öffneten und dann zuschlugen. Und alle warteten, bis die Reifen knirschend über den Schotter gerollt waren und der Wagen auf die Straße am Ende des Parkplatzes einbog.

«Alles klar.» Ethel hatte die faltigen Lippen dicht an das Funkgerät gelegt.

Und dann legten alle gleichzeitig los.

Die beiden Kartenverkäufer wanden sich am Boden, zerquetscht von einer Horde Hammel, die auf sie einschlugen. Zwei aus der Gruppe, die am Graben gestanden hatte, eilten zurück zum Bus. Auf dem Dach des Eiswagens klappte eine Luke auf, und ein Mann mit einem Gewehr an der Wange schob den Oberkörper heraus. Zweimal knallte die Waffe scharf, und die Hammel fielen zu Boden.

Chess drückte das Gesicht gegen das Plexiglas. Die Scheibe war von ihrem Atem so beschlagen, dass sie nur verschwommen sah, aber sie hörte die Gewehrschüsse und erkannte, dass sich die Hammel aufteilten.

RUMMS.

Ein Gesicht prallte gegen ihres, verkehrt herum auf der anderen Seite der Fensterscheibe hängend. Chess schrie auf und sprang zurück. Einer der Hammel war offensichtlich wie eine Fledermaus vom Dach aus an der Wand des Turms nach unten geklettert. Die grellgrünen Augen und die winzigen Pupillen waren starr auf sie gerichtet, und eine hagere Faust hieb gegen die Plexiglasscheibe.

«Lats?» Ethels Stimme hatte einen scharfen Unterton angenommen, als sie sah, wie sich das Plexiglas unter den Faustschlägen weiß färbte.

Zwei weitere Gesichter tauchten auf, eins an der Seite und das andere am unteren Rand des Fensters. Graue Finger kratzten wie irrsinnig an der Scheibe.

«Chess.» Sie sprachen ihren Namen sanft aus. Dampfender Atem strömte aus ihren Mündern und vernebelte das Plexiglas.

Einer der Hammel schaute nach unten und schrie: «Hier. Sie ist hier.»

Der Motor des Busses erwachte rumpelnd zum Leben.

«Jetzt wird’s ernst», sagte Ethel.

Lats grunzte und stieß jene schleppenden Töne aus, die seine Sprache waren. «Alles bereit», übersetzte die Stimme aus dem Konvers-Kragen.