The Bad Tuesdays: Der Kristallreiter - Benjamin J. Myers - E-Book

The Bad Tuesdays: Der Kristallreiter E-Book

Benjamin J. Myers

4,5

Beschreibung

Box. Nur er verfügt jetzt über die Kraft, Chess zu befreien. Und Anna, die geniale Schwertkämpferin, die ihn bewundert, wie er sie. Aber Box genießt nicht nur geheimnisvolle Protektion. Er wird auch von höchster Stelle verfolgt. Und die Symmetrie hat den Befehl zum Endgame gegeben. Die Zeit läuft ab. Wenn Chess nicht befreit wird, bevor die Zeitspirale den fünften Knoten erreicht, ist es das Ende von allem.

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Benjamin J. Myers

THE BADTUESDAYS:

DER KRISTALL REITER

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Für David

KAPITEL 1

Box Tuesday hielt den Feuerkarabiner auf Brusthöhe. Der kurze Lauf der Waffe war auf die hammerköpfige Kreatur mit den sechs Beinen und dem in bewegliche Glieder aufgeteilten Rumpf gerichtet, die nur wenige Meter vor ihm aufragte. Die Kreatur breitete ihre vier Flügel aus. Ein Paar war lang und zartgliedrig, wie die Flügel einer Libelle, während das andere Paar aus einem harten, panzerartigen Material bestand und so gebogen war wie zwei Sicheln. Rasiermesserscharfe Sicheln, mit einem spitzen Dorn am Ende.

Der Spiker machte sich zum Angriff bereit.

Box stand Schulter an Schulter mit Razool, der groß gewachsenen, schlanken Schnauze mit dem Windhundgesicht, der schwarzen Haarmähne und der gebrandmarkten Haut auf dem linken Arm und der Brust – das Zeichen für einen Meuterer. Auch er hatte seinen Feuerkarabiner angelegt und zielte wie Box auf den gepanzerten Bauch der riesigen Kreatur vor sich.

«Sie können sich regenerieren, also hör nicht auf zu schießen, klar?», zischte Razool Box aus dem Winkel seines Hundemauls zu.

«Wenn ich ihn mit dem Keulenstab attackieren würde …», setzte Box an.

Razool fluchte leise. «Warum musst du immer größere Risiken eingehen als unbedingt nötig?»

Box’ Augen verdunkelten sich. «Ich mag den Körperkontakt», knurrte er.

«Ja», erwiderte Razool, ebenfalls knurrend. «Das wissen wir.» Er legte den Karabiner leicht schräg. «Das Problem ist, dass der Rest von uns gerne darauf verzichten kann, aber immer in deine Nahkämpfe mit reingezogen wird.»

Hinter Box und Razool standen Skarl und Raxa. Skarl war drahtig wie ein Wolf, Raxa dagegen kräftig und gedrungen gebaut und so groß wie ein Rottweiler. Sie würden feuern, sobald Box und Razool nachladen mussten. Die vier Kämpfer, gekleidet in schwarze Westen und schwarze Hosen und Stiefel, waren in der Lage, mit der vorhandenen Munition das geflügelte Monstrum vor ihnen in Stücke zu schießen.

«Pass bloß auf, dass du nicht meine Schulter durchlöcherst, Skarl», brummte Box. Die raue Sprache der Hundemänner war ihm mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Er lebte seit vielen Monaten unter ihnen, trainierte und kämpfte gemeinsam mit ihnen.

«Dann steh nicht im Weg rum, wenn Raxa und ich an die Arbeit gehen», gab Skarl zurück.

«Das müsst ihr gar nicht», erklärte Box. «Razool und ich werden mit diesem hässlichen Kerl schon …»

Der lange Hals der Kreatur schoss nach unten und trug den Hammerkopf auf sie zu. Der Unterkiefer klappte auf wie eine Falltür und entblößte zwei Zahnreihen, so groß wie Gitterzäune.

Box und Razool eröffneten gemeinsam das Feuer auf den näher kommenden Kopf.

«Nicht nachlassen!», schrie Razool. «Spiker regenerieren sich. Schieß weiter. Schieß so lange weiter, bis er explodiert!»

Box sah, wie die beiden sichelförmigen Panzerflügel – so schnell kreiselnd wie ein Propeller – über den Kopf der Kreatur auf sie zurasten. «Zool, pass auf die Kreissäge auf!» Seine Stimme wurde vom Rattern der Maschinengewehre verschluckt. Aber hinter ihnen erwachte mit einem Kreischen ein dritter Karabiner zum Leben und feuerte eine Salve auf die knochigen Flügel ab.

«Nicht schlecht, Skarl», rief Box. Wenn man einen Spiker niedermachen wollte, brauchte man ein gut eingespieltes Team mit enormer Feuerkraft. Sein Karabiner zeigte mit einem Klicken an, dass ihm die Munition ausgegangen war. Box ließ sich auf ein Knie fallen, zerrte das leere Magazin aus der Waffe und schlug ein neues ein. Raxas Waffe spuckte Kugeln in Richtung Spiker.

«Box!», brüllte Razool.

Box sah, wie die kreiselnden Sägeflügel auf seinen Kopf zukamen. Er warf sich nach hinten. Die Flügel streiften seine Brust und schnitten Skarl mittendurch. Raxa trat vor und schoss unermüdlich. Aber der Ausbilder hatte das Hologramm des Spikers schon ausgeschaltet und trat ein.

«Schlampig.» Der Ausbilder trug einen Trainingsanzug in Tarnfarben. Aus seinem Unterkiefer ragten Zähne, die aussahen wie die Hauer eines Ebers, und auf der grauen Gesichtshaut wuchsen Fellflecken. Er deutete auf Skarl. «Wenn das keine Simulation gewesen wäre, wärst du vermutlich tot.» Dann wandte er sich zu Box. «Und du hättest die linke Flanke deines Teams schützen sollen, Haut.»

Haut. So nannten die Hundemänner die Menschen. Und Box nannte die Hundemänner Schnauzen.

«Wenn ich einen Keulenstab gehabt hätte, hätte ich das Vieh erledigt», fuhr Box auf.

Man hatte ihnen gesagt, dass an der Stelle, an der die untere Kaulade der Mandibeln eingehängt war – die der Spiker so angsteinflößend aufreißen konnte –, das Exoskelett dünn und verletzlich war. An dieser Stelle konnte man mit einem Keulenstab den Panzer leicht durchdringen und das Monstrum köpfen. Aber um das zu tun, musste man sehr nah an den Spiker herangehen – oder anders gesagt: man musste zulassen, dass die mächtigen Kiefer sehr nah an einen selbst herankamen. Und wenn das passierte, war man Spikerfutter, bevor man auch nur blinzeln konnte. Einen gezielten Stoß mit einem Keulenstab durchzuführen, war in der Regel für einen Soldaten tödlicher als für einen Spiker.

«Niemand verwendet hier einen Keulenstab», sagte der Ausbilder. Das sagte er übrigens jedes Mal. «Niemand.» Und damit drehte er sich um und ging.

Das Trainingszentrum hallte wider von den Schüssen der Teams, die noch gegen ihre Hologramme kämpften. Die Trainingsmunition, die benutzt wurde, hatte nur eine Reichweite von wenigen Metern. Die Teams standen weit genug auseinander, sodass die Hologramme die Treffer registrierten, die Wahrscheinlichkeit aber gering war, dass sich die Kämpfer gegenseitig verletzten. Geriet man allerdings ins Schussfeld, wirkten die Kugeln genauso wie normale Munition.

Box merkte, wie ihm der Schweiß übers Gesicht lief. «Wart’s ab, bis die Zeit für Übungen vorbei ist», brummte Razool und nahm das Magazin aus seinem Feuerkarabiner.

Box fiel einmal mehr auf, wie geübt Razool mit seiner Waffe umging – bei allen Waffen, an die er Hand anlegte, war das so.

«Was glaubst du, wie lange wir durchhalten?», fragte Box.

«Na ja, jedenfalls haben wir es bei unseren Kämpfen nicht nur mit einem einzelnen X’ath zu tun», erklärte Razool.

X’ath war der richtige Name der Spiker, aber Spiker passte besser. Box spuckte aus. «Also nicht lange, was?»

Razool verengte die Augen. «Wir haben uns aus dem Camp der Fleischlinge rausgekämpft, oder etwa nicht?»

Box nickte. Er, Razool, Skarl, Raxa und die anderen Schnauzen in diesem Trainingszentrum hatten alles riskiert, um aus dem Camp der Fleischlinge herauszukommen, aus der Arena auf einem der unzähligen Gefängnisplaneten, wo kriminelle Schnauzen und Deserteure als lebende Zielscheiben für die Hundetruppen der Verbogenen Symmetrie benutzt wurden. Sie hatten so hervorragend gekämpft, dass man sie zum Lohn in ein Strafbataillon versetzt hatte. In den Strafbataillonen waren die härtesten, verwegensten und die für die Symmetrie am entbehrlichsten Schnauzen versammelt, um in den hoffnungslosesten Schlachten der Kristallkriege eingesetzt zu werden.

«Niemand hat erwartet, dass wir die Fleischlinge überleben, stimmt’s?», ergänzte Razool.

«Nein», stimmte Box zu.

«Tja, hier wird es genauso laufen.» Der hagere Hundemann setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.

«Wie kommt’s, dass du so viel weißt?», fragte Box und ließ sich neben ihm nieder. «Und wieso wurdest du als Meuterer gebrandmarkt?»

«Wenn wir mal zehn Minuten Zeit haben, erzähl ich’s dir», erwiderte Razool.

Box leckte sich über die Lippen. «Wie lange noch bis zum Mittagessen?»

«Noch Stunden», brummte Razool. «Vorher kommt noch eine Jagd und eine Vernichtungsübung.»

Box stöhnte.

«Jander, Box», fluchte Skarl. «Denkst du denn auch mal an was anderes als ans Essen?»

«Beachte ihn gar nicht», sagte Razool gedehnt. «Im Grunde genommen ist er ja tot.»

«Ich denke nicht nur ans Essen», behauptete Box ernsthaft. «Ich denke daran, wie ich von diesem Planeten runterkommen und meine Schwester finden kann. Ich will Chess finden.» Er ließ seine massigen Schultern kreisen, um sie zu lockern. Von dem Babyspeck, den er noch vor zwei Jahren mit sich herumgetragen hatte, war an seinem mittlerweile sechzehnjährigen Körper keine Spur mehr zu entdecken. Seine Muskeln waren hart und seine Reaktionen blitzschnell. «Und dann erst denke ich ans Essen.»

Er hatte keine Ahnung, wo Chess war. Aber er wusste, dass sie von der Verbogenen Symmetrie gejagt wurde, dass die Verbogene Symmetrie sie brauchte, um die Zeit aufzuhalten, damit die Inquisitoren ewig leben konnten. Alle, die sich der Verbogenen Symmetrie in den Weg stellten, würden sterben. Also musste man die Symmetrie aufhalten. Aber das war nicht das Wichtigste. Chess war seine Schwester; er würde nicht zulassen, dass irgendjemand ihr wehtat. Er besaß nicht die gleichen Fähigkeiten wie sie, aber trotzdem konnte er sie beschützen. Das war der Grund, warum er sich aus der Arena der Fleischlinge herausgekämpft hatte und warum er nicht aufhören würde zu kämpfen, bis er sie gefunden hatte.

Er schaute sich um und betrachtete seine Kameraden, die Schnauzen, die seine Freunde geworden waren, die an seiner Seite die Fleischlinge überlebt hatten. Hier saß er nun, eine Haut, ein Mensch, der zu einem Hundesoldaten geworden war. Er bekämpfte den Feind, indem er selbst zum Feind wurde. Er stieß ein trockenes Lachen aus.

«Schön, dass du dich amüsierst», brummte Skarl.

«Häute eben», sagte Razool kopfschüttelnd. «Die haben schon einen komischen Humor.»

Das Kämpfen hatte aufgehört. Die Hologramme waren ausgeschaltet worden. Die Lichter des Trainingszentrums wurden gedämpft, und die Kampfeinheiten standen in kleinen Gruppen beisammen.

«Alles auf die Füße!», befahl der oberste Ausbilder. «Raus mit euch! Gebt die Karabiner am Ausgang ab. Holt euch Jacken, Helme und die Hornissen.»

Box, Razool, Skarl und Raxa reihten sich ein und trotteten aus dem riesigen Betonbunker. Jetzt folgte der zweite Teil der morgendlichen Übung. Seit fast fünf Wochen prügelte man die Schnauzen – und eine Haut – durch die Grundausbildung: Waffenübungen, Kampfteamtaktik, Kleben und Flicken – so wurden die Erste-Hilfe-Lehrgänge genannt –, Nahkampf, Ausdauertraining. Das Ausdauertraining fiel Box leicht und er mochte jede Art von Kampf, aber vor allem liebte er den Nahkampf. Durch das Training mit den Hundetruppen hatte er einige neue Techniken gelernt, wie Messerstöße in den Nacken und Schläge mit der Handkante in die Rippen – sehr effektiv bei großmäuligen Gegnern mit langen, scharfen Zähnen, wo ein Boxhieb ins Gesicht etwa so wäre, als würde man mit der Faust in einen Häcksler geraten.

Box stellte seinen Feuerkarabiner auf das dafür vorgesehene Waffengerüst und trat aus dem Bunker. Er blinzelte ins helle Tageslicht. Regen plätscherte durch die hohen Bäume und klatschte wie kalte Spucke auf seine nackten Schultern. Aber nach zwei schweißtreibenden Stunden mit den Hologrammen im Trainingszentrum war er froh, nach draußen in den Wald zu kommen. Er schaute nach oben, durch die Baumwipfel hindurch, und sah, wie der Nebel, der über dem Wald hing, leicht aufriss. Jenseits davon blitzte der Asteroidengürtel auf, der Klanf Chaussee genannt wurde. Dann zog sich der Nebel wieder zusammen. Die Chaussee verschwand, und jetzt hätte dieser Wald überall sein können, auch auf der Erde.

Aber Box wusste, dass er sich auf einem der vier Monde eines Planeten mit dem Namen Adron-B befand; das hatte er von einem Ausbilder gehört. Er war weit weg von zu Hause, weit weg von dem Kai in seiner Heimatstadt auf seinem eigenen Planeten, wo er mit seinen Geschwistern Chess und Box und den anderen Kanalratten gelebt hatte. Aber der Kai war zerstört worden, und damit hatte seine Odyssee begonnen. Damals hatten sie zum ersten Mal von der Verbogenen Symmetrie gehört, die den drei Geschwistern seitdem ständig auf den Fersen war. Zunächst hatten sie sich zum Komitee geflüchtet, dessen Mitglieder behauptet hatten, gegen die Symmetrie zu kämpfen. Dann waren sie vor allen davongelaufen, auch vor dem Komitee.

Box und seine Kameraden erreichten die Hütte, wo ihre Kampfanzüge aufbewahrt wurden. Box zog seine Jacke an und knöpfte sie über der schweißnassen Weste zu. «Splinter würde mir nicht glauben.» Er kicherte leise.

«Was würde er nicht glauben?» Razool zog sich seine Jacke über die Schultern.

«Dass ich hier bin. Mit euch kämpfe.» Box steuerte auf die Hütte zu, wo die Helme lagen.

«Tatsächlich?» Razool trottete ihm nach. «Na, ich kann nur sagen: Glückwunsch, dass du einer von uns bist.»

Box’ Atem stand wie eine Nebelwolke vor seinem Mund, als er sagte: «Splinter denkt zu viel, weißt du? Er meinte, er würde sich der Symmetrie anschließen. Er hat behauptet, dass sich ihm dort Gelegenheiten bieten würden.»

«Ach ja?» Razool probierte einen Helm auf und legte ihn wieder beiseite, weil er ihm zu klein war. «Gelegenheiten wofür?»

Box kratzte sich am Kopf. «Keine Ahnung. Ich glaube, ich habe ihn nie danach gefragt.»

Razool ließ einen Helm in Box’ Hände fallen. «Scheint so, als sei er genauso dämlich wie du, Box.»

«Nein, er ist viel klüger als ich», beharrte Box.

«Ist das denn überhaupt möglich?», kicherte Skarl.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Box den Sarkasmus in Skarls Stimme bemerkte. Dann funkelte er seinen Kameraden an.

«Box ist ziemlich clever», sagte Raxa gelassen. «Jedenfalls clever genug, um dir in deinen knochigen Arsch zu treten, wenn du ihn reizt, Skarl.» Raxa hatte recht. Box war zwar bloß eine Haut, aber er war der beste Kämpfer von allen. Er konnte mit zwei Keulenstäben gleichzeitig kämpfen; seine Fäuste und Füße waren blitzschnelle Waffen, und sein Feuerkarabiner verfehlte nie sein Ziel.

Box fand einen Helm, der ihm wie angegossen passte. Der feuchte Nebel ließ ihn erschauern. Die Ausbilder mussten nicht frieren. Auf dem Boden neben dem Stapel mit Helmen stand eine Allzweckeinheit, AZE genannt. Allzweckeinheiten waren Drohnen, die sich selbst rekonfigurieren konnten. Sie waren vollgestopft mit Mikroprozessoren, Sensoren, Motoren und intelligenten Partikeln. Man konnte sie so programmieren, dass sie jede beliebige Größe, Form und Funktion annahmen, je nachdem, was benötigt wurde. Diese AZE verströmte Wärme, aber sie konnte sich genauso gut in einen Kran verwandeln, eine Erste-Hilfe-Station oder ein schweres, zweiläufiges Maschinengewehr.

«Wie willst du deine Schwester finden, Box?», fragte Skarl. Box rieb sich mit der Hand übers Kinn. «Ich weiß, dass es in meiner Welt Schnauzen gibt, also müssen sie irgendwie dorthin kommen können. Meinst du, wir können irgendwo einen Transporter auftreiben, Zool?» Sein Freund wusste ziemlich viel; vielleicht wusste er das auch.

Razool zuckte nur mit den Schultern.

«Klar doch», höhnte Skarl. «Und selbst wenn wir einen Transporter hätten, wer sollte ihn fliegen? Irgendwelche Vorschläge, Zool?»

Razool nickte nachdenklich. «Ich könnte es mal versuchen.»

Skarl lachte. «Du wirst langsam genauso irre wie die Haut hier.»

Razool sagte nichts.

Box griff nach einer Hornisse. «Ich bin nicht zum Vergnügen hier, Skarl.» Er schlug die Klappe über der Batterie zurück, versicherte sich, dass die Waffe geladen war, und machte die Klappe wieder zu. «Ich bin wegen Chess hier. Und sobald ich die Chance habe, mache ich, dass ich von hier wegkomme.»

Der oberste Ausbilder stellte sich vor sie hin. «Herhören!», bellte er. Das Klappern und Raunen endete so abrupt, dass in der darauf folgenden Stille noch immer der Hall seiner Stimme nachklang.

Die Soldaten standen in drei Reihen zu je dreißig Mann. Atemdampf stieg vor ihnen auf. Gesicht und Körper eines jeden waren ein groteskes Sammelsurium aus Mensch und Hund. Außer Box. Aber obwohl Box anders aussah, war er ein Teil jener riesigen Armee, die unter dem Kommando eines Einzelnen stand: General Saxmun Vane. Bei diesem Gedanken leckte sich Box über die Lippen, die mit einem Mal staubtrocken waren. Der General war eine der gefährlichsten Personen in den Universen. Box war sich sicher, dass der General ihn ohne Umschweife zu Hundefutter zermalmen würde, wenn er wüsste, dass er sich inmitten seiner Soldaten versteckte.

«Bildet Paare», lautete der Befehl. «Schwärmt aus. Jagt und vernichtet so lange, bis nur noch ein Kampfpaar übrig ist. Bleibt innerhalb des abgesperrten Gebiets. Jeder, der die Absperrung überschreitet, ist tot. Die Ausbilder werden sich unter euch mischen und willkürlich auf euch feuern. Jeder, der auf einen Ausbilder schießt, verbringt einen Tag im Stall.»

Im Trainingslager gab es keine Toiletten, nur eine riesige Grube, die alle Schnauzen benutzten. Jeden Tag wurden die Exkremente auf einen Haufen geschaufelt, der dann angezündet wurde. Diese Grube hieß «der Stall». Niemand wollte hier einen ganzen Tag verbringen, nicht einmal fünf Minuten. Aber die Ausbilder sorgten dafür, dass der Stall immer gut bevölkert war.

Box schlurfte über die regenfeuchte Erde zu Razool. Beide gesellten sich als Paar zu den anderen.

«Das sind keine Schaufeln, die ihr da habt!», schrie ein anderer Ausbilder. «Haltet eure Waffen anständig!» Ein Rasseln und Klappern von Metall war zu hören, als die Schnauzen ihre Hornissen in Anschlag brachten.

Die Hornissen sahen genauso aus wie Feuerkarabiner, die Standardwaffen der Hundetruppen, aber während die Karabiner bis zu fünfhundert Schuss in der Minute abgeben konnten, waren die Hornissen nur für die Übungseinheiten bestimmt. Sie stießen einen Stromschlag aus, der den Gegner lähmte und ihn hilflos zuckend und zappelnd zurückließ. Ihre Reichweite war auf dreißig Meter begrenzt, und mit einer Batteriesteuerung konnte man die Stärke des Stromschlags justieren.

«Auf Stufe zwei einstellen», befahl der oberste Ausbilder. «Und setzt eure Schutzbrillen auf. Ich will nicht, dass ihr euch selbst blind macht. Überlasst das dem Feind.»

Box stellte seine Hornisse auf Stufe vier. Er wollte verhindern, dass sich die Schnauzen, die er erwischte, weiter durch die Übung schleppten.

«Was machst du da, Haut?» Der Atem des obersten Ausbilders schlug Box heiß in den Nacken.

«Ich bringe das Element der Überraschung ins Spiel», erwiderte Box und leierte dann herunter, was ihm eingebläut worden war: «Das Überraschungsmoment steigert die Effektivität der Kampfhandlung um sechshundert Prozent.»

Der Ausbilder stellte sich vor Box hin und schob sein haariges Kinn dicht an Box’ Gesicht heran. Er schnüffelte, wobei sich die Nasenlöcher in seiner schwarzen Schnauze leicht weiteten. Box stampfte mit dem Fuß auf und stand stramm. «Sir!», rief er.

«Leg dich nicht mit mir an», sagte der Ausbilder leise.

Box wusste, wann er den Mund halten musste.

Der Ausbilder trat zurück. «Also schön», kläffte er die versammelten Soldaten an. «Schutzbrillen aufsetzen! Waffen auf Stufe zwei!» Er warf Box einen Blick zu. «Stufe zwei!»

Razool setzte seine Brille auf. «Vier ist kein Überraschungsmoment.» Nachdenklich rieb er sich über die Windhundschnauze. «Sechs wäre eine Überraschung.» Er überprüfte die Anzeige auf seiner Hornisse. «Bereit?»

Box nickte.

Ein schriller Pfiff verkündete den Beginn der Übung.

Box und Razool legten ihre Waffen an und eliminierten vom Fleck weg acht Kampfpaare.

Das Überraschungselement: Niemand hatte gesagt, dass man nicht schießen durfte, bevor man losrannte.

Dann jagten sie in den Wald, sausten zwischen den Stämmen hindurch, sodass niemand sie ins Fadenkreuz bekam. Elektrische Kugelblitze zuckten durch die Luft und zerbarsten im Geäst, an der Rinde des Stamms oder verpufften im Nebel, während Box und Razool Haken schlagend immer tiefer ins Dickicht liefen. Andere Kampfpaare folgten ihnen, wie sie erwartet hatten.

Berechenbarkeit des Gegners: Der Zwilling des Überraschungselements.

Box schob sich in ein Dornengestrüpp. Neben ihm lag Razool hinter einer Reihe von Setzlingen auf dem Bauch. Drei Kampfpaare näherten sich ihnen, unsicher, ob sie auf Box und Razool Jagd machen oder sich gegeneinander wenden sollten.

Box sprang auf und rannte los, ließ sich aber gleich wieder fallen, als sich sechs Hornissen auf ihn richteten. Sofort war Razool auf den Beinen und bombardierte seine verdutzten Gegner mit blauen Kugelblitzen.

Drei weitere Kampfpaare waren erledigt.

Box und Razool blieben in Deckung und warteten ab, bis sich die Gegner gegenseitig dezimiert hatten und die eigentliche Jagd begann.

Box kroch ins dichte Unterholz. Vor lauter Schweiß war seine Schutzbrille beschlagen. Er schob sie nach oben und wischte sich mit dem Ärmel seiner Kampfanzugjacke die Stirn ab. Die Luft war kühl. Er drückte das Gesicht gegen die Schulter, um sich durch die Atemwolken nicht zu verraten. Seine Augen fielen auf das kleine Emblem auf seiner Schulter: eine liegende Acht – die Lemniskate, das Symbol für die Unendlichkeit und das Erkennungszeichen der Verbogenen Symmetrie. Er hatte sich daran gewöhnt. Er hatte sich sogar daran gewöhnt, es am Leib zu tragen.

Durch den Wald und die dünnen Nebelschwaden drangen Rufe und schwere Schritte. Box lauschte auf das Knacken und Rascheln der Vegetation und das laute Knistern der Hornissen. Gelegentlich ertönte ein unterdrückter Schrei, aber der Schmerz, wenn man getroffen wurde, war erträglich. Dann lauschte Box auf sein Herz, das nun, da sich seine Atmung fast beruhigt hatte, kräftig und gleichmäßig pochte. Er spürte, wie es arbeitete, und sah, wie sich der Stoff der Jacke im Rhythmus seines Schlagens hob und senkte.

Es war komisch, wie laut das Herz pochen konnte, wie laut es einem selbst vorkam, während niemand sonst es hörte. Und ganz plötzlich wusste Box, dass doch jemand – oder etwas – zuhörte. Jemand belauschte und beobachtete ihn.

Ein Leben als Gejagter und Jäger in der Stadt, immer auf der Suche nach einer offenen Handtasche oder einem unverschlossenen Auto, immer auf der Hut und bereit zu verschwinden, wenn die Aufmischer kamen, hatte Box einen sechsten Sinn für Gefahr entwickeln lassen. Es war ein plötzliches Gefühl der Nacktheit, ein Kitzeln unter seiner Haut, das Gewicht eines auf ihm ruhenden Blicks. Diesmal allerdings waren es nicht nur Augen, die ihn beobachteten. Er wurde auch belauscht.

Wer spionierte ihm nach?

Langsam hob Box den Kopf. Durch eine schnelle Bewegung würde er sich verraten – wenn seine Position nicht schon längst bekannt war. Er zwang sich, ruhig und flach zu atmen, und spitzte die Ohren. Aber alles, was er hören konnte, war das Schlagen seines Herzens.

Ringsum war der stille Wald. Von den dürren schwarzen Ästen tropfte Regen, und aus weiter Ferne kam das Heulen und Schreien der kämpfenden Schnauzen. Sein Atem stieg wie Dampf auf und wärmte sein Gesicht. Mit dem Blick durchforstete er die umliegenden Büsche und Dickichte, ohne etwas zu entdecken. Doch dann, keine zwanzig Meter entfernt, inmitten eines dichten Gebüschs, schoben sich Blätter kaum merklich auseinander.

Box’ dunkle Augen wurden schmal. Die Blätter rückten beiseite, aber es war nichts dahinter. Doch er wusste, dass etwas in dieser leeren Lücke ihn beobachtete und lauschte: Es lauschte auf seinen Herzschlag.

Eine Sekunde lang kehrte Box in Gedanken auf den Planeten Surapoor zurück, wo er, Splinter und Chess Balthazar Broom getroffen hatten. An jenem Tag war es heiß gewesen; Balthazar hatte noch nicht begonnen, ihm das Kämpfen beizubringen; Box erinnerte sich daran, wie Balthazar sie vor etwas warnte, das er Spuk nannte. Spuks waren unsichtbar. Sie wurden von der Verbogenen Symmetrie als Späher und Aufspürer eingesetzt. Sie fanden alles und jeden, den die Symmetrie finden wollte, indem sie lauschten. Sie brauchten nur einen winzigen Blutstropfen ihrer Beute, um die Fährte aufzunehmen. Sie suchten und fanden immer – egal, wie lange es dauern mochte – das Herz, durch das dieses Blut gepumpt worden war.

Box blinzelte sich Regenwasser aus den Augen. Oder war es Schweiß? Einen Steinwurf von seinem Versteck entfernt raschelte das Nichts in den Büschen. Hier in seiner Brust hämmerte sein Herz.

Ohne den Kopf zu bewegen, schob Box seine Hand an seinem Körper entlang, bis seine Finger den Regler an seiner Hornisse berührten. Er drehte ihn, so weit es ging: bis auf Stufe sechs. Dann zog er in Zeitlupe die Waffe nach oben, bis der Lauf unter seinem Körper hervorkam und frei lag. Der Spuk – wenn es sich denn um einen Spuk handelte – war nah genug und so bewegungslos, dass Box ihn problemlos anvisieren konnte, obwohl die Waffe eng an seinem Körper lag. Box krümmte den Finger um den Abzug.

Er hätte Fragen stellen können, alle möglichen Fragen, aber das war nicht Box’ Art. Er verschwendete keine Zeit mit Worten.

«Na, dann hör dir das mal an, du hinterhältiger Blutsauger», sagte er und drückte gleichzeitig den Abzug durch.

Ein knisternder blauer Lichtblitz schoss aus dem Lauf der Hornisse. Er traf die Lücke zwischen den dürren Ästen und prallte in einem gleißend hellen Funkenschauer auf etwas Festes. Dann sah Box das Wesen. Ein dünner Körper, so hager wie ein Schatten, aber silberfarben, mit langen Armen und Beinen und einem mandelförmigen Kopf ohne Gesicht, von dem, wie dicke Haarflechten, bis zur Mitte des Körpers lange, schwarze Tentakel hingen, die zuckten und sich kräuselten. Der Spuk hatte sich geduckt und mit seinen langen, peitschenähnlichen Armen die Lücke in den Busch gebogen. Die langen Tentakel zeigten auf Box, als ob sie durch eine Strömung dorthin getrieben worden wären. Aber als der Kugelblitz das Wesen traf, sprang es auf, schlug im Dickicht wild um sich und stieß einen derart markerschütternden Schrei aus, dass Box die Fäuste gegen die Ohren presste.

Dann zerriss etwas das Gebüsch, sodass Blätter und dürre Zweige flogen, und Box wusste, dass der Spuk auf ihn losstürmte. Ein paar letzte blaue Funken flackerten über seine silberne Haut, und der Spuk wurde wieder vollständig unsichtbar. Aber noch ehe sich Box auf die Füße rappeln konnte, wurde er an seiner Kampfanzugjacke rückwärts gezerrt und aus dem Busch gezogen, in dem er sich versteckt hatte.

Seitwärts knallte er gegen einen Baumstamm. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Er versuchte, sich auf die Knie zu rollen, aber etwas packte ihn am Fuß und drückte seinen Körper so mühelos nach hinten, als ob er ein Stück Seil wäre. Der Spuk ließ ihn los. Box sah den Baum auf sich zukommen und hatte gerade noch Zeit, den Kopf mit seinen Armen zu schützen, bevor sein Körper auf das harte Holz prallte.

Aus dem Augenwinkel sah Box, wie Razool, gefolgt von Skarl und Raxa und zwei Ausbildern, zwischen den Bäumen hindurch auf ihn zurannte.

«Was zum Henker …», keuchte einer der Ausbilder, als Box von etwas Unsichtbarem vom Boden aufgehoben und in eine Gruppe von Schösslingen geschleudert wurde.

Diesmal merkte Box, wie etwas seinen Kopf traf. Er hörte nur noch Fetzen von dem, was gesagt wurde, und sah nur noch Schnappschüsse von den Ereignissen ringsum.

«Was ist das?»

«Wo ist es?»

«Es wird ihn umbringen!»

Die Stimmen hallten in seinem Schädel wider. Gestalten umtanzten ihn, auf dem Kopf stehend und immer wieder vor seinen Augen verschwimmend. Er wollte sich wehren, aber er hatte keine Ahnung, von wo aus der Spuk als Nächstes angreifen würde. Außerdem war er unglaublich stark. Wie betrunken schlug Box um sich und trat mit beiden Beinen aus, als er fühlte, wie er am Arm gepackt wurde. Sein Fuß traf auf einen Widerstand, trotzdem wurde er durchgeschüttelt wie eine Ratte. Dann fuhr ihm kühle Luft über den Kopf, alles drehte sich in ihm und er fühlte die schwere Erde an seinem Leib.

Beine rechts und links von ihm. Skarl und Raxa knieten neben seinen Schultern. Und über ihm stand Razool.

«Ich kann es nicht sehen. Wo ist es?» In Skarls Stimme lag ein Hauch Verzweiflung.

«Achtet auf den Boden», kläffte Razool. «Da kommt es, geradewegs auf uns zu.»

Box rollte sich auf die Seite und wandte seinen Blick zu der Stelle, auf die die Waffen zielten.

«Die Blätter! Achtet auf die Blätter!», schrie Razool.

«Im Visier!», schrie Raxa.

«Im Visier!», schrie Skarl.

Box hörte, wie der Spuk näher kam, und er sah das Laub aufwirbeln.

«Jetzt!», befahl Razool.

Die Luft explodierte in einem Wirbel aus blauem Licht. Der silberne Körper wurde sichtbar. Er schoss zwischen den Bäumen hindurch, zuckte von einem zum anderen. Die langen Glieder flogen hierhin und dorthin. Der Spuk kreischte so unbändig, dass Box’ Zähne anfingen zu schmerzen. Aber die Schnauzen ließen nicht nach. Obwohl ihm das Blut in die Augen lief, konnte Box sehen, wie Razool, Raxa und Skarl in einer blendenden Salve nach der anderen ihre Hornissen abfeuerten. Andere Kämpfer gesellten sich zu ihnen. Erst als der Spuk kreischend und mit mächtigen Sprüngen im Wald verschwand und das Knistern aufhörte, schloss Box die Augen und ließ sich in die Schwärze sinken.

Es blieb nicht lange schwarz.

«Nicht schon wieder», stöhnte Box, als ihn jemand am Kragen packte und schüttelte.

«Nein!», fuhr Razool den Ausbilder an, und zu seiner großen Überraschung registrierte Box, dass der Ausbilder ihn losließ und er wieder zu Boden sank.

«Kannst du deine Zehen fühlen?», fragte Razool, der mit seinen rauen, haarigen Fingern Box’ Augenlider nach oben zog. Der Atem drang in kurzen, schnellen Stößen aus seiner Schnauze. Er hatte den Helm abgezogen, sodass ihm seine schwarze Haarmähne über die Schultern fiel.

«Ich kann mit den Zehen wackeln, ja», sagte Box.

Überall im Wald erklang der Ruf «Feuer einstellen!».

«Glücklicherweise war es kein hungriger Spuk», bemerkte Razool. «Ein hungriger Spuk ist ein gefährlicher Spuk.»

«Klar doch», stöhnte Box. «Was für ein Glück. Ich schätze, der wollte bloß spielen, was?» Er setzte sich auf. Sofort wurde ihm übel.

«Wo ist er?», wollte der Ausbilder wissen. Er schaute sich um.

«Fort», sagte Razool. «Irgendjemand hat einen Spuk auf die Haut angesetzt, und jetzt hat er gefunden, wonach er gesucht hat.» Razool leckte sich nachdenklich über die Zähne und starrte Box an. «Warum sollte jemand ausgerechnet auf dich einen Spuk ansetzen?»

«Es spielt keine Rolle, was wer auf ihn angesetzt hat», fauchte der oberste Ausbilder und wandte sich dann an seinen Untergebenen, den Razool davon abgehalten hatte, Box zu schütteln. «Außerdem haben Sie das Kommando hier, nicht der Meuterer. Wir sind hier nicht im Lazarett. Die Haut soll auf die Füße kommen? Dann kommt sie auf die Füße. So einfach ist das.» Box wurde hochgerissen. In seinem Kopf drehte sich alles, als ob ihm jemand gerade eins mit dem Vorschlaghammer verpasst hätte. «Eine Woche Stall», befahl der oberste Ausbilder.

Die versammelten Schnauzen hinter dem obersten Ausbilder wichen zur Seite. Zwei Gestalten in voller Kampfausrüstung und mit den Offiziers-Insignien der Kommunikationseinheit kamen herbeigestapft. Die Feuerkarabiner hingen über ihren Rücken und die langen, knüppelartigen Griffe der Keulenstäbe schwangen im Rhythmus ihrer Schritte an ihren Gürteln. Vor Box und dem obersten Ausbilder blieben sie stehen.

«Packen Sie ihn gut ein, Sergeant», sagte der eine mit einem knappen Nicken zu Box hin. «Der geht nicht in den Stall, sondern zur Verladestation.»

«Er und der ganze Rest», ergänzte der zweite Offizier. «Wir haben Befehl bekommen, dass die Truppe sich der Kampfeinheit auf Zoth-fura anschließen soll. Noch heute.»

«Noch heute?», würgte Box hervor. Die Wunde auf seiner Stirn blutete stark, doch seine Beine trugen ihn wieder so sicher wie vorher.

«Heute», wiederholte der Soldat. «Was glaubst du, weswegen du hier bist, Haut? Der bevorstehende Angriff ist von langer Hand geplant, aber ehe unsere Armee attackieren kann, brauchen wir eine Ablenkung. Und da kommt ihr ins Spiel.» Der Atem des Soldaten hing über Box’ kurz geschorenem Kopf. «Als Kanonenfutter.» Die flache, graue Schnauze verzog sich zu einem trockenen, wölfischen Grinsen. «Und glaub mir, mein Freund, wenn der Tanz losgeht, wirst du dich in den Stall zurückwünschen.»

KAPITEL 2

Chess konnte nicht fassen, wie dumm sie gewesen war. Immer und immer wieder stellte sie sich die Frage: Warum? Und sie hatte jetzt eine Unmenge Zeit, sich ihre eigene Dämlichkeit immer und immer wieder vor Augen zu führen. Sie war im leeren Raum gefangen, im leeren Raum, der sie wie eine Wand umschloss. Wie eine Zelle. Eine winzige Zelle, in der sie zwar sitzen oder stehen und auch ihre Glieder ausstrecken konnte, aber mehr auch nicht. Sie konnte nichts tun, außer daran zu denken, wie dumm sie gewesen war.

«Ich habe dir vertraut», murmelte sie. «Ich dachte, du wärst gekommen, um mir zu helfen.» Sie trat gegen die Wand, die so verschwommen wie Nebel und doch so hart wie ein Diamant war.

Aber Splinter hatte ihr nicht helfen wollen. Er hatte sie an die Verbogene Symmetrie ausgeliefert. Sie betrachtete ihre Handgelenke. Die blauen Blutergüsse waren gelb geworden und dann braun, bis sie schließlich ganz verschwunden waren, aber sie erinnerte sich noch gut an das Gefühl, zu Boden geschlagen zu werden, ehe sie noch irgendetwas tun oder denken konnte. Und dann hatten sich Ringe aus blauem Rauch um ihren Geist und ihren Körper gelegt, wie Ketten. Dann war sie in diese Zelle gekommen.

Es war keine gewöhnliche Gefängniszelle. Sie schien die Zeit auszusperren, den Raum, jede Dimension. Chess öffnete ihren Geist und erforschte den Raum, der sie umgab, schlüpfte durch den Raum innerhalb des Raums. Aber wie jedes Mal zuvor traf ihr Geist auf eine Barriere, die auch er nicht zu durchdringen vermochte.

Sie schrie die Mauern aus Nichts an. Sie hatte keine Ahnung, was genau die Verbogene Symmetrie mit ihr vorhatte, aber so eingesperrt zu sein, war, als wäre man lebendig begraben. Im Augenblick hatte Chess das Gefühl, dass alles – wirklich alles – besser wäre als ihre jetzige Situation.

Zorn und Verzweiflung bahnten sich ihren Weg und mündeten in einem Schrei. Aber die Wände widerstanden den hämmernden Fäusten. Chess atmete tief ein und aus und spürte heiße Tränen der Wut in ihren Augen. Sie fuhr sich mit den Händen durch die langen kastanienbraunen Locken. Sie würde nicht aufgeben. Alles, was sie brauchte, war eine Lücke, ein kleiner Spalt in der Wand.

Und mit einem Mal spürte ihr Geist offenen Raum – wie ein frischer Luftzug kam dieser Raum in die Zelle geweht. Irgendwo über ihrem Kopf befand sich tatsächlich ein Spalt in der Zellenwand. Er war vermutlich nur wenige Millimeter lang. Aber mehr brauchte Chess nicht.

Sie griff nach dieser Öffnung, nicht mit ihren Händen, sondern mit ihren Gedanken. Einem gewöhnlichen Menschen hätte dieser Spalt nichts genutzt, aber Chess war in der Lage, ihn zu weiten und aufzublähen wie einen Luftballon. So war sie erschaffen worden, und dies war die Macht, die ihr gegeben worden war.

Ihr Geist und ihr Körper waren wie elektrisiert. Im Bruchteil einer Sekunde machte sie sich so schmal wie die Öffnung, glitt hindurch und faltete sich auf der anderen Seite wieder auf. Wie aus weiter Ferne hörte sie das Schrillen von Sirenen. Ein Alarm. Jetzt erlebte sie Licht und Dunkelheit. Sie glitt durch Stahl und Beton, schob sich immer weiter aus der Zelle, hinaus in die wirkliche Welt, so rasch wie ein Gedanke. Und mit der Freiheit kam ein unbändiger Zorn, eine weiße, kochende Rage angesichts der Umstände, unter denen sie gefangen worden war, und angesichts der Unermesslichkeit dieses Verrats.

Sie musste ihre Augen dem Stahl nur zuwenden, musste ihren Geist nur auf den Beton richten, um beides mit ihrer Wut zu zerschmelzen. Wut und Schmerz feuerten ihre Macht an, und von beidem war sie übervoll.

Gestalten bewegten sich um sie herum, winzig unter ihrem explodierenden Geist. Gewänder aus Schwarz und Silber: Warps, die Forscher und Techniker der Verbogenen Symmetrie. Chess schoss ihnen eine blendende Woge von Wut entgegen und sah, wie Körper zersplitterten und sich in Luft auflösten. Und jetzt war sie von Sternen umgeben, und unter ihr befanden sich Felsen, über die sich Gebäude, Pipelines und verglaste Gänge zogen.

Chess zerschlug mit ihrem Geist alles, was sie sah, riss Stein, Beton, Metall und Glas entzwei und entfachte Detonationen in Weiß und Orange.

«Ihr wolltet mich haben?», schrie sie. «Wolltet ihr das hier haben?»

Und dann hatte sie das Gefühl, als ob alles langsamer würde, als ob in ihrer Seele eine Bremse betätigt worden wäre. Sie sah Rauch, blauen Rauch, der sich um ihre Beine schlängelte, ihren Körper umwaberte und sich um ihre Arme und schließlich um ihr Gesicht legte. Dann fiel sie, schrumpfte, wurde zusehends weniger.

Chess kämpfte, um ihre Arme und Beine bewegen zu können, aber der blaue Rauch hatte sie förmlich einzementiert. Selbst ihr Geist war in den engen Grenzen ihres Körpers eingeschlossen. Sie wusste, dass die Verbogene Symmetrie sie wieder eingefangen hatte, nur Augenblicke, bevor sie sich endgültig ihrem Zugriff entzogen, bevor sie ihr ganzes Selbst aus der Zelle herausgewunden hatte. Und sie wusste, dass diese Zelle jetzt wieder auf sie wartete. Aber sie brüllte und heulte nicht vor Wut oder Verzweiflung.

Dieses Mal war sie zu langsam gewesen, hatte kostbare Zeit verschwendet, weil sie ihrem Zorn nachgegeben hatte, statt sich darauf zu konzentrieren, Körper und Geist gänzlich aus der Zelle zu ziehen. Sie war ungeschickt gewesen. Sie hatte zugelassen, dass der Zorn die Oberhand gewann. Diesen Fehler würde sie kein zweites Mal begehen. Das nächste Mal würde sie dafür sorgen, zuerst mit Leib und Seele der Zelle zu entkommen. Dann erst würde sie Rache üben. Und sie hatte keinen Zweifel daran, dass es ein nächstes Mal geben würde.

Chess lächelte, ohne zu wissen, wer sie beobachtete. «Ihr wisst nicht, mit wem ihr euch anlegt», flüsterte sie.

Der Raum zwischen den Sternen schrumpfte und minimierte die Gedanken, die sich von Nebel zu Nebel erstreckten, und in diesem Raum nahmen vier menschliche Figuren Gestalt an: Malbane, uralt und in eine schwarze Mönchskutte gewandet; Snargis, ein Bettler mit Lumpen am eitrigen Leib; Azgor, ganz in Rot, die Haare dunkelblau und die Augen mit den schlangenscharfen Pupillen strahlend hell; Veer, dunkeläugig, blond und tadellos gekleidet in einen schwarzen Dreiteiler. An seiner gold und blau gestreiften Krawatte blitzte ein Rubin in einer Nadel.

Die vier Inquisitoren, die Herrscher der Verbogenen Symmetrie.

Sie standen auf einer hoch gelegenen Aussichtsplattform aus Metall im Inneren eines kolossalen Hangars, der auf dem vierzig Quadratkilometer großen Felsen in der Umlaufbahn des toten Planeten Rath winzig wirkte. Der Felsen war mit Metall und Maschinen dermaßen überfrachtet, dass er wie die Skyline einer Großstadt wirkte. Riesige Pfeiler, Masten und Balken ragten etliche Kilometer in den leeren Raum.

Die gewölbte Decke des Hangars war mit Scheinwerfern bestückt, sodass sie wirkte wie ein kleiner Sternenhimmel. Sie waren die einzige Lichtquelle. Alle Scheinwerfer waren auf einen einzigen Punkt gerichtet, auf eine Stelle, die auf einer Ebene mit der Aussichtsplattform lag, mitten zwischen dem Boden weit darunter und der schier endlos hohen Decke. An dieser Stelle schwebte ein vierzehnjähriges Mädchen in Jeans und einer Lederjacke. Sie hatte dicke, kastanienbraune Locken. Ihr Kopf hing schlaff auf dem Hals. Die Augen waren geschlossen. Sie schien zu schlafen, wie sie da inmitten von wirbelndem und waberndem blauen Rauch in der Luft hing.

Aller Augen waren auf das Mädchen gerichtet. Selbst als sich das dumpfe metallische Klacken von schweren Stiefeln über einen der Laufstege näherte, die zur Aussichtsplattform führten, hingen die Blicke der Inquisitoren unverwandt an dem Mädchen. Veer keuchte leicht, Snargis leckte sich über die nassen Lippen, und Azgors mit Altersflecken überzogene Finger umklammerten das Stahlgeländer so fest, als ob sie es verbiegen wollte. Malbane dagegen faltete die Hände, wie zum Gebet, und ein Lächeln voller Gelassenheit und Abgeklärtheit glättete die tiefen Falten auf seinem Gesicht.

Erst als die Schritte etwa eine Mannslänge von den Inquisitoren entfernt verstummten, ergriff Malbane das Wort.

«Sie ist wunderschön, nicht wahr?» Auch jetzt wandte er seine Augen nicht von Chess ab.

«Nicht mein Typ», knurrte General Saxmun Vane. «Außerdem schuldet sie mir noch einen Arm.» Er beugte die skelettartige Konstruktion aus Stahlstreben und Stangen, die an seiner rechten Schulter hing, und flexte und streckte die schimmernden Metallfinger.

Drei weitere Hundemänner in langen schwarzen Ledermänteln und mit Sonnenbrillen und Kehlkopfmikrofonen blieben einen Schritt hinter dem General stehen. Ihre Köpfe – teils menschlich, teils hündisch, teils mit Haut, teils mit Fell bewachsen – wandten sich den Inquisitoren zu. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos. Die Reißzähne waren hinter dunklen Lippen verborgen.

«Ich wollte, dass Sie sie sehen.» Jetzt wandte sich Malbane dem General zu. «Ich wollte, dass Sie sehen, wofür wir gearbeitet haben und wie nah wir unserem Ziel schon gekommen sind.» Er bediente sich der universellen Sprache Chat. Der General wandte sein Schakalgesicht Chess zu. Er war hoch gewachsen und schlank. Sein Körper steckte in einem beweglichen Panzer aus Platten und Ketten, und er trug einen langen Pelzmantel. Seine bestialischen Augen verengten sich, während er das hängende Mädchen betrachtete.

«Sie sieht so harmlos aus», murmelte der General mit rauer Stimme. Er legte den schmalen Kopf schräg, als versuchte er einzuschätzen, was er da sah.

«Wenn sie eins nicht ist», entgegnete Malbane, «dann harmlos. Vor wenigen Tagen kam es zu einem bemerkenswerten Zwischenfall.» Der Inquisitor zuckte mit den Schultern. «Anscheinend ein Fehler in der Kontinuität der Möbius-Zelle. Das Mädchen hat erheblichen Schaden angerichtet. Es gab etliche Tote und so weiter und so fort.» Er wedelte mit der Hand zu dem blauen Rauch, der Chess einhüllte. «Solange die Xenrianischen Wächter ihr subatomares Feld durchdringen, kann sie sich nicht durch den Raum bewegen. Sie kann sich kaum rühren, weil ihr die Dimensionen verschlossen bleiben.» Malbane zuckte noch einmal mit den Schultern. «Aber abgesehen davon könnte sie uns genauso leicht vernichten, wie sie Behrens vernichtet hat.»

«Das war alles andere als leicht», knurrte der General, der in der Fabrik auf Surapoor gewesen war, als Chess den fünften Inquisitor – Behrens – getötet hatte. Der Genaral war in die Energieexplosion geraten, wobei er seinen Arm verloren hatte. Mit der neuen künstlichen Hand packte er das Geländer. Dumpf klirrten die Metallfinger auf der Eisenstange.

«Sie ist noch genauso, wie ihr Bruder Splinter sie uns übereignet hat.» Malbane schaute zu Chess. «Sogar noch in derselben Kleidung. Sie wurde vor knapp einem Monat hierher gebracht; sie wartet, während die Warps ihre Vorbereitungen treffen und die Zylinder herbeigeschafft werden.»

«Sie sollten aufpassen, was das Mädchen mit der ganzen Energie anstellt», warnte ihn der General, «mit all dem Schmerz und Leid, das Sie abgeerntet haben.» Er betrachtete seinen glänzenden rechten Arm. «Millionen Zylinder haben Sie eingelagert, und sie hat Behrens mit einem einzigen vernichtet.»

Malbane trat näher an den General heran. «In etwas mehr als fünf Monaten wird die Zeitspirale den fünften Knoten erreichen.»

«Den fünften Knoten.» Veers Stimme war nur ein gezischtes Flüstern.

«Der Punkt, an dem die Zeitspirale am schwächsten ist», fuhr Malbane fort. «Und genau an diesem Punkt werden wir die Ewige aktivieren.»

«Und Zeit und Raum anhalten, damit die Symmetrie ewig existieren kann», leierte General Saxmun Vane herunter und unterdrückte ein Gähnen. «Ich weiß, ich weiß. Alles gut und schön – für die Symmetrie.»

«General», sagte Malbane mit einem Schnurren in der Stimme. Er streckte die Hand aus und berührte Vane an der Schulter, wo die silberne Lemniskate auf den schwarzen Stoff der Jacke gestickt war. «General, Sie sind ein Teil der Symmetrie. Sie und all Ihre Truppen.» Er schürzte die Lippen und schaute mit leicht vorwurfsvollem Blick zu den drei riesenhaften Hundemännern, die sich dicht bei ihrem General hielten. In ihren schwarzen Brillengläsern stand das Spiegelbild des hängenden Mädchens. «Wie bedauerlich», erklärte Malbane, augenscheinlich ehrlich bedrückt, «dass Sie es für nötig befanden, eine Leibwache mitzubringen.»

«Eine Leibwache?», wiederholte der General. Seine raue, dunkle Stimme klang fragend. «Nun, Malbane, man kann nicht vorsichtig genug sein. Man weiß nie, wo die Gefahr lauert. Aber die Zerberus-Agenten sollen mir lediglich Gesellschaft leisten. Ich bin mir sicher, dass ich einen solchen Schutz nicht brauche. Ich habe bessere Garantien. Immerhin bin ich derjenige, der die kostbaren Kristallreserven und die unschätzbar wertvollen Zylinder bewacht.»

Der General wandte seine Schakalschnauze zu den anderen Inquisitoren. Ein scharfzahniges Lächeln umspielte die Kanten seines Mauls. «Also ist es im beiderseitigen Interesse, dass unser Treffen heute reibungslos verläuft.» Er zuckte entschuldigend mit den breiten, festen Schultern und schaute zu Chess. «Es wäre doch eine Schande, wenn Ihr mühsam zusammengeklaubter Rohstoff … verloren ginge oder gar ruiniert würde.»

Veer zischte. Dann spritzte Dunkelheit dort auf, wo gerade eben noch sein scharfes Antlitz gewesen war.

«Nein, Veer», befahl Malbane, wobei er kaum die Stimme hob. Die Dunkelheit zog sich zurück, und Veers Kopf wurde wieder sichtbar. Der Inquisitor warf dem General einen hasserfüllten Blick zu.

Die drei Hundemänner in den schwarzen Ledermänteln starrten die Inquisitoren mit versteinerten Mienen an und sagten nichts. Malbane trat auf einen von ihnen zu und betrachtete ihn von oben bis unten. «Ihr Militärtypen habt ein Faible für Sondereinheiten», sagte er trocken zu Vane.

«Sie sind nützlich», erklärte der General. «Die Sondereinsätze der Zerberus-Agenten sind wichtig.»

«Für wen, General? Wichtig für wen?» Malbane wartete nicht auf eine Antwort. Er trat noch näher an den Agenten heran und begutachtete das kleine Emblem auf dessen Schulter. Es war ein silbernes Messer auf einem Schild. «Das Symbol, das sie tragen, kenne ich nicht», sagte der Inquisitor sanft und wandte sein faltiges Mönchsgesicht dem General zu, als ob er auf eine Erklärung wartete.

«Die X’ath wollen Kristall, weil sie damit ihre Körper regenerieren können.» General Vane rieb sich über den Unterkiefer. «Und die Inquisitoren wollen Kristall, weil sie dann ewig leben können. Und es ist das große Privileg der Hundetruppen, für diese Ziele in den Krieg zu ziehen, zu kämpfen und zu sterben.» General Vane sprach leise. Seine Stimme klang rau. Sein Blick war unverwandt auf Chess gerichtet. «Seit Jahrtausenden kämpfen und sterben wir für die Symmetrie.»

«Die Hundetruppen wurden von der Symmetrie für die Symmetrie erschaffen», erinnerte ihn Malbane freundlich.

Der General schnaubte. «Wer hat in den vergangenen Epochen die Kristallkriege für die Symmetrie ausgefochten? Die Hundetruppen. Wer hat die Schiffsrouten zwischen den Universen für die Symmetrie überwacht? Die Hundetruppen.» Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme aggressiv und laut wurde. «Wer beschützt die Kristallminen? Die Hundetruppen. Wer bewacht die Lager mit den Energiezylindern und dem Kristall? Die Hundetruppen.»

Der General zog die Lefzen hoch und entblößte die langen Reißzähne, die dicht an dicht standen. Er wandte den langen Kopf, sodass seine gelben Augen auf den Inquisitor gerichtet waren. «Aber wissen Sie, was ich mich in letzter Zeit immer öfter frage, Malbane? Wer beschützt die Hundetruppen? Was geschieht mit meinem Volk, wenn der große Knall kommt und die Symmetrie die Ewige aktiviert, wenn Zeit und Raum zu Ihrem endlosen Vergnügen angehalten werden?»

«General», sagte Malbane mit leichter Entrüstung, als ob ihn der Vorwurf ernstlich berührte.

«Malbane», sagte der General unbeirrt, «die Pestbrut wird von Snargis behütet.» Snargis zog einen Mundwinkel nach oben, wobei im Inneren seines Mundes ein Bündel sich windender Würmer sichtbar wurde. «Azgors Wille schützt die Legionen des Chaos. Sie alle werden dafür sorgen, dass die von ihnen erwählten Diener ungeschoren davonkommen.» Die Stimme des Generals hallte in der höhlenartigen Dunkelheit der mächtigen Kammer wider, und er verschränkte seine Arme vor der Brust – den fleischlichen und den aus Metall. Die Ketten seines Körperpanzers klirrten. «Aber mir will scheinen, dass uns niemand beschützt, wenn die Zeit gekommen ist.»

«Wir haben Vorkehrungen für Sie getroffen», behauptete Malbane. «Sie müssen uns vertrauen.» Der Inquisitor neigte versöhnlich den grauhaarigen Kopf. «Immerhin haben auch wir Ihnen vertraut, General. Wir haben Ihnen immer vertraut. Auch trotz der verschwundenen Schiffsladungen vertrauen wir Ihnen immer noch. Übrigens, was ist mit dem Kommandanten dieser Flotte passiert?»

«Wir haben uns seiner angenommen», knurrte General Saxmun Vane. «Auf angemessene Weise.»

«Saxmun, Saxmun», murmelte Malbane und lächelte beschwichtigend. «Wir müssen einander vertrauen.»

«Sie ist hier», flüsterte Veer kryptisch.

«Sehr gut», sagte Malbane. «Endlich können wir beginnen.»

Eine Gestalt in einem langen schwarzen Gewand, das von einem Netz aus silbernen Fäden durchzogen war, näherte sich lautlos über einen der luftigen Laufstege. Ihr Gesicht war so weiß, dass es in der Dunkelheit zu schweben schien, und es war gekrönt von kurzem, borstigem Haar. Die Augen waren hinter den kleinen, runden schwarzen Brillengläsern eines Kneifers verborgen, der auf ihrer wie gemeißelt wirkenden Nase saß, und obwohl ihr Gesicht schmal war, ragten ihre Kiefer samt Mund kastenförmig und schwer nach vorn.

«Sei gegrüßt, Petryx», sagte Malbane mit einem höflichen Nicken.

«Malbane», erwiderte Petryx Ark-turi, die Oberste Warp der Symmetrie. «Azgor, Veer, Snargis.» Sie nickte allen Inquisitoren zu, ehe sie ihre runden schwarzen Brillengläser auf den General richtete. «General, es ist mir eine Ehre», sagte sie, ohne einen Hauch von Ironie, aber auch ohne jede Wärme. Wenn sie sprach, war ihre Stimme nasal und spießte jedes einzelne Wort mit einer unvergleichlichen Schärfe und Präzision auf. Wenn sie schwieg, bildete ihr Mund eine schmale schwarze Linie.

General Saxmun Vane grunzte.

«Bitte vergib dem General», mischte sich Malbane erklärend ein. «Seit … seit jenem unglückseligen Vorfall kostet es ihn große Mühe, Warps gegenüber höflich zu sein.»

«Aber wir haben alles unternommen, was wir konnten, um den Verräter zu bestrafen», beharrte Petryx Ark-turi. «Es ist nicht unsere Schuld, dass es ihm gelang, seinen Geist in Sicherheit zu bringen, bevor wir seinen Körper in unsere Gewalt bekamen.»

«Wo ist sein Körper jetzt?», wollte der General wissen, der bei dem Gedanken an Lemuel Sprazkin, der früher einmal der Oberste Warp der Symmetrie gewesen war, seine Wut kaum zu bändigen vermochte. Sprazkins fehlerhafte chirurgische Operation, mit der er den General auf dessen Wunsch in einen Menschen hatte verwandeln wollen, war dafür verantwortlich, dass der General mit einem Körper leben musste, der ohne Vorwarnung in ein Chaos aus fleischigen Klumpen mutierte, mit willkürlich wachsenden Gliedern und peitschenden Tentakeln. Dieses Phänomen konnte der General nur mit einem Serum unter Kontrolle halten, das die Warps herstellten.

«Der Körper des Verräters ist hier, auf dieser Station», sagte Malbane. «Wir haben ihn herbringen lassen, damit unsere Oberste Warp ihm die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden lassen kann. Aber wie die Dinge liegen», fügte er schulterzuckend hinzu, «gibt er keinen Mucks von sich.»

«Es ist, als würde man …» Petryx Ark-turi suchte nach dem richtigen Wort. Als sie es gefunden hatte, schnaubte sie es durch ihre Nase. «… als würde man Knetmasse foltern.»

«Wollen Sie damit sagen», knurrte der General, «dass ich zweihundert Jahre darauf gewartet habe, dass Sie Knetmasse foltern? Ich dachte, es wäre Ihre Spezialität, Schmerzen zu verursachen?»

«Schmerz», bemerkte Malbane, «ist lediglich ein unumgängliches Mittel zu einem wunderbaren Zweck.»

Petryx Ark-turi schaute zu Chess. Die Nasenflügel der Warp bebten kaum merklich.

Malbane tätschelte ihren Arm. «Du hast deinen Appetit äußerst lobenswert im Zaum gehalten, Petryx.»

«Es war nicht leicht.» Die Stimme der Warp schwankte. «Bei Kindern ist es niemals leicht, und bei diesem hier …» Sie schüttelte den Kopf. «Nur ein kleiner Imbiss wäre …» Zitternd stieß sie den Atem aus.

«Ein kleiner Imbiss wäre möglicherweise schon zu viel, Petryx», wies Malbane sie sanft zurecht. «Wenn man einmal anfängt, kann man nicht mehr aufhören.»

«Ich weiß, ich weiß», sagte die Warp und atmete tief ein. «Sie ist vollkommen.» Sie wandte ihren bebrillten Blick zu Malbane. «Ich bin froh, dass Sie alle hier sind, um die erste Fusion mitzuerleben.»

«Wir haben sehr lange auf diesen Moment gewartet. Wir hätten ihn um nichts in den Universen verpassen wollen», versicherte ihr Malbane.

«Ganz gewiss nicht», wiederholte Snargis.

«Nichts hätte uns davon abhalten können», flüsterte Veer.

Aus der Dunkelheit über ihren Köpfen ertönte ein elektrisches Summen. Ein gigantischer Metallarm schob sich aus der Höhe. Im Scheinwerferlicht glänzten die Kurven und Rundungen der Röhren und Kabel, mit denen er ummantelt war. Am Ende des Arms befand sich eine Metallplatte, etwa so groß wie ein Tür, und diese Platte war mit einer umlaufenden kupferfarbenen Spirale eingefasst.

Ein zweiter Arm mit einer identischen Metallplatte kam aus der Höhe der Kammer. Als die zweite Platte der ersten gegenüber stand, hielt der Arm an. Chess befand sich genau dazwischen.

«Bis auf jenen unglückseligen Zwischenfall war das Mädchen die ganze Zeit in einer Möbiuszelle», erklärte Petryx Ark-turi. Ihre scharfe, nasale Stimme durchstach das ehrfürchtige Schweigen. «Es ist die einzige Möglichkeit, ein Wesen mit ihren außergewöhnlichen dimensionalen Fähigkeiten festzuhalten.»

«Und wie konnte dann jener … unglückselige Zwischenfall passieren?», erkundigte sich der General. «Wie ist sie entkommen?»

«Das wissen wir nicht», erwiderte die Warp knapp. «Aber es wird nicht wieder passieren. Sie wurde betäubt, sehr stark betäubt. Allerdings wird die Wirkung der Droge nun ziemlich schnell nachlassen.»

Chess rührte sich bereits. Ihr schlaffer Kopf rollte von einer Seite zur anderen, während sie langsam aus der Betäubung aufwachte. Ihre Arme hingen seitlich an ihrem Körper herab, gefesselt von Xenrianischen Wächtern.

Die Luft über den Metallplatten begann zu schimmern.

«Pro Minute werden achtzehn Energiezylinder in das System eingespeist. Die Energie wird hierher geleitet.» Die Warp deutete auf die riesigen Metallarme. Der General schnaubte und schaute nach oben in die Dunkelheit. «Sie können die Zylinder von hier aus nicht sehen, General», erklärte Petryx Ark-turi. «Sie werden in einen ganz anderen Bereich der Station transportiert. Von dort aus wird die Energie mit FSBs hierher geleitet.»

«FSBs», murmelte der General. «Aber gewiss doch.»

«Flachspulenbeschleuniger», flüsterte Malbane geduldig. «Sie befördern die Energie über drei Kilometer und entladen sie dann in diese Winkel.» Er deutete auf die Platten, die durchsichtig geworden waren und sich kaum mehr von der zitternden heißen Luft darüber unterschieden.

Chess’ braune Augen hatten sich weit geöffnet. Der General konnte ihre Angst riechen. «Für eine derart mächtige Kreatur ist sie reichlich furchtsam», bemerkte er.

Die Winkel des schmalen Warp-Mundes zuckten kaum merklich nach oben. «Für eine derart mächtige Kreatur ist sie ganz und gar hilflos.»

Chess konnte zwar ihren Kopf von einer Seite zur anderen drehen, aber ihr Körper und ihre Gliedmaßen waren in einem Eisengriff gefangen. Sie schaute nicht zu der Versammlung, die sie beobachtete, und der General erkannte, dass das Mädchen sie nicht sehen konnte. Die hellen Scheinwerfer blendeten sie.

Dann vernahm er durch das Summen der Metallarme ein weiteres Geräusch – ein Jaulen, das allmählich lauter wurde, als ob die Dunkelheit eine Stimme bekommen hätte. Auch das Mädchen hatte es wohl bemerkt.

Während sich das Jaulen zu einem schrillen Kreischen verstärkte, schien die Luft zwischen den Metallplatten immer heißer zu werden. Ein flüssig wirkender Schimmer wurde von den Platten abgestrahlt, als ob sie nacheinander greifen würden. Das Kreischen wurde lauter und lauter, und das Schimmern strömte in Wellen und Spiralen aus den Platten, kreiselte und schlängelte sich um Chess’ Körper.

General Vane warf einen Seitenblick auf die Oberste Warp, deren angestrengtes Keuchen ihn abgelenkt hatte. Er kräuselte die Lippen. Der Kampf, den diese Warps mit ihren künstlich erzeugten Begierden ausfochten, ekelte ihn an. Darin lag keine Ehrlichkeit, keine Wahrhaftigkeit. Wenn er zornig war, dann war er zornig. Wenn ihm der Sinn nach Gewalt stand, dann gab er diesem Drängen nach.

Ohne die Augen von dem Mädchen abzuwenden, flüsterte der General der Warp zu: «Wenn Sie noch eine Sekunde länger in mein Ohr keuchen, dann schlitze ich Ihnen mit Ihren dämlichen Brillengläsern Ihre dämliche Kehle auf.»

«Saxmun», sagte Malbane, der auf der anderen Seite der Warp stand, warnend.

Das Kreischen erreichte jetzt eine derartige Lautstärke, dass alle anderen Geräusche übertönt wurden. Es fuhr dem General durch Mark und Bein. Er sah die Energiewellen und -ströme von den beiden Metallplatten in Chess’ Körper fließen, als ob sie durch das Mädchen eine Verbindung miteinander herstellten, als ob das Mädchen die Energie förmlich ansaugen würde. Chess’ Rücken verkrampfte sich, trotz des Griffs der Xenrianischen Wächter, und ihr Kopf wurde nach hinten geschleudert. Obwohl ihr Mund weit aufgerissen war, kam kein Laut über ihre Lippen. Jedenfalls keiner, den der General hören konnte.

Mit einem Aufbrüllen brauste ein letzter Energiestoß in das Mädchen. Dann war es wieder still.

«Die Qualen einer halben Million Seelen, eingeführt in einen einzigen kleinen Körper», bemerkte Petryx Ark-turi sachlich.

Chess’ Kopf hing vornüber. Ihr Gesicht wurde von ihren dicken Locken bedeckt. Der General glaubte, das leise Keuchen zu hören, mit dem das Mädchen nach Atem rang.

«Der Energietransfer wird jede Minute wiederholt», sagte die Warp. Kaum hatte sie das ausgesprochen, war auch schon wieder ein leises Jaulen zu hören, und die Luft zwischen den Platten fing an zu schimmern. «Unsere Vorräte umfassen etwa vier Millionen Zylinder mit der Energie unzähliger Milliarden Seelen.»

«Billionen», korrigierte Azgor sie. Ihre trockenen Lippen teilten sich und die dunkle Zunge zuckte vor, um sie zu befeuchten.

«Energie, gewonnen aus unermesslichem Leid», konstatierte Veer und schloss in aufrichtiger Ekstase die Augen.

«Die Menschen und ihre Kinder sind nur ein kleiner Teil davon», schmatzte Snargis. «Aber», ergänzte er, wobei eine kleine Fontäne schleimigen Schaums aus seinem Würmermund spritzte, «ein sehr kraftvoller Teil.»

«Und sie wird alles davon in sich aufnehmen.» Malbane betrachtete das Mädchen.

«Ich bezweifle immer noch, dass ein kleiner Körper so viel aushalten kann», sagte der General mürrisch.

«Ihr Körper ist klein», stimmte Malbane ihm zu. Er musste seine Stimme erheben, um sich über das lauter werdende Kreischen der Energie, die aus den Platten strömte, Gehör zu verschaffen. «Aber ihr Geist ist unendlich. Dieser Geist ist in der Lage, jede Zeit und jeden Ort in sich aufzunehmen und sich gleichzeitig dorthin zu begeben. Er wird so viel Schmerz und Leid in sich aufnehmen, wie wir aufbringen können.»

Malbane musste jetzt schreien, und der General bemerkte ein ungewöhnlich wildes Glühen in seinen Augen. «Wenn die Zeit für die Ewige gekommen ist, wird sie bereit sein zu explodieren. Sie wird so viel Energie in Zeit und Raum freisetzen, dass die Universen in ihren ursprünglichen, vollkommenen Zustand des Nichts versetzt werden.»

Ein ohrenbetäubender Schrei löschte Malbanes Stimme aus. Die zuckenden Energiefinger trafen auf Chess’ Körper und bohrten sich in ihn. Der Leib des Mädchens wurde wieder zum Zerreißen gespannt und erschlaffte dann.

«Die Energie wartet nur darauf, von ihr wieder freigegeben zu werden», sagte Malbane, der nun seine Fassung wiedererlangt hatte. «Wir müssen nur den richtigen Schalter umlegen.»

Der General schnaubte. «Das Komitee wird versuchen, sie zu befreien. Sie haben ja noch reichlich Zeit. Fünf Monate – das sollte ihnen genügen.»

«Natürlich werden sie es versuchen», lächelte Malbane.