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Die Kanalratten mag keiner - aber auch andere Kinder verschwinden jetzt überall. Die Verbogene Symmetrie stiehlt sie tausendweise. Ihr Gegenspieler, das Komitee, soll das Ziel der Symmetrie, ewiges Leben zu gewinnen, vereiteln. Beide Seiten verfügen über mächtige Waffen. Aber könnte nicht eines der Kinder am mächtigsten sein? Chess Tuesday vielleicht oder ihre Brüder Box und Splinter? Sie wissen nichts über ihre Vergangenheit. So beginnt ihre gefahrvolle Reise in die Zukunft. Der Kampf gegen die Verbogene Symmetrie findet zu allen Zeiten und an allen Orten statt. Normale Menschen wissen nichts darüber, denn sie bemerken nichts davon. Wer ist stärker? Das Komitee oder die Verbogene Symmetrie? Chess, Box und Splinter haben viel in der Hand …
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Seitenzahl: 441
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Benjamin J. Myers
DIE VERBOGENESYMMETRIE
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Chess Tuesday war den ganzen Morgen lang mit Stehlen beschäftigt gewesen. Ihre Brüder Box und Splinter auch, aber die waren in einem anderen Teil der Stadt unterwegs. Splinter hatte gemeint, es wäre besser so. Sie dabeizuhaben, war momentan zu gefährlich, hatte er gesagt – wenn sie tatsächlich beobachtet wurde. Chess dachte gerade über Splinters Worte nach, als sie einen Stoß gegen die Brust bekam und hintenüber auf das Pflaster fiel. Die Tüte, die sie bei sich hatte, hielt sie fest umklammert.
«Zieh Leine, Kanalratte», sagte ein Mann, der sich über sie beugte. Seinem Overall nach zu urteilen, war er in einem der Läden angestellt, an denen sie vorbeigegangen war.
Wollte ich ja gerade, dachte Chess. Ich habe doch niemanden belästigt. Aber sie sagte nichts. Sie blieb einfach mit hochgezogenen Schultern auf dem Pflaster sitzen.
Jemand trat ihr ins Kreuz. Es tat weh und sie verdrehte den Hals, um hinter sich zu schauen. Sie sah eine Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt und sie anfunkelte. «Mach, dass du wegkommst», schnaubte die Frau. «Beweg dich, du dreckiges Miststück.»
Mehr Menschen blieben stehen und starrten.
Zu viel Aufmerksamkeit, zu viele Leute, die herschauen, dachte Chess. Jemand versetzte ihr einen Tritt gegen den rechten Arm, kurz oberhalb des Ellbogens.
Sie hatte Angst. Box oder Splinter hätten gewusst, was zu tun war, sie aber blieb nur zusammengekauert auf dem Bürgersteig hocken und umklammerte die Tüte. Ein Speichelklumpen traf sie unter dem rechten Auge. Sie wollte sich wehren, wollte Steine aus dem Rinnstein aufheben und die Schaufenster damit einschlagen, aber das würde nur noch mehr Aufhebens verursachen.
Ein Nadelstich aus Angst durchfuhr ihre Brust. Sie fürchtete, dass die Jäger sich an ihre Fersen heften würden.
Chess sprang so schnell sie konnte auf die Füße und rannte von der kleinen Menschenansammlung weg. Man schrie ihr nach, aber sie schaute nicht zurück.
«Du darfst nie zurückschauen», hatte Splinter ihr einmal gesagt. «Nicht, wenn du wegrennst.» Sie schoss in eine Seitenstraße und kletterte eine Feuerleiter hinauf, balancierte über eine Mauer und sprang dann hinunter in eine kleine Gasse. Schließlich schlug sie den Weg zum Kai ein.
Der Kai bestand aus einem heruntergekommenen Haufen von Docks und Lagerhäusern, die unterhalb der Stadt am Flussufer kauerten. Hier schlürften schwarze Wasserzungen in feuchten Tunneln und leckten an schleimig grünen Anlegestellen, wo seit Langem schon keine Boote oder Barken mehr schaukelten. Eingehüllt in Nebel und den Gestank von Abfall, war es die Heimstatt für Landstreicher und Penner, für Fuseltrinker und Junkies, für Diebe und Mörder.
Hierher wurde alles gespült, was sonst nirgends mehr hinkonnte, was durch die Löcher der Stadt nach unten gesackt und durch die sich ausbreitenden Slums der «Grube» gerutscht war. Das schlammige Ufer, den Gezeiten unterworfen, und die mit Tang behangenen Schleusentore wurden zur letzten Ruhestätte für Fahrradräder, Flaschen, verbogene Kinderwagen und die aufgequollenen Toten, die das dunkle Wasser des Flusses hierher getragen hatte.
Der Kai war auch ein Sammelbecken der Kanalratten – jener Kinder, die kein Zuhause hatten, keine Familien und keine Skrupel, heute etwas mitgehen zu lassen, was ihnen schon morgen ein anderer vor der Nase wegschnappen könnte. Hunderte von ihnen versteckten sich hier, organisiert in Banden, huschten aus den Tunneln hinauf in den Lärm und den Reichtum der Stadt, um zu stehlen, was sich stehlen ließ, ehe sie wieder in den dunklen und nassen Winkeln darunter verschwanden.
In dieser Welt aus faulendem Holz und zerbröselnden Backsteinen, wo die Zeit durch das langsame Schwappen des Wassers bemessen wurde, waren sie sicher. Geschützt vor Regen, geschützt vor Schnee, geschützt vor den hasserfüllten Blicken der Stadtbewohner, aber vor allem geschützt vor den Jägern.
Die Jäger kamen mit schwarzen Stiefeln, Armbinden mit dem Totenkopfsymbol, mit Hunden und Betäubungsstöcken, um die Kanalratten aufzustöbern und in die Falle zu treiben. Sie kamen immer, wenn irgendwo eine Rattenplage bemerkt wurde. Sie waren Teil der Polizei, aber ein besonderer Teil. Sie verfügten über ihre eigenen Arrestzellen und über höchst unübliche Verhörmethoden. Kanalratten, die von einem Jäger gefangen wurden, wussten, dass sie den Kai nie wiedersehen würden. Und niemand würde die Gefangenen je wieder zu Gesicht bekommen. Die Jäger waren sehr gründlich.
Box war ein besserer Kämpfer als jeder andere in ihrer Bande, und Splinter war so clever, dass die drei Geschwister das Privileg genossen, auf einem geräumigen Vorsprung hausen zu dürfen, der in einen der Tunnel hineingehauen worden war. Die Lippe des Vorsprungs ragte über den Kai hinaus, und im hinteren Bereich gab es eine Nische, wo leere Holzfässer und Kisten aufgestapelt waren, die von rostbefleckten Seilen zusammengehalten wurden. Der Vorsprung war genauso stinkend, düster und schmutzig wie der Rest des Kais, aber weil er – über eine Eisenleiter erreichbar – etwa zehn Meter über dem Wasser lag, war es dort viel trockener. Hier lebten Chess, Box und Splinter, und hier wollten sie zusammen die Beute des Vormittags auswerten.
Chess kehrte als Letzte zurück. Sie war außer Atem, weil sie den ganzen Weg gerannt war. Schweiß kitzelte unter dem Stoff ihrer Kleidung. Trotz der Hitze hatte sie einen Pullover an. Er war lila, voller Löcher und so verzogen und ausgeleiert, dass der Halsausschnitt beinahe ihre Schulterbreite hatte. Die Ärmel hingen ihr bis zu den Knien, wenn sie sie nicht immer wieder hochrollte. Darunter trug sie ein T-Shirt, das einmal weiß gewesen, aber nun vollkommen grau war. Die Jeans waren an den Knien zerrissen und an den Säumen ausgefranst, und zwar nicht erst seit gestern. Sie starrten vor Dreck. Ihr kastanienbraunes Haar war dick und lockig und klebte im Augenblick schweißnass an ihrer Stirn.
Ihre Augen waren so braun wie ihre Haare und sehr groß. Sie hielt sie stets auf die Pflastersteine vor ihren nackten Füßen gerichtet. Ein paar Kanalratten hatten sie kommen sehen und beäugten gierig die Plastiktüte, die sie bei sich trug. Doch vor den anderen Banden hatte sie keine Angst. Das Einzige, was ihr Angst machte, war der Gedanke an Splinter. Wie er reagieren würde, wenn sie nichts mitbrachte, was den morgendlichen Ausflug rechtfertigte. Sie packte die Tüte noch etwas fester.
Chess ging jetzt langsamer, aber selbst als ein Haufen älterer und größerer Ratten aus dem Inneren eines ausgebrannten Autowracks auftauchte, das sie besetzt hatten, und sie grüßten und angrinsten, hob sie weder die Augen noch erwiderte sie den Gruß. Sie war Splinters Schwester: Die konnten nicht anders, als nett zu ihr sein.
Die Bande ihrer Brüder bestand aus mehr als hundert Kanalratten, aber der einzige Mensch, nach dem Chess jetzt auf ihrem Weg durch die Tunnel Ausschau hielt, war Gemma. Sie hatte etwas Schokolade für Gemma, aber sie konnte sie nirgends entdecken.
Chess stieg über Beine und schlug Bögen um Grüppchen von auf dem Boden hockenden Kindern. Sie ging an Pacer, Hex, Lynch und Jerky vorbei. Es waren Freunde ihrer Brüder, was lediglich bedeutete, dass ihre Brüder nicht ganz so oft mit ihnen kämpften und stritten wie mit anderen Jungs. Sie hörte, wie die vier sie begrüßten, und sie murmelte eine Erwiderung, aber sie schaute nicht auf, bis sie an der eisernen Leiter ankam, die hinauf zum Vorsprung führte. Da oben, über allen anderen Kanalratten, war der Platz von Box und Splinter.
Chess kletterte die Leiter hinauf zu ihren Brüdern. Sie waren dabei, ihre Beute zu begutachten. Splinter, groß und dünn, hielt einen Ring in die Höhe. Er betrachtete ihn in dem flackernden Licht, das von dem Flusswasser unter ihnen widerspiegelte und schimmernde Wellen auf die gewölbte Decke über ihnen warf. Er trug enge schwarze Hosen und einen ausgeblichenen, langen Morgenmantel, den er aus einer Mülltonne gefischt hatte. Der Morgenmantel war mit Taschen übersät, die er selbst angenäht hatte. Darin befand sich eine Reihe nützlicher Gegenstände: Schnur, Streichhölzer, Murmeln, einige Dietriche, ein Klappmesser, ein Bleistift. Seine langen weißen Haare standen vor lauter Schmutz steif wie Stacheln von seinem Kopf ab. Er hatte blassblaue Augen und scharf geschnittene Wangenknochen.
«Guter Fang, Box», sagte er leise. «Hat dich jemand gesehen?»
«Ich glaube nicht», sagte Box, der am Rand des Vorsprungs saß und die Beine baumeln ließ. Er trug ausgefranste Wollhosen, die von Hosenträgern gehalten wurden, und ein blauweiß gestreiftes T-Shirt, das an einigen Stellen eingerissen war. Er war kleiner als Splinter und kräftiger. Sein Haar war schwarz und lag in kleinen Locken um seinen Kopf. Splinter nannte ihn «Fliegenkopf», wegen seines Haars. Er meinte, es sähe aus wie ein Haufen zerquetschter Fliegen.
Chess ließ ihre Plastiktüte vor Splinters nackte Füße fallen und setzte sich zu Box. Ihre Beine baumelten neben seinen; die Luft fühlte sich auf ihrer Haut kühl an. Die drei hatten seit Jahren keine Schuhe mehr getragen, und die Sohlen ihrer Füße waren dick wie Leder und hart wie Horn geworden.
Splinter hob die Tüte auf, schaute hinein und runzelte die Stirn. «Süßigkeiten», murmelte er, «und Brötchen. Und zwei Äpfel. Was sollen wir mit zwei Äpfeln anfangen?» Seine harte Stimme hallte von den Tunnelwänden wider.
Chess sagte nichts, sie bohrte nur die Nägel in die Haut ihrer Handflächen, bis der scharfe Schmerz Splinters bösen Blick vor ihren Augen verschwimmen ließ.
«Mehr als mit einem», sagte Box. «Außerdem, Splinter, Essen ist Essen.» Er stand auf und kramte in der Plastiktüte herum.
«Du denkst nie an was anderes als daran, wie du dir den Bauch vollschlagen kannst. Du bist irgendwie nur halb ein Mensch. Die andere Hälfte ist ein verfressenes Schwein», sagte Splinter.
«Ja, klar, dafür bist du nicht nur ein halber Trottel, sondern ein ganzer», gab Box zurück, spuckte auf den Apfel und rieb ihn an seinen schmutzstarrenden Hosen.
«Ein ganzer Trottel ist immer noch cleverer als ein halbes Schwein, Schweinebacke.»
Chess sagte nichts. Mit großen Augen betrachtete sie die Teiche aus Licht, die auf der Gewölbedecke über ihr schaukelten. Das hatte sie gern. Es war hell und klar und ließ sie emporschweben aus der Düsternis des Tunnels. Es wusch böse Gedanken weg.
Sie hörte ihre Brüder streiten. Wie üblich. Das Streiten ihrer Brüder war fast das erste Geräusch, an das sie sich erinnern konnte. Das allererste Geräusch, das in ihrer Erinnerung war, war eine Stimme. Eine Stimme, die sang. Manchmal fielen ihr sogar die Worte wieder ein. Der Gesang rief in ihr das gleiche Gefühl hervor wie die Lichter, die jetzt über ihr tanzten.
Niemand hatte ihr je wieder etwas vorgesungen, nachdem man sie und ihre Brüder im Waisenhaus abgegeben hatte. Also gehörte der Gesang vermutlich zu ihrer Mutter. Der Gedanke machte sie ein kleines bisschen glücklich.
Chess war drei Jahre alt gewesen, als sie ins Elms Waisenhaus kam. Als man sie an der Tür fand, hielt sie eine Schachfigur umklammert, deshalb nannte man sie Chess. So kamen die Kinder im Elms Waisenhaus zu ihren Namen. Ihr einer Bruder, der ein hölzernes Kästchen bei sich trug, wurde Box genannt, und der andere, der weinte, weil er sich einen Splitter in den Finger gestoßen hatte, der aus dem rauen Holz des Kästchens hervorgestanden hatte, hieß von nun an Splinter. Und weil die drei Geschwister an einem Dienstag auf der Schwelle standen, nannte man sie mit Nachnamen Tuesday.
Chess war jetzt elf und ihre Brüder vierzehn. Sie waren Zwillinge, sahen einander aber überhaupt nicht ähnlich. Obwohl sie älter waren, hatten ihre Brüder keine Erinnerung daran, wie ihr Leben gewesen war, ehe sie ins Waisenhaus kamen. Sie hatten versucht, sich an Dinge oder Ereignisse zu erinnern, die geschehen waren, bevor sie sechs Jahre alt waren, aber es gelang ihnen nicht. Ihr Gedächtnis setzte erst im Elms Waisenhaus ein. Niemand hatte ihnen erklärt, warum man sie dorthin gebracht hatte, und niemand hatte sich darum gekümmert, was mit ihnen geschah, während sie dort lebten. Splinter hatte gesagt, es sei ein schlimmer Ort für Kinder; darum waren sie weggelaufen. Und niemand hatte sich die Mühe gemacht, nach ihnen zu suchen. So waren sie an diesen Ort gelangt, an der Sohle der Stadt.
«Eine Zeitung», sagte Splinter spöttisch und zog den Gegenstand seines Hohns aus der Tüte. «Was willst du denn damit, Chess? Du kannst ja nicht mal lesen.»
«Kann ich doch», sagte sie trotzig. «Ein bisschen.»
Er warf die Zeitung in die Luft, und die Seiten flatterten auseinander wie eine Schar Vögel, ehe sie scheinbar gedankenverloren hinunter ins Wasser segelten. Eine Seite schwebte zurück zum Vorsprung. Splinter schnappte sie sich und überflog die Schlagzeile. Dann las er laut vor: «Noch mehr Kinder verschwinden.» Er knüllte das Blatt Papier zu einem Ball zusammen und warf es in die Luft. «Gute Kinder, vermutlich.»
«Auch guten Kindern können böse Dinge passieren», sagte Chess.
«Böse Dinge passieren bösen Kindern», sagte Splinter, «aber darüber spricht keiner. Keinen kümmert es.» Er hustete heftig und spuckte aus. Er schwieg und schaute dem Speichelklumpen nach, der den gleichen Bogen beschrieb wie der Ball aus Zeitungspapier, ehe er unter ihnen ohne ein Geräusch aufs Wasser traf.
«Nicht schlecht», sagte Box mit einem leichten, anerkennenden Nicken.
«Uns kann alles Mögliche passieren, und nichts davon spielt eine Rolle», fuhr Splinter fort, der immer noch aufs Wasser starrte. «Aber wenn irgendeinem Schlipsträger mal was quersitzt, dann macht es gleich Schlagzeilen. Dann spielt es eine Rolle.»
Splinter hatte nie ein gutes Wort für die Schlipsträger und ihre Familien, aber Chess war sich nicht sicher, was sie glauben sollte. Sie dachte, es müsste ziemlich hart sein, zur Schule zu gehen, sich immer an die Regeln zu halten, einen Job zu bekommen, Geld zu verdienen. Andererseits konnten diese Leute nicht wie Öl durch eine Menschenmenge schlüpfen, konnten nicht so leise wie ein Frosch eine Wand hochklettern, wussten nicht, wie sie aus Ecken entwischen oder durch Abflussrohre verschwinden konnten, wenn Ärger drohte. Sie waren weich; wenn man ihnen wehtat, dann weinten sie. Und sie hassten Kanalratten.
Splinter drehte sich mit einem Ruck um. «Ist dir jemand gefolgt?»
Chess zuckte mit den schmalen Schultern. «Glaub nicht», sagte sie.
«Sie hat bloß Wahnvorstellungen», sagte Box.
«Hab ich nicht», protestierte Chess. «Jemand hat mich tagelang beobachtet, und ich habe Jäger gesehen, und sie haben mich gesehen, und sie haben trotzdem nicht versucht, mich zu fangen.»
«Aber das ergibt doch keinen Sinn», sagte Box und biss in den zweiten Apfel. «Jäger jagen uns und sie fangen uns. Dazu sind Jäger da.» Hörbar zermalmte er mit den Zähnen das feste Fleisch des Apfels.
«Es sei denn», wandte Splinter ein, «sie sind dir gefolgt, damit sie unser Versteck aufspüren können.» Er wandte sich zu Box. «Du hättest die Polizeiwache nicht in Brand stecken sollen, Box.»
«Und du hättest die Poststelle nicht ausrauben sollen, Splinter», versetzte Box mit dem Mund voller Apfelstückchen.
«Vielleicht sind sie hinter mir her», sagte Chess leise.
«Warum sollten sie ausgerechnet dich wollen?», schnaubte Splinter.
Wieder zuckte Chess mit den Schultern. «Jemand hat mich beobachtet. Irgendwie.» Sie war sich ganz sicher.
Box zerkaute krachend den Apfel und Splinter steckte den Ring in eine seiner Taschen. Dann verschwand er in den dunklen hinteren Bereich des Vorsprungs. Chess betrachtete die grauen Halbmonde aus Dreck unter ihren Fußnägeln und wünschte, dass Splinter ihr glauben würde. Sie wusste, dass sie wochenlang beobachtet worden war. Immer wieder hatte es deutliche Zeichen gegeben: Schritte dicht hinter ihr; eine seltsame Reflexion in einem Schaufenster; eine Gestalt, die in einem Hauseingang verschwand, als sie sich näherte. Sie war nie in der Lage gewesen, genau zu erkennen, wer es war, aber sie wusste, dass man sie verfolgte, so wie ein wildes Tier es weiß.
Aber heute Morgen war es anders gewesen. Es war anders, weil niemand sie beobachtet hatte. Was vor dem Ladengeschäft geschehen war, zählte nicht. Es war nicht angenehm gewesen, aber so etwas passierte Kanalratten ständig. Was Chess beunruhigte, war die Tatsache, dass sie nicht mehr verfolgt wurde.
Es hat aufgehört, dachte Chess, weil derjenige, der dahintersteckt, genug gesehen hat. Was bedeutete, dass etwas geschehen würde.
Es war Mittag, eine geschäftige Zeit in der Stadt, aber die ruhigste Stunde des Tages am Kai. Die Kanalratten schliefen oder unterhielten sich leise, flickten Kleider oder säuberten Werkzeuge. Jemand hatte ein Feuer entfacht und einen Reifen in die Flammen gelegt. Es war immer noch besser als der Gestank, der dem Fluss entströmte. Box hatte sich lang ausgestreckt und schnarchte. Selbst die Wachen, die direkt hinter den Tunneleingängen postiert waren, dösten in der schweren Stille des frühen Nachmittags.
Seit Tagen war es brütend heiß und Nebelschwaden zogen dampfend über den Fluss, hüllten den Kai in feuchte Wolken ein. In schmalen Rinnsalen lief das Kondenswasser an den Backsteinmauern hinunter. Der Herbst war bis jetzt drückend gewesen. Aber heute war der Himmel rußig grau und schon am Morgen hatte der aufziehende Regen in der Luft gelegen. Chess lag auf dem Rücken und betrachtete das flackernde Muster aus Licht über sich. Sie fühlte sich schläfrig, aber sie konnte sich nicht genug entspannen, um richtig einzuschlafen.
Sie hatte schon früher bemerkt, dass man manchmal plötzlich auf ein Geräusch aufmerksam wird, ohne sagen zu können, wann es eingesetzt hat. Sie hörte ein dumpfes Pochen, begleitet von einem Schwirren. Es war tief und schrill zugleich, und es dauerte an, obwohl es anfangs nur leise gewesen war. Chess setzte sich auf und drehte den Kopf, um besser hören zu können. Das Geräusch schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen, sondern eher aus der Luft im Allgemeinen, und es näherte sich offensichtlich, denn es wurde immer lauter.
Warnschreie von den Wachtposten zerrissen die schläfrige Trägheit des Kais. Kinder, einige kaum älter als fünf oder sechs, lösten sich aus den Schatten des Tunnels, um nachzusehen, was los war. Sie rutschten an Seilen herunter, sprangen aus alten Kisten und schlüpften aus Spalten in den Wänden. In Sekundenschnelle wimmelte es im Tunnel von Kindern. Anfangs waren sie still und lauschten auf das Geräusch, das näher kam.
Durch den Nebel konnte man nichts erkennen.
«Box!», zischte Chess. «Box, wach auf!» Sie verpasste seinem Fußknöchel einen Tritt.
Sofort war er hellwach und kniff die Augen zusammen. «Hubschrauber!», sagte er. Und plötzlich war da zwischen dem lauter werdenden metallischen Kreischen und Summen noch etwas anderes zu hören, erst weit entfernt, aber ebenfalls näher kommend. Hunde.
Splinter tauchte auf der Lippe des Vorsprungs auf. «Jäger!», schrie er, und mit einem Mal war der Tunnel von einer explosionsartigen Aktivität erfüllt. Mehr als hundert Kanalratten stopften ihre Habseligkeiten in Tüten und Säcke und hasteten zu den Tunnelöffnungen, um ihr Heil in der Flucht zu suchen, ehe die Jäger sie eingekreist haben würden. Schreie und Gebrüll mischten sich mit dem Gekreische der Hubschrauber und hier und da einem Platschen, wenn eine Kanalratte in der Panik das Gleichgewicht verlor und ins Wasser fiel.
«Da kommen wir nie raus!», schrie Box.
Das Heulen der Maschinen und das vibrierende Pochen der Rotorblätter ließen Chess’ Rippen erzittern. Sie konnte die Hubschrauber noch nicht sehen, aber dem brüllenden Lärm nach zu urteilen und der Art, wie das Wasser brodelte und zur Seite gedrückt wurde, mussten sie direkt jenseits der Tunnelöffnungen dicht über dem Fluss lauern.
Unterhalb des Vorsprungs herrschte Chaos. Im Tunnel waren mehr Kanalratten, als die schlüpfrigen Steine der Anleger fassen konnten, und da die Kinder dicht aneinandergedrängt waren und sich gegenseitig anrempelten und stießen, kam keiner vorwärts. Überall gellten Schreie. Zwei kleine Jungen saßen ganz hinten auf dem Boden und Chess sah, dass sie weinten, obwohl es zu laut war, um sie zu hören. Niemand achtete auf sie, außer Chess. Sie hielt Ausschau nach Gemma, konnte sie aber inmitten der drückenden und schiebenden Körper nirgends entdecken.
Während Chess und Box von oben zusahen, wichen die Kanalratten zurück. Ein paar von ihnen stolperten, andere wurden in den Fluss gestoßen, als einer über den anderen fiel. Dann wurde klar, was diesen Rückzug verursacht hatte: Aus dem Nebel drangen die Jäger, ließen Schlagstöcke auf die Kinder regnen, brachen Knochen und vergossen Blut. Ihre schwarzen Uniformen und Helme bohrten sich wie ein Keil in den Tunnel, und auf ihren Fersen folgten die Hunde, wilde Bestien, die man von der Leine gelassen hatte.
«Das ist ein ziemliches Aufgebot», sagte Box. «Sie haben wahrscheinlich sämtliche Docks und alle Wege besetzt.» Er blies die Wangen auf. «Keine Kleinigkeit, wenn ihr mich fragt.»
Chess sagte nichts, denn es gab nichts zu sagen. Sie stand tatenlos oberhalb des Aufruhrs und sah zu, wie sich vierzig oder fünfzig Jäger in die Masse aus Kindern pflügten, tiefer und tiefer in den Tunnel hinein. Hinter ihnen kam der Kommandant, flankiert von zwei Leutnants. Er trug ein Kehlkopfmikrofon und sprach hinein. Die schwarzen Gläser seiner Brille ruckten regelmäßig in die Höhe, wenn er die Pfade und Nischen in den Tunnelwänden absuchte.
Der Tunnel war voll von Jägern, und die Kanalratten wurden zum Rückzug gezwungen. Kinder schrien und Hunde knurrten. Als alle Jäger drinnen waren, fiel ein dickes Netz über den Eingang des Tunnels, wie eine Falltür, und machte jedes Entkommen unmöglich.
Wenn Chess am anderen Ufer gewesen wäre und der Nebel nicht so dicht gehangen hätte, hätte sie gesehen, dass überall auf dem Kai, an jedem Tunnel, das Gleiche geschah. Sie hätte eine Legion aus Jägern gesehen, manche mit Gewehren bewaffnet, die über die Anleger in die gewölbten Tunneleingänge hineinströmten, und sie hätte die Netze aus den Hubschraubern fallen sehen, die über dem Kai schwebten wie ein Schwarm Heuschrecken. Jeder einzelne Tunneleingang wurde von Netzen verschlossen. Jede einzelne Ratte saß in der Falle.
«Das war’s», sagte Box zu Chess. Chess schwieg.
Eine schwarz behandschuhte Hand zeigte nach oben, zu ihr hin. Es war der Kommandant, der sie unverwandt anstarrte. Seine beiden Leutnants richteten ebenfalls den Blick durch ihre undurchdringlichen schwarzen Brillengläser auf sie. Der Kommandant sprach in sein Mikrofon. Fünf Jäger wandten sich von der Truppe ab, die weiter in den Tunnel drängte, und bezogen vor ihm Aufstellung. Knapp und scharf gab er ihnen Anweisungen. Drei von ihnen rannten zum Fuß der Leiter, die hinauf zum Vorsprung führte, wo Chess stand. Die beiden anderen nahmen die Gewehre von den Schultern.
Während der ganzen Zeit, die Box und Chess zugeschaut hatten, hatte sich Splinter hinter ihnen im Dunkeln zu schaffen gemacht.
«Mir nach!», schrie er.
«Wohin?», schrie Box zurück, ohne den Blick von den Jägern zu wenden.
«Das wirst du schon sehen.»
Box zögerte und hastete dann dorthin, wo die Leiter auf die Seite des Vorsprungs traf. Die Plattform oben an der Leiter war mit einer Kette an zwei Eisenpfosten befestigt, die in den Stein eingelassen waren. Er suchte nach einer Möglichkeit, sie zu lösen, sodass die Plattform herunterfallen würde und die Jäger sie nicht erreichen könnten. Zwei von ihnen hatten bereits damit begonnen, die Leiter zu erklimmen.
Box zerrte an der Kette. Die Plattform schwankte seitwärts, aber sie hielt.
Chess sah, dass einer der beiden Jäger, die bei dem Kommandanten geblieben waren, die Waffe hob und anlegte, sein Ziel anvisierte. Der Lauf war auf Box gerichtet. Sie rannte zu ihm, schrie seinen Namen. Als sie ihn bei den Schultern packte, sah sie, dass der Kommandant die Hand auf den Lauf der Waffe legte und ihn nach unten stieß.
«Wir sollten Splinter folgen», drängte sie Box.
«Wohin denn?», fragte er.
«Ich weiß nicht. Komm mit.»
Sie rannten zum hinteren Teil des Vorsprungs und sahen, dass die Kisten und Fässer durcheinander auf dem Boden lagen. Wo sie aufgestapelt gewesen waren, befand sich eine niedrige Pforte in der Wand. Splinter hockte auf der anderen Seite auf seinen Fersen und winkte ihnen, ihm zu folgen.
«Davon wusste ich ja gar nichts!», schrie Box.
«Warum glaubst du, wollte ich unbedingt diesen Vorsprung haben?», kam die Erwiderung. «Wir brauchten einen Notausgang. Wir brauchen immer einen Notausgang. Jetzt macht schon!»
Geduckt rannten Box und Chess durch die Öffnung und fanden sich am Fuß einer Eisentreppe wieder. Links davon führte ein Gang schräg nach unten.
«Wir müssen die Treppe hoch, über das Dach und dann auf der anderen Seite die Feuerleiter wieder runter.» Splinter gelang es, sich Gehör zu verschaffen, ohne zu brüllen, obwohl das Sirren und Heulen der Hubschrauber immer noch alles andere übertönte. «Wenn wir es auf der anderen Seite nach unten schaffen, sind wir durch.»
«Und wenn nicht?», fragte Box.
Splinter gab keine Antwort. Er drehte sich um und stürmte die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend, und Box folgte ihm auf dem Fuße. Chess rannte so schnell sie konnte, aber es waren unendlich viele Stufen hinauf zum Dach des Lagerhauses. Sie schnappte nach Luft, und ihre Lungen fühlten sich an, als ob jemand sie zerdrücken würde. Ihre Oberschenkel brannten und ihre Füße waren bleischwer. Sie hörte, wie Box ihr etwas zuschrie, sie anspornte, sich zu beeilen, aber es war das Trampeln von schweren Stiefeln auf Eisen unterhalb von ihr, das sie den Schmerz vergessen ließ und sie veranlasste, noch schneller zu laufen.
«Holt euch das Mädchen», knurrte eine Stimme hinter ihr. «Tötet die anderen, wenn ihr müsst, aber holt euch das Mädchen. Lebendig.»
Als sie taumelnd das Ende der Treppe erreichte, warfen sich Box und Splinter gerade gegen eine Holztür, die nach draußen führte. Auf der Treppe war es dunkel, aber Chess sah Licht durch die Ritzen zwischen Tür und Rahmen fallen. Ihre Brüder durchbrachen die Tür in dem Moment, in dem Chess zu ihnen kam, und alle drei stolperten hinaus ins helle Tageslicht und in den strömenden Regen.
«Was haben sie da gerufen?», grunzte Splinter und rappelte sich auf die Füße.
«Ich hab’s nicht verstanden», keuchte Chess, obwohl das eine Lüge war. Jetzt war nicht die Zeit für Fragen, für Schuldzuweisungen. Die Jäger waren hinter ihr her, und sie hatte keine Ahnung, warum.
Das Dach war breit und flach und die Luft frisch und kalt. Sie rannten auf die gegenüberliegende Seite zu, wo eine eiserne Feuerleiter jenseits der Brüstung in der Tiefe verschwand.
Vielleicht hätten sie das andere Ende des Dachs erreicht. Vielleicht hätten sie es nach unten geschafft. Aber noch ehe sie die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatten, senkte sich ein Hubschrauber, blieb kurz über dem Dach in der Luft stehen, und drei Jäger sprangen heraus, mit den Gewehren im Anschlag.
Splinter blieb stehen. Chess und Box bremsten neben ihm ab. «Sie haben es wirklich auf uns abgesehen», sagte Box. Der Hubschrauber stand in der Luft und die Jäger begannen, sie einzukreisen.
Splinter überdachte seine Möglichkeiten. Er hatte keine.
Box steckte die Hand in seine Hosentasche und umklammerte das Schnappmesser, das er immer bei sich trug. Es war nicht leicht, die Klinge ausschnappen zu lassen, aber er tat es trotzdem, langsam und vorsichtig, ohne sich in die Finger zu schneiden. Die Jäger, die aus dem Hubschrauber gesprungen waren, stellten sich ihnen entgegen, Gewehrkolben an den Schultern und die Läufe unverwandt auf die Kinder gerichtet. Regen tropfte von den schwarzen Waffenmäulern.
Durch die Tür hinter ihnen kamen der Kommandant und die beiden Leutnants marschiert. Sie machten einen Bogen um die Kinder und traten vor sie hin. Der Kommandant war kaum größer als Chess. Er hatte ein hageres und hungriges Gesicht, das er jetzt so weit vorschob, dass seine beilförmige Nase fast ihre eigene berührte. Seine Lippen lagen eng und schmal an den Zähnen, die sie zwar nicht sehen konnte, von denen sie aber unwillkürlich ahnte, dass sie länger waren als normal und ungewöhnlich scharf. Sie rührte sich nicht und wagte kaum zu atmen. Regentropfen benetzten die schwarzen Gläser seiner Brille.
Er riecht mich, dachte Chess, und gleichzeitig stieg ihr ein säuerlicher Geruch nach Hund in die Nase, obwohl sich auf dem Dach nur menschliche Jäger befanden.
Dann trat der Kommandant zurück. «Das ist das Mädchen», sagte er. «Festnehmen, alle.»
Einer der Leutnants trat vor, und Box stürzte sich auf ihn, das Messer auf Höhe der Kehle seines Gegenübers nach vorn stoßend. Sein Angriff kam unerwartet, und nur dank der Tatsache, dass der Jäger im letzten Moment seine Schulter zur Seite drehte, traf das Messer nur Luft, kein Fleisch. Aber die Jäger waren flink und gut ausgebildet. Ehe Box noch das Gleichgewicht wiederfinden konnte, hatte der andere Leutnant bereits einen Betäubungsstock hervorgeholt und legte ihn mit der Spitze an Box’ Rücken.
Die Elektrizität entlud sich in einem gleißend hellen Blitz, und Box lag auf dem Boden, zuckend und zappelnd vor Schmerzen. Noch während er sich vor ihren Füßen wand, stieß der Leutnant den Betäubungsstock in Box’ Bauch und schickte einen weiteren elektrischen Schlag in seinen Körper. Chess schloss die Augen und Splinter starrte unverwandt auf die Feuerleiter, die ihre Rettung bedeutet hätte. Während der ganzen Zeit hielt der Kommandant seine verborgenen Augen auf Chess gerichtet.
Der Hubschrauber landete auf dem Dach, schwankte leicht und malte mit den wirbelnden Rotorblättern Muster aus Regenwasser auf dem Beton. Chess und Splinter wurden gefesselt und im Gänsemarsch auf den Hubschrauber zugetrieben. Zwei Jäger packten Box an Armen und Beinen, zerrten ihn zum Hubschrauber und warfen ihn ohne Umstände hinein. Er landete mit einem dumpfen Aufprall neben seinen Geschwistern auf dem Boden und wimmerte vor Schmerz.
Der Kommandant und der Leutnant, der Box mit den Elektroschocks außer Gefecht gesetzt hatte, kletterten zu dem Piloten ins Cockpit. Drei Jäger setzten sich zu Chess, Box und Splinter in den Laderaum. Sie hielten die Betäubungsstöcke bereit und hatten grimmige Gesichter aufgesetzt.
«Genießt das Tageslicht, ihr Ratten», schrie der Kommandant ihnen zu. «Viel werdet ihr nicht mehr davon zu sehen kriegen.» Dann wandte er sich an den Piloten.
Der Hubschrauber erhob sich, neigte sich leicht nach vorn und flog in den strömenden Regen davon.
Chess, Box und Splinter saßen schweigend auf einem Flur im Arrestblock. Nach ihrer Ankunft hatte man sie hierher gebracht, aneinandergekettet und ihnen befohlen, sich auf die Eisenstühle zu setzen, die entlang der harten weißen Wand standen. Dann hatte man die Ketten an den Stühlen befestigt. Schließlich ließ man sie allein. Sie warteten. Und warteten. Wasser tropfte aus ihrer Kleidung auf den Boden, wo es sich um ihre nackten Füße zu kleinen Pfützen versammelte.
Es war sehr still. Manchmal glaubte Chess, das Echo von Schreien, Kreischen oder Gelächter zu hören, das aus den weiter entfernten Räumen zu ihnen drang. Manchmal dröhnte irgendwo ein metallischer Schlag auf Eisenstäben oder eine Tür schlug knallend zu. Und dann war da noch dieses Klicken.
Das Klicken kam vom anderen Ende des Flurs, wo eine schmuddelige kleine alte Frau auf einem Stuhl neben einer Stahltür saß. Sie hatte einen Flickenschal um die Schultern gelegt, und unter ihrem Stuhl standen alte Plastiktüten, deren Inhalt das Material überall ausbeulte. Sie trug eine Brille und ihre kurzen grauen Haare hingen ungekämmt und fettig über ihr Gesicht. In den Händen hatte sie ein Paar lange Stricknadeln und auf ihrem Schoß lag ein Knäuel grüner Wolle. Sie schien völlig in ihre Arbeit versunken zu sein.
«Sie strickt immer noch», flüsterte Box. Seit über einer Stunde hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, und während der ganzen Zeit hatte die alte Frau einfach weitergestrickt. «Sie ist eine von den alten Pennern.»
«Ich frage mich, warum man sie hoppgenommen hat», sagte Splinter.
«Wahrscheinlich irgendwas Abartiges, wie Kindsmord», vermutete Box.
«Nie im Leben», sagte Splinter. «Dafür würde sie eher einen Orden kriegen.»
Danach herrschte wieder Stille, abgesehen von dem Klicken.
Box zog die Nase hoch und verzog das Gesicht. «Hier stinkt es wie in einem Schwimmbad.»
«Das ist das Chlor, mit dem sie das Blut von den Wänden waschen», sagte Splinter. Keiner lachte.
Die Minuten vergingen. Niemand sprach.
«Was meinst du, Splinter: Was haben die mit uns vor?», fragte Box, der die Stille einfach nicht mehr ertrug.
Splinters Kopf hing herab, fast bis zwischen seine Knie, und er fuhr sich mit der Hand, die in einem Eisenring lag, durch die stachelig wirkenden weißen Haarsträhnen. Dann schaute er seitwärts hoch zu seinem Bruder. «Wir sind geliefert, Box. Die machen uns kalt. Die sind doch seit Ewigkeiten hinter uns her. Sie hassen uns.»
«Bringen die uns in die Labors?», fragte Box mit rauer Stimme.
Splinter schwieg, aber er setzte sich unter dem Klirren der Ketten auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die kalte Flurwand.
«Nicht in die Labors, Splinter. Nicht das. Das können sie nicht machen. Wir sind doch bloß …»
«Kinder?», vervollständigte Splinter den Satz. «Straßenkinder. Vergiss nicht, Box, wir sind Ungeziefer. Ratten. Sie hassen uns, uns drei ganz besonders.»
«Weil wir die Polizeiwache in Brand gesteckt haben?», fragte Box ungläubig. «Das geschah ihnen nur recht.»
«Das kannst du ihnen ja gerne sagen», erklärte Splinter und schloss die blassen blauen Augen. Er dachte an das, was er über die Labors gehört hatte. Es waren Gebäude, in denen die Kanalratten für Experimente benutzt wurden, die man bei anderen Lebewesen nicht vornehmen durfte: Injektionen, Elektroschocks, Chemikalien, Sezierung, Amputation, gentechnische Manipulation. Niemand kehrte je aus den Labors zurück. Besser gesagt: Vermutlich kehrte niemand zurück, und wenn, dann sah er nicht mehr wie ein normales menschliches Wesen aus.
Chess kniff die großen braunen Augen zu und presste die Lider ganz fest zusammen, um das nasse Brennen von Tränen zurückzuhalten.
«Du heulst», sagte Box. «Das hilft uns auch nicht weiter.»
«Halt die Klappe, Fliegenkopf», sagte Splinter. «Da kommt jemand.»
Chess schaute hoch und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Zwei Offiziere in schwarzer Uniform und mit dem silbernen Totenkopfzeichen, unter dem zwei gekreuzte Knochen prangten – das Zeichen der Jäger –, kamen auf sie zu. Die Stiefelabsätze schlugen dröhnend auf den Betonboden. Ihre dunklen Brillengläser reflektierten die gleißenden Neonröhren, die in der Mitte der Decke entlang des gesamten Flurs verliefen. Chess erkannte in dem kleineren der beiden den Kommandanten, der sie geschnappt hatte. Der andere Jäger war derjenige, der Box mit dem Betäubungsstock traktiert hatte. Er trat vor Chess und öffnete die Schlösser, mit denen sie an den Stuhl gefesselt war. Dann tat er das Gleiche bei ihren Brüdern.
«Mitkommen.» Der Kommandant spuckte ihnen das Wort entgegen und marschierte weiter, ohne sich umzuwenden und nachzusehen, ob sie seinem Befehl folgten.
Chess, Box und Splinter standen auf und schlurften hinter den Offizieren her. Es war schwierig, mit dieser Menge an Metall zu laufen, das ihnen an Hand- und Fußgelenken hing. Sie folgten den Jägern bis zu der schmuddeligen kleinen Frau, die immer noch in ihre Strickarbeit vertieft war. Sie hob erst den Kopf, als die Offiziere direkt vor ihr standen und die Gefangenen klappernd und klirrend hinter den Jägern zum Stehen kamen. Dann schaute sie auf und lächelte sanft.
«Inspektor», sagte sie, als ob sein Anblick eine unerwartete, aber angenehme Überraschung sei.
Chess, die bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit ganz nah bei dem Inspektor stand, bemerkte erneut seine harten, scharfen Züge. Seine Haut war bleich und sein Haar kraus, kurz und schwarz, und seine Nase bog sich, breit und flach, wie eine halbe Haifischflosse. Die Nasenlöcher waren lang und schmal. Sie vermied es, einzuatmen, denn sie mochte seinen Geruch nicht. Es war kein gewöhnlicher unangenehmer Geruch, es war ein Geruch, den sie nicht mit einem Menschen in Verbindung brachte. Die Finger, die in schwarzen Handschuhen steckten, lagen an den Außenseiten seiner Oberschenkel. Sie zuckten.
«Also gut, Ethel», sagte er. «Sie gehören Ihnen. Für fünf Minuten. Keine Sekunde länger.»
Der andere Offizier sagte nichts. Er schaute die Kinder nur durch die schwarzen Gläser seiner Brille an. Seine Mundwinkel verkrampften sich.
Die alte Frau ließ ihr Strickzeug unter den Stuhl fallen, wo die Plastiktüten standen. Dann erhob sie sich flink und strich sich den Rock glatt. Chess war überrascht von ihrer augenscheinlichen Geschäftsmäßigkeit.
«Danke, Inspektor», sagte die alte Frau. Sie schob ihren Kopf vor und hob ihn an, sodass er nur noch ein paar Zentimeter vom Kopf des Inspektors entfernt war. Das strähnige graue Haar fiel ihr über die breite, faltige Stirn. «Steht mir ein Raum zur Verfügung?» Sie lächelte höflich.
Der größere der beiden Offiziere holte einen Schlüssel aus der Brusttasche seiner schwarzen Uniformjacke und schloss damit die Stahltür auf. Er drückte dagegen und sie öffnete sich geräuschlos.
«Die Ketten?» Wieder lächelte sie und deutete auf die Eisenfesseln der drei Geschwister.
Der Offizier schloss die Fesseln auf, an denen die Ketten um Splinters Handgelenke hingen. Gleichzeitig packte der Inspektor Chess’ dünne Arme und verdrehte sie. Sie zuckte zusammen, weil der Griff des Jägers schmerzhaft an ihrer Haut riss. Er löste die Handschellen und zog die schwere Kette weg, die ihre Hände und Unterarme gefesselt hatte.
Als schließlich Chess, Box und Splinter ihrer Fesseln ledig waren, lag ein kleiner, aber ansehnlicher Haufen aus Eisenzeug auf dem Boden. Jetzt, da das Blut wieder durch ihre Gelenke zirkulieren konnte, merkte Chess, wie wund sie waren.
Die alte Frau schaute von Chess geröteter Haut zu dem ausdruckslosen Gesicht des Inspektors.
«Sie sind zu liebenswürdig, Inspektor», sagte sie.
«Wir werden hier draußen warten», knurrte er.
«Sehr rücksichtsvoll, Inspektor. Ich weiß also, wo ich Sie finden kann, wenn ich Sie brauche.» Sie wandte sich auf dem Absatz ihrer ausgelatschten Sandalen um und stapfte in den Raum hinter der Stahltür.
Der Inspektor wandte sich zu den Kindern. «Rein mit euch, ihr Abschaum», sagte er. «Ich weiß nicht, was sie mit euch vorhat, aber macht euch keine Illusionen.» Sein scharfes weißes Gesicht spaltete sich zu einem Grinsen, das Zähne entblößte, die ganz normal aussahen. Seine Lippen bewegten sich kaum merklich. «Ihr seid tot. Tot.» Und er grinste noch, als die Kinder an ihm vorbei und durch die Tür gingen.
Als sie alle im Zimmer waren, drückte die grauhaarige Alte an der schweren Tür, die sich mit einem leisen, dumpfen Schlag schloss. Sie ging zu dem Stahltisch, der in der Mitte des Raums stand, und setzte sich darauf. Ihre Füße reichten nicht bis auf den Boden. Chess, Box und Splinter standen vor ihr. Abgesehen von dem Tisch und der langen Neonröhre an der Decke war der Raum leer.
«Also schön, wir haben nicht viel Zeit», sagte sie. «Ihr müsst wissen, dass der Inspektor eure Köpfe will. Wenn er seinen Willen bekommt, sieht es ziemlich schlecht aus für euch.» Die Brille war ihr auf die rosige Nasenspitze gerutscht und ihre Augen spähten die Kinder über den Rand hinweg an. Sie waren grau und ein bisschen blutunterlaufen. «Ich kann euch helfen. Vielleicht.»
«Sind Sie auch eine von denen?», unterbrach sie Box und nickte zur Tür.
«Box Tuesday», sagte die alte Frau, «du hast keine Ahnung, wer oder was ich bin.» Bei ihren Worten hatte Chess den Eindruck, dass sich die Luft merklich abkühlte.
«Sie sind eine Pennerin», sagte Box. «Eine stinkende Pennerin.»
Chess spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken aufrichteten. Sie sah, wie die Luft um die alte Frau herum schimmerte, wie Hitze, die von einem Feuer aufsteigt.
Box fuhr fort: «Sie sind alt und stinkend und entweder sind Sie eine von denen oder Sie sind ein Freak.»
Chess vergaß nie, was daraufhin geschah.
Sie befanden sich nicht länger in dem Verhörzimmer. Sie, Box und Splinter klammerten sich auf einer schmalen Nadel aus schwarzem Fels aneinander. Tief unter ihnen brodelte ein Meer aus Wolken, gelb und weiß und blau. Über ihnen türmte sich eine Frau auf, deren wirbelndes, ebenholzschwarzes Haar den gesamten Himmel überzog. In den dunklen Strähnen funkelten Sterne. Ihre langen Finger, knochenweiß und mit blutroten Nägeln besetzt, zeigten auf die Geschwister, und ihre mandelförmigen Augen waren tief, dunkel und so scharf wie die eines Tigers.
Als sie sprach, war es, als ob die ganze Welt mit dem Donner ihrer Stimme erfüllt sei. «Ich bin die Baronin Mevrad Styx, Großmeisterin des Außenbogens. Ihr mögt meiner ansichtig werden und leben.»
Und dann waren sie wieder in dem Verhörzimmer, bebend und sich immer noch aneinander klammernd. Ethel lächelte freundlich. «Es tut mir leid, meine Lieben. Ich mache so etwas normalerweise nicht gern, aber unsere Zeit ist knapp bemessen. Wollt ihr mir jetzt zuhören?»
Chess, Box und Splinter nickten fassungslos. Box zitterte.
«Ich mache es so einfach wie möglich. Zunächst einmal möchte ich euch dreierlei sagen.» Sie hielt einen pummeligen Finger in die Höhe. «Erstens: Es gibt viele unterschiedliche Welten im Universum.» Ein weiterer Finger wurde erhoben. «Zweitens: Es ist möglich, dass sich Menschen oder Gegenstände zwischen diesen Welten hin und her bewegen. Und drittens» – jetzt hielt sie drei Finger hoch, allesamt mit zersplitterten, abgeknabberten Nägeln – «drittens: Kinder sind in keiner dieser Welten willkommen. Aber sie sind nützlich.» Ethel beugte sich nach vorn und senkte ihre Stimme. «Sie sind wertvoll.»
Box schwieg. Auch Chess und Splinter sagten kein Wort.
Ethel nickte und lächelte. «Das geht euch unter die Haut, meine Lieben, nicht wahr? Es stimmt: Niemand mag Kinder. Abgesehen von ihren Eltern. Manchmal.»
«Uns mag überhaupt niemand», sagte Box.
«Nun, über deine Eltern weißt du doch nichts, oder?», wies Ethel ihn zurecht.
An der Tür klopfte es und eine Stimme rief: «Eine Minute, Ethel.» Sie runzelte leicht die Stirn und schob sich den grauen und fettigen Pony von den Brillengläsern.
«Zeit ist eine so relative Angelegenheit. So ein Ärgernis.»
«Sie redet mit sich selbst», flüsterte Box Chess zu.
«Nie hat man genug davon, wenn man sie braucht. Und zu viel, wenn man keine Verwendung dafür hat.» Sie kaute auf ihrer Unterlippe und dann wedelte sie mit ihrer linken Hand gegen den Uhrzeigersinn vor ihrem Gesicht herum. Es kam Chess so vor, als ob sie ebenfalls kreiselte, als ob sie mit Ethels Hand verbunden wäre. Ihre Füße rutschten nach oben, wo ihr Kopf gewesen war, und ihr Kopf sauste gen Boden, und dann stand sie wieder still und aufrecht da, wenn auch mit einem ausgeprägten Schwindelgefühl.
«Mir ist schlecht», bemerkte Splinter und rieb sich den Magen.
«Bitte entschuldige, mein Lieber», sagte Ethel. «Ich breche entschieden zu viele Regeln an diesem Nachmittag, aber wir brauchen etwas mehr Zeit. Ich habe uns fünf Minuten zurückversetzt. Wenn ihr euch komisch fühlt, dann ist es nur die Nachwirkung der umgekehrten Zeit.»
Splinter fing an zu würgen und zu husten.
«Igitt!», rief Box. «Er muss kotzen!»
Ethel griff in ihren Ärmel und zog ein schmutziges Taschentuch heraus. «Hier, wisch dir damit den Mund ab.»
«Sie sagten, Sie könnten uns helfen», sagte Chess und dachte an den Inspektor mit dem scharfen Gesicht und der beilförmigen Nase.
Ethel nickte ihr zu. «Wie ich schon sagte, Kinder sind wertvoll. Sie haben ihren Nutzen. Das ist der Grund, warum sie gestohlen werden; jemand oder etwas stiehlt sie aus eurer Welt und bringt sie an einen anderen Ort.»
«Kinder können nicht gestohlen werden», behauptete Splinter gedämpft durch das Taschentuch, mit dem er sich den Mund sauber wischte. «Nicht einfach so.»
«Ach nein?», versetzte Ethel. «Können sie etwa nicht verschwinden? Denk doch mal an die Straßenkinder, die du kanntest, Splinter. Kinder, die einfach verschwanden.»
«Ja, okay», sagte Splinter. «Sie verschwinden. Aber daran sind die Jäger schuld, und manchmal andere Leute, böse Leute.» Ethel nahm ihr Taschentuch wieder an sich und lächelte geduldig, während er weitersprach. «Und, na ja, Sie wissen schon, aus anderen Gründen.» Dann hörte er auf zu reden, denn er wusste, das Ethel recht hatte. Kinder verschwanden.
Ethel lächelte ihn immer noch freundlich an. «Genau, mein Lieber. Also, wie ich schon sagte, es gibt eine Verbindung von eurer Welt zu diesem anderen Ort.»
«Sie haben gar nichts von einer Verbindung gesagt», unterbrach sie Splinter. «Was meinen Sie mit ‹Verbindung›?»
«Ich sagte doch vorhin, dass es viele verschiedene Welten gibt, nicht wahr? Eine Verbindung ist ein Pfad oder eine Straße von einer Welt in die andere. Diese Verbindung, von der hier die Rede ist, ist ein Saugwurm. Wir nennen ihn den Schlingschlund. Der Schlingschlund wird dazu benutzt, Kinder in dieser Welt zu verschlucken und in eine andere zu bringen.»
«Was ist ein Saugwurm, was ist der Schlingschlund und wer ist ‹wir›?» Splinter spuckte einen bitteren Schleimklumpen aus.
Ethel seufzte. «Weißt du, ich versuche, die ganze Sache so simpel wie möglich zu halten, Splinter. Hört gut zu. Es gibt eine Organisation, die wir die Verbogene Symmetrie nennen. Sie ist überall und richtet jede Menge Schaden an, wie zum Beispiel Kinder stehlen. Das allerdings ist nur ein Teil dessen, worum es bei der Verbogenen Symmetrie geht. Aber dies ist der Teil, mit dem wir uns augenblicklich beschäftigen.»
«Das ist doch verrückt», sagte Box.
«Es ist verrückt», stimmte Ethel zu. «Aber es ist wirklich und es geschieht tatsächlich. Ich arbeite für eine andere Organisation. Wir nennen uns selbst das Komitee.»
«Das Komitee», schnaubte Splinter. «Was treiben Sie da? Veranstalten Sie Teepartys?»
«Nein, Splinter. Wir kämpfen gegen die Verbogene Symmetrie. Hört mir zu. Die Symmetrie ist überall und hat viele Gefolgsleute. Sie kommen in vielerlei Gestalt daher: Formwandler, Geister, Polizisten, Händler und noch vieles, das schlimmer ist. Viel schlimmer. Gestalten, die durch die dunklen Winkel des Universums kriechen, Gestalten, die aus Schmerzen erschaffen wurden. Dinge, die keinen Namen haben, weil sie eigentlich nicht existieren dürften. Und im Herzen von alldem, immer auf der Hut, immer Ränke schmiedend, immer auf ihren Vorteil bedacht, sind die Inquisitoren.»
«Die Inquisitoren?», wiederholte Splinter, ließ das Wort auf der Zunge zergehen und ergötzte sich an seinem Klang.
Ethel runzelte die Stirn. «Die Inquisitoren verbreiten Lügen und Tod. Merkt euch: Mithilfe von Versprechungen, Angst und Folter kontrollieren sie die heimtückischste Waffe, die es gibt.»
«Und die wäre?», fragte Splinter.
«Menschen, Splinter. Menschen.» Sie verstummte und schloss die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, zuckte Chess zusammen. «Vertraut niemandem», zischte sie.
«Warum sollen wir dann Ihnen vertrauen?», gab Splinter zurück.
«Ihr müsst mir vertrauen.» Ethel deutete auf die Tür, hinter der die Jäger warteten. «Sie haben den Befehl, euch mit mir gehen zu lassen, wenn ihr euch dazu entscheidet. Wenn ihr nicht mit mir kommt, dann gehört ihr ihnen. Das wird nicht sehr schön für euch.»
«Worauf wollen Sie hinaus?» Splinters Augen verengten sich.
«Wir brauchen eure Hilfe», sagte Ethel. «Ihr müsst etwas für uns stehlen.»
«Stehlen ist böse», sagte Splinter, doch seine Stimme bewies, dass er in Wirklichkeit anderer Meinung war.
«Dieser Diebstahl nicht», sagte Ethel.
«Wir sind gut im Stehlen», verkündete Box strahlend.
«Das weiß ich, mein Lieber», sagte Ethel.
«Und im Kämpfen. Wir sind auch gut im Kämpfen.»
«Das ist sehr schön, eine sehr nützliche Tugend.» Sie nahm die Brille ab und putzte sie mit ihrem Taschentuch. Dann hielt sie die Gläser gegen das Licht und betrachtete sie prüfend, ehe sie die Brille wieder aufsetzte und das völlig verdreckte Taschentuch in ihrem Ärmel verschwinden ließ. Sie fixierte die Tuesdays mit einem scharfen Blick. «Das Komitee braucht euch.»
Splinter warf Box einen durchdringenden Blick zu. Der zuckte mit den Schultern und kratzte sich am Kopf. Chess schaute zu Boden. Als einige Sekunden vergingen und niemand etwas sagte, fuhr Ethel fort: «Der Kampf gegen die Verbogene Symmetrie findet zu allen Zeiten und an allen Orten statt. Normale Menschen wissen nichts darüber, denn sie bemerken nichts davon. Sie glauben, die Welt ist, was sie sehen, hören oder berühren können. Sie irren sich. Die ganze Zeit findet um sie herum eine verzweifelte Schlacht statt, und ich kann euch versichern, dass sie auf der Kippe steht. Ereilt uns auch nur die kleinste Niederlage, bedeutet das den Durchbruch für die Symmetrie, meine Lieben. Wenn das geschieht, müssen wir mit allen Mitteln versuchen, sie zurückzutreiben. Wenn die Symmetrie nicht in Schach gehalten wird, dann würde diese Welt zu einem schrecklichen, Furcht einflößenden Ort werden.» Sie verstummte, schaute Chess, Box und Splinter an, die barfuß und in Lumpen gekleidet vor ihr standen. «Noch schrecklicher und Furcht einflößender als sie schon ist», fügte sie hinzu. Dann räusperte sie sich. «Wisst ihr, meine Lieben, manchmal müssen sich Menschen für eine Seite entscheiden. Ich biete euch an, euch aus dieser Klemme hier zu helfen, aber ich bitte euch gleichzeitig um eure Hilfe, und ich verlange auch von euch, Partei zu ergreifen.»
Nach langem Schweigen sagte Chess: «Ich komme mit Ihnen.»
Ethel lächelte sie herzlich an. «So ein hübsches kleines Mädchen», sagte sie weich. Ihre Stimme klang traurig. «Du wirst sehr mutig sein müssen.» Chess nickte langsam.
«Ich werde auch kommen», sagte Splinter. «Um meinetwillen», fügte er hinzu, «wegen nichts sonst.»
«Na, allein kann ich ja schlecht hier bleiben», sagte Box.
Ethels alte graue Augen waren immer noch auf Chess’ große braune gerichtet. Dann wandte sie den Blick zur Tür, hievte sich vom Tisch und marschierte los. «Folgt mir.»
Sie zog die Tür auf und stolzierte an den Jägern vorbei. «Danke, Inspektor. Sie kommen mit mir», war alles, was sie sagte. Box und Splinter folgten ihr auf dem Fuße. Chess war die Letzte, die das Verhörzimmer verließ.
Sie wollte ihre Augen fest auf Ethels Rücken richten. Sie fühlte den bösartigen Blick der Jäger, der sich in sie brannte, als sie an ihnen vorbeiging. Sie roch ihren heißen und fauligen Atem, der über ihr Gesicht zog. Sie wollte sich nicht umsehen, aber unwillkürlich wurde sie langsamer. Die anderen marschierten den Flur entlang und weg von ihr. Ihre Beine bewegten sich nur mühsam, als ob sie von der Hüfte an abwärts in Schlamm stecken würde.
«Schau nicht zurück», sagte sie zu sich selbst. «Schau niemals zurück.» Aber manchmal war das gar nicht so einfach. Chess blieb stehen.
Sie drehte sich um und schaute den Inspektor an, der noch auf demselben Fleck vor dem Raum stand. Er hatte seine Brille abgenommen, und seine Augen waren verschleiert, aber starr auf sie geheftet. Aus seiner Kehle stieg ein merkwürdiges Geräusch, wie ein Grollen. Er grinste sie an, klappte den Unterkiefer auf und entrollte zwischen den Zähnen eine lange, rosige Hundezunge. Sie fiel über sein Kinn, und Speichel rann daran herab. Dort, wo seine Nase saß, war ein Knacken zu hören, und dann dehnte sich die Nase aus, wurde länger und breiter, verwandelte sich in eine Schnauze und zog dabei das Maul mit nach vorn. Die Lippen, jetzt schwarz und feucht, wurden zurückgezogen und entblößten zwei Reihen spitzer, scharfer Reißzähne. Er knurrte Chess an.
Chess fing an zu rennen.
«Was ist los, Herzchen?», fragte Ethel, die sich umgedreht hatte, als Chess durch den Flur zu ihr gerannt kam. Sie legte eine Hand auf Chess’ Schulter, während sie mit der anderen die Plastiktüten und das Strickzeug umklammert hielt. Als Chess noch einmal zurückschaute, sah sie zwei ganz gewöhnliche Jäger in ihren schwarzen Stiefeln, den schwarzen Uniformen und mit den silbernen Totenkopfsymbolen. Bleiche Gesichter und schmale Lippen. Keine Reißzähne. Keine Hundeschnauzen. Gleichzeitig fühlte sie sich beschützt und gestärkt durch die Berührung der alten Frau. Als der Inspektor Ethels Blick einfing, trat er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und zog seine dunkle Brille wieder auf.
«Alles in Ordnung?», fragte Ethel.
Chess nickte und bemühte sich, wieder normal zu atmen. «Ja. Danke», sagte sie. «Es ist nur … Ich dachte …»
«Ja, ich weiß, Liebes, aber mach dir keine Sorgen über das, was du dachtest», sagte Ethel. «Die Zeit zum Denken neigt sich dem Ende zu. Das ist der Grund, warum ihr nun bei mir seid.»
«Dann sollten wir jetzt besser gehen», sagte Box. Als sie sich wieder in Gang setzten, sagte er zu Splinter: «Ich kann nicht glauben, dass wir hier einfach so rausmarschieren.»
«Aber wohin gehen wir?», fragte Splinter.
«Zumindest weg von denen.» Damit drehte sich Box um und vollführte eine Geste in Richtung der Jäger, die ihm an jedem anderen Tag zehn Elektroschocks eingebracht hätte. Sie zuckten nicht mit der Wimper. Mit einem Gefühl tiefer Befriedigung folgte er Chess, Ethel und Splinter.
«Die Zeit zum Denken neigt sich dem Ende zu.» Chess sprach Ethels Worte im Gehen leise vor sich hin. Es war komisch, so etwas zu sagen, und sie hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte.
Ethel führte sie durch den Arrestblock. Immer wieder schauten ihnen Uniformierte nach, aber keiner sagte etwas. Es kam Chess vor, als sei das Gebäude mit einer sirupartigen Totenstille angefüllt. Selbst die Bewegungen der anderen Gestalten waren geräuschlos, als ob sie sich unter Wasser befänden. Als ein weiblicher Jäger einen Betäubungsstock aus dem Gürtel nahm und ihn gegen die Hüfte klatschen ließ, verursachte er kein Geräusch. Alles, was Chess hören konnte, war das Klappern von Ethels Sandalen und das leise Tapsen ihrer eigenen nackten Füße.
Chess hielt die Augen gesenkt. Sie mochte die hellen Lichter nicht und auch nicht die Art, wie sie sich auf den schwarzen Brillengläsern der Jäger widerspiegelten, die überall herumstanden. Die schwarzen Brillen waren wie vorgewölbte Wespenaugen, die sie mit ruckartigen Bewegungen verfolgten.
Ethel nahm Chess bei der Hand, als sie sich der Eisentreppe näherten, die sie hinauf und aus dem Arrestblock hinaus führen würde. Chess umklammerte diese Hand fest. Hier waren so viele Jäger, und alle waren bewaffnet. Soweit sie das beurteilen konnte, wäre es für die Jäger ein Leichtes gewesen, sie aufzuhalten. Angenommen, der Inspektor beschloss, seine Vereinbarung mit Ethel zu widerrufen? Angenommen, einer von den anderen entschied sich, Ethel einfach zu erschießen? Dann konnten sie mit ihr und ihren Brüdern machen, was sie wollten. Sie war dem Schrecken der schwarzen Uniformen und der silbernen Totenköpfe so nahe.
Aber niemand stellte sich ihnen in den Weg, und Chess wunderte sich, wie das möglich war. Ihre Füße verursachten auf den Eisenstufen ein metallisches Tapsen, das allen verkündete, dass sie sich entfernten. Die Freiheit war nur noch ein paar Schritte und eine Tür entfernt.
Chess warf einen letzten Blick auf die Wogen aus Dunkelheit unter sich, wo sich die Jäger versammelt hatten. Dann fühlte sie, wie Ethel ihre Hand mit unerwarteter Kraft packte und sie von dem oberen Treppenabsatz weg und hinaus in den peitschenden Wind zerrte, der die Regentropfen wie Nadelspitzen gegen ihren Körper trieb. Sie waren draußen, und hinter ihnen knallte die Tür zu.