The Bad Tuesdays: Das Ende der Zeit - Benjamin J. Myers - E-Book

The Bad Tuesdays: Das Ende der Zeit E-Book

Benjamin J. Myers

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Beschreibung

Was wird Chess tun, wenn die Zeitspirale den fünften Knoten erreicht? Es gibt so viel Schmerz in den Universen, so viel Leid, dass sie durchaus bereit ist, allem ein Ende zu bereiten. Genau das wollen die Inquisitoren. Sie bringen im letzten Moment jemanden ins Spiel, mit dem niemand gerechnet hat, am wenigsten Chess. Und da ist noch jemand, im allerletzten Moment …

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Benjamin J. Myers

THE BADTUESDAYS:

DAS ENDEDER ZEIT

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Danksagung

Für Juliet

PROLOG

Splinter ist tot.

Chess hielt die Worte in ihrem Geist fest, drehte sie hin und her und wog jedes einzelne ab, als ob sie Steine in ihrer Hand wären: schwer, glatt und so kalt wie ein Grab.

Splinter ist tot.

Der Winterwind schnickte kastanienfarbene Locken über ihr Gesicht. Sie wischte sie mit ihren Fingerspitzen weg, ehe sie die Hände zu Fäusten ballte und in die Taschen ihrer Lederjacke stopfte. Ihre braunen Augen waren feucht von der rauen Luft und sie blinzelte winzige Tropfen von ihren dichten Wimpern. Dann schloss sie die Augen und fühlte den Raum des Abgrunds vor ihren Schuhspitzen, die bis an den Rand der Turmplattform reichten, fühlte bis hinunter zu der Kanalisation, die sich durch die tropfende Dunkelheit zwischen den Wurzeln der Stadt hindurchwand.

Aber der Abgrund war nicht nur unter ihr. Für Chess erstreckte sich der Raum vorwärts und rückwärts, bis er sich an einem Fluchtpunkt verlor, der so weit entfernt war wie die Zeit selbst, so weit, wie sie denken konnte. Aber egal, wie weit sie ihren Geist ausdehnte, wie tief, wie konzentriert sie auch suchte, sie fand keine Spur von Splinter. Chess wusste nicht, wo er war.

Es gab so vieles, was sie nicht wusste, was sie nicht verstand. Sie wusste, dass in den Universen ein Krieg tobte. Sie wusste, dass eine Welle von Hass sich auf ihre Welt zubewegte, auf ihre Stadt. Sie wusste, dass in wenigen Tagen, vielleicht sogar schon in wenigen Stunden, die Zeit selbst auf dem Spiel stand. Und sie wusste, dass sie alles beenden konnte, mit nur einem einzigen Gedanken. Das war der Grund, weswegen sie hier war. Dazu war sie erschaffen worden. Und mit seinen Maschinen und seiner Warp-Technologie hatte der Feind, die Verbogene Symmetrie, jeden Winkel ihres Geistes mit der dunklen Energie angefüllt, die er vorher aus Äonen von Leid und Schmerz herausgefiltert hatte. Chess hatte all das Leid gesehen, hatte den Schmerz gefühlt, mit ihrem ganzen Wesen. Jetzt wartete die Symmetrie, wartete darauf, dass sie explodieren würde, dass sie die Ewige einsetzen und alles zerstören würde, bis nur noch die Symmetrie übrig war.

«Nein», flüsterte Chess dem Wind zu, der ihr die Worte von den Lippen riss. Sie wollte nicht dasselbe, was die Symmetrie wollte. Aber wenn die Zeit gekommen war und die Universen in ihrer Hand lagen, wusste sie nicht, was sie tun würde.

KAPITEL 1

Das Licht des späten Winternachmittags erstarb in dem verdreckten Glas der Kuppel. Nur ein bleiches Schimmern sickerte durch und warf trübe Flecken auf den Betonboden. Das Hämmern ihrer Stiefelabsätze hallte wider, als das Mädchen die dämmrige Eingangshalle des alten Busdepots betrat. Körper bewegten sich in dem schwachen Licht. Ein Holzstock kratzte über den Boden, jemand hustete, und dann waren Schemen zu erkennen. Die Schemen lösten sich aus den Schatten wie Phantome – Phantome, die nach Bier und Schweiß stanken. Die Obdachlosen bewachten diesen Teil des Busdepots. Sie ließen das Mädchen mit dem rabenschwarzen Haar und den Saphiraugen passieren, denn sie kannten sie gut. Sie wussten, dass sie für das Komitee arbeitete, und sie wussten, dass das Schwert, das sie in der Tasche auf ihrem Rücken trug, in ihren Händen eine tödliche Waffe war.

«Sie warten schon auf dich, Anna», lallte ein bärtiger Mann in einem schmierigen Regenmantel.

«Sie warten auf mein Blut», erwiderte Anna. Die Bemerkung hatte lässig klingen sollen, aber ihre Stimme wurde von der Dämmerung verschluckt. Die Penner schwiegen, während sie den kahlen Raum durchschritt, aber ihre Augen folgten ihr, bis sie durch die Tür am anderen Ende der Halle verschwunden war. Dann kehrten sie in die Schwärze der Schatten und zu ihren halb leeren Flaschen zurück.

Anna betrat einen lang gestreckten, niedrigen Raum. Er war beinahe so groß wie eine Tiefgarage, und die schmutzstarrenden Fenster waren vergittert. Als Anna das letzte Mal hier gewesen war, war ein Teil dieses Raums zu einer Krankenstation umfunktioniert gewesen und ein anderer Teil zum Wohnzimmer einer alten Dame. Jetzt standen überall Waffen und Munitionskisten herum und Behälter mit der Aufschrift: VORSICHT SPRENGSTOFF. Männer und Frauen in Kampfanzügen arbeiteten in stiller Geschäftigkeit.

«Miss Ledward?»

Anna wandte sich um und sah sich einem uniformierten Mann mit einem Klemmbrett in der Hand gegenüber. Sie nickte. «Sieht so aus, als würde das Komitee ernst machen.» Wachen waren im alten Busdepot, das als Hauptquartier für das Komitee diente, ein gewohnter Anblick, aber Anna hatte noch nie so viele auf einmal gesehen und auch nicht diese Menge an Waffen.

Der Mann kaute auf seinem Tabakpriem herum. «Die Verbogene Symmetrie ist im Anmarsch», sagte er. «Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir warten noch auf Verstärkung.» Er ruckte mit dem Kopf in Richtung des nächstliegenden Waffenstapels. «Wir werden ihnen einen guten Kampf liefern», sagte er stolz.

«Ganz bestimmt», nickte Anna mit mehr Begeisterung als sie empfand. Sie kannte den Feind besser als irgendjemand hier im Raum. Sie wusste, dass es mehr als Soldaten und Feuerwaffen bedurfte, um eine Attacke der Verbogenen Symmetrie zu überstehen. Aber sie wusste auch, dass der Mann, der vor ihr stand, das jetzt nicht hören musste.

«Sind Sie bereit? Für die Operation, meine ich.» Der Wachmann verlagerte unbehaglich sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

«Ich kann’s kaum erwarten», murmelte Anna. Ihr Magen fühlte sich an, als hätte man einen Liter Kleister hineingeschüttet.

«Man hat mich gebeten zu überprüfen, ob Sie das Prä-OP-Medikament eingenommen haben, das man ihnen geschickt hat.»

«Ja, ich hab’s genommen.» Das Medikament war vor ein paar Tagen in die Mendoza Row geliefert worden, wo sie im Augenblick wohnte: ein Paket mit einer Spritze und Anweisungen, die Flüssigkeit zwei Stunden vor der Operation zu injizieren.

Anna fühlte immer noch den Stich in ihrer Armbeuge, wo sie die Nadel in ihre Vene eingeführt hatte. Die Injektion hatte zuerst ihren Arm und dann ihren ganzen Körper gefühllos gemacht. Aber ihr Herz wurde fest umkrallt von dem Gedanken daran, was jetzt passieren würde.

Anna ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ihre Augen unter dem schnurgerade geschnittenen Pony funkelten. «Ihr vom Komitee seid doch eigentlich die guten Jungs, warum fühle ich mich dann im Moment so mies?», murmelte sie.

«Natürlich sind wir die Guten! Und die von der Verbogenen Symmetrie sind die Bösen: Sie wollen uns alle tot sehen. Und zwar wirklich alle – außer der Verbogenen Symmetrie.»

«Ich weiß, ich weiß», seufzte Anna. Doch wusste sie mehr über den Kampf gegen das Böse als der Wachmann – je näher man der Dunkelheit kam, desto näher rückte die Dunkelheit an einen selbst heran. Man musste sich nur Chess anschauen. Chess war erst vierzehn Jahre alt, aber sie war das mächtigste Wesen der gesamten Universen. Doch diese Macht hatte sie so nah an die Dunkelheit geführt, dass sie darum kämpfen musste, im Licht zu bleiben.

«Das Komitee weiß, was es tut», versicherte ihr der Wachmann. «Keine Sorge, Miss.»

Klar doch, dachte Anna, genauso wenig, wie Sie sich Sorgen machen werden, wenn die Symmetrie erst einmal auftaucht. Aber sie lächelte bloß und zupfte die langen schwarzen Haare in ihrem Pferdeschwanz zurecht.

«Sie werden eine großartige Blutwächterin abgeben», fügte der Mann hinzu, als ob das ihre Stimmung heben könnte.

Blutwächterin. Anna dachte über dieses Wort nach. Blutwächter waren die besten Kämpfer des Komitees: Menschen, deren Blut mit dem Blut des unsterblichen Kriegers Julius vermischt worden war. Seine DNA wurde mit der menschlichen DNA verschmolzen, wodurch die Blutwächter ein Echo seiner Macht erhielten. Das war der Grund, warum sie hier war. Sie würde sich der Operation unterziehen, die aus ihr eine Blutwächterin machen würde. Tief unten in den Gewölben des Hauptquartiers wartete man schon im OP-Saal auf sie. Der Kleister in ihrem Magen verwandelte sich in Blei.

Der Wachmann redete immer noch, und als er sich umblickte, hatte Anna das Gefühl, er wollte sie an etwas Vertraulichem teilhaben lassen. «Ich und ein paar andere haben Wetten abgeschlossen, welcher Blutwächter die meisten Feinde tötet», flüsterte er. «Die meisten setzen auf Sie, vorausgesetzt, Sie überleben die Operation.»

«Fantastisch», sagte Anna, «das baut mich wirklich auf, ehrlich. Danke.»

Er nickte bedeutsam. «Sie gehen jetzt besser hinunter, Miss. Es wird Zeit.» Und damit nahm er einen Becher vom Tisch und spie einen Strahl schwarzer Spucke hinein.

Anna folgte den Gängen und Treppen, die nach unten führten. Auf dem Weg durch die unterirdische Welt begegneten ihr mehr Patrouillen als gewöhnlich, Männer und Frauen mit bleichen Gesichtern und angespannten Muskeln. Während sie immer tiefer in den Komplex eindrang, der in die Erde unter dem baufälligen Backsteingebäude des alten Busdepots gegraben war, fühlte sie, wie die Entfernung zwischen ihrem jetzigen Leben und ihrer Vergangenheit ins Unendliche wuchs.

Seit sie Chess getroffen hatte und in den allumfassenden Krieg zwischen dem Komitee und der Verbogenen Symmetrie hineingeraten war, hatte sich Anna immer weiter von ihrem wirklichen Leben wegbewegt, von ihrer Familie und ihren früheren Freunden. Aber sie hatte festgestellt, dass sie damit gleichzeitig den Platz gefunden hatte, der ihr vorherbestimmt war und an den sie gehörte. Doch es war ein Platz voller Gefahren und Gewalt, ein Platz, der sie vollkommen von ihrem alten Leben abgeschnitten hatte. Und während sie jetzt in diese Unterwelt aus feuchten Steinen, blanken Kabeln und flackernder Notbeleuchtung eindrang, wusste Anna, dass der nächste Schritt endgültig sein würde. Die letzte Schlacht zwischen dem Komitee und der Verbogenen Symmetrie stand bevor, und wenn das Kämpfen begann, würde in ihren Adern das Blut der Unsterblichen fließen.

Falls ihr Körper den Eingriff überlebte. Dafür gab es keine Garantie.

Darum hatte sie ja die Prä-OP-Medizin bekommen. Es bestand immer ein gewisses Risiko, wenn Julius’ Blut mit dem eines Sterblichen vermischt und damit das Blut eines Menschen der Ewigkeit ausgesetzt wurde, nämlich die Gefahr eines anaphylaktischen Schocks. Die Prä-OP-Medizin sollte das Risiko reduzieren. Aber ein gewisses Restrisiko blieb. Und gegen den Schmerz half auch diese Medizin nichts.

Anna erreichte die Tür zum OP-Saal. Sie wollte da nicht hinein, aber sie musste. Sie holte tief Atem, stieß die Tür auf und trat ein.

Der Raum wurde von einem grellen weißen Licht erleuchtet, das die Stahlschränke und die chirurgischen Instrumente gleißen und blitzen ließ. Unter einem Bündel aus erbarmungslosen Scheinwerfern standen zwei Operationstische. Dazwischen befand sich eine Ansammlung von Monitoren und Schalttafeln, von denen Hunderte Kabel und Schläuche herunterhingen, so dünn wie Draht.

«Hallo, Liebes», sagte eine alte Dame in einer ausgeleierten salbeigrünen Strickjacke, einer wachsgelben Bluse und einem schlecht sitzenden, orange-weiß gemusterten Rock. Sie saß auf einem hohen Metallschemel neben einem der Operationstische und hatte die mit Altersflecken übersäten Hände zwischen ihre knochigen Knie gesteckt.

«Hallo, Ethel», sagte Anna.

Ethel schob ihre fettigen grauen Haare von ihrer Brille, deren Gläser wie immer trüb und verschmiert waren. «Hast du dir die Spritze gesetzt?», wollte sie wissen. Anna nickte und Ethel klatschte in übertriebenem Entzücken in die Hände. «Hervorragend!»

«Als einer der führenden Köpfe des Komitees und eins der mächtigsten Geschöpfe des Universums», bemerkte Anna, «sind Sie sehr leicht zufriedenzustellen.»

«Als einer der führenden Köpfe des Komitees und eines der mächtigsten Geschöpfe der Universen», gab Ethel zurück, «muss ich mich mit dem zufriedengeben, was mir an kleinen und ganz kleinen Triumphen in den Schoß fällt.» Sie setzte ein leidendes Lächeln auf.

«Als Kleinigkeit würde ich Spritzen nicht gerade bezeichnen», grummelte Anna und schaute über einen Stahltisch hinweg. «Hallo, Lemuel», sagte sie, während sie gleichzeitig nicht umhin konnte zu bemerken, wie die Person, die sie angesprochen hatte, ein Skalpell begutachtete, dessen Schneide so scharf war, dass sie wie ein Lichtblitz aussah.

Lemuel Sprazkin, bekleidet mit einem schwarzen, hochgeschlossenen Gewand, das mit zarten Silberstreifen durchzogen war, verbeugte sich höflich. «Miss Ledward», gurrte er und lächelte sie aus seinen schmalen, mandelförmigen Augen an. Sein kreideweißes Gesicht war wie ein Halbmond geformt, in dem der Bogen seines langen Kinns wie ein Spiegelbild der dünnen, messerartigen Nase wirkte. In der Glasplatte auf seinem kahlen Schädel spiegelten sich blitzend die grellen Oberlichter wider. Eine winzige Vorrichtung an der Unterseite der Platte enthielt einen Bohrer, der in sein Gehirn eingeführt werden konnte, um sein Verhalten zu kontrollieren.

Lemuel war ein Warp, einer der genetisch erzeugten, künstlichen Wissenschaftler der Verbogenen Symmetrie. Und er war nicht irgendein Warp. Er war der oberste Warp der Symmetrie gewesen. Aber er war schon vor langer Zeit auf die Seite des Komitees gewechselt. Das Komitee verließ sich seit Jahren auf seine technologischen Kenntnisse, aber Anna wusste, dass man ihn mit so viel Vorsicht behandeln musste wie die Kiste mit Sprengstoff, die sie im Busdepot gesehen hatte. Lemuel richtete sich auf und warf Anna eine Kusshand zu.

Die dritte Person im Raum war Julius. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und bereits Mantel und Hemd abgelegt. Beides lag über einem Stuhl in der Ecke des Raums, zusammen mit seinem Gürtel und den Maschinenpistolen. Das lange gelbe Haar hing ihm lose über die Schultern und den schmalen, starken Rücken. Seine Haut war beinahe ebenso bleich wie die von Lemuel.

«Bereit?», fragte er und wandte sich ihr zu.

Anna zuckte mit den Schultern. «So gut es eben geht.» Sie kannte Julius gut genug, um sich nicht mehr von seinem seltsamen Gesicht beeindrucken zu lassen, das halb aus dem gleichen bleichen Fleisch wie sein Körper bestand und halb aus einem silbernen Metall, das so weich und nachgiebig war wie menschliches Gewebe. In der fleischlichen Seite brannte ein rotes Auge, in der silbernen ein eisblaues. Und seine Hände schimmerten in dem Licht der Scheinwerfer so silbern wie seine Gesichtshälfte. Das Metall war durch sehnendicke Stränge mit der Haut seiner Unterarme verbunden. Selbst ein Halbgott musste hin und wieder repariert werden, wenn er seit Jahrtausenden gegen die Verbogene Symmetrie kämpfte.

Anna legte die Hockeytasche ab, in der sie das Schwert in seiner Scheide aufbewahrte, und stellte sie vor den zweiten Stuhl. Sie begann, sich auszuziehen, schüttelte die weite Lederjacke ab und zog sich die Bluse über den Kopf. Sie und Julius bewegten sich ganz automatisch. Anna hatte das Gefühl, als würde sie sich selbst betrachten.

«Deine physische Kondition ist perfekt», trillerte Lemuel mit seiner schrillen Stimme.

Ethel warf ihm einen misstrauischen Blick zu, aber Anna brummte bloß: «Ich wette, das sagst du zu allen Mädchen.» Dann setzte sie sich auf den Stuhl und zog ihre Stiefel aus. Sie vermied es, zu dem Rollwagen am Kopfende eines der Operationstische hinüberzusehen, auf dem eine Reihe von Nadeln, Sonden und Skalpellen bereit lagen. Alles glänzte; alles war bereit, um Haut zu durchschneiden und Muskeln abzuschälen.

«Hast du Chess gesehen?», fragte Ethel.

«Heute noch nicht», antwortete Anna.

Ethel seufzte. «Es ist fast soweit.»

Anna schaute hoch, während sie den zweiten Stiefel vom Fuß zog. «Was?»

«Das Ende der Zeit, meine Liebe.»

«Wenn Sie das sagen, klingt es so alltäglich», lautete Annas Kommentar. Sie stand auf und wich Lemuels Blick aus, der seine chirurgischen Instrumente liebkoste.

Ethels hagere Schultern hoben sich und fielen wieder herab. «Wenn man so verzweifelt ist wie wir, kann man einfach nicht anders darüber reden.»

Anna merkte, dass Julius Ethel einen düsteren Blick zuwarf. Seine Kiefer verkrampften sich, aber er sagte nichts. Es war offensichtlich, dass die Anführer des Komitees sich nicht ganz einig waren, egal wie verzweifelt die Lage auch war.

«Wenn die Zeitspirale den fünften Knoten erreicht, ihren Endpunkt», fuhr Ethel fort, «wird alles von Chess abhängen. Wenn sie der Symmetrie nachgibt, ist alles verloren.»

«Und wenn nicht?», wollte Anna wissen.

«Dann wird der Feind eine dicke Überraschung erleben», lächelte Ethel, so hoffnungsvoll wie ein Kind. «Die Entscheidung liegt allein bei Chess.»

Anna schaute Ethel an, als ob sie es mit einem quakenden Ochsenfrosch zu tun hätte. «Machen Sie Witze? Chess ist in einem derartigen Zustand, dass sie nicht mal entscheiden könnte, was sie zum Frühstück essen will. Wie soll sie dann entscheiden, was sie mit dem Universum anstellt, Ethel?»

«Mit den Universen», lächelte die alte Dame.

Anna funkelte Ethel an, unfähig, ihren Unmut über diese Selbstgefälligkeit zu verbergen, und wütend darüber, dass Ethel von ihrer Freundin erwartete, das Schicksal der Universen in ihre Hand zu nehmen, wo Anna doch wusste, dass Chess unter der Last zusammenbrach.

«Mevrad hat die Unsicherheit gewählt», murmelte Julius.

Ethels anderer Name gemahnte Anna daran, dass an der alten Dame weit mehr dran war, als der äußere Anschein verriet, aber trotzdem wandte sie ihren wütenden Blick nicht von ihr ab.

«Ich will die Symmetrie besiegen, Julius. Für immer», fuhr Ethel ihn an.

Julius streckte ein Schwert vor, das noch in der Scheide steckte, ein Samurai-Schwert wie das von Anna, nur länger und breiter. «Mir ist Gewissheit lieber», verkündete er mit seiner weichen, tiefen Stimme, die nun sehr bestimmt klang. «Heute Nacht wird die Symmetrie diese Stadt angreifen, so wie sie alle Universen mit ihrer finalen Schlacht überziehen wird. Während Mevrad darauf wartet, wie sich Chess entscheidet, werden wir kämpfen, um die Stadt und ihre Einwohner zu beschützen. Das ist gewiss.»

Ethel kräuselte ihre dünnen Lippen, sagte aber nichts.

«Mit ‹wir› meinen Sie die Blutwächter?» Anna, die im Begriff war, das Schwert aus Julius’ Hand entgegenzunehmen, zögerte. Er war der letzte Held, der letzte der Nephilim.

«Dazu sind wir da, Anna.» Er nickte und bedeutete ihr, das Schwert zu nehmen.

Anna tat, wie geheißen. Als sie den Griff des leicht gebogenen Schwertes umklammerte, packte Julius ihren Unterarm. Seine Augen bohrten sich blitzend in ihre. In diesem Moment war ihr Geist erfüllt von einer Vision: Sie sah Feuer, hörte das Klirren von Schwertern und das Brüllen der Feinde – riesige, fettleibige und schwitzende Eiterbeulen, die mächtige Streitäxte schwangen.

Julius ließ Anna los und wandte den Blick ab. Ihr Geist wurde leer. «Die Pestbrut kommt über die Stadt», sagte er. «Heute Nacht werden wir sie aufhalten.»

Anna wog die Waffe in ihrer Hand. «Was für eine Art von Schwert ist das?»

«Es hat eine Muspell-Klinge», erwiderte Julius. «Mit Phosphor überzogen. Sie brennt. Feuer ist die beste Möglichkeit, die Pestbrut zu vernichten.» Er nickte zu dem Schwert. «Du wirst es brauchen.»

«Es wird nicht von meiner Seite weichen», versicherte sie ihm und lehnte das Schwert gegen den Stuhl, auf dem ihre Kleider lagen. Dann zog sie sich ganz aus und schlüpfte nackt unter das Laken, das auf dem Operationstisch lag. Julius tat es ihr gleich.

Wie sie da auf der eiskalten Stahlplatte lag, schien es ihr, als ob der Raum sein ganzes Gewicht auf sie niederdrücken würde. Sie fühlte das Pochen ihres Pulses in ihrem Hals und merkte, dass ihre Atmung so flach war, dass kaum noch Luft in ihre Lungen drang.

Ganz ruhig. Beherrsche dich. So hatte sie es gelernt.

Anna atmete tief ein und aus, versuchte, ihr hämmerndes Herz in einen gleichmäßigen Rhythmus zu bringen. Es war nicht einfach. Sie hatte sich schon oft der Gefahr gegenübergesehen, war von ihrer elektrisierenden Wirkung angefeuert worden, aber jedes Mal war es im Kampf gewesen, wenn ihr Leben in ihren eigenen Händen lag. Jetzt hatte sie es jemand anderem überantwortet. Selbst das Licht, das sich in ihre Augen bohrte, kam ihr schneidend scharf vor. Ohne den Kopf zu heben, beobachtete sie Lemuel, der sich mit tänzerischer Grazie zwischen den beiden Operationstischen bewegte. Als er sich ihr näherte, richtete sie den Blick nach oben. Sie wollte nicht sehen, wie sich seine Finger an den fadendünnen Schläuchen zu schaffen machten, sie in ihren rechten Arm und in ihren Körper einführten, unter ihre Haut schoben, wo sie erst kitzelten und dann stachen.

«Deine rechte Hand, sie ist silbern», sagte Anna rau. Ihr Blick war auf das glänzende Metall gefallen und sie wollte sich von der Prozedur ablenken, die ihr bevorstand.

«Ich habe die alte abgeschnitten, um eine Falle zu legen», zwitscherte er fröhlich. Dann beugte er sich so weit nach unten, dass seine dunklen Lippen ihre Wange streiften. «Das ist eine lange Geschichte», fügte er hinzu.

«Für lange Geschichten haben wir keine Zeit, Lemuel», warnte ihn Julius. Er lag auf dem Tisch daneben, und sein Körper war bereits mit den Schläuchen und Kabeln verbunden, die aus der Apparatur zwischen den Tischen ragten. «Wir haben viel Arbeit vor uns.»

«Dann lasst uns anfangen. Frisch gewagt ist halb gewonnen», trällerte Lemuel. «Nichts und niemand braucht so viel Zeit wie ein Unsterblicher, der in Eile ist. Aber wir dürfen nichts übereilen, Julius, nein, das dürfen wir nicht.» Sein Lächeln schob sich bis zu den schräg stehenden Augen. «Wir dürfen das Risiko nicht unnötig vergrößern.»

«Da bedanke ich mich auch recht schön», murmelte Anna und schloss fest ihre blauen Augen, als ob das den dumpfen Schmerz in ihrem Arm und ihrer Seite mindern könnte. Als sie die Augen wieder aufschlug, war Lemuel aus ihrem Blickfeld verschwunden, aber sie spürte seine Nähe. Er machte sich an dem kleinen Rollwagen zu schaffen, dessen ausgezogene Deckplatte nur wenige Zentimeter über ihrem Kopf schwebte. Darauf lagen die Instrumente. Das schrille Schaben von Metall auf Metall war zu hören, als Lemuel die Skalpelle auswählte.

Es würde wehtun, das wusste sie.

Aber wie sehr?

Eine Nadel schob sich in ihren Sichtbereich, eine lange Nadel, länger als alle Nadeln, die Anna je gesehen hatte. Lemuel marschierte um den Tisch herum und nahm ihren rechten Arm.

«Nicht zappeln», kicherte er, während er die Nadelspitze in Annas Handgelenk drückte. Vorsichtig drehte er die Nadel zwischen seinen Metallfingern und schob. Er schob und schob, bis die Nadel etwa zur Hälfte im Unterarm des Mädchens verschwunden war. Anna machte die Augen zu und atmete tief durch die Nase ein und aus.

«Ich prüfe nur nach, ob alles genauso sitzt, wie es sein muss», flüsterte Lemuel, der immer noch mit behutsamen Bewegungen die Nadel drehte und schob. «Wir wollen doch nicht, dass sich irgendetwas verschiebt. Nein, wir wollen die Schnittstelle genau da, wo sie sein soll. Es macht doch keinen Sinn, wenn am Ende nichts weiter herauskommt als ein unsterblicher Fingernagel», kicherte er. Dann wackelte er mit den Fingern seiner linken Hand, an deren Enden lange schwarze Nägel saßen. «Man stelle sich vor, du würdest ihn abbrechen oder ihn vor lauter Nervosität abknabbern! Nein, wir brauchen eine ganze unsterbliche Anna, von den Haarspitzen bis zu den Fußzehen und jeden Zentimeter dazwischen.»

Er schloss die grauen Augen und lächelte ein verträumtes Halbmondlächeln. Die dunklen Lippen teilten sein kalkweißes Gesicht in zwei Hälften. Seine Augen klappten wieder auf und richteten sich auf Julius. «Das Blut der Alten, des letzten der Nephilim, vermischt mit dem Blut eines … Kindes.» Seine Stimme zitterte. Seine lila Zungenspitze benetzte einen Mundwinkel und zog sich dann zuckend wieder in die Mundhöhle zurück.

«Lemuel», sagte Ethel warnend. Ihre Stimme war streng und von ihren Brillengläsern wurde das weiße Licht blitzend reflektiert.

«Mit sechzehn ist man doch kein Kind mehr», presste Anna durch die Zähne. Ihre Augen waren immer noch geschlossen.

«Und du bist schon fast siebzehn», ergänzte Ethel.

Lemuel ließ die Nadel los und umklammerte seine Hände, die Metallfinger der rechten webten sich zwischen die Finger aus bleicher Haut der linken Hand. «Aber noch immer so jung, so stark. Ein solches … Blut.»

«Lemuel», warnte Ethel noch einmal.

«Es ist keine so außerordentliche Rarität wie das Blut von Chess, nicht so atemberaubend unwiderstehlich», fuhr er schwärmerisch fort, während er zu Anna hinunterblickte. «Aber trotzdem – es ist köstlich!»

«Lemuel!», fuhr Ethel auf.

«Kannst du das bitte aus meinem Arm nehmen?», ließ sich Anna vernehmen. Sie knirschte mit den Zähnen und blickte zu der Nadel, die aus ihrem Handgelenk ragte. Dann funkelte sie Lemuel Sprazkin an. Chess mochte ja begreifen, wie sehr Lemuel mit den Sehnsüchten zu kämpfen hatte, die ihm eingepflanzt worden waren, aber sie begriff es nicht. Sie wusste, dass ohne Lemuels raffinierten Geist niemand von ihnen der Symmetrie die Stirn bieten könnte. Aber sie wusste auch, dass es dieser raffinierte Geist war, dieses schlüpfrige, hinterhältige Gehirn, das ihn unberechenbar machte. Und gefährlich.

«Bitte, Anna», sagte Lemuel klagend, «schau mich nicht so an.» Seine Stimme war voller Schmerz, genauso wie ihr Arm. «Ich war zwar der oberste Warp der Symmetrie, aber heutzutage versuche ich mich zu benehmen. Ich will gut sein.»

Er griff nach der Nadel, und Anna gab sich Mühe, still zu liegen, als er die Kanüle aus ihrem Fleisch zog. Dann tänzelte Lemuel wieder zur Mittelkonsole zwischen den Operationstischen und legte eine Reihe von Hebeln um. Der Raum verdunkelte sich, bis nur noch ein silbriges Vollmondleuchten geblieben war. Anna fühlte die Schläuche in ihrem Fleisch zucken wie Fadenwürmer.

«Es ist zu dunkel», maulte Ethel. Sie nahm die Brille ab, spuckte auf die Gläser und rieb sie an dem Ärmelaufschlag ihrer Strickweste ab. Dann schob sie sie wieder auf ihre Nase.

«Du hast keinen Sinn für die Kunst, Mevrad», hielt Lemuel ihr vor. Er schloss die Augen und atmete tief ein, wobei die hochgezogenen Nasenlöcher bebten. «Blut ist meine Kunst, und eine Kunst wie diese erfordert einen Moment der Ehrfurcht. Die Heiligkeit dieses Moments ist der Herzschlag allen Seins, und auf meinen Willen hin wird die Ewigkeit zu einem Augenblick.» Er beschrieb mit der Nadel einen Bogen, unterstrich seine symphonisch pompösen Verkündigungen mit der Geste eines Dirigenten. «Ich kann in einem Wimpernschlag den Verlauf der Zeit verändern.»

Lemuels Hände flatterten zu einer kleinen Schalttafel und er legte die Fingerspitzen darauf, als ob er Klavier spielen wollte. «Evolution», erklärte er hochmütig, «ist etwas für Einzeller. Nur ich kann Götter erschaffen.»

«Halbgötter», hörte Anna Ethel murmeln, aber Lemuel war offensichtlich zu gefangen in seinem eigenen Genie, um die Richtigstellung zu bemerken. Er hob einen langen Finger, den schwarzen Nagel schnurgerade in die Höhe gereckt, und ließ ihn dann hinuntersausen auf einen Knopf auf der Schalttafel.

Anna sah, dass sich die Kaskade der Schläuche rot färbte, während Julius’ Blut in ihren Körper gepumpt wurde. Sie wappnete sich gegen den Schmerz. Aber da war kein Schmerz, jedenfalls am Anfang noch nicht, und sie stieß zischend den Atem aus. Dann brandete der Schmerz doch gegen sie an, schlug über ihr zusammen. Er war weiß wie glühend heiße Kohlen, versengte ihr Inneres, blendete sie. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien, aber sie konnte nicht verhindern, dass sich ihr Körper versteifte und sich ihr Rücken so stark durchbog, dass ihr Kopf nach oben fuhr und gegen den Stahltisch stieß.

Sie hörte, wie Ethel aufkeuchte und an ihre Seite eilte.

Lemuel keuchte ebenfalls, aber vor Entzücken. «Die reinste Poesie.»

Annas groß gewachsener, schlanker Körper bäumte sich wieder auf, als würde er jemand anderem gehorchen.

«Seht, wie das Blut der Unsterblichen brennt», hörte sie Lemuels Stimme, rau vor Erregung.

«Lemuel?» Ethels Stimme dagegen war angespannt.

Lemuels fleischige Hand legte sich kalt auf Annas Stirn. «Sie ist so menschlich», flüsterte er fast zärtlich. Sie hörte seine Stimme, aber weil sie immer noch die Augen geschlossen hatte, konnte sie nicht sehen, wie sich sein Blick über ihren wehrlosen Körper hinweg in Ethels Augen bohrte. «Das ist der Ursprung ihrer Kraft. Unsterbliches Blut ist nichts im Vergleich zu menschlicher Leidenschaft.» Sie mochte es nicht, wie seine Hand die Seite ihres Gesichts streichelte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Dann löschte der Schmerz, der in glühenden Wellen kam, jede andere Empfindung aus. Lemuels Stimme war so sanft wie seine Berührung. «Sie hat so viel Leidenschaft. So viel Kraft.»

Und dann, als sich ihre DNA mit der von Julius verband, wogten mit einem Mal Gedanken und Gefühle durch Anna, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Sie fühlte, wie sich der Raum ringsum öffnete, als würden mächtige Theatervorhänge fallen, und sie nahm Geräusche und die Bewegungen der Menschen überall im Hauptquartier wahr, als ob sie in ihrem Geist Schatten werfen würden. Es waren Empfindungen, die den gewöhnlichen Regeln von Raum und Zeit widersprachen, Empfindungen, die nur unsterbliches Blut hervorrufen konnte. Und sie fühlte in ihrem physischen Körper noch etwas anderes als Schmerz: eine Stärke in ihren Gliedern, ein Brausen im Muskel ihres Herzens, ein Gefühl, als ob sie gleich aus allen Nähten platzen würde vor Energie. Als ihr Geist schließlich die körperliche Verbindung mit Julius löste, als die Wucht des Blutflusses erlosch, schickte Anna ihre Gedanken auf Wanderschaft, auf die Suche nach dem Menschen, den sie in ihrem Geist bewahrte, als ob dies der einzig sichere Ort sei. Ihre Lippen bewegten sich und wiederholten leise seinen Namen, ehe sie ohnmächtig wurde.

Lemuel hob das Ohr von Annas Lippen. «‹Box›, hat sie gesagt.» Er lächelte Ethel an, deren graues Gesicht noch hagerer und aschfarbener geworden war als gewohnt.

«Box und Anna sind sich näher gekommen», erklärte Ethel und legte ihre Hand, so faltig wie nasse Hühnerhaut, auf die heiße Stirn des bewusstlosen Mädchens. Dabei schaute sie sich im Raum um, als ob sie von irgendetwas abgelenkt worden sei.

«Und du hast sie getrennt, Mevrad?» Lemuel schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. «Wie gemein.» Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er sich an den Hebeln und Schaltern der Konsole zu schaffen machte.

Mit einem Ruck setzte sich Julius auf und zog sich das Bündel von haarfeinen Schläuchen aus Arm und Seite. Stecknadelkopfgroße Blutstropfen benetzten die Stellen, wo die Schläuche in seinem Leib gesteckt hatten. Ethel schaute zur Seite, während er sich anzog. Als sie wieder hinsah, war er angekleidet und legte gerade seinen Waffengürtel an. Dann warf er den schwarzen Ledermantel über und zog das gelbe Haar aus dem Kragen.

«Wenn du recht hast, brauchen wir sie heute Nacht.» Das war keine Frage, sondern ein Befehl.

«Natürlich habe ich recht. Aber wird sie bereit sein?» Ethels faltige Stirn runzelte sich. «So rasch nach der Verbindung?»

«Sie wird gebraucht», sagte Julius kurz angebunden. «Sie muss bereit sein.» Er deutete mit einem silbernen Finger auf Ethel. «Es wäre besser, wenn du dich nicht irrst, Mevrad.»

Bei diesen Worten stand Ethel auf und schob sich so nah an Julius heran, dass ihr grauer Pony nur noch wenige Zentimeter von seinem Oberkörper entfernt war. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte zu ihm hoch.

«Ich irre mich nicht!» Ihre Stimme kratzte wie Stein auf Stein. «Ich weiß genau, was auf uns zukommt, und ich weiß, woher es kommt. Heute Nacht beginnt die Schlacht.»

Julius hielt kurz inne und betrachtete Anna. Seine Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. «Meine Blutwächter kämpfen so hart und sterben so schnell.» Er lachte, aber es war ein bitteres Lachen. «Dir entgeht doch sicher nicht die Ironie, Mevrad, nicht wahr?» Er schaute zu der kleinen alten Dame hin. «Wir schenken ihnen Unsterblichkeit, und gleichzeitig schicken wir sie in den Tod.» Er nickte zu dem Schwert, das er Anna gegeben hatte. «Das wird sie brauchen. Sorg dafür, dass sie es bei sich hat.»

Dann verschwand er.

Lemuel schnüffelte, als ob er Julius’ Fährte aufnehmen wollte. «Bemerkenswert», ließ er sich vernehmen. «Ich bin immer wieder beeindruckt von der Tatsache, dass es so viel gibt, was wir nicht sehen können.» Er kicherte vor sich hin. «Jedes Mal, bevor ich schlafen gehe, zwinge ich mich, daran zu denken, dass nur, weil wir etwas nicht sehen, das nicht automatisch heißt, dass es nicht da ist.»

Er zog einen Schlauch aus Annas Arm, hielt aber dann inne, als er Ethels Gesichtsausdruck sah. «Was ist los?»

Ethel hatte die Stirn gerunzelt und den Kopf leicht schräg gelegt, wie ein Sperling. «Etwas, das wir nicht sehen können», murmelte sie. «Aber etwas, das die ganze Zeit da war.» Dann schüttelte sie den Kopf und erschauerte. «Jemand beobachtet uns, Lemuel. Und ich weiß nicht, wer es ist.»

KAPITEL 2

Chess wich zurück, als ob Ethels Blick sie verbrannt hätte.

«Sie kann mich fühlen», sagte sie und verschloss die Dimensionen, durch die sie die Ereignisse im Operationssaal beobachtet hatte.

«Hat sie dich gesehen?», fragte Balthazar Broom. Chess stand aufrecht und er saß im Schneidersitz neben ihr, immer noch in dem engen Abendanzug, den schweren Holzstab quer über den Schoß gelegt.

Chess schüttelte den Kopf. «Nein, ich glaube nicht.» Die Nacht senkte sich über die Stadt. Hier oben, wohin sie sich gerne zurückzog, wenn sie die Stadt betrachten wollte, biss der Winterwind besonders eisig ins Fleisch.

«Und Anna? Ging es ihr gut?»

Chess zog die Nase hoch. «Es sah schlimm aus, aber jetzt schläft sie.» Es hatte sie mitgenommen, zu sehen, wie ihre Freundin hatte leiden müssen. Und sie hasste den Gedanken, dass Anna litt, weil sie eine Blutwächterin werden musste. Weil sie für das Komitee kämpfen musste. Das war der Sinn ihrer Existenz.

«Wenn es nach mir ginge», sagte Chess rau, «dann müssten die Leute sich nicht mehr nach dem Willen der Universen richten.»

Ihre Finger betasteten die glatten Konturen der Schachfigur, die sie in der Jackentasche aufbewahrte: der Pferdekopf, den sie unter den Bodenfliesen vor dem Kamin in einer Wohnung in der Knott Street gefunden hatte, wo er vor vielen Jahren von Ethel versteckt worden war, damit Chess ihn entdecken konnte. Ihre andere Hand stahl sich auf Balthazars breite und feste Schulter, die noch jung und kräftig wirkte, obwohl die silbernen Strähnen in seinem einstmals rabenschwarzen Haar und der graue Frost, der seinen dicken Schnurrbart durchzog, bewiesen, dass die Zeit seine Lebensspanne von fünfhundert Jahren allmählich einholte. Balthazars große, olivfarbene Hand legte sich auf ihre und tätschelte sie. Seine Haut war rau, aber warm.

Chess stieß langsam den Atem aus. Balthazar Broom, Mathematiker, Philosoph und Faustkämpfer. Ethel mochte ihn einen Narren nennen, aber er war freundlich und liebevoll.

«Vertraue niemandem», sagte Ethel immer wieder.

Aber manchmal sah Ethel die Dinge in einem falschen Licht. Sie irrte sich, was Balthazar betraf. Chess wusste, dass sie Balthazar vertrauen konnte.

«Es ist bald so weit», sagte Chess und warf eine dicke Strähne ihres kastanienfarbenen Haars aus dem Gesicht.

«Es wird Zeit, die Zeit zu beenden.» Balthazars tiefe Stimme tönte wie eine Glocke über dem Heulen des Windes in dieser Höhe.

Chess schaute hinab auf die Stadt, die ausgebreitet zu ihren Füßen lag. Von dem verlassenen CREX-Turm im Norden, auf dessen Dach sie standen, bis zu den klobigen Rümpfen der Fabriken im Süden war die Landschaft gespickt mit neonverkleideten und dampfenden Hochhäusern, mit Straßen und Bürokomplexen, alles eng aneinandergeschmiegt wie die Matrix eines endlosen Gebirges. Es gab Schluchten und Parks, die wie Fetzen aus grünem Filz unter den gekurvten, von Straßenlärm dröhnenden Überführungen lagen; es gab den modrigen Müllhaufen der Altstadt, die von den Kanalratten «Friedhof» genannt wurde; dann noch die Hänge der Grube, die zu den Überresten des Kais abfielen, wo sie früher mit Box und Splinter und den anderen Kanalratten gelebt hatte. Und durch alles zog sich der mächtige, träge braune Fluss.

Milliarden Sinneseindrücke durchdrangen Chess, und sie verarbeitete jeden einzelnen: den Gestank nach Abgasen, plärrende Sirenen, überfüllte Straßen, Taschendiebe, Auseinandersetzungen, einen Kuss, eine weggeworfene Blume.

Chess hörte Stimmen, sah Schemen, spürte alles.

Ein Bürgersteig, wimmelnd von Schlipsträgern. Ein Mann in Eile. Ein kleines Mädchen an seiner Hand. Finger, die sich lösten, als das Mädchen ein Stück Silberpapier am Straßenrand entdeckte.

Ein Mann, der hinter dem Steuer saß und beim Fahren eine Packung Kaugummi aufriss. Die schmutzstarrende Stoßstange seines Wagens, der zu schnell fuhr.

«Viel zu schnell», murmelte Chess.

Das kleine Mädchen. Der rasende Wagen. Näher. Immer näher. Nur ein winziger Teil der Informationen, die Chess’ Geist überschwemmten, während sie sich der Stadt öffnete. Aber da war noch mehr. Tief unter den Lichtern, dem Lärm und den Gerüchen kroch etwas Dunkles aus den Schatten.

«Sie sind hier, Balthazar. Der Feind, die Symmetrie. Sie sind hier, in der Stadt.» Sie wusste, ohne hinsehen zu müssen, dass auf Balthazars Gesicht Furcht und Faszination um die Vorherrschaft kämpften. Wenn man der Verbogenen Symmetrie zu nahe kam, drang sie in den Geist ein, veränderte ihn von innen, und sie ließ ihn nie wieder los, egal, was man auch anstellte. Sie wusste es; es ging ihr schließlich genauso wie Balthazar, genauso wie Lemuel. Ein Teil von ihr gehörte zur Symmetrie, wegen ihres Vaters, wer immer er auch sein mochte: Er hatte ein Stück Dunkelheit in ihr zurückgelassen. Wenn man der Symmetrie zu nahe kam, gehörte man – zumindest zu einem Teil – auf ewig dem Feind.

Chess schloss die Augen und tastete mit ihrem Geist in den Räumen der Stadt, in ihren verborgenen Dimensionen. «Ich kann es fühlen, Balthazar. Ich kann den Feind fühlen. Und einer von ihnen ist hier.» Sie, das waren die Inquisitoren, die Herren der Verbogenen Symmetrie.

«Jetzt?» Balthazar war atemlos. Erwartungsvoll.

«Jetzt», wisperte Chess. Der Wind riss ihr das Wort von den Lippen und schleuderte es über die Stadt.

Balthazar starrte in die Dunkelheit, als ob auch er spüren könnte, was Chess spürte. «Würdest du sie gerne einmal sehen?», fragte er.

«Was sehen?»

«Ihre Welt. Ihre Welt aus Kristall.»

Amarantium. Kristall. Eine Substanz, die in allen Zeiten und an allen Orten existierte und mit deren Hilfe die Inquisitoren eine Dimension erschaffen hatten, in der nur sie allein den Zusammenbruch der Universen überleben würden – wenn Chess Zeit und Raum zerstörte, wie sie es wollten. Eine Dimension, in der sie und ihre Diener ewig leben würden.

«Es muss dort sehr schön sein», murmelte Balthazar. «Es muss vollkommen sein.»

Genau das war der Grund, warum die Symmetrie so gefährlich war.

«Du musst gehen, Balthazar», sagte Chess. «Wir beide müssen gehen. Es ist schon spät.» Es war erst früher Abend, aber Chess redete nicht von der Tageszeit.

Balthazar wollte noch nicht gehen. Vielleicht wollte er noch ein bisschen länger mit seinen Gedanken bei der fürchterlichen Schönheit verweilen, mit der die Symmetrie lockte, vielleicht war ihm aber auch bewusst, dass er nie mehr an diesen Ort zurückkehren würde. Er schwieg einen Moment und fragte dann: «Was ist mit deinen Brüdern? Hast du eine Spur von ihnen gefunden?»

«Meine Brüder?» Fast ihr ganzes Leben lang hatte Chess in der Kanalisation und im Hafenviertel der Stadt gelebt, eine Kanalratte wie Tausende andere auch. Und all die Jahre hatte sie geglaubt, dass Box und Splinter ihre Brüder waren. Aber das stimmte nicht. «Ich habe keine Brüder, Balthazar», sagte Chess. «Ich habe nur einen Bruder, und dem darf ich nicht vertrauen.» Das war es, was ihr der Schatten ihrer toten Mutter mitgeteilt hatte, als sie in der Knott Street in die Vergangenheit gereist war.

Und welches Geheimnis Splinter auch umgab, Chess war sich sicher: Splinter war ihr Bruder. «Es ist Splinter, dem ich nicht vertrauen kann. Er hat mich verraten.» Ihre Stimme wurde vom Wind in Stücke geschnitten, und ihre großen braunen Augen waren glänzend und feucht vor Kälte. «Er hat mich an die Symmetrie verraten.»

«Er wollte Macht.» Es klang, als ob Balthazar Splinters Verhalten entschuldigen wollte. Balthazar wusste nur zu gut, wie sehr der Symmetrie ein Mensch, der nach Macht hungerte, gelegen kam.

«Er hat mich an die Inquisitoren verraten und die haben mich den Warps übergeben.» Mehr sagte Chess nicht. Die Erinnerungen waren schlimm. Die Inquisitoren waren zwar die Herren der Verbogenen Symmetrie, aber es war die verschlagene Technologie der Warps, mit deren Hilfe ihr Geist mit der dunklen Energie überflutet worden war, die die Symmetrie aus Milliarden von Opfern herausgefiltert hatte. Und jetzt brodelte und kreischte diese dunkle Energie in ihr und verlangte danach, freigelassen zu werden. Chess war sich darüber im Klaren, dass es möglicherweise kein Halten mehr gab, wenn sie sich von diesem Verlangen überwältigen ließ.

Aber spielte das eine Rolle? Es gab so viel Schmerz in den Universen, so viel Leid, dass Chess durchaus bereit war, allem ein Ende zu bereiten. Genau das wollten die Inquisitoren – sie wollten, dass Chess die Universen zum Einsturz brachte und sie zu ihrem Ursprungspunkt zurückführte. In das absolute Nichts. Dann konnte nur die Verbogene Symmetrie überleben, eingehüllt in ihre eigene Welt, erschaffen aus Kristall, aufbewahrt für die Ewigkeit.

«Splinter hat dich betrogen», sagte Balthazar langsam, «und jetzt hat sich der Feind offensichtlich deines Bruders entledigt.»

«Ich habe überall gesucht, aber ich kann ihn nicht finden.» Chess’ Stimme war rau. Sie fühlte unter ihrer Handfläche, wie Balthazar mit der Schulter zuckte. «Aber das heißt nicht, dass er tot ist», beharrte sie.

«Und wenn er noch lebt», murmelte Balthazar, «was kümmert es dich? Nach allem, was er dir angetan hat? Warum suchst du überhaupt nach ihm?»

«Er ist mein Bruder.» Balthazar schaute zu ihr auf und sie räusperte sich. «Selbst wenn er mir kein guter Bruder war.» Manchmal kam es ihr so vor, als sei ihr altes Leben, als sie Box und Splinter noch für ihre Brüder gehalten hatte, der einzige Rettungsanker, der ihr noch blieb. Und sie sehnte sich nach Gewissheit, nach Sicherheit, und deshalb war selbst der Gedanke an Splinter wie ein sicherer Hafen in dem Sturm, der in ihrem Geist tobte.

«Und Box?», fragte Balthazar. Aber Chess sah, dass seine großen Augen immer noch auf der ausgebreiteten Stadt lagen, als ob sie sehen könnten, was sie sah.

Ich kann dich fühlen, dachte sie. Und etwas erwiderte ihren Gedanken. Ein stilles Lachen, grausam, hungrig. Eine weitere Empfindung inmitten des brodelnden Chaos der Stadt.

Chess’ Geist teilte sich. Sie spürte den Anmarsch der Symmetrie, spürte das Herannahen des Wagens, das kleine Mädchen, den schrumpfenden Raum zwischen beiden, und tastete gleichzeitig nach Box. Das machte ihr keine Mühe. Chess konnte tausend Gedanken gleichzeitig denken, konnte so viele Dinge und Ereignisse berühren und in sich aufnehmen, wie sie finden konnte. Was ihr zunehmend Mühe bereitete, war, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Es war, als ob ihr Geist ihr jeden Moment entgleiten könnte, und wenn das geschah, wusste sie nicht, was passieren würde. Manchmal war sie so unglücklich, so wütend, dass sie sich selbst nicht vertrauen konnte.

Sie behaupten alle, dass ich die Universen beherrschen könnte, dachte Chess. Aber ich glaube nicht, dass ich mich selbst beherrschen kann. Sie lachte leise und bemerkte dabei, wie Balthazar sie betrachtete und die Stirn runzelte.

Sie suchte nach Box. Mit ihrem Geist grub sie einen Tunnel durch die Universen bis zu einem riesigen Meteoritengürtel, der sich spiralförmig aus der Alpha-3-Varion-Supernova schlängelte. Dorthinein begab sie sich. Hitze und das Wummern von Plasma-Waffen wurden immer stärker. Lichtblitze zuckten, während die Explosionen über die ächzenden Hüllen der Kriegsschiffe rollten, begleitet vom Donnern von schweren Geschützen und der unermüdlichen Maschinerie der Hundetruppen, der Kämpfer der Verbogenen Symmetrie, die sich für die Schlacht bereit machten.

«Zu schnell», flüsterte Chess und spürte die sich ständig verringernde Distanz zwischen dem Stoßdämpfer und dem Schädel des Kindes, während sie gleichzeitig mühelos die Flutwelle beobachtete, mit der sich die Kampfflotte der Symmetrie ihrem Ziel näherte.

In einem der riesigen, tiefenvortextauglichen Kriegsschiffe fand Chess den Vierzehnten Sturm, ein Teil der kybernetischen schweren Reiterei der Hundetruppen: die Eisenkavallerie. Und inmitten des Vierzehnten Sturms war Box und kommandierte tausend kriegserprobte, solariongehärtete und in Eisenplatten gerüstete Schnauzen.

Er saß auf einem Bolzen, einem kolossalen, neural modellierten Pferd, genauso wie der Rest seiner Kohorte. Die Metallflanken und die Augen des Bolzens waren schwarz. Das Reittier zog die Lefzen zurück und brüllte und trat mit seinem messerscharfen Huf auf das Eisengitter unter ihm. Box klappte den Visor nach unten. Zischend entwich Gas über seine eisenbewehrten Schultern, während sein Helm dicht mit dem Rest seiner Rüstung verbunden wurde. Die Gasschwaden teilten sich und gaben den Blick frei auf den knurrenden Hundekopf, das schwarz-goldene Emblem des Vierzehnten Sturms, das auf seiner Rüstung eingraviert war.

Die Lichter verdunkelten sich zu einem trüben Rot. Box gab über die Interkom einen Befehl, wobei er sich derselben groben Sprache bediente wie die anderen Hundesoldaten. Chess verstand diese Sprache nicht, aber sie wusste, was die Worte bedeuteten. Der Angriff stand kurz bevor. In zwei Minuten würden zehntausend metallverkleidete und knochenzerquetschende Bolzen mit ihren Reitern vorstürmen, um den Feind in Stücke zu schlagen.

Chess spürte Box’ eisenharte Stärke und seine kühle Entschlossenheit. Aber Zerstörung war nicht sein einziges Ziel. Box wollte woanders sein, wollte bei jemand anderem sein. Das trieb ihn an, genauso wie ihn der Gedanke an ihre – Chess’ – Rettung jedes Hindernis hatte überwinden lassen, bis er sie den Klauen der Verbogenen Symmetrie hatte entreißen können.

Box wollte bei Anna sein. Chess wusste das. Und sie wusste, dass er nur kämpfte, weil Ethel gesagt hatte, er müsse kämpfen. Das war eine Abmachung zwischen ihr und General Saxmun Vane, dem brutalen Kommandanten der Hundetruppen. Und deshalb war Box, nachdem er mit Anna in die Stadt zurückgekehrt war und Chess von der Warp-Station gerettet hatte, wo die Verbogene Symmetrie sie gefangen hielt, sofort wieder an die Front geschickt worden, die er gehofft hatte, für immer hinter sich gelassen zu haben. Das war vor fast zwei Monaten gewesen – zwei Monate, in denen Chess ständig gespürt hatte, dass die Zeit drängte. Sie drängte ihrem Ende entgegen.

«Box ist beim Feind», sagte Chess unbestimmt.

«Das ergibt für mich keinen Sinn», entgegnete Balthazar. Seine Stimme lieferte sich einen Wettstreit mit dem Wind, der über die Stadt fegte.

«Für mich auch nicht.» Chess blinzelte sich die Haarspitzen aus den Augen. «Das gehört alles zu Ethels großem Plan.»

Die Stille, die jetzt folgte, sprach ein eindeutiges und einträchtiges Urteil über Ethels große Pläne.

Chess’ Gedanken verweilten noch ein bisschen länger bei Box. «Wer bist du?», flüsterte sie. Solange sie denken konnte, hatte sie geglaubt, dass Box Splinters Zwillingsbruder sei. Jetzt wusste sie, dass das nicht sein konnte. Aber in ihrem Herzen würde er immer ihr Bruder bleiben.

Sinneswahrnehmungen aus der Stadt drängten wieder in den Vordergrund. Quietschende Reifen. Das dumpfe Aufschlagen eines Kopfes auf einer Stoßstange. Ein kleiner Körper, der hochgeschleudert wurde und dann auf der Straße aufprallte, so schlaff wie ein Bündel Lumpen. Ein Schrei. Eine Menschenmenge. Tränen. Ein Messer war durch ein Leben in einer Stadt gestoßen worden, die sich jeden Tag unzählige Male selbst zerfleischte.

Chess’ Schmerz verwandelte sich in Wut und die Wut drohte sie zu überwältigen. Es war diese Wut, die ihr den Wunsch einpflanzte, alles zu beenden. Der Winterhimmel knisterte, und weiß zuckte Elektrizität über der Stadt auf.

«Nein, Chess.» Balthazar schaute zu ihr hoch, besorgt und verwirrt zugleich. Er wusste nicht, was geschah, aber er konnte Chess’ plötzliche Wut fühlen. «Nicht auf diese Art, Chess. Das ist es, was sie wollen. Das ist alles, was nötig ist.»

Und so war es tatsächlich: Ein Wutausbruch von ihr, und der Himmel zerbarst. Wenn sie es zuließ. Wenn sie es wagte, diese Verheerung aus dunkler Energie freizusetzen, die aus ihr herausdrängte …

«Zu viel Leid», war alles, was Chess sagen konnte. Ihre Adern brannten vor Zorn, aber sie versuchte, sich unter Kontrolle zu halten. Während jener Monate auf der Warp-Station hatte die Verbogene Symmetrie sie mit so viel reiner Energie vollgepumpt – Energie aus Leid und aus Schmerz –, dass sie manchmal das Gefühl hatte, sie würde sich nur noch mit den Fingerspitzen an ihre Zurechnungsfähigkeit klammern.

Dann fühlte sie einen sehnigen Arm, warm und schwer, der sich um ihre Schultern legte. Balthazar stand neben ihr. «Das Leben ist weder einfach noch gerecht», sagte er feierlich. Seine Stimme war ein tiefes Brummen und glättete die Wogen in ihrem Geist. «Wenn man das begreift, fängt man an, das Universum zu begreifen.»

«Die Universen», murmelte Chess unwillkürlich. Sie musste an Behrens’ Worte denken, die er ausgesprochen hatte, kurz bevor sie ihn vernichtete.

Das Universum ist kaputt.

Behrens war ein Inquisitor gewesen, einer der fünf Herrscher über die Verbogene Symmetrie, aber damit hatte er recht gehabt. Deshalb brauchte die Verbogene Symmetrie Chess: um die Universen in einen Zustand des vollkommenen Nichts zurückzuführen. Und jetzt, nach allem was sie gesehen und in sich aufgenommen hatte, begriff Chess. Es bedeutete zwar das Ende von allem und für alle – ausgenommen die Symmetrie – aber es wäre so einfach. So schmerzlos.

Und wenn sie nicht tat, was die Symmetrie wollte?

Menschen liefen zusammen. Dann: Sanitäter, Schläuche, eine Trage. Aber der Geist des kleinen Mädchens befand sich an einem Ort, wo ihn alle Bemühungen der Sanitäter nicht mehr erreichen konnten.

«So vieles ist kaputt.» Chess schüttelte Balthazars Arm ab, obwohl sie sich in seiner Wärme sicher und geborgen gefühlt hatte. «Was soll ich bloß tun? Ich meine, wenn ich alles tun kann, was werde ich dann tun?»

«Du tust, was du kannst», erwiderte Balthazar Broom. «Und das gilt für uns alle.»

Chess nickte. «Eine schöne Theorie», murmelte sie. Dann hörte sie, wie er seufzte. Seine breite Brust in dem viel zu engen Jackett dehnte sich aus und sackte wieder in sich zusammen.

«Was mich betrifft, so genügt es mir, dass du meine Freundin bist.» Er stützte sich auf seinen Stab. «Mich hast du bereits gerettet.» Sie sah, wie er seinen Handrücken auf dem Knauf des Stabs betrachtete, wo die Haut faltig und mit Altersflecken übersät war. «Das ist wohl unvermeidlich», murmelte er, während er seinen körperlichen Verfall begutachtete. «Aber du hast mir ein Leben zurückgegeben.»

Einen Augenblick lang herrschte zwischen ihnen eine warme Vertrautheit. Aber Momente wie dieser waren nichts weiter als das: Momente. Geräuschdonner und Bewegungsblitze von der Stadt zuckten durch Chess’ Geist – und schließlich stieß sie auf dieses Etwas, das sie gesucht hatte: ein eitriger Hass, der mitten in der Stadt schwärte.

Hallo, Chess.

Da draußen, im belebten, drängenden, stinkenden Herzen der Stadt stand ein Bettler in eitergetränkten Lumpen kichernd in einer Pfütze seiner eigenen Körpersäfte. Sie sah ihn. Nur sie – Chess – sah ihn. Und er sah sie. Er kicherte und streckte die Zunge heraus, auf der es von Maden nur so wimmelte.

Ich könnte dich vernichten, dachte Chess.

Mach schon, höhnte Snargis, der Inquisitor. Vernichte mich. Und was willst du dadurch retten? Diese Welt?

Eine Leichenhalle. Ein Laken über kaltem Stein, das einen Körper verhüllte. Der Körper war so klein, dass er unter dem Laken kaum zu erkennen war.

Siehst du?, kicherte Snargis. Hast du versucht, es aufzuhalten? Nein. Und warum nicht? Weil du Bescheid weißt. Du kennst die große Bedeutungslosigkeit von allem. Gelbe Blasen von Auswurf zerplatzten auf seinen Lippen, während der Inquisitor schlürfend lachte. Mich zu zerstören, würde gar nichts ändern. Dieses Universum ist krank. Das Universum ist kaputt. Nur wir können ewigen Frieden gewähren. Du und wir, Chess. Frieden für alle Zeit. Ohne Schmerzen. Ohne Leiden. Wie kann das falsch sein?

Ja, wie konnte das falsch sein?

Sie fühlte, wie sich Balthazars Arm wieder eng um ihre Schultern legte.

«Wir sollten jetzt gehen», sagte er. Er wusste nicht, was vor sich ging, aber er spürte, dass die Dunkelheit Chess in ihrem Griff hatte. «Ich habe dich schon viel zu lange hier oben festgehalten.»

«Ich kann mich nicht mal gegen sie wehren, Balthazar.» Chess ballte die Hände zu Fäusten und grub die Fingernägel in ihre Handflächen, bis der Schmerz ihr wieder einen klaren Kopf verschaffte. «Wenn ich anfangen würde zu kämpfen, wenn ich loslassen würde, dann glaube ich nicht, dass ich jemals wieder aufhören könnte. Und das wollen sie. Was immer ich auch tue, sie gewinnen.» Sie zitterte. Es war kalt hier oben auf dem CREX-Turm. Sie rieb sich die Augen. «Geh jetzt, bitte. Lass mich eine Weile allein. Ich will nachdenken, bevor alles beginnt.»

Balthazar blickte die Antenne empor, die sich vom Dach des Turms bis hoch in die Wolken erstreckte.

«Danke, dass du bei mir bist, Balthazar.» Chess lächelte, die Augen gegen den Wind halb zusammengekniffen. «Manchmal habe ich das Gefühl, ganz allein zu sein.»

«Du bist nicht allein, Chess.» Balthazar zitterte. «Ich fühle die Kälte jetzt mehr als früher. Ich werde alt.»

«Du bist nicht alt. Na ja, nicht besonders alt. Aber … ich bin so gut wie allein. Immerhin sitze ich bei Captain Riley fest …» Chess seufzte. «Er ist in Ordnung, aber …»

«Er ist einer der besten Agenten des Komitees.»

Balthazar hatte recht. Captain Riley war offiziell ein Polizist, ein Aufmischer, aber in Wahrheit war er Kommandeur des Gemeinnützigen Einsatzkommandos, einer Eliteeinheit, die wichtige und brisante militärische Operationen im Namen des Komitees ausführte. Doch aus Balthazars Mund klang es so, als ob es für Chess eine Ehre sei, unter demselben Dach wie Captain Riley und seine Familie zu leben.

«Ach, komm schon, Balthazar. Ethel hat mich doch nur mit ihm zusammengesteckt, weil es dem Komitee nützt. Damit er mich im Auge behalten kann.»

«Captain Riley ist ein guter Mann, Chess. Er hat mehr als einmal sein Leben für dich riskiert.»

Chess seufzte. «Ich weiß.» Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht das Richtige über ihn gesagt hatte. Wie konnte sie überhaupt etwas tun, wenn sie nicht einmal die richtigen Worte fand?

«Nein, hör zu», sagte Balthazar ungewohnt eindringlich. «Seit die Symmetrie die Endgame-Order ausgegeben hat, haben sie Captain Riley besonders im Visier. Aber wir können es uns nicht leisten, ihn zu verlieren, und deshalb glaube ich, dass Mevrad sich eher darauf verlässt, dass du ihn im Auge behältst.»

Obwohl Captain Riley ein Aufmischer war, waren er und seine Familie sehr nett zu ihr gewesen. Sie hatten sie weder wie eine Kanalratte noch wie eine tickende Zeitbombe behandelt.

«Ich soll auf ihn aufpassen?» Sie biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich sollte sie jetzt bei ihm sein. Sie hatte sich von Captain Riley, seiner Familie und Trick abgesetzt, die mitgekommen war, als sie zum Einkaufen aufgebrochen waren. Sie war hierher gekommen, um bei Balthazar zu sein und alles andere eine Weile hinter sich zu lassen. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie dort eine Aufgabe zu erfüllen hatte.

Und genau in diesem Moment drang die Symmetrie in die Stadt ein.

Wie kommt es, dass ich immer alles falsch verstehe? Sie grub ihre Fingernägel wieder in die Handflächen, als sie daran dachte, dass Splinter ihr genau das immer wieder vorgehalten hatte.

«Du solltest den Captain und seine Familie suchen.» Balthazar stand am Fuß der Antenne. Chess wusste, dass sich an ihrer Spitze eine Lücke befand, ein Dimensionenloch von Hunderten von Metern Durchmesser, das kein Mensch sehen konnte. Aber für jene, die von seiner Existenz wussten, war es ein bequemer Weg hinein in den Vortex.

Balthazar fing an zu klettern. Auf halbem Weg nach oben, den Stab in der Hand, blickte er nach unten und rief: «Ich vertraue dir, Chess! Ich glaube an dich!» Der Wind wirbelte seine Worte davon.

Sie sah ihm nach, wie er verschwand, nicht in der Dunkelheit, sondern im Raum.

«Tu das nicht», flüsterte sie in die Nacht hinein.

Es war Zeit, sich um Captain Riley zu kümmern. Aber vorher musste sie Zeit schaffen für etwas anderes.

Du tust, was du kannst, hatte Balthazar gesagt.

Chess trat zurück in das Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sich die Stadt vor zwanzig Minuten befunden hatte. Mit der Zeit herumzuspielen war gefährlich. Es brachte das Gewebe der Tatsachen durcheinander. Aber wenn die Universen sowieso ihrem Ende entgegengingen, wen kümmerten da schon zwanzig Minuten?

Sie war auf der Straße. Ein Mann und ein kleines Mädchen liefen auf sie zu. Das kleine Mädchen trieb bereits weg von ihrem Platz, die Augen gefangen von etwas, das auf der Straße lag und glänzte. Chess hörte den Wagen näher kommen. Zu schnell.

«Schau mal.» Chess trat dem kleinen Mädchen in den Weg, bückte sich und hielt ihr die offene Handfläche hin. Große Augen schauten und blinzelten ernsthaft in das Licht, das Chess’ Finger umtanzte. Es war ein Trick, ein lächerliches physikalisches Spielchen. Nichts von Bedeutung.

«He!», schrie der Mann und stapfte zu seiner Tochter, die immer noch gebannt auf die Hand des Mädchens in Lederjacke und Jeans schaute. Seine Finger schlossen sich um die Schultern seiner Tochter und zogen sie zu sich heran. Seine Augen lagen mit einem bösen und anklagenden Ausdruck auf Chess.

«Du sollst doch nicht mit Fremden reden.» Die Zurechtweisung mochte dem kleinen Mädchen gelten, doch sein Blick fixierte nach wie vor Chess.

Auf der Straße brauste ein Wagen mit einer schmutzigen Stoßstange vorbei. Viel zu schnell.

Chess stand auf und strich sich die wilden Locken aus der Stirn.

«Diese Stadt ist ein gefährlicher Ort, Liebes», sagte der Mann zu seiner Tochter und führte sie weg von Chess, hinein in die Menschenmenge.

Chess schloss die Augen und sah die eiterbesudelten Körper die Stadt überschwemmen.

«Sie haben ja keine Ahnung, wie recht Sie haben», wisperte sie.

KAPITEL 3

Zum zweiten Mal an diesem Abend glaubte Trick gesehen zu haben, wie sich der Fußboden kräuselte. Sie kauerte sich nieder und betrachtete ihn genau: Linoleumkacheln, über die kreuz und quer Räderspuren von Einkaufswagen verliefen. Eine Neonleuchte über ihr flackerte; vielleicht war das der Grund, warum sie dachte, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Außerdem bewegten sich Böden nicht, es sei denn bei einem Erdbeben. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Stelle, wo ihre Füße standen. Kein Beben. Also auch kein Erdbeben.

«Trick? Alles klar?»

Trick blieb noch einen Moment gebückt hocken, die Augen geschlossen, gerade lange genug, um Mrs. Riley merken zu lassen, dass sie ihr nichts zu befehlen hatte. Obwohl Captain Riley und seine Frau ihr erlaubt hatten, bei ihnen zu wohnen, und obwohl sie ihr Turnschuhe und eine neue Jogginghose gekauft hatten, und sogar obwohl sie sie nicht wie eine gemeine kleine Kanalratte behandelten, war es ihr sehr wichtig, ihnen zu verdeutlichen, dass sie keine Macht über sie hatten.

«Was?», grunzte Trick, stand langsam auf und schaute mit gerunzelter Stirn den Gang entlang.

«Komm schon!», schrie Jasper, der achtjährige Sohn der Rileys. Trick ignorierte ihn.

«Na, los doch, Trick», beharrte Oliver und grinste sie an. Er war elf, ein Jahr älter als sie. Er war zwar ein Schlipsträger, genau wie sein Bruder und seine Eltern, genau wie die meisten Leute in der Stadt, aber sie mochte ihn trotzdem. Das sollte er jedoch nicht wissen, und so trödelte sie ein ganzes Stück hinter den Rileys her.

Immer noch aus den Augenwinkeln den Fußboden betrachtend, folgte Tricks Blick Mrs. Riley. Mrs. Riley war nett, aber nicht verweichlicht, und ihr Haar war rotbraun, ein bisschen so wie Tricks eigene Haare.

«Du hast wunderschöne Haare», hatte Mrs. Riley ihr gesagt, als sie ihr das erste Bad ihres Lebens einließ und ihr die erste Haarwäsche verpasste, die sie je genossen hatte. Mrs. Riley sagte, dass ihr Haar so schön wie poliertes Kupfer sei. Trick wusste nicht, wie poliertes Kupfer aussah, aber ihr gefiel der Klang der Worte.

«So schön wie poliertes Kupfer», wiederholte sie leise und genoss das leise Ploppen des Buchstaben P auf ihren Lippen.

Aber keine Seife der Welt konnte die Stacheldrahtnarbe auf ihrer Wange abwaschen. Trick berührte die gezackte Linie. Es war das Einzige, was ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Fest trat sie mit der Sohle ihres Schuhs auf den Boden und schaute nach, ob ein grauer Abdruck entstand. Es wäre besser gewesen, sie hätte von ihren Eltern gar nichts mitbekommen.

«Weiß oder braun?»

Trick schaute hoch zu Mrs. Riley und zuckte mit den Schultern.

«Weiß», bestimmte Jasper.

«Braun», verlangte Oliver. Mrs. Riley nahm eine Packung Toastbrot und warf sie zwischen zwei Baguettes und ein halbes Dutzend Dosen Bohnen in den Einkaufswagen. «Vollkorntoast ist gesünder.» Sie lächelte ihr nettes, vernünftiges Lächeln.

Niemand außer uns kauft ein.

Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, schaute Trick sich um, ob ihre Sinne sie nicht vielleicht getäuscht hatten. Aber ihre Sinne ließen sich nicht so leicht täuschen. Man konnte in der Gosse nur überleben, wenn man es verstand, den Geruch von Menschen einzuordnen, die Hitze eines Blicks auf sich zu spüren oder das Pochen der Stille zu hören.

Niemand außer ihnen kaufte ein.

Sie kratzte sich am Kopf und wanderte zum Mittelgang, lief ihn schnell entlang und warf jeweils einen Blick in die abzweigenden Seitengänge. Ihre Schritte klangen laut. Die Kassen waren alle unbesetzt. Draußen vor den riesigen Frontfenstern hing die Nacht wie ein dicker Vorhang. Die Metallgitter waren heruntergelassen.

Wir sind eingeschlossen.

Trick räusperte sich. «Wir sind eingeschlossen», krächzte sie und drehte sich um die eigene Achse, auf der Suche nach Captain Riley. Captain Riley war ein Aufmischer, ein Polizist, wenigstens im täglichen Leben, aber Trick wusste, dass er einer der wichtigsten Agenten des Komitees war. Sie vermutete, dass man sie deshalb zu ihm geschickt hatte. Die Verbogene Symmetrie hatte etwas verkündet, was sich Endgame-Order nannte, was bedeutete, dass sie jeden umbrachten, der ihnen im Weg war. Ethel hatte behauptet, dass auch Trick in Gefahr war, und deshalb musste Captain Riley auf sie aufpassen. Und Chess war auch bei ihnen geblieben, obwohl Chess niemanden brauchte, der auf sie aufpasste. Aber jetzt waren weder Captain Riley noch Chess irgendwo zu sehen.

Trick schluckte. Ihre Kehle war so trocken, dass es beim Schlucken in ihren Ohren knackte. Die Lichter surrten und flackerten.

«Trick?»

Mrs. Rileys Stimme klang plötzlich angespannt. Tricks Atem ging schneller.

Noch einmal, lauter diesmal: «Trick?»