The Naked Fisherman (Fisherman-Reihe 1) - Jewel E. Ann - E-Book

The Naked Fisherman (Fisherman-Reihe 1) E-Book

Jewel E. Ann

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Beschreibung

Jetzt ist es offiziell. Ich bin achtzehn und eine junge Frau mit unendlichen Möglichkeiten und auf dem Weg, meine Mutter in Colorado wiederzusehen, nachdem sie fünf Jahre von mir getrennt war – sie hatte einen kleinen Vorfall mit Gras in Nebraska. Am Flughafen überbringt sie mir die Nachricht, dass sie für einen Monat zu einer Weiterbildung aufbricht. Und ich? Ich bin auf mich allein gestellt. In einem Keller, den meine Mutter beim Fisherman – auch bekannt als der Eigentümer, der direkt darüber wohnt – gemietet hat. Er ist zehn Jahre älter als ich. Trägt nie ein Shirt. Und er macht es mir schwer, mich auf all das zu besinnen, was ich in der Christian Academy gelernt habe. Habe ich erwähnt, dass er auch mein neuer Chef ist?

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30

Jewel E. Ann

 

 

The Naked Fisherman

(Fisherman-Reihe 1)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Englischen übersetzt von Madeleine Seifert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch und Hörbuch erschienen.

The Naked Fisherman

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags

wiedergegeben werden.

 

Übersetzung: Madeleine Seifert

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Naked Fisherman«.

 

Korrektorat: Lara Späth und Susann Chemnitzer

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel unter Verwendung von selbst

gezeichneten Motiven

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

ISBN: 978-3-98718-161-0

 

 

 

 

 

 

Für Jenn, wenn Fisher doch nur Schotte wäre … das wäre perfekt.

Kapitel 1

An dem Tag, an dem ich den nackten Fisherman traf, war ich ein glückliches, achtzehnjähriges Mädchen, das frisch aus der High School kam – mit vielen Möglichkeiten und keinen großen Ideen. Das perfekte Ziel. Ich hatte über Männer wie ihn nur in Predigten und Bibelstunden über Versuchungen gehört.

Als ich jedenfalls den Morgen damit verbrachte zu packen, wusste ich nichts von seiner Existenz. Ich hätte die letzten paar Stunden meiner Unwissenheit umarmen sollen, anstatt mir Sorgen darüber zu machen, meine Mutter das erste Mal seit fünf Jahren wiederzusehen. Der Gedanke daran lässt mich beinahe das Rührei und – zumindest ein kleines Stück – gebutterten Toast hochwürgen.

Vor sechs Monaten durfte sie die Justizvollzugsanstalt in Nebraska verlassen. Anscheinend hatte sie ein paar zu viele Marihuana-Pflanzen im Lagerraum ihres Friseursalons wachsen lassen. Mein Dad hatte gesagt, er wisse nichts darüber und der Richter glaubte ihm.

Meine Grandma schnappte sich alles, was ich in meinen Koffer warf, und faltete es erneut. »Du bist jetzt erwachsen, Therese. Du musst nicht bei ihr wohnen … oder bei uns. Du musst bei niemandem wohnen. Bist du sicher, dass du nicht doch mit ein paar Freunden in eine WG ziehen willst? Es gibt Missionsreisen, die dich an jeden Ort der Welt führen.«

Vor drei Jahren hörte das Herz meines Dads auf zu schlagen. Ein angeborener Fehler, von dem er nichts gewusst hatte. Kein zu hoher Blutdruck. Kein zu hoher Cholesterinwert. Kein einziges Anzeichen, bevor er einfach … umgekippt war, während er an seinem Zeichenbrett gesessen hatte. Wir hatten an diesem Abend Pasta. Ich konnte Nudeln immer noch nicht ansehen, ohne den Tränen nahe zu sein.

Er war ein ausgezeichneter Architekt gewesen.

Meine Großeltern – seine Eltern – hatten das Sorgerecht für mich zugesprochen bekommen, weil meine Mom im Gefängnis war und ihre Eltern in einem süßen, aber teuren Apartment in Boston lebten. Sie waren liberale Katholiken mit einer besonderen Abneigung gegen die Eltern meines Vaters – Konservative, die die Inhaftierung meiner Mutter und den Tod meines Vaters ausnutzten, um mich in einer christlichen Privatschule in Houston, Texas, einzuschreiben.

»Sie ist meine Mom. Ich habe sie seit fünf Jahren nicht gesehen. Und es ist ja nur vorübergehend, bis ich mich entschieden habe, was ich in meinem Leben machen will.« Ich schenkte Grandma ein beruhigendes Lächeln, aber ihre gerunzelte Stirn zeigte mir, dass sie kein bisschen beruhigt war.

»Du hast sie auch nicht zu deinem Abschluss eingeladen. Warum bist du jetzt so neugierig?«

Vor dem Lachen hustend, schüttelte ich den Kopf. »Pa hat mir ausgeredet, sie einzuladen. Genau wie Dad es getan hätte. Und sie ist meine Mutter, kein Zootier, auf das ich neugierig bin. Wenn sie nicht so ist, wie ich sie in Erinnerung habe, wenn sie mir wie eine komplette Fremde vorkommt und ich keine Verbindung zu ihr spüre, komme ich wieder nach Hause.«

»Therese, ich mach mir nur Sorgen, dass wenn du jetzt nicht ans College gehst, du es niemals tun wirst. Und dein Vater hätte sich gewünscht, dass du einen Uniabschluss machst.«

Ich warf jeweils ein Paar Sandalen und Flip-Flops oben auf die Klamotten, die sie gerade erneut gefaltet hatte. »Statistisch gesehen sind die Leute, die ein Gap Year machen, später besser auf dem College.« Eine echte Statistik, die ich stets wiederholte. Nicht zu wissen, wohin es ging, war nicht cool. Auf meiner Abschlussparty hatten mich alle gefragt, wohin ich nach der Schule gehen würde, was ich geplant hätte. Ich war erschaudert und erzählte dann von meinem brillanten Gap-Year-Plan. Welcher sich anfühlte wie der Code für: Schlaues Kind, das zufällig ein Versager ist und wenig bis gar keine Ahnung hat, was es machen will. Zwar hatte das niemand wirklich zu mir gesagt, aber ich konnte es in ihren Gesichtern sehen. Dann ratterten sie all die Dinge runter, die ich tun könnte, als bräuchte ich nur eine gute Idee.

Grandma legte ihre Hände für ein paar Sekunden an meine Wangen, bevor sie meine Haare über meine Schultern strich. Meine glatten braunen Haare und die blauen Augen hatte ich von meiner Mom, aber meine Großmutter sagte immer, ich sehe aus wie mein Dad. Er hatte blonde Haare und haselnussbraune Augen. Das Einzige, was ich von ihm vererbt bekommen hatte, waren meine vollen Lippen und seine Sucht nach Kreuzworträtseln.

»Ich bin außerdem besorgt darüber, dass deine Mutter nicht der beste Einfluss ist.« Grandma runzelte die Stirn und strich weiter über meine Haare. Da war sie also – ihre eigentliche Angst.

»Wenn sie Drogen nimmt oder wieder angefangen hat, drei Packungen Zigaretten am Tag zu rauchen, komme ich zurück nach Hause. Außerdem habe ich schon eine Kirche gefunden, die ich besuchen werde, und ich bin sicher, ich werde ein paar gute Christen-Freunde finden, die mich davor bewahren werden, in den Bann meiner Mom gezogen zu werden.« Ich zwinkerte Grandma zu, meinte es nicht ganz ernst. Es gab kein Regelbuch für das Wiedersehen mit der eigenen Mutter, nach Jahren der Trennung, in denen sie inhaftiert gewesen war. Erwartete sie wohl, dass ich sie Mom nannte? Würde es sich normal anfühlen, sie so zu nennen? Mit dreizehn hatte es sich normal angefühlt, an dem Tag, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte und weinte, während sie in Handschellen aus dem Gerichtssaal geführt worden war. Ihre Tränen strömten ebenso ungehalten wie meine, als sie mit den Lippen »Ich liebe dich« formte.

Dad umarmte mich und versprach mir, ich würde sie bald wiedersehen.

Bald …

Was nicht geschah.

»Du kannst zurückkommen. Jederzeit. Das weißt du, oder?«

Ich nickte, während ich den Reißverschluss meines Koffers zuzog. »Jap. Deswegen habe ich dir schon ungefähr eine Million Mal gesagt, dass ich nach Hause kommen werde, wenn es nicht klappt. Außerdem ist locker die Hälfte von meinem Zeug hier. Natürlich komme ich zurück. Ich möchte nur sehen, wie sie jetzt so ist und schauen, ob ich Colorado mag.«

Grandmas Augen glänzten vor lauter Emotionen. »Therese, ich werde dich so sehr vermissen. Es kommt mir so vor, als würde ich deinen Vater ein weiteres Mal verlieren.«

»Gott wird über dich wachen.«

»Ich weiß, Schatz.« Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Lass uns Pa Bescheid sagen, dass er deine Koffer ins Auto packt und dich zum Flughafen fährt, damit du keinen Stress hast, zum Gate zu kommen. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir dich allein fliegen lassen.«

Ich kicherte. »Ich bin jetzt erwachsen. Ich schaffe das schon.«

Ich war mir nicht sicher, ob sich achtzehn wirklich nach Erwachsensein anfühlte, aber ich setzte einen unerschrockenen Gesichtsausdruck auf, schließlich würden meine Freunde Sommerurlaube unternehmen und sich aufs College vorbereiten. Sie verließen das Nest. Ich zog in ein anderes Nest um. Das Mindeste, was ich tun konnte, war allein zu fliegen und für ein paar Stunden so zu tun, als wäre ich eine echte Erwachsene.

 

Kapitel 2

Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich wäre nicht zu Tode verängstigt. Meine Hände und meine Stimme zitterten, als ich an meinen Taschen und meinem Ausweis fummelte, während ich durch die Sicherheitskontrolle am Flughafen ging. Alles machte mich verrückt. Komische Männer sahen mich an. Frauen schirmten ihre kleinen Kinder von mir ab, als sie ein Auge auf mich warfen und sich vermutlich fragten, ob sie die Flughafensecurity verständigen sollten. Eine junge Frau könnte möglicherweise an einen weitentfernten Ort verschleppt werden – zum Beispiel Colorado –, um dort als Sexsklavin verkauft zu werden.

Fünf Stunden lang täuschte ich Selbstsicherheit vor. Als ich den Sicherheitsbereich des Denver Flughafens verließ, brauchte ich nur wenige Sekunden, um meine Mutter zu entdecken. Sie hatte braunes, fast schwarzes kurzes Haar, das nicht ganz ihr Kinn berührte, mit einem Pony, der meiner Meinung nach etwas zu kurz geschnitten war, und sie war dünn wie eine Bohnenstange.

Sie hatte mir Bilder von sich geschickt, als wir kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag wieder in Kontakt getreten waren, aber so, wie sie nun vor mir stand, wirkte sie noch dünner.

Die Mutter, die mir aus dem Gerichtssaal im Gedächtnis geblieben war, hatte Kurven. Sie war nicht übergewichtig, aber sie sah gesund aus. Die Nach-dem-Gefängnis-Mom sah aus, als hätte sie nur gegessen, um zu überleben – und keinen Bissen mehr. An ihren Wangen, Schultern und Hüften standen die Knochen hervor. Eingefallene blaue Augen, deren Farbe an einen stürmischen Himmel bei Sonnenuntergang erinnerte, betrachteten mich erwartungsvoll. Nicht ein winziger Sprenkel Make-up war auf ihrem Gesicht zu erkennen. Als sie noch Salon-Besitzerin war, hatte sie langes Haar gehabt, das beinahe bis zu ihrem Po ging. Immer gekräuselt in prinzessinnenhafte Locken.

Wohin war die Friseurin verschwunden? Das Make-up? Der Nagellack? Das perfekt gestylte Haar? Ich fragte mich, ob sie sich an diese Person erinnern konnte oder ob diese in den letzten fünf Jahren, in denen ich sie nicht gesehen hatte, gestorben war. Über fünf Jahre hatte auch sie mich nicht mehr gesehen.

»Reese!« Sie hängte ihre Handtasche über ihre Schulter und lief auf mich zu.

Reese … So hatte mich in den letzten Jahren niemand mehr genannt. Für meinen Vater und meine Großeltern war ich Therese. Auf der christlichen Schule und für meine Christen-Freunde war ich Therese.

Ich versteifte mich, bekam Panik bei der Fremden, die mir bereits näher kam. Würde sie noch wie damals duften? Würde sich ihre Umarmung noch so anfühlen wie damals?

»Hi«, krächzte ich, als sie mir die Luft zum Atmen nahm und mich beinahe zu Boden rang.

»Oh, mein Baby …« Sie weinte. Weinte wirklich.

Ich dachte, ich würde ebenfalls weinen, aber da waren keine Tränen in Sicht. Meine Nerven und schiere Unbeholfenheit verschluckten sie, bevor meine Augen beten konnten, auch nur eine einzige zu vergießen.

Alles fühlte sich anders an.

Ihre Umarmung war nicht sonderlich wohlig, wahrscheinlich weil ihre Knochen zu deutlich zu spüren waren.

Sie roch nach Holz, nicht nach dem blumigen Duft ihres Parfums, an das ich mich erinnerte.

Ich dankte Gott für unsere Wiedervereinigung. Ich hätte meinen Kopf an diesem Punkt stoppen sollen. Denn das war alles, was zählte, aber ich konnte nicht aufhören, an all das zu denken, was sie ein wenig von der Version unterschied, die ich in Erinnerung hatte. Hatte mein dreizehnjähriges Ich sie auf ein Podest gehoben? Oder war mein achtzehnjähriges Ich unfairerweise voreingenommen?

Du sollst nicht urteilen …

Was nicht immer leicht war, zu befolgen.

»Du bist zu einer so wunderschönen jungen Frau herangewachsen.« Sie legte ihre Hände auf meine Schultern und hielt mich eine Armlänge von sich entfernt, um einen Blick auf mich zu werfen.

»Danke.« Ich lächelte.

»Los, lass uns dein Gepäck holen und nach Hause fahren. Wir müssen uns so viel erzählen, bevor ich die Stadt verlasse.« Sie hakte sich bei mir unter und steuerte in Richtung Gepäckausgabe.

»Was? Du gehst?«

»Nur für einen Monat. Höchstens sechs Wochen. Mein neuer Arbeitgeber schickt mich nach L.A., um in seinem Salon zu arbeiten und meine Fähigkeiten aufzufrischen. Ich werde mit Leuten zusammenarbeiten, die Haare und Make-up für Stars machen. Wie cool ist das denn?«

»Äh … wirklich cool, denke ich. Dann werde ich allein in deinem Haus wohnen?«

»Ja und nein.« Wir hielten an und warteten am Gepäckband auf meinen Koffer. »Und es ist das Haus meines Vermieters. Nicht mein eigenes. Ich habe nur den Keller gemietet. Er ist ein supernetter Typ. Und hinreißend. Wir sind gute Freunde geworden. Ich habe ihm alles von dir erzählt. Und er würde dir sogar einen Sommerjob anbieten, während du herausfindest, was du machen möchtest.«

»Was für einen Job?« Ich hielt Ausschau nach meinem Koffer, sah meine Mutter kurz aus dem Augenwinkel an.

»Ihm gehört ein Bauunternehmen. Ich weiß nicht genau, was du tun müsstest, aber ich versichere dir, du könntest keinen besseren Chef haben.« »Also Häuser bauen? Ich kann nicht besonders gut mit einem Hammer umgehen.« Mit einem nervösen Lachen betrachtete ich das Gesamtbild. Meine Fertigkeiten, was einen Hammer betraf, waren meine geringsten Sorgen. Meine Mutter ließ mich allein mit einem hinreißenden Mann. Bedeutete hinreißend in dem Zusammenhang alt und verschroben?

Sie lachte. »Ich bin mir sicher, dass du Büroarbeiten übernehmen kannst.«

Ich nickte ein paarmal, immer noch damit beschäftigt, ein passendes Bild zu hinreißend in meinem Kopf zusammenzusetzen. Katzenbabys waren hinreißend. »Okay. Ja, Büroarbeiten kann ich erledigen. Danke, dass du ihn gefragt hast.« Mr. Hinreißend.

Sie sah zu mir herüber und lächelte. »Natürlich. Ich möchte alles in meiner Macht Stehende für dich tun. Wir haben viel verlorene Zeit nachzuholen.«

 

Kapitel 3

Wir brauchten fünfundvierzig Minuten, um zu ihrem Zuhause zu kommen. Ich war noch nie in Colorado. Habe noch nie die Rocky Mountains gesehen. Ich konnte nicht aufhören, sie aus der Ferne anzuschauen. Wie konnten wir beinahe fünfzehn Jahre lang in Nebraska wohnen und noch nie Richtung Westen aufgebrochen sein? Wir hatten eine Million Reisen direkt in den Süden von Texas gemacht und manche Trips in den Osten, um die Eltern meiner Mutter zu besuchen. Aber wir waren nie im Westen des Landes.

»Home sweet home. Ich weiß, es ist nicht so schön wie bei deinen Großeltern in Houston, aber ich möchte, dass du dich wie zu Hause fühlst. Wir können dein Zimmer dekorieren. Streichen. Was auch immer du möchtest. Fisher meinte, solange wir keine Wände einreißen, ansonsten ist alles möglich.«

»Fisher?«, fragte ich, als ich aus ihrem Subaru Outback kletterte.

»Fisherman. Mein Vermieter.«

»Interessanter Name.« Ich kicherte, während Mom mein Gepäck aus dem Kofferraum herausholte.

»Stimmt.« Sie grinste, nickte in Richtung eines gepflasterten Weges, der sich um die Seite des weitläufigen Ranch-Hauses mit freiem Blick auf die Berge wickelte.

»Es gibt bei der Veranda eine Tür, um ins Haus zu kommen, aber ich gehe normalerweise hier durch, denn hier gibt es eine Umkleide-Ecke, wo Mäntel, Schuhe, Geldbeutel und so weiter ablegt werden können.« Sie öffnete die Tür und ich folgte ihr bis in den Keller. Es war schön – viel schöner, als ich erwartet hatte. Ich fühlte mich nicht unbedingt wie in einem Keller. Eine Wand aus westlich ausgerichteten Fenstern gab ihm Tiefe, nicht, dass ich irgendeine Art von Illusion gebraucht hätte. In dem großen Wohnzimmer befanden sich ein Ecksofa, ein großer Flachbildfernseher und ein Billardtisch.

»Du hast ganz schön viel Zeug gekauft.«

»Pff …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das Wohnzimmer war schon möbliert. Ich habe Betten und Bettzeug für die zwei Schlafzimmer gekauft. Handtücher. Küchenutensilien. Und wenn ich ich sage, dann meine ich, dass meine Eltern mir Geld geliehen haben.«

»Ah ja.« Meine anderen Großeltern. Ich hatte sie dreimal gesehen, während meine Mutter inhaftiert war. Mein Vater war dahingehend nicht sonderlich entgegenkommend gewesen.

»Lass uns nachschauen, ob Fisher oben ist. Ich möchte, dass du ihn kennenlernst. Dann holen wir uns etwas zu essen und verbringen den Rest des Abends damit, uns auf den neusten Stand zu bringen.

Auf den neusten Stand bringen … Ich fand es seltsam. Das Auf-den-neusten-Stand-bringen würde sehr einseitig sein. In Anbetracht ihrer aktuellen Lebenssituation gab es sicher nicht viel, was sie mir erzählen konnte.

Ich folgte ihr die zu zwei Seiten verlaufende Treppe hinauf. Sie klopfte an der Tür und wartete ganze zwei Sekunden, ehe sie diese aufschloss und öffnete. Es war seltsam, dass die Verriegelung nicht auf beiden Seiten existierte, wie miteinander verbundene Hotelzimmer. Als ich ihr in die geräumige Küche mit hohen Decken folgte, sah ich zurück und bemerkte, dass es ein Schloss auf seiner Seite der Tür gab. Er hatte es nur nicht verriegelt.

»Fisher?«, rief sie ihn und wartete ein paar Sekunden. »Ich sehe mal in der Garage nach. Manchmal arbeitet er an einem seiner Projekte oder poliert sein Motorrad auf Hochglanz. Ich nickte und fühlte, wie sich mein Magen zusammenzog. Warum? Ich war mir nicht sicher, aber zwei Sekunden später fand ich es rasch heraus.

»Hey.«

Ich drehte mich zu der tiefen, männlichen Stimme um.

»O mein Gott!« Ich vollführte eine weitere schnelle Drehung, insgesamt nun einmal um die eigene Achse. »Sorry.«

»Warum? Bist du eingebrochen? Oder bist du Rorys Tochter?«

Ich räusperte mich. »Das … ähm … ja … Rorys Tochter.«

»Ah, Reese Capshaw. Schön, dich endlich kennenzulernen. Rory spricht ohne Unterbrechung über dich.«

Ich nickte ein halbes Dutzend Mal, weigerte mich, mich wieder zurück zu ihm und seinem fast nackten Körper zu drehen. Auf den ersten Blick hatte ich eine große Brust und Wassertropfen entdeckt, die daran hinuntergelaufen waren. Und ein nachlässig gewickeltes marineblaues Handtuch, das tief auf seinen Hüften hing. Oh … ja … Sein Haar war durcheinander, feucht und hellbraun, vielleicht auch dunkelblond.

»Wo ist deine Mom?« Er streifte mich. Streifte mich mit seinem Körper, als er an mir vorbeiging. Sein nasser Arm stieß an meinen. Und er entschuldigte sich nicht. Stattdessen bewegte er sich nur ein paar Meter, ehe er sich den Garagentorgriff schnappte. Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß, ein Grinsen formte seinen Mund zu etwas, dem ich nicht traute. »Du siehst aus wie deine Mom. Glückspilz.«

In dem Moment wusste ich, dass Fisherman nichts Gutes verheißen konnte.

»Da bist du!« Mom öffnete die Tür im selben Moment, in dem Fisher den Griff betätigte und sie nach innen zog.

War gerade der richtige Zeitpunkt, meiner Mutter zu sagen, dass sie nicht nach Los Angeles gehen konnte, weil ihr Vermieter mich angesehen hatte, als wäre ich seine nächste Mahlzeit? Aber nicht nur das … Ich konnte nicht glauben, dass sie nichts dazu sagte, dass er in voller Pracht mit seinem fast nackten Körper direkt vor ihrer Tochter stand. »Sorry, ich war in der Dusche«, sagte Fisher, während er den Sitz seines Handtuchs in die völlig falsche Richtung anpasste. Er lockerte es ein wenig.

Hitze stieg mir in die Wangen. Ich hatte Männer wie ihn bisher nur im Fernsehen gesehen oder mit meinen Freunden, wenn keiner von unseren Eltern zu Hause gewesen war. Damals hatte es sich verboten angefühlt. Und es fühlte sich auch jetzt nicht weniger verboten an, während meine Mutter zwischen uns stand.

»Dann hast du Reese schon getroffen. Ist sie nicht wunderschön? Noch atemberaubender als auf ihren Bildern. Meinst du nicht auch?«

O Gott, bitte mach, dass es aufhört. Mach, dass er aufhört.

Aufhört, so … irgendwie alles zu sein.

Meine Mutter war damit beschäftigt, mir einen bewundernden Blick zuzuwerfen und wirkte erneut, als würde sie mit den Tränen kämpfen, während die Sünde persönlich – mit dem zerzausten Haar, der zur Schau gestellten Haut und den harten Muskeln – die Lippen befeuchtete und nickte. »Sie ist perfekt, Rory. Fast wie ein Engel.«

Was soll das denn bedeuten?

Ich dachte über seine Worte nach. Wusste er, dass ich eine christliche Schule besucht hatte? Wollte er mir wegen meiner Religion einen Stoß versetzen? Wegen meines Glaubens? Wegen meines Alters? Wegen meines Erfahrungsschatzes? Vielleicht war es keine biblische Referenz zu einem echten Engel. Was, wenn er wirklich dachte, dass ich schön war?

Schnell schüttelte ich meinen Kopf, um den Gedankenzug in die Freiheit zu entlassen. Natürlich wollte ich nicht, dass Fisher mich auch nur ansatzweise attraktiv fand. Er war deutlich älter als ich. Er sah nicht aus, als wäre er gläubig. Mir war klar, dass das eine weitere Verurteilung war, aber mein Kopf tat eben, was er tat. War er mit meiner Mom zusammen? Also so richtig zusammen, wie im biblischen Sinne? »Ich habe Reese schon erzählt, dass du einen Job für sie hättest.« Sie schaute zurück zum nackten Fisherman. Igitt, warum ging mir denn so etwas durch den Kopf? Ich würde ihn mir für immer nackt vorstellen, mit einer Angel in der Hand … Oder vielleicht nackt bis auf ein Paar Anglerstiefel, die ihm bis zur Mitte seines Oberschenkels reichten.

Stopp!

»Sicher. Ich kann sie mit genug Krimskrams auf Trab halten. An manchen Tagen kannst du mit meiner Sekretärin Hailey zusammen im Büro arbeiten. An anderen kannst du mit mir zu den Baustellen kommen. Mittagessen wegbringen. Vorräte holen.«

Es folgte Stille.

»Reese?«, sagte meine Mom.

»Hm?«, brummte ich ein wenig verwirrt.

Fisher neigte sich zur Seite, als würde er seinen Körper in Pose bringen, um von einer Kameralinse eingefangen werden zu können. Aber da war keine Kamera, nur mein Blick, der an seinen Bauchmuskeln und der dunklen Spur Haare klebte, die oben aus seinem Handtuch hervorblitzte. Der begehrte Glückspfad. Nein, nicht begehrt. Zumindest nicht von mir. Nope.

»Hallo?«, sagte Fisher und da realisierte ich, dass er mich dabei erwischt hatte, wie ich ihn angegafft hatte, nur wenige Zentimeter entfernt von seiner … äh … Beckengegend.

Ich würde die Feuerwehr brauchen, um die Peinlichkeit aus meinem Gesicht zu löschen. »S-Sorry …« Ich wandte den Blick von ihm ab und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Starrte auf meine Füße, während ich auf den Ballen vor und zurück wippte. »Ein Job. Ja. Das wäre toll. Danke.«

»Alles in Ordnung?«, fragte meine Mom.

»Ja. Es war nur ein langer Tag mit der Anreise hierher. Das ist alles.« Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Dinge in der Küche. Er hielt sie ziemlich sauber, wobei ich nicht wusste, was ich von einem Mann erwartet hätte, der in der Baubranche arbeitete. Und er mochte Bananen und Äpfel. Er hatte sicher zwei Dutzend Bananen und ungefähr dieselbe Menge Äpfel in einer Glasschüssel neben dem Toaster. Äpfel … Die Frucht der Versuchung. Wie passend.

»Wir lassen dir dann mal Zeit, dich anzuziehen, bevor dein Handtuch noch runterfällt und du Reese mehr zeigst, als sie sehen will. Ich hatte noch kein Aufklärungsgespräch mit ihr.«

Lass. Mich. Sterben!

Das hatte sie wirklich gesagt. Zu ihm! Das Gefängnis hatte Mom verändert. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie so ungeniert, so unverblümt, so peinlich war.

»O mein Gott …« Ich verdeckte mein Gesicht mit den Händen. »Danke, dass du mich blamiert hast. Ich bin jetzt erwachsen, weißt du?«

Ich war eine Erwachsene, die ihr gerötetes Gesicht versteckte. Ich war eine Erwachsene, die noch keinen Sex gehabt hatte, weil sie nicht verheiratet war. Ich war eine Erwachsene, die perfekt zu meinen Großeltern passte, zu meiner Kirchen-Familie und meinen Freunden aus der christlichen Akademie. Scheinbar war ich in Moms Wahrnehmung nicht erwachsen und etwas sagte mir, dass ich es in Fishers auch nicht war. Oder vielleicht war ich es doch.

Und das war der Gedanke, der mir in diesem Moment eine Heidenangst einjagte.

 

Kapitel 4

»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht blamieren.« Mom lachte, als wir wieder nach unten gingen. »Ich habe mich selbst damit gestresst, dich richtig zu behandeln.«

Sie öffnete den Kühlschrank und pflückte zwei Limos aus dem unteren Fach, eine davon gab sie mir.

Orangenlimo. Sie hatte sie mir sonst immer als besonderes Highlight gegeben. Ich fragte mich, ob sie wohl auch noch die bärenförmigen Graham Cracker hatte, weil diese ebenfalls zu meinen Lieblingssnacks gehörten – zumindest als ich noch fünf Jahre jünger gewesen war.

»Ich meine … Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du noch nicht einmal alt genug, um selbst Auto zu fahren. Du hattest deine Periode noch nicht bekommen. Und jetzt bist du eine erwachsene Frau. In meinem Kopf ist mir das klar, aber mein Herz erinnert sich noch an das kleine Mädchen. Ich wünschte, ich könnte in der Zeit zurückreisen, aber das kann ich nicht.«

»Danke.« Ich nahm die Limo und setzte mich auf das u-förmige Ledersofa. »Ich weiß. Für mich ist es auch seltsam. Ich vermute, wir müssen deswegen einfach nur beten und Gott wird uns da durch helfen.«

Sie hielt mit der Flasche an ihren Lippen inne und schüttelte den Kopf. »Verdammt … Sie haben gute Arbeit damit geleistet, dich zu beeinflussen, was?«

»Was meinst du?«

»Ich meine das ›Wir müssen deswegen einfach nur beten‹. Das ist nichts, was ein durchschnittliches achtzehnjähriges Mädchen sagt. Ich war in den letzten Jahren ein bisschen abgeschottet von allem, aber ich weiß, dass sich dahingehend nicht so viel verändert hat. Du sprichst wie ein Mädchen, das mehr in der Bibel gelesen hat als in Liebesromanen. Ein Mädchen, das mehr Zeit damit verbringt zu beten, als Netflix zu schauen.«

»Ich liebe Jesus. Ist das so falsch? Wir sind auch in die Kirche gegangen, bevor du ins Gefängnis musstest.«

Sie kicherte und nahm einen Schluck ihrer Orangenlimo. »Wir waren Katholiken.«

»So? Und was spielt das für eine Rolle?«

Sie lachte erneut. »Oh, es spielt eine. Aber ich möchte mit dir nicht über Religion reden. Dein Glaube existiert zwischen dir und Gott. Ich möchte von all den bedeutsamen Augenblicken erfahren, die du in den letzten fünf Jahren erlebt hast. Von deinem ersten Freund, deinem ersten Kuss, deinem ersten Herzschmerz. Ich möchte, dass du mir alles von deinen Freunden erzählst. Hast du noch Kontakt mit deinen alten Freunden? Oder hast du neue auf der christlichen Schule gefunden? Hat dein Vater jemals eine neue Frau gefunden? Oder ist er als einsamer Mann gestorben?«

Sie hatte eine Menge Fragen. Ich hatte nur ein oder zwei von ihnen vorhergesehen. Vielleicht die Frage nach einem Freund und die nach meinen alten Freunden aus der staatlichen Schule. Alles andere machte mich ein wenig sprachlos, vor allem die Frage danach, ob Dad nach der Scheidung jemand Neues gefunden hatte.

»Ich hatte einen Freund. Eigentlich zwei.«

»Und …?« Ihr Grinsen wurde seltsam. Zu dieser Art von Grinsen, das meine Freunde mir entgegnet hatten, nachdem ich auf einem Date gewesen war.

Es war schwer, Rory von Mom zu trennen. Genau genommen hatte ich noch keinen der beiden Namen zu ihr gesagt, weil ich mir nicht sicher war, wie ich sie nennen sollte.

»In beiden Fällen hat es nicht lange gehalten.«

»Das ist alles?« Sie hob eine Augenbraue. »Das ist alles, was du mir verraten kannst? Wie sieht es mit deinem ersten Kuss aus?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Er war okay.«

»Du wirkst zögerlich. Liegt es daran, dass ich deine Mom bin? Wir haben früher immer über diese Dinge geredet. Du bist nach Hause gekommen und hast mir von deinem Tag erzählt.« Sie seufzte, ein behagliches Lächeln im Gesicht, als hätten ihre fünf Jahre im Gefängnis nicht stattgefunden. So, als hätte es für uns möglich sein sollen, dort anzusetzen, wo wir aufgehört hatten.

Ich erinnerte mich an die Serie, die ich geschaut hatte, die von einem Flugzeug handelte, das verschwunden und Jahre später zurückgekehrt war. Die Familien waren davon ausgegangen, dass das Flugzeug abgestürzt war und niemand überlebt hatte. Als es dann zurückkam, waren die Umstände anders. Die Kinder waren älter. Ehepartner erneut verheiratet. Aber die Flugzeuginsassen konnten es nicht verstehen, denn für sie hatte sich nichts verändert. Die Zeit, in der meine Mutter im Gefängnis gewesen war, war damit vergleichbar – als wäre sie in diesem Flugzeug gewesen.

»Ich wollte dich im Gefängnis besuchen kommen«, wechselte ich das Thema zu dem, von dem ich gedacht hatte, dass wir darüber reden würden.

Warum Dad mich davon überzeugt hatte, dass es in meinem Interesse gewesen war, sie nicht zu besuchen.

Warum ich mich nicht mehr angestrengt hatte, sie zu besuchen, nachdem er gestorben war.

Wie ich mich die drei Male gefühlt hatte, als ich ihre Eltern besucht hatte.

Wie es sich anfühlte, im Gefängnis gewesen zu sein.

Wie es sie verändert hatte.

So ziemlich alles andere als mein Liebesleben und Details über meinen ersten Kuss.

»Ich weiß.« Sie runzelte die Stirn und ihre Kinnlade fiel herunter. »Ich meine … Ich wusste es nicht, aber ich habe von Herzen daran geglaubt. Ich wusste, dass jemand wahrscheinlich dein Herz mit Gründen gefüllt hat, warum es besser war, mich nicht zu besuchen. Und um ehrlich zu sein, gab es Zeiten, in denen ich froh war, dass du mich dort nicht gesehen hast. Aber …« Sie sah nach oben und zwang sich zu einem Lächeln. »Das war damals. Und jetzt ist jetzt. Wenn du irgendetwas davon nicht noch einmal durchleben möchtest, wenn du deine Ersten-Male nicht mit mir teilen möchtest, dann müssen wir das nicht machen. Wir können neu starten. Nun ja …« Sie verdrehte dramatisch die Augen, so wie ich es meinem Dad gegenüber eine Million Mal getan hatte. »Wir können neu starten, wenn ich zurück aus L.A. bin. Ich muss in zwei Tagen los.«

Zwei Tage.

Ich hatte zwei Tage, bevor meine Mutter – die auf so viele Weisen eine Fremde für mich war – mich mit dem nackten Fisherman allein lassen würde.

 

 

 

 

Dieses Geräusch … dieser dröhnende Alarm. Ich musste nicht zweimal nachdenken. Ich wusste, es war ein Tornado-Alarm. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Meine erste Nacht in Denver, meine erste Nacht mit meiner Mom seit fünf Jahren und der Alarm ging los.

»Reese, Süße, komm mit uns ins Hinterzimmer.«

Rory streckte ihren Kopf in mein Zimmer und leuchtete mich mit einer Taschenlampe an.

Ich setzte mich im Bett auf und rieb mir über die Augen. Nach zwei Schritten erstarrte ich. »Oh!« Mit den Händen verdeckte ich meine Brüste. Ich hatte nur ein dünnes weißes Tanktop an, keinen BH. »Meine Güte, du …«

Der nackte Fisherman – okay, er hatte Shorts an – sah zu mir und trug ein Grinsen im Gesicht, das nicht unbedingt zum Wohlfühlen einlud. »Ja, ich. Der Keller ist der sicherste Ort. Allzweckraum. Los geht’s.«

Er hielt eine wahrhaftige Taschenlampe in die Höhe, eine von diesen langen Metallteilen.

Ich schützte meine Augen mit einer Hand und schnappte mir mit der anderen die Bettdecke.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich den Alarm das letzte Mal gehört habe, abgesehen von Testdurchläufen«, sagte Fisher und schloss die Tür zum unfertigen Allzweckraum.

»Wir sollten beten. Ich kann das machen.«

Meine Mutter und Fisher starrten mich ausdruckslos an, während wir uns in einem kleinen Kreis zusammenrotteten, wobei wir auf großen Plastikbehältern saßen, die denen ähnelten, die Mom nutzte, um darin meine alten Klamotten und Habseligkeiten aus meiner Kindheit zu verstauen. Ich fragte mich, was wohl aus diesen Sachen geworden war.

»Klar.« Mom lächelte. »Kann ja nicht schaden. Möchtest du, dass wir uns an den Händen halten?«

Mit einem Blick auf den nackten Fisherman schüttelte ich den Kopf. »Müssen wir nicht.«

»Was soll’s. Wenn wir Gott schon danach fragen, unsere Leben zu verschonen, dann wäre uns an den Händen zu halten wohl der beste Weg, um Aufrichtigkeit zu zeigen.« Er schnappte sich Moms und meine Hand.

Meine Hand fühlte sich klein an in seiner starken, schwieligen. Warm. Ungewohnt. Und das brachte meine Gedanken durcheinander. Mein Geist spulte zurück zu dem Moment, in dem er mich angegrinst und nichts als ein tief sitzendes Handtuch getragen hatte.

Bauchmuskeln.

Arme, auf denen die Venen zu erkennen waren.

Rinnsale von Wasser, die über seine Brustmuskeln verteilt waren. »Ist das ein stilles Gebet?«, fragte Fisher, womit er mich erneut zurück in die Realität zog. Er schielte mit einem Auge zu mir, als hätte er eigentlich beide Lider fürs Gebet geschlossen. »Sagst du wenigstens den Teil mit Amen laut?«

»Lieber Gott …« Ich sprang lieber direkt zum Gebet, anstatt die merkwürdige Pause weiter zu thematisieren. »Wir beten dafür, dass du über uns wachst und vor dem Sturm beschützt. Amen.«

»Amen«, echoten Mom und Fisher.

»Also, alles gut bei uns?« Fisher zwinkerte mir zu, als er meine Hand wieder losließ. »Wir werden beschützt?«

Ich verengte die Augen. »Soll das sarkastisch sein?«

»Es ist mitten in der Nacht, Reese. Er ist nur müde und wahrscheinlich kommt es nur so rüber, weil er ein wenig ausdrucksstark ist«, stand meine Mutter für ihn ein. Was bedeuten könnte, dass die beiden etwas am Laufen hatten.

Was sollte ich davon halten, dass meine Mom etwas mit einem jüngeren Mann hatte? Eine schwierige Frage in Anbetracht der Tatsache, dass es nicht nur lange her war, seit ich meine Mom gesehen hatte, sondern auch, seit ich meine Eltern zuletzt zusammen gesehen hatte.

»Ich bin nicht ausdrucksstark, Rory. Ich bin ein Klugscheißer. Du kannst nur die Hälfte von dem, was ich sage, ernst nehmen, Reese. Wenn du mit mir arbeiten solltest – vergiss das besser nicht.«

Ich schürzte die Lippen und nickte langsam. »Das ist ein bisschen vage. Klingt ein bisschen so, als würdest du mich schon darauf vorbereiten, zu versagen. Oder haben meine Großeltern dich angerufen und gefragt, ob du sichergehen kannst, dass ich versage, damit ich mich ans College verkrieche?«

»Ist … alles in Ordnung, Süße?«

Süße.

Ich hatte mich schon gefragt, ob Mom mich erneut so nennen würde. Es war der einzige Kosename, den sie mir gegeben hatte. Er hatte mir das Gefühl gegeben, geliebt zu werden und etwas Besonderes zu sein. Mit achtzehn, während ich in einem Keller neben dem nackten Fisherman saß, fühlte es sich ein wenig herablassend an. Als müsste jeder daran erinnert werden, dass ich die jüngste und unerfahrenste Person im Raum war. Das machte den Sack zu. Ich würde sie nicht »Mom« nennen.

»Mir geht’s gut, Rory.«

Sie zog die Augenbrauen bis zu ihrer Nasenwurzel zusammen, als hätte ich sie irgendwie beleidigt.

»Reese … Ich denke nicht, dass es dir gut geht. Und ich werde in weniger als achtundvierzig Stunden wegfahren. Ich möchte nicht gehen, wenn es dir hier nicht gut geht. Ich kann etwas anderes machen. Ich kann meinem Boss sagen, dass gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist.«

»Herrgott, Rory. Ihr wird es gut gehen. Hör auf, sie zu verhätscheln.« Fisher gähnte und streckte seine Arme über den Kopf.

Die ganze Situation gab mir das Gefühl, eine Zwölfjährige zu sein, die sich in einen FSK-18-Film geschlichen hatte. War ich alt genug, um so viel männliche Haut zu sehen? Und warum konnte ich nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie es wäre, mit ihm Sex zu haben? Das war die Wahrheit. Und ich war nicht glücklich, dass Gott meine Gedanken lesen konnte, aber ich war auch nicht glücklich damit, dass meine Gedanken in diese Richtung wanderten, ohne dafür meine Erlaubnis zu haben.

Die christliche Schule machte es mir einfach, meine Jungfräulichkeit zu bewahren, aber beinahe unmöglich, meinen Verstand zu behalten. Einen fokussierten Geist. Einen reinen Geist.

Lieber Gott, bitte verzeih mir meine Gedanken. Bitte fülle meinen Geist mit deiner Liebe und all den Dingen, die dir Ehre verschaffen.

»Fühlst du dich verhätschelt, Reese?«, fragte Rory.

Verwirrt?

Sündig?

Ängstlich?

Ja.

»Nein, ich fühle mich nicht verhätschelt.«

Sie sah Fisher stirnrunzelnd an. »Siehst du?«

»Ihr seid seit ungefähr zehn Sekunden wiedervereint. Reese würde es dir nicht sagen, wenn sie sich verhätschelt fühlen würde.«

Der Alarm stoppte.

»Gott sei Dank! Ich muss pinkeln.« Mom rannte aus dem Kellerraum.

Fisher stand auf und streckte seine Hand aus. »Wir leben. Scheint, als wären deine Gebete erhört worden.«

Ich nahm seine Hand nicht oder schenkte ihm für seine Aussage Aufmerksamkeit, weil ich mir ziemlich sicher war, dass diese in die Hälfte der Kategorien fiel, die ich ignorieren sollte.

Er wartete an der Tür darauf, dass ich den Allzweckraum verließ. Als ich mich an ihm vorbeiquetschte, warf ich ihm einen kurzen Blick zu und atmete tief ein, womit ich mir sicher war, dass Gott nicht all meine Gebete erhört hatte.

»So …« Er presste die Lippen aufeinander.

Ich schluckte schwer, nicht in der Lage, meinen Blick von ihm zu reißen.

»Wann willst du es tun?« Seine Stimme war tiefer als vorher.

Mein Herz klopfte so heftig, dass ich es in meiner Kehle spüren konnte. Was, wenn meine Mom ihn gehört hatte? Ich würde keinen Sex mit ihm haben. Und ich verlor jegliche Fähigkeit, diese Worte auszusprechen, weil dies das Dreisteste war, was jemals ein Mann zu mir gesagt hatte.

»Anfangen, für mich zu arbeiten. Wann willst du anfangen, für mich zu arbeiten?« Seine Stimme war nicht länger tief. Und er sprach langsam zu mir, als würde er mit einem Kind reden oder mit jemandem, der nicht besonders gut Englisch konnte.

Peinlich berührt war nicht das richtige Wort, das beschrieb, wie ich mich in diesem Moment fühlte. Sondern eher … gedemütigt. Und als Fisher lächelte, als hätte er meine Gedanken die ganze Zeit über lesen können, wollte ich ihn am liebsten schlagen. Noch nie in meinem Leben hatte ich einem anderen Menschen gegen über so viel Wut empfunden. Der frustrierendste Teil daran? Ich war mir nicht einmal sicher, weshalb ich so wütend auf ihn war. Deswegen, weil er kein Shirt getragen hatte? Weil er einen sündigen Körper hatte? Weil er mir zuzwinkerte und mich anlächelte? Vielleicht deswegen, weil er mit einer leicht tieferen Stimme sprach, die meine Fantasie auf Wandertouren führte, sie taumelnd an einen dunklen, verbotenen Ort schickte.

»Wir können es tun … Ich meine …« Ich kniff mir an die Nasenwurzel. »Ich kann anfangen, für dich zu arbeiten. Also für dein Unternehmen … Wann immer es passt.«

O je. Genauso gut hätte ich mir Pfarr-Schul-Jungfrau auf der Stirn tätowieren lassen können.

Kapitel 5

Am nächsten Morgen führte meine Mom mich zum Lunch aus und gab mir eine kurze Tour durch Denver, dabei versprach sie mir, dass wir zu einem Rockies-Spiel gehen würden, sobald sie aus Los Angeles zurückkäme. In dieser Nacht saß ich auf ihrem Bett neben ihrem Koffer, während sie packte.

»Ist es seltsam?« Endlich hatte ich den Mut gefasst, dieses Thema auf den Tisch zu bringen. »Mit jemandem zusammen zu sein, der deutlich jünger ist als du?« Das war nicht die Frage, die ich ihr hätte stellen sollen, aber ich war noch nicht bereit, sie zu fragen, warum sie im Lagerraum ihres Haarsalons Gras angebaut hatte.

Sie faltete eine schwarze Hose und legte sie auf den wachsenden Klamottenhaufen im Koffer. »Du bist meine Tochter.« Ein herzliches Lachen folgte auf ihre Antwort. »Oder glaubst du, dass alle Frauen, die mit mir in der Justizvollzugsanstalt waren, so alt waren wie ich? Denn das waren sie nicht. Straftaten geschehen in jedem Alter, mit jeder Größe, jeder Hautfarbe und in allen sozialen Schichten.«

»Nein, ich meine Fisher.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist mein Vermieter. Ich denke, er ist um die zwölf Jahre jünger als ich. Also … achtundzwanzig. Ich vermute, ich bin ein bisschen neidisch darauf, dass er schon so früh in seinem Leben derart erfolgreich ist. Aber es stört mich nicht, dass ich einen Vermieter habe, der jünger ist als ich.«

Ich kräuselte meine Nase. »Noch mal … Das ist nicht das, wo- rüber ich geredet habe.«

Sie verengte die Augen, die Lippen immer noch zu einem Grinsen geschwungen. Wir hatten das gleiche Lächeln. Das hatte mein Dad immer gesagt, bevor sie ins Gefängnis musste. Dann hörte er auf, mich überhaupt mit ihr zu vergleichen. Aber sie hatte kleine Grübchen, so wie ich, und ihr Lächeln war wie meines ein wenig krumm. Haare. Augen. Ich war ihr Mini-Me.

»Und worüber redest du dann?«

»Fisher ist … dein Freund. Richtig? Ich meine … Ich weiß auch, dass er dein Vermieter ist, aber es wirkt so, als würdest du ihm nahestehen, mehr als in einer Vermieter-Mieter-Beziehung.«

Sie öffnete den Mund, für ein paar Sekunden blinzelte sie nicht. »N-Nein …« Dann hustete sie vor Lachen. »Wir sind nur Freunde. Das verspreche ich dir.«

»Rory?«

Weiteres Gelächter. »Wirklich.«

»Hat er eine Freundin?« Die Frage kam so schnell heraus, dass ich nicht eine Sekunde Zeit hatte, sie daran zu hindern.

Während sie noch mehr Kleidung in ihren Koffer packte, hoben sich ihre Augenbrauen ein winziges Stück an. »Nein. Warum? Stehst du auf ältere Männer? Bitte sag Nein.«

»Natürlich nicht. Ich meine … Ich finde nicht, dass an einem oder zwei Jahren etwas Schlimmes ist – aber nicht zehn Jahre Altersunterschied. Ich frage nur, weil mir aufgefallen ist, dass er seine Türseite oben bei den Stufen nicht abgeschlossen hat. Und wenn jemand bei ihm wohnen würde oder zu Besuch kommt, würde er es sicher nicht wollen, dass jemand unangemeldet in seine Privatsphäre eindringt. Ich bin definitiv nicht an ihm interessiert.« Ich verdrehte die Augen.

Meine Mutter biss sich auf die Lippen und nickte langsam. »Verstehe. Nun ja, ich habe geklopft – das war meine Ankündigung – und er hat damit angefangen, also weiß ich, dass es für ihn okay ist, wenn ich nach oben gehe.«

»Was meinst du damit, dass er damit angefangen hat?« »Wir sind Freunde. Nur Freunde. Manchmal sehen wir hier unten zusammen fern. Manchmal verbringen wir Zeit zusammen und trinken ein Bier oder zwei. Ich weiß nicht, wann genau es passiert ist, aber er hat zweimal geklopft, als er hier herunterkommen wollte, und ich musste die Treppen hochgehen, um die Tür zu öffnen. Letztlich habe ich aufgehört, sie auf meiner Seite zu verschließen, und er tat dasselbe auf seiner Seite. Aber wie dem auch sei, wenn du dich damit unwohl fühlst, kannst du die Tür abschließen, während ich weg bin.«

Ich ließ meinen Fingernagel am Reißverschluss ihres Koffers entlanggleiten. »Es ist keine große Sache. Ich werde sie abschließen, wenn ich daran denke.«

Oh … Ich würde sie abschließen. So viel war sicher. Meine Mom musste nicht wissen, wie wenig ich dem nackten Fisherman über den Weg traute.

»Nun ja, ich vertraue ihm. Ich würde dich nicht mit jemandem in einem Haus zurücklassen, wenn ich ihm nicht mein und dein Leben anvertrauen würde. Ich habe eine gute Menschenkenntnis. Fisher ist einer von den Guten. Ich meine …« Sie grinste. »Versteh mich nicht falsch. Ich habe ihm gesagt, ich werde ihm eins seiner Eier entfernen, wenn er dich auch nur eine Minute lang unangemessen ansieht.« Sie lachte.

Ich konnte nicht sagen, worüber sie lachte, da ich mir sicher war, dass er mir diesen Blick bereits mehr als einmal zugeworfen hatte.

Bei dem Status Einer von den Guten war ich mir nicht so sicher, aber ich wusste, ich würde es herausfinden.

»Hast du einen Freund?«

Mit dem Blick auf das Shirt in ihren Händen, lächelte sie. Ein trauriges Lächeln. »Ich habe keinen Freund. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit Männern durch bin.«

»Aber du hast doch noch so ein langes Leben vor dir. Ich habe für dich gebetet. Ich habe dafür gebetet, dass du wieder Glück findest. Ich habe auch dafür gebetet, dass du clean bleibst.«

»Clean?« Sie sah mich an.

»Das Marihuana.«

Nach ein paar Sekunden des intensiven Nachdenkens fand sie zu ihrem traurigen Lächeln zurück. »Danke, dass du für mich gebetet hast. Ich weiß nicht, ob Gott so weit ist, mir seine Gnade zu schenken, aber ich schätze es, dass du denkst, ich hätte sie verdient.«

Ich ließ sie zu Ende packen, ohne weitere Fragen zu stellen, aber ich hatte noch einige. Es gab so viel, was Dad mir nicht erzählt hatte. Vielleicht dachte er, er würde mich beschützen, aber ich fühlte mich nicht beschützt, als er starb und mich mit etlichen unbeantworteten Fragen verlassen hatte.

»Fisher bringt mich morgen zum Flughafen. Wir fahren früh los … um halb fünf. Du kannst mitkommen, wenn du möchtest, aber ich verstehe es auch, wenn du ausschlafen willst.« Sie schloss ihren Koffer und stellte ihn an ihre Schlafzimmertür neben ihre Handgepäckstasche.

»Ich werde mitkommen.«

Das schien sie zum Lächeln zu bringen, ein richtiges, mit Grübchen, die auftauchten. »Toll. Ich habe ein paar Dinge für dich aufgeschrieben. Meine Nummer und die Nummer von dem Salon, in dem ich sein werde. WLAN-Passwort. Ich habe auch Fishers Nummer aufgeschrieben für den Fall, dass er vergessen sollte, sie dir zu geben. Du hast alle Kontaktdaten deiner Großeltern. Ich lasse meine Autoschlüssel hier und ein wenig Geld fürs Tanken und Essen.«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Du musst mir kein Geld hierlassen. Ich habe Geld von Dads …« Meine Stirn legte sich in Falten.

Sie blinzelte ein paarmal, bevor Erkenntnis über ihr Gesicht huschte. »Lebensversicherung.«

»Ja«, flüsterte ich.

Wir sprachen nicht mehr über Dad oder das Geld, das ich hatte. Das Geld, das mir Schritt für Schritt gegeben werden sollte, je älter ich wurde. Es beinhaltete auch Geld, das für meinen College-Fond angedacht war, von dem ich nicht wusste, ob ich es nutzen würde.

Wir aßen zu Abend. Sahen fern. Und gingen früh ins Bett.

Es war viel zu schnell halb fünf. Ich strich mein Haar zurück zu einem Zopf und zog eine Yogahose und ein Oversized-Shirt an.

»Kaffee?«, fragte Rory.

Ich schüttelte meinen Kopf und gähnte. »Ich werde vermutlich direkt wieder schlafen gehen, wenn ich wieder hier bin.«

»Gute Idee. Dann lass uns gehen. Fisher hat meinen Koffer schon zu seinem Truck gebracht und wartet auf uns.«

»Okay«, war alles, was ich zwischen einem zweiten Gähnen hervorbrachte, als ich ihr nach draußen und zur Front des Hauses folgte, wo ein weißer Truck mit der Aufschrift Mann Construction Inc. auf der Seite auf uns wartete.

»Morgen, Ladys.« Fisher lächelte, als ich auf den Rücksitz kletterte und meine Mom auf den Vordersitz hüpfte.

»Morgen. Ich glaube, Reese bereut ihre Entscheidung, mit uns zum Flughafen zu fahren.« Mom lachte.

»Mir geht’s gut«, sagte ich mit einem weiteren Gähnen.

Fisher und Mom quatschten auf dem Weg zum Flughafen, während ich noch ein kurzes Nickerchen machte. Als er im Drop-Off-Bereich anhielt, kletterte ich aus dem Wagen und streckte mich, während er den Koffer von der Ladefläche des Trucks holte.

»Pass auf dich auf und pass auf mein kleines Mädchen auf«, sagte Mom, während sie Fisher eine dicke Umarmung gab. »Und vergiss nicht … Sie ist mein kleines Baby. Nicht mehr.«

Was hatte das zu bedeuten? Fisher zwinkerte mir über ihre Schulter hinweg zu. Ernsthaft? Verdammt, was sollte das?

Nun, da ich wusste, dass er nicht Moms Freund war, sah ich ihn mit anderen Augen. Was ich nicht sollte, aber das machte ihn nur heißer. Ich aß ihn mit meinem Blick beinahe auf – dieser starke Kiefer mit dem Bartschatten, der seine erwachsene Reife verdeutlichte. Nicht wie die jungen Männer auf meiner Abschlussfeier, die Hüte und Ballkleidung und dünne, ungepflegte Schnurrbärte trugen.

Blaue Augen mit vollen Wimpern.

Unordentliches, dunkelblondes Haar lugte unter seiner Baseballcap hervor.

Definierte Arme.

Nur gute ein Meter fünfundachtzig eines starken Mannes.

Der … nicht der Freund meiner Mom war.

»Bye, Süße. Ruf mich an. Auch über Facetime. Schreib mir. Lass mich wissen, wie es dir geht und ob du etwas brauchst.« Sie umarmte mich.

Fisher schaute sich um, während er seine Hände in die Vordertaschen seiner Jeans gleiten ließ, als würde er uns eine kleine Blase an Privatsphäre geben wollen.

Viel zu früh ließ sie mich los, schlang sich ihr Handgepäck über die Schulter und rollte ihren Koffer mit einem kurzen Blick zurück und einem breiten Lächeln zum Eingang.

»Frühstück?«, fragte Fisher, während wir zurück in den Truck kletterten.

Ich hüpfte auf den Beifahrersitz und schnallte mich mit zittrigen Händen an. Jetzt waren es nur noch ich und der nackte Fisherman. »Es ist fünf. Wer frühstückt schon um fünf?«

»Nun, wenn du diesen Sommer für mich arbeitest, dann wir.« Den Wagen vom Bordstein wegfahrend, gluckste er und schüttelte den Kopf.

Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Die Venen auf seinen Armen, die bis zu seinen großen Händen verliefen, die locker das Lenkrad umfassten. Sein Duft – männlich, aber so, wie ich mir den Geruch der Berge vorstellen würde. Ich war der Situation mit einem Strom voller unangebrachter Gedanken, die mich mit sich zogen, nicht gewachsen. »Ich dachte, du hattest gesagt, wir würden frühstücken gehen?«, fragte ich Fisher, als er den Truck in die Auffahrt lenkte.

»Das tun wir.« Er sprang aus dem Wagen und ging in die Garage.

Vielleicht hatte er etwas vergessen.

Seinen Geldbeutel.

Sein Handy.

Ich zuckte zusammen, als meine Tür geöffnet wurde.

»Das hier ist kein Date. Aber gut, dass du darauf bestehst, dass der Typ die Tür für dich öffnet. Ich mache das ein einziges Mal, aber meine anderen Angestellten dürfen nicht sehen, dass ich das für dich tue. Also zieh beim nächsten Mal den Hebel zu dir und drück gegen die Tür.« Fisher grinste, wohl unheimlich stolz auf sich, weil er mir das Gefühl gegeben hatte, ich wäre dumm.

Ich ging davon aus, dass wir erneut losfahren würden. Und ich wusste, wie man eine Tür öffnete.

Idiot.

»Danke.« Ich sah ihn finster an, während ich aus dem Truck stieg. »Ich dachte, wir würden frühstücken gehen.«

»Meine Güte, das tun wir. Du musst ja verhungern, wenn du nicht aufhören kannst, mich danach zu fragen.«

Ich folgte ihm in seine Küche. »Ich bin nicht so hungrig. Ich bin nur verwirrt.«

»Das hier ist Brot.« Er hielt einen Laib Brot in die Höhe. »Und das stecke ich in dieses kleine Gerät, das es nett und goldbraun zubereitet, um etwas zu erschaffen, das Toast heißt.« Er ließ vier Scheiben in den Toaster fallen. »Und danach ist alles möglich, Baby. Wir können so gut wie alles darauf packen. Stell dir vor, es wäre das perfekte Fahrzeug überallhin. Ich persönlich gehe gern nach Erdnussbutter-Stadt mit Bananenstücken, aber du kannst alles nehmen – Butter, Marmelade, Avocado, Hummus, Marshmallowcreme … Ernsthaft, die Möglichkeiten sind grenzenlos.« Nachdem er zwei weiße Teller auf der Theke platziert hatte, drehte er sich zu mir und grinste. »Warum behandelst du mich, als wäre ich acht statt achtzehn?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und verlagerte meine Hüfte zur Seite.

»Weil du ständig diesen Verschrecktes-Reh-im-Scheinwerferlicht-Blick hast. Ich weiß nicht, ob du Angst vor mir hast oder nur wirklich verwirrt bist. Aber da ich nicht denke, dass ich eine angsteinflößende Person bin, gehe ich davon aus, dass du verwirrt bist. Ich weiß nicht, wie die Dinge in Texas laufen, deswegen leite ich dich einfach durch meine Routine.«

»In Texas haben wir auch Toaster. Und nur fürs Protokoll: Ich habe den Großteil meines Lebens in Nebraska verbracht. Das ist ein Nachbarstaat von Colorado, falls deine Geografiekenntnisse zu wünschen übrig lassen.«

Meine Reaktion erfreute ihn, oder zumindest kam das mit dem Blick rüber, den er mir gab. Vollkommene Belustigung.

Ich hatte es versucht, ihn zu amüsieren – oder ihm zu gefallen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob Yogahosen die beste Wahl als Arbeitskleidung sind. Ich schlage Jeans vor. Lederne Arbeitsstiefel für Besuche auf den Baustellen. Und welches Shirt auch immer du willst, solange es dir nichts ausmacht, dass es dreckig werden könnte.«

»Ich wusste nicht, dass ich heute mit der Arbeit anfangen würde. Und ich habe keine Arbeitsstiefel. Ich habe Turnschuhe.«

»Das wird gehen.« Er schnappte sich die Toastscheiben, nachdem sie hochgesprungen waren und platzierte je zwei Stück auf jedem Teller. »Wir besorgen dir später Arbeitsstiefel. Vielleicht in der Mittagspause.«

»Klingt …«, sagte ich, »sexy.«

Warum? Ich wusste es nicht. Aber ich ersetzte es rasch mit etwas weniger Provokantem. »Schick.«

»Schick?« Er sah über seine Schulter hinweg, während er Erdnussbutter auf seinem Toast verteilte. »Das ist kein Job, bei dem du dir darüber Gedanken machen musst, schick zu sein. Da überwiegen Brauchbarkeit und Sicherheit.« »Ich mag keine Erdnussbutter.« Ich schaute auf seine Hand, die diese ebenfalls auf meinen Toast verteilte. »Herrgott … bist du überhaupt ein Mensch?« Er schabte die Erdnussbutter vom Brot und gab sie zurück ins Glas. »Da ist der Kühlschrank. Mach nur. Pack auf deinen Toast, was immer du möchtest.«

Es würde immer noch nach Erdnussbutter riechen, aber ich entschied mich dazu, meine Klappe zu halten und es einfach runterzuschlucken. Er fügte seine geschnittenen Bananenstücke hinzu und setzte sich auf einen der bemalten metallenen Barhocker, während ich ein Stück Butter fand und eine große Portion über die Rückstände der Erdnussbutter schmierte.

»Ich habe mal einen Haufen Puppy Chows ausgekotzt … Diese Frühstücksflocken mit Erdnussbutter, geschmolzener Schokolade und Puderzucker, weißt du? Und seitdem kann ich keine Erdnussbutter mehr essen.«

»Danke, dass du deine Erdnussbutter-Kotz-Geschichte mit mir geteilt hast, während ich Erdnussbutter esse.«

Ich sah über meine Schulter, während ich die Butter zurück in den Kühlschrank stellte. »Ups, sorry. Zimt?«

Er nickte in Richtung Gewürzregal über dem Ofen.

»Zucker?« Ich nahm mir den Zimtstreuer.

»Speisekammer.«

»Wo ist deine Speisekammer?«

»Die Tür zu deiner Rechten.« Er nahm einen großen Bissen seines Toasts und nickte zur Schranktür.

»Hier?« Ich öffnete die Tür, ein Licht gab den Blick in eine versteckte Speisekammer frei und ich trat ein. »Das ist cool.«

»Zweites Regal auf der rechten Seite, ganz hinten.«

Ich zupfte die Tüte mit Rohrzucker von dem Regal und verließ die versteckte Speisekammer wieder. »Hast du dieses Haus gebaut?«

»Ja, hab ich.«

»Ernsthaft?« Er gluckste. »Wenn du nicht dachtest, ich hätte dieses Haus ernsthaft gebaut, warum hast du dann gefragt?« Ich zuckte mit den Schultern. »Einfach, um eine Unterhaltung zu führen.« Ich gab mein Bestes, um lässig zu wirken. Dabei befand ich mich auf einem Höhenflug.

Achtzehn.

In einem neuen Staat.

Die Mom war nicht in der Stadt.

Zusammen mit einem achtundzwanzigjährigen Mann, der einen großen Platz in meinem Kopf gemietet hatte. Der meine Gedanken dominierte – meine Gedanken verdarb.

---ENDE DER LESEPROBE---